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Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 2

Die Gesellschaft der Gesellschaft Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis 2

Id quod per aliud non potest concipi, Vorwort 6


per se concipi debet.
Spinoza, Ethica I, Axiomata II. I. Die Gesellschaftstheorie der Soziologie 9

II. Methodologische Vorbemerkung 18

III. Sinn 21

IV. Die Unterscheidung von System und Umwelt 28

V. Gesellschaft als umfassendes Sozialsystem 37

VI. Operative Schließung und strukturelle Kopplungen 43

VII. Kognition 56

VIII. Ökologische Probleme 59

IX. Komplexität 62

X. Weltgesellschaft 67

XI. Ansprüche an Rationalität 79

I. Medium und Form 88

II. Verbreitungsmedien und Erfolgsmedien 93

III. Sprache 95

IV. Geheimnisse der Religion und die Moral 106

V. Schrift 115

VI. Buchdruck 133

VII. Elektronische Medien 138

VIII. Verbreitungsmedien: Zusammenfassung 143

IX. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien I: Funktion 145

X. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien II: Differenzierung 152

XI. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien III: Strukturen 165

XII. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien IV: Selbstvalidierung 180

XIII. Moralische Kommunikation 182


Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 3 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 4

XIV. Auswirkungen auf die Evolution des Gesellschaftssystems 186 XV. Protestbewegungen 385

I. Schöpfung, Planung, Evolution 190 I. Die Erreichbarkeit der Gesellschaft 394

II. Systemtheoretische Grundlagen 198 II. Weder Subjekt noch Objekt 395

III. Neo-darwinistische Theorie der Evolution 207 III. Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung 400

IV. Variation der Elemente 209 IV. Die Semantik Alteuropas I: Ontologie 406

V. Selektion durch Medien 216 V. Die Semantik Alteuropas II: Das Ganze und seine Teile 415

VI. Restabilisierung der Systeme 222 VI. Die Semantik Alteuropas III: Politik und Ethik 424

VII. Die Differenzierung von Variation, Selektion und Restabilisierung 228 VII. Die Semantik Alteuropas IV: Die Schultradition. 432

VIII. Evolutionäre Errungenschaften 231 VIII. Die Semantik Alteuropas V: Von Barbarei zu Kritik 434

IX. Technik 236 IX. Die Reflexionstheorien der Funktionssysteme 435

X. Ideenevolutionen 245 X. Gegensätze in der Medien-Semantik 447

XI. Teilsystemevolutionen 254 XI. Natur und Semantik 450

XII. Evolution und Geschichte 260 XII. Temporalisierungen 453

XIII. Gedächtnis 263 XIII. Die Flucht ins Subjekt 462

I. Systemdifferenzierung 272 XIV.Die Universalisierung der Moral 471

II. Formen der Systemdifferenzierung 278 XV. Die Unterscheidung von "Nationen" 475

III. Inklusion und Exklusion 282 XVI. Klassengesellschaft 479

IV. Segmentäre Gesellschaften 289 XVII. Die Paradoxie der Identität und ihre Entfaltung durch Unterscheidung 482

V. Zentrum und Peripherie 302 XVIII. Modernisierung 491

VI. Stratifizierte Gesellschaften 309 XIX. Information und Risiko als Beschreibungsformeln 494

VII. Ausdifferenzierung von Funktionssystemen 322 XX. Die Massenmedien und ihre Selektion von Selbstbeschreibungen 498

VIII. Funktional differenzierte Gesellschaft 339 XXI. Invisibilisierungen: Der "unmarked state" des Beobachters und seine Verschiebungen 504

IX. Autonomie und strukturelle Kopplung 353 XXII. Reflektierte Autologie: Die soziologische Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft 512

X. Irritationen und Werte 359 XXIII. Die sogenannte Postmoderne 518


Original – Inhaltsverzeichnis (aus WP-Datei) 522
XI. Gesellschaftliche Folgen 364

XII. Globalisierung und Regionalisierung 366 Vorwort

XIII. Interaktion und Gesellschaft 369


Bei meiner Aufnahme in die 1969 gegründete Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld fand ich
mich konfrontiert mit der Aufforderung, Forschungsprojekte zu benennen, an denen ich arbeite. Mein Projekt
XIV. Organisation und Gesellschaft 376
lautete damals und seitdem: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine. Die Schwierigkeiten
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des Projekts waren, was die Laufzeit angeht, realistisch eingeschätzt worden. Die Literaturlage in der Gesellschaftssystem bereits konstituiert hat. Die Leitfrage ist deshalb, welche Operation dieses System
Soziologie bot damals wenig Anhaltspunkte dafür, ein solches Projekt überhaupt für möglich zu halten. Dies produziert und reproduziert, wenn immer sie vorkommt. Die Antwort wird in Kapitel 2 ausgearbeitet und
nicht zuletzt deshalb, weil die Ambition einer Theorie der Gesellschaft durch neomarxistische Vorgaben lautet: Kommunikation. Das Verhältnis ist zirkulär zu denken: Gesellschaft ist nicht ohne Kommunikation zu
blockiert war. Der kurz darauf veröffentlichte Band einer Diskussion mit Jürgen Habermas trug den Titel: denken, aber auch Kommunikation nicht ohne Gesellschaft. Fragen der Entstehung und der Morphogenese
"Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie: Was leistet die Systemforschung?". Die Ironie dieses Titels können deshalb nicht von einer Ursprungshypothese aus beantwortet werden und werden durch die These
lag darin, daß keiner der Autoren sich für Sozialtechnologie stark machen wollte, aber einer genuin sozialen Natur "des Menschen" mehr verdeckt als gelöst. Sie werden im 3. Kapitel einer darauf
Meinungsverschiedenheiten darüber bestanden, wie eine Theorie der Gesellschaft auszusehen habe; und es hat eingestellten Evolutionstheorie überantwortet.
symptomatische Bedeutung, daß der Platz einer Theorie der Gesellschaft in der öffentlichen Wahrnehmung Die These einer Selbstproduktion durch Kommunikation postuliert klare Grenzen zwischen System und
zunächst nicht durch eine Theorie, sondern durch eine Kontroverse eingenommen wurde. Umwelt. Die Reproduktion von Kommunikationen aus Kommunikationen findet in der Gesellschaft statt. Alle
Für die Theorie der Gesellschaft war von Anfang an an eine Publikation gedacht gewesen, die aus drei weiteren physikalischen, chemischen, organischen, neurophysiologischen und mentalen Bedingungen sind
Teilen bestehen sollte: einem systemtheoretischen Einleitungskapitel, einer Darstellung des Umweltbedingungen. Sie können durch die Gesellschaft in den Grenzen ihrer eigenen Operationsfähigkeit
Gesellschaftssystems und einem dritten Teil mit einer Darstellung der wichtigsten Funktionssysteme der ausgewechselt werden. Kein Mensch ist gesellschaftlich unentbehrlich. Aber damit ist natürlich nicht
Gesellschaft. Bei diesem Grundkonzept ist es geblieben, aber die Vorstellungen über den Umfang mußten behauptet, daß Kommunikation ohne Bewußtsein, ohne durchblutete Gehirne, ohne Leben, ohne gemäßigtes
mehrfach korrigiert werden. Im Jahre 1984 konnte ich das "Einleitungskapitel" in der Form eines Buches unter Klima möglich wäre.
dem Titel "Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie" publizieren. Im Kern ging es darum, das Alle Systembildungen in der Gesellschaft sind wiederum auf Kommunikation angewiesen, sonst würde
Konzept der selbstreferentiellen Operationsweise auf die Theorie sozialer Systeme zu übertragen. Daran hat man nicht sagen können, daß sie in der Gesellschaft stattfinden. Das besagt zugleich, daß die
sich nichts Wesentliches geändert, obwohl die Fortschritte im Bereich der allgemeinen Systemtheorie und des gesellschaftsinternen Systembildungen nicht an Einteilungen der Umwelt anschließen können. Das gilt schon
erkenntnistheoretischen Konstruktivismus immer wieder Möglichkeiten zu weiteren Ausarbeitungen boten. für segmentäre Differenzierung und erst recht, über alle Zwischenstufen hinweg, für funktionale
Einige Beiträge dazu sind in Aufsatzsammlungen unter dem Titel "Soziologische Aufklärung" publiziert. Differenzierung. In der Umwelt des Gesellschaftssystems gibt es keine Familien, keinen Adel, keine Politik,
Anderes ist nur in Manuskriptform vorhanden oder in den Teil 1 der folgenden Publikation eingegangen. keine Wirtschaft. Das 4. Kapitel, das von Differenzierung handelt, trägt diesem Fehlen von Außenhalten
Seit den frühen 80er Jahren wurde zunehmend klar, welche Bedeutung die Vergleichbarkeit der Rechnung und klärt, daß die interne Differenzierung zugleich der Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems
Funktionssysteme für die Gesellschaftstheorie hat. Dies war bereits ein Grundgedanke der dient.
Theoriekonstruktion von Talcott Parsons gewesen. Das theoretische Gewicht von Vergleichbarkeit nimmt In den Begriff der Kommunikation ist die Annahme eines reflexiven Selbstbezugs eingebaut. Die
noch zu, wenn man konzedieren muß, daß es nicht gelingen kann, die Gesellschaft aus einem Prinzip oder Kommunikation kommuniziert immer auch, daß sie kommuniziert. Sie mag sich retrospektiv korrigieren oder
einer Grundnorm zu deduzieren — sei es in alter Weise Gerechtigkeit, sei es Solidarität, sei es vernünftiger bestreiten, daß sie gemeint hatte, was sie zu meinen schien. Sie läßt sich in einer Spannweite von glaubwürdig
Konsens. Denn auch diejenigen, die solche Prinzipien nicht anerkennen oder gegen sie verstoßen, tragen ja zu bis unglaubwürdig durch Kommunikation interpretieren. Aber sie führt immer ein, und sei es kurzfristiges,
gesellschaftlichen Operationen bei, und die Gesellschaft selbst muß dieser Möglichkeit Rechnung tragen. Gedächtnis mit, das es praktisch ausschließt, zu behaupten, sie habe gar nicht stattgefunden. Retrospektiv
Andererseits kann es kein Zufall sein, wenn sich zeigen läßt, daß sehr heterogene Funktionsbereiche wie entstehen dann Normen und Entschuldigungen, Anforderungen an Takt und an kontrafaktisches Ignorieren,
Wissenschaft und Recht, Wirtschaft und Politik, Massenmedien und Intimbeziehungen vergleichbare mit denen die Kommunikation über gelegentliche Störungen hinweg sich selbst entgiftet.
Strukturen ausweisen — allein deshalb schon, weil ihre Ausdifferenzierung Systembildung erfordert. Aber Dies dürfte der Grund dafür sein, daß es anscheinend keine Gesellschaft gibt, die nicht Vorsorge dafür
läßt es sich zeigen? Parsons hatte dies über die Analytik des Begriffs der Handlung zu garantieren versucht. trifft, daß die Kommunikation sich auch thematisch auf das Gesellschaftssystem als Rahmenbedingung ihrer
Wenn die Ausarbeitung dieses Gedankens nicht überzeugt, bleibt nur die Möglichkeit, Theorien für die eigenen Möglichkeit, als stets mitgemeinte Einheit des Zusammenhangs der Kommunikationen bezieht.
einzelnen Funktionssysteme auszuarbeiten und dabei auszuprobieren, ob man bei aller Verschiedenheit der Daraus hat man oft, Parsons zum Beispiel, auf die Notwendigkeit eines Grundkonsenses, auf shared values
Sachbereiche mit demselben begrifflichen Apparat arbeiten kann wie zum Beispiel: Autopoiesis und operative oder auf unthematische "lebensweltliche" Übereinstimmungen geschlossen. Uns genügt das abgemagerte
Schließung, Beobachtung erster und zweiter Ordnung, Selbstbeschreibung, Medium und Form, Codierung Konzept der Selbstbeschreibung, das auch den Fall noch einschließt, daß grundlegender Dissens besteht und
und, orthogonal dazu, die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz als interne Struktur. darüber kommuniziert wird. Die Theorie der Selbstbeschreibung und ihrer historischen Variationen wird in
Diese Überlegung hat dazu geführt, daß die Ausarbeitung von Theorien für die einzelnen Kapitel 5 vorgestellt.
Funktionssysteme vorgezogen wurde. Publiziert sind inzwischen: Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988), Die Mit dem Konzept des sich selbst beschreibenden, seine eigenen Beschreibungen enthaltenden Systems
Wissenschaft der Gesellschaft (1990), Das Recht der Gesellschaft (1993) und Die Kunst der Gesellschaft geraten wir auf ein logisch intraktables Terrain. Eine Gesellschaft, die sich selbst beschreibt, tut dies intern,
(1995). Weitere Texte dieser Art sollen folgen. Inzwischen waren aber auch die Arbeiten an der Theorie des aber so als ob es von außen wäre. Sie beobachtet sich selbst als einen Gegenstand ihrer eigenen Erkenntnis,
Gesellschaftssystems fortgeschritten. Konvolute von mehreren tausend Manuskriptseiten waren, zum Teil als kann aber im Vollzug der Operationen die Beobachtung selbst nicht in den Gegenstand einfließen lassen, weil
Begleittexte für Vorlesungen, entstanden, ohne eine publizierbare Form zu gewinnen. Dann wurde meine dies den Gegenstand ändern und eine weitere Beobachtung erfordern würde. Sie muß offen lassen, ob sie sich
damalige Sekretärin pensioniert und die Wiederbesetzung ihrer Stelle für viele Monate gesperrt. In dieser von innen oder von außen beobachtet. Wenn sie auch das noch mitzusagen versucht, legt sie sich auf eine
Situation bot mir die Universität in Lecce eine Arbeitsmöglichkeit. Ich floh also mit dem Projekt und mit den paradoxe Identität fest. Der Ausweg, den die Soziologie dafür gefunden hat, wird als "Kritik" der Gesellschaft
Manuskripten nach Italien. Dort entstand eine Kurzfassung der Gesellschaftstheorie, die, ins Italienische stilisiert. Faktisch läuft das auf eine ständige Wiederbeschreibung von Beschreibungen, auf ein ständiges
übersetzt, mehrfach durchgearbeitet und auf italienischen Universitätsgebrauch abgestimmt, inzwischen Einführen neuer oder Wiederbenutzen alter Metaphern hinaus, also auf "redescriptions" im Sinne von Mary
publiziert ist (Niklas Luhmann / Raffaele De Giorgi, Teoria della società, Milano 1992). Das damals Hesse. Damit können gleichwohl Einsichtsgewinne erzielt werden, auch wenn methodengestählte Forscher
entstandene Manuskript hat dann die Grundlage gebildet für die Vorbereitung einer umfangreicheren dies nicht als "Erklärungen" gelten lassen würden.
deutschen Ausgabe, die ich, wiederum mit einem Sekretariat versorgt, in Bielefeld vorantreiben konnte. Der Der hier vorgelegte Text ist selbst der Versuch einer Kommunikation. Er bemüht sich selbst um eine
hier publizierte Text ist das Resultat dieser wechselvollen Geschichte. Beschreibung der Gesellschaft mit voller Einsicht in die skizzierte Verlegenheit. Wenn die Kommunikation
Die ihm zugrundeliegende Systemreferenz ist das Gesellschaftssystem selbst — im Unterschied zu allen einer Gesellschaftstheorie als Kommunikation gelingt, verändert sie die Beschreibung ihres Gegenstandes und
sozialen Systemen, die sich in der Gesellschaft im Vollzug gesellschaftlicher Operationen bilden; im damit den diese Beschreibung aufnehmenden Gegenstand. Um das von vornherein im Blick zu halten, heißt
Unterschied also zu den gesellschaftlichen Funktionssystemen, aber auch zu Interaktionssystemen, der Titel dieses Buches "Die Gesellschaft der Gesellschaft".
Organisationssystemen oder sozialen Bewegungen, die allesamt voraussetzen, daß sich ein
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 7 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 8

Gesellschaftsbeschreibungen. Wie immer die Ausführungen im einzelnen: generell sah man sich aus
erkenntnistheoretischen Gründen an die Unterscheidung von Subjekt und Objekt gebunden und konnte hier
Kapitel 1 Gesellschaft als soziales System dann nur zwischen einer szientistisch naiven oder einer transzendentaltheoretisch reflektierten Position wählen.
Viele Merkwürdigkeiten der heute klassischen Soziologien muß man der Begrenztheit dieses
Auswahlschemas zurechnen und dem Versuch, trotzdem zurechtzukommen. Das gilt für die seltsamen
I. Die Gesellschaftstheorie der Soziologie
Verbindungen von Transzendentalismus und Sozialpsychologie, die man bei Georg Simmel findet. Das gilt
für den werttheoretischen Handlungsbegriff Max Webers, eine Anleihe beim Neokantianismus. Das gilt für
Die folgenden Untersuchungen betreffen das Sozialsystem der modernen Gesellschaft. Ein solches Schelskys Forderung einer "transzendentalen Theorie der Gesellschaft", die mit den normalen empirischen
Vorhaben, und darüber muß man sich als erstes Rechenschaft geben, aktualisiert eine zirkuläre Beziehung zu Methoden nicht erreichbar sei, die sich aber mit dem Begriff des "Transzendentalen" auf das einzelne Subjekt
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seinem Gegenstand. Weder steht vorab fest, um welchen Gegenstand es sich handelt. Mit dem Wort festlegte und so nicht weiterkam. Diese Positionen sind heute allenfalls noch für die Klassikerexegese von
Gesellschaft verbindet sich keine eindeutige Vorstellung. Selbst das, was man üblicherweise als "sozial" Interesse. Jedenfalls hat aber die klassische Soziologie trotz dieser fraglosen Bindung an das
bezeichnet, hat keine eindeutig objektive Referenz. Noch kann der Versuch, die Gesellschaft zu beschreiben, Subjekt/Objektschema und trotz des damit unlösbaren Gegenstandsproblems bis heute die einzige
außerhalb der Gesellschaft stattfinden. Er benutzt Kommunikation. Er aktiviert soziale Beziehungen. Er setzt Gesellschaftsbeschreibung vorgelegt. Das erklärt vielleicht am besten die Dauerfaszination, die noch heute
sich in der Gesellschaft der Beobachtung aus. Wie immer man den Gegenstand definieren will: die Definiton von den soziologischen Klassikern ausgeht und sie im strengen Sinne zu scheinbar zeitenthobenen Texten hat
selbst ist schon eine der Operationen des Gegenstandes. Die Beschreibung vollzieht das Beschriebene. Sie werden lassen. Fast alle Theorieanstrengungen gelten heute dem Rückblick und der Rekonstruktion. Es lohnt
muß also im Vollzug der Beschreibung sich selber mitbeschreiben. Sie muß ihren Gegenstand als einen sich sich daher zu fragen, wie dieser Erfolg möglich war.
selbst beschreibenden Gegenstand erfassen. Mit einer Formulierung, die aus der logischen Analyse der Ohne Anerkennung eines zirkulären Verhältnisses zum Gegenstand! So viel steht fest. Die Lösung, die
Linguistik stammt, könnte man auch sagen, daß jede Gesellschaftstheorie eine "autologische" Komponente den Klassikern das Problem zugleich verdeckte, lag in einer historischen Selbstverortung, also in der
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aufweisen muß. Wer das aus wissenschaftstheoretischen Gründen meint verbieten zu müssen, muß auf Auflösung des Zirkels durch eine historische Differenz, in der die Theorie sich selbst historisch (aber eben: nur
Gesellschaftstheorie, auf Linguistik und auf viele andere Themenbereiche verzichten. historisch) festlegen kann. Die beginnende Soziologie reagiert auf die strukturellen und die semantischen
Die klassische Soziologie hatte sich als Wissenschaft von sozialen Tatsachen zu etablieren versucht — Probleme, die im 19. Jahrhundert sichtbar geworden waren, und sie weiß das. Auch wo ihre Begriffe abstrakt
Tatsachen verstanden im Unterschied zu bloßen Meinungen, Wertungen, ideologischen formuliert sind, ziehen sie ihre Plausibilität aus der historischen Situation. Man hat das Ende des
Voreingenommenheiten. Im Rahmen dieser Unterscheidung ist daran nicht zu rütteln. Das Problem ist jedoch, Fortschrittsvertrauens zu akzeptieren und ersetzt die Annahme einer bei allen Kosten positiven Entwicklung
daß auch die Feststellung von Tatsachen nur als Tatsache in die Welt kommen kann. Die Soziologie hätte also durch strukturelle Analysen, vor allem durch Analysen der sozialen Differenzierung, der
ihre eigene Tatsächlichkeit zu berücksichtigen. Diese Forderung bezieht sich auf ihren gesamten Organisationsabhängigkeiten, der Rollenstrukturen. Der auf die Wirtschaft konzentrierte ("politökonomische")
Forschungsbereich und ist mit einem Sonderinteresse an "Soziologie der Soziologie" nicht einzulösen. Sie Gesellschaftsbegriff, der seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts gegolten hatten, kann damit
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sprengt, wie man heute wissen kann, die Prämissen einer zweiwertigen Logik. Das kann zwar bei der Wahl aufgegeben werden. Das eröffnet die Kontroverse zwischen Vertretern einer mehr materiellen (ökonomischen)
begrenzter Forschungsthemen pragmatisch außer Acht bleiben. Der Forscher versteht sich selbst als Subjekt und einer mehr geistigen (kulturellen) Determination der Gesellschaft. Zugleich wird die Stellung des
außerhalb seines Themas. Im Bereich der Gesellschaftstheorie ist diese Auffassung jedoch nicht Individuums in der modernen Gesellschaft zum Zentralproblem - gewißermaßen zum Bezugsproblem, von
durchzuhalten, denn die Arbeit an einer solchen Theorie verwickelt zwangsläufig in selbstreferentielle dem aus die Gesellschaft insgesamt skeptisch beurteilt und nicht mehr ohne weiteres als fortschrittlich
Operationen. Sie kann nur innerhalb des Gesellschaftssystems kommuniziert werden. gewertet werden kann. Begriffe wie Sozialisation und Rolle markieren den Bedarf einer theoretischen
Die Soziologie hat sich diesem Problem bisher nicht mit der notwendigen Härte und Konsequenz gestellt. Vermittlung zwischen "Individuum" und "Gesellschaft". Neben der historischen Differenz übernimmt diese
Sie hat deshalb auch keine auch nur einigermaßen zureichende Gesellschaftstheorie vorlegen können. Gegen Unterscheidung von "Individuum" und "Gesellschaft" eine theorietragende Funktion. Aber ebensowenig wie
Ende des 19. Jahrhunderts hatte es nahegelegen, jede Einbindung einer Gesellschaftsbeschreibung in ihren im Falle der Geschichte kann hier die Frage nach der Einheit der Unterscheidung gestellt werden. Die Frage,
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Gegenstand als "Ideologie" wahrzunehmen und damit abzulehnen. Eine akademische Etablierung der was denn die Geschichte sei, wird methodisch verboten und das Problem, was denn die Einheit der Differenz
Soziologie im Reiche der strengen Wissenschaften wäre auf dieser Basis undenkbar gewesen. Manche von Individuum und Gesellschaft sei, wird nicht einmal als Problem erkannt, weil man mit der gesamten
meinten sogar, deswegen auch auf den Gesellschaftsbegriff verzichten und sich auf eine streng formale Tradition davon ausgeht, daß die Gesellschaft aus Individuen bestehe. Dies ist denn auch die Basis für eine
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Analyse sozialer Beziehungen beschränken zu müssen. Eine Differenzbegrifflichkeit wie Individualisierung, "kritische" Gesellschaftsanalyse, die man nicht dadurch "dekonstruieren" mag, daß man die Frage nach der
Differenzierung schien zu genügen, um das Forschungsinteresse der Soziologie zu markieren. Andere, Einheit der Differenz von Individuum und Gesellschaft stellt. Bei Max Weber schließlich schlägt die mit einer
Durkheim vor allem, hielten eine streng positive Wissenschaft von den "sozialen Tatsachen" und von der solchen Theorieanlage ermöglichte Skepsis bis in die Beurteilung des modernen, okzidentalen Rationalismus
Gesellschaft als Bedingung ihrer Möglichkeit für durchführbar. Wieder andere begnügten sich mit der durch. Man darf wohl auch daran erinnern, daß gleichzeitig eine Literatur entsteht, die vorführt, daß das
Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften und mit einer historischen Relativierung aller moderne Individuum weder in der Gesellschaft noch außerhalb der Gesellschaft eine sichere Grundlage für
Selbstbeobachtung, Selbstverwirklichung oder, wie es dann modisch heißen wird, für seine "Identität" finden
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kann. Man denke an Flaubert, an Mallarmé, an Henry Adams, an Antonin Artaud, um nur einige zu nennen.
Lars Löfgren spricht in einem ähnlichen Sinne von "autolinguistisch" als einer Form, die durch die Unterscheidung von Seit den Klassikern, seit etwa 100 Jahren also, hat die Soziologie in der Gesellschaftstheorie keine
Ebenen logisch "entfaltet" werden muß. Siehe: Life as an Autolinguistic Phenomenon, in: Milan Zeleny (Hrsg.),
Autopoiesis: A Theory of Living Organization, New York 1981, S.236-249.
nennenswerten Fortschritte gemacht. In der Nachfolge des Ideologiestreites des 19. Jahrhunderts, den man
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eigentlich vermeiden wollte, wurde die Paradoxie der Kommunikation über Gesellschaft in der Gesellschaft in
Siehe etwa, im Anschluß an Gotthard Günther, Fred Pusch, Entfaltung der sozialwissenschaftlichen Rationalität durch Theoriekontroversen aufgelöst mit Formeln wie strukturalistisch/prozessualistisch, Herrschaft/Konflikt,
eine transklassische Logik, Dortmund 1992.
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Und dies noch heute! Siehe Friedrich H. Tenbruck, Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der
4
Soziologie, Zeitschrift für Soziologie 10 (1981), S. 333-350. Simmel spricht, um Beziehungen und Dynamik zu betonen, Siehe Helmut Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie (1959), 3. Aufl. Düsseldorf 1967, S. 93 ff. Vgl. auch
nur noch von "Vergesellschaftung". Für Max Weber fallen Unterschiede zwischen den Wertsphären, Lebensordnungen Horst Baier, Soziologie als Aufklärung — oder die Vertreibung der Transzendenz aus der Gesellschaft, Konstanz 1989.
usw. der Gesellschaft so stark (und so "tragisch") ins Gewicht, daß er auf ein übergreifendes Einheitskonzept ganz 5
Dazu Friedrich H. Tenbruck, Geschichte und Gesellschaft, Berlin 1986
verzichtet. Siehe dazu Hartmann Tyrell, Max Webers Soziologie — eine Soziologie ohne 'Gesellschaft', in: Gerhard Wagner
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/ H. Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre, Frankfurt (im Druck). Vgl. Peter Bürger, Prosa der Moderne, Frankfurt 1988.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 9 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 10
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affirmativ/kritisch oder gar konservativ/progressiv. Da aber die Behauptung einer eigenen Position innerhalb Lösungen anbieten könnte. Für all das brauchte man eine theoretisch fundierte Beschreibung der modernen
solcher "frames" eine Auseinandersetzung mit der Gegenposition, also den Einschluß des Ausschließens Gesellschaft.
erfordert, blieb auch die Option für die eine und nicht die andere Seite jeweils mit Paradoxie infiziert, und die Wenn die Soziologie zugestehen muß, daß sie eine Gesellschaftstheorie diesen Zuschnitts bisher nicht
Form der Paradoxieentfaltung durch Kontroversen konnte nur überzeugen, solange ihr ein politischer Sinn zustandegebracht hat: wie kann sie ihr Versagen vor einer Aufgabe, die eindeutig in ihr Fach gehört und für
zugeordnet werden konnte. Das gelingt jedoch angesichts der Eigendynamik des politischen Systems immer ihr gesellschaftliches Ansehen wichtig wäre, erklären?
weniger überzeugend, auch wenn Intellektuelle dieses Spiel weiterspielen. Sicherlich hat die Soziologie in Sicher liegt es nahe, auf die immense Komplexität der Gesellschaft zu verweisen und auf das Fehlen
anderen Bereichen sowohl methodisch als auch theoretisch und vor allem im Hinblick auf die Ansammlung einer brauchbaren Methodologie für den Umgang mit hochkomplexen und differenzierten Systemen (die
empirischen Wissens viel geleistet, hat aber die Beschreibung der Gesamtgesellschaft gleichsam ausgespart. sogenannte "organisierte Komplexität"). Dies Argument gewinnt noch mehr Gewicht, wenn man fordert, zu
Vermutlich hängt dies mit der Selbstverpflichtung auf die Subjekt/Objekt-Unterscheidung zusammen. Zwar berücksichtigen, daß die Beschreibung des Systems Teil des Systems ist und es eine Mehrheit von solchen
gibt es Spezialforschungen über eine "Soziologie der Soziologie", und es gibt neuerdings eine Art "reflexive" Beschreibungen geben kann. Für "hyperkomplexe" Systeme dieser Art ist die konventionelle Methodologie,
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Wissenschaftssoziologie. In solchen Zusammenhängen tauchen Probleme der Selbstreferenz auf, aber sie die entweder von sehr kleinen Verhältnissen oder von Anwendungsbedingungen der statistischen Analyse
werden als Spezialphänomene gleichsam isoliert und wie Merkwürdigkeiten oder wie methodische ausgeht, erst recht ungeeignet. Aber dies Argument müßte zu dem Rat führen, auf Gesellschaftstheorie zu
Schwierigkeiten behandelt. Das Gleiche gilt für die Figur der "self-fulfilling prophecy". verzichten und sich zunächst mit der Methodologie des Umgangs mit hochkomplexen oder gar
Die einzige systematische soziologische Theorie, die es zur Zeit gibt, ist von Talcott Parsons als hyperkomplexen Systemen zu beschäftigen. Aber das tut man seit der Entdeckung dieses Methodenproblems
11
allgemeine Theorie des Handlungssystems ausgearbeitet. Sie empfiehlt sich als Kodifikation des vor bald 50 Jahren ohnehin — und mit wenig Erfolg.
Klassikerwissens und als Ausarbeitung des begrifflichen Verständnisses von Handlung mit Hilfe einer Eine andere Überlegung könnte einen Begriff von Gaston Bachelard benutzen: den Begriff der "obstacles
12
Methodologie der Kreuztabellierung. Gerade sie läßt aber die hier aufgeworfene Frage der kognitiven épistémologiques". Hiermit sind Traditionslasten gemeint, die eine adäquate wissenschaftliche Analyse
Selbstimplikation offen, weil sie über den Grad an Kongruenz von analytischer Begrifflichkeit und realer verhindern und Erwartungen erzeugen, die nicht eingelöst werden können, die aber trotz dieser erkennbaren
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Systembildung keine Aussagen macht. Sie postuliert nur einen "analytischen Realismus" und zieht damit das Schwächen nicht ersetzt werden können. Die Tradition hatte, wenn man so sagen darf, auf natürliche Fragen
Problem der Selbstimplikation in einer paradoxen Formel zusammen. Sie berücksichtigt nicht, daß das geantwortet und zum guten Teil deshalb in ihren Antworten überzeugt. In der wissenschaftlichen Evolution
Erkennen sozialer Systeme nicht nur durch seinen Gegenstand, sondern auch schon als Erkennen von sozialen treten dagegen an deren Stelle theorieabhängige wissenschaftliche Probleme, deren Lösungen nur noch im
Bedingungen abhängt; ja daß das Erkennen (oder Definieren, oder Analysieren) von Handlungen selbst schon wissenschaftlichen Kontext beurteilt werden können. Rückblickend haben die Leitideen dieser obstacles
ein Handeln ist. Folglich kommt Parsons selbst in den vielen Kästchen seiner eigenen Theorie nicht noch épistémologiques zu geringe Komplexität, sie überschätzen sich selbst und führen zu einer Uniformisierung
einmal vor. Und hierin dürfte denn auch letztlich der Grund liegen, weshalb die Theorie nicht systematisch des Gegenstandsbereichs, die schließlich nicht mehr überzeugt. Und nicht nur werden die Antworten, die man
zwischen sozialem System und Gesellschaft unterscheiden kann, sondern Aussagen über die moderne jetzt suchen muß, schwieriger (voraussetzungsvoller, unwahrscheinlicher, weniger überzeugend), sondern
9
Gesellschaft nur impressionistisch, nur mehr oder weniger feuilletonistisch anbietet. außerdem werden auch die vorgefundenen Fragen und Antworten zu Hindernissen einer weiteren
In einer langen Geschichte hatte die Beschreibung des sozialen Lebens der Menschen (man kann für Entwicklung, die den Umweg über unplausible Evidenzen nehmen muß.
ältere Zeiten nicht ohne Vorbehalte von "Gesellschaft" sprechen) sich an Ideen orientiert, denen die Solche Erkenntnisblockierungen finden sich im heute vorherrschenden Verständnis von Gesellschaft in
vorgefundene Wirklichkeit nicht genügte. Das galt für die alteuropäische Tradition mit ihrem Ethos der der Form von vier miteinander verbundenen, sich wechselseitig stützenden Annahmen, nämlich in der
natürlichen Perfektion des Menschen und mit ihrer Bemühung um Erziehung und um Vergebung der Sünden. Voraussetzung:
Es gilt aber auch noch für das moderne Europa, gilt für die Aufklärung und für ihre Doppelgottheit Vernunft (1) daß eine Gesellschaft aus konkreten Menschen und aus Beziehungen zwischen Menschen
14
und Kritik. Noch in diesem Jahrhundert wird dies Bewußtsein des Ungenügens wachgehalten (man denke an bestehe;
Husserl oder Habermas) und mit der Idee der Moderne verknüpft. Noch Richard Münch hält diese
Orientierung an der Spannung von Vernunft und Wirklichkeit für einen Grundzug der Moderne und für eine
10 11
Erklärung ihrer eigentümlichen Dynamik. Inzwischen hat sich jedoch der Sinn für Probleme aus den Ideen in Siehe Warren Weaver, Science and Complexity, American Scientist 36 (1948), S. 536-544.
die Realität selbst verschoben; und jetzt erst ist die Soziologie gefordert. Denn man müßte zunächst einmal 12
Siehe Gaston Bachelard, La formation de l'esprit scientifique: Contribution à une Psychanalyse de la connaissance
verstehen, weshalb die Gesellschaft sich selbst so viele Probleme bereitet, auch wenn man ganz davon absieht, objective, Paris 1947, S. 13 ff. Vgl. auch die Ausführungen zu counteradaptive results of adaptive change bei Anthony
sie in Richtung auf Ideen (mehr Solidarität, Emanzipation, vernünftige Verständigung, soziale Integration Wilden, System and Structure: Essays in Communication and Exchange, 2. Aufl. London 1980, S. 205 ff.
usw.) zu verbessern. Ihr Verhältnis zur Gesellschaft müßte die Soziologie als ein lernendes, nicht als ein 13
Eine harsche Kritik dieser aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Prämissen findet man bei Charles Tilly, Big
belehrendes begreifen. Sie müßte die vorgefundenen Probleme analysieren, eventuell verschieben, eventuell in Structures, Large Processes, Huge Comparisons, New York 1984. Sie bleibt jedoch ohne theoretischen Ertrag, weil sie mit
unlösbare Probleme verwandeln, auch ohne zu wissen, wie man dann trotzdem "wissenschaftlich geprüfte" ihnen den Gesellschaftsbegriff selbst aufgibt.
14
Eigentlich war das darin liegende Problem der Soziologie von Anfang an klar gewesen. Bei Durkheim liest man zum
Beispiel: "...la société n'est pas une simple somme d'individus, mais le système formé par leur association représente une
réalité spécifique qui a ses caractères propres." So in: Les règles de la méthode sociologique, zit. nach der 8. Aufl. Paris
7
Daß es sich hierbei um Entfaltung einer Paradoxie handelt, wird heute jedenfalls für Organisationstheorien durchaus 1927, S. 127. Die Unklarheit bestand nur darin, das Spezifische dieser Assoziation zu bestimmen. Denn: kann man
gesehen. Siehe Robert E. Quinn / Kim S. Cameron (Hrsg.), Paradox and Transformation: Toward a Theory of Change in Assoziation ohne Assoziierte denken? Solange diese Theorielücke nicht gefüllt wird, kommt es immer wieder zu
Organization and Management, Cambridge Mass. 1988, insb. den Beitrag von Andrew H. Van de Ven und Marshall Scott Rückfällen. Selbst neuere, das Konzept der Selbstreferenz einführende Systemtheorien arbeiten zuweilen noch mit der
Poole. Annahme, daß soziale Systeme aus Menschen bestehen. Um einen Philosophen, einen Physiker, einen Biologen und einen
Soziologen zu zitieren, vgl. Pablo Navarro, El holograma social: Una ontología de la socialidad humana, Madrid 1994;
8
Siehe besonders ausgeprägt Michael Mulkay, The Word and the World: Explorations in the Form of Sociological Mario Bunge, A Systems Concept of Society: Beyond Individualism and Holism, Theory and Decision 10 (1979), S. 13-30;
Analysis, London 1985; John Law (Hrsg.), Power, Action and Belief: A New Sociology of Knowledge?, London 1986. Humberto R. Maturana, Man and Society, in: Frank Benseler / Peter M. Hejl / Wolfram K. Köck (Hrsg.), Autopoiesis,
9 Communication, and Society: The Theory of Autopoietic System in the Social Sciences, Frankfurt 1980, S. 11-13; Peter M.
Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Warum AGIL? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 40 (1988),
Hejl, Sozialwissenschaft als Theorie selbstreferentieller Systeme, Frankfurt 1982. Eine solche Konfusion macht es jedoch
S. 127-139.
unmöglich, die Operation präzise anzugeben, die im Falle organischer, neurophysiologischer, psychischer und sozialer
10
Siehe: Moralische Diskurse: Das unvollendete Projekt der Moderne, in: Richard Münch, Dynamik der Systeme die Autopoiesis durchführt. Zwar macht man typisch die Konzession, daß nicht der ganze Mensch Teil des
Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt 1995, S. 13-36. sozialen Systems ist, sondern der Mensch nur insoweit, als er in Interaktion steht bzw. mit anderen Menschen gleichsinnige
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 11 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 12

(2) daß Gesellschaft folglich durch Konsens der Menschen, durch Übereinstimmung ihrer Meinungen Extrasoziales reduziert, bei anderen (Pufendorf zum Beispiel) auf eine Inklination zum Vertragsschluß. Diese
und Komplementarität ihrer Zwecksetzungen konstituiert oder doch integriert werde; Theorie mußte jedoch bald aufgegeben werden. Juristisch war sie zirkulär gebaut, konnte also die
(3) daß Gesellschaften regionale, territorial begrenzte Einheiten seien, so daß Brasilien eine andere unverbrüchliche und unkündbare Verbindlichkeit des Vertrages nicht erklären; und historisch konnte sie
Gesellschaft ist als Thailand, die USA eine andere als die Russlands, aber dann wohl auch angesichts der rasch zunehmenden Geschichtskenntnisse nur noch als Fiktion ohne Erklärungswert behandelt
Uruguay eine andere als Paraguay; werden. Ihr Erbe traten im 19. Jahrhundert Konsenstheorien und eine auf Konsens rekurrierende Vorstellung
(4) und daß deshalb Gesellschaften wie Gruppen von Menschen oder wie Territorien von außen von Solidarität und Integration an. Nochmals verdünnt verlangt man schließlich "Legitimation" derjenigen
beobachtet werden können. Institutionen, die auch bei fehlendem Konsens, also gegenüber Widerstand, noch Ordnung durchsetzen
Die unter 1-3 genannten Annahmen verhindern eine genaue begriffliche Bestimmung des Gegenstandes können. So beginnt, mit Emile Durkheim und mit Max Weber, die Soziologie. Immer noch ist und bleibt bei
Gesellschaft. Die Tradition hatte "den Menschen" (im Unterschied zum Tier) mit Hilfe von Unterscheidungen allen Konzessionen an Realität eine auf Konsens beruhende Integration dasjenige Prinzip, mit dem die
(wie: Vernunft, Verstand, Wille, Einbildungskraft, Gefühl, Sittlichkeit) beschrieben, die als überliefertes Gesellschaft als Einheit, als "Individuum" könnte man sagen, identifiziert wird.
Gedankengut überarbeitet, aber weder empirisch noch in ihrer Operationsweise spezifiziert wurden. Diese Dies Lehrgebäude bricht jedoch zusammen, wenn man genauer nachfragt, wie denn Konsens in einem
Unterscheidungen schienen zur wechselseitigen Klarstellung auszureichen, ließen es aber nicht zu, ihre psychisch aktualisierbaren Sinne überhaupt möglich sein soll, und ferner: wie auf diese Weise eine
15
neurophysiologischen Grundlagen zu klären. Erst recht bieten diese "anthropologischen" Begriffe keine ausreichende Gleichrichtung von ineinandergreifenden Erwartungen erreicht werden soll. Max Weber hatte
Möglichkeit, die Unterscheidung psychisch/sozial an sie anzuschließen. Die Schwierigkeiten wachsen, wenn bereits einen ersten Schritt getan, indem er das Problem auf Typenzwang als Bedingung des Verstehens von
man diese Unterscheidungen aufgibt und statt dessen auf wissenschaftliche und empirische Bezeichenbarkeit sozial gemeintem Sinn reduzierte. Parsons, hier eher Durkheim folgend, sieht die Lösung in einem
Wert legt. Die Problematisierung der menschlichen Individualität im Blick auf die Eigenart der Assoziationen Wertkonsens, der auf zunehmende Differenzierung durch zunehmende Generalisierung reagiert. Mit diesen
16
und Gefühlsbildungen des Einzelnen beginnt um die Mitte des 18. Jahrhunderts , also deutlich vor der eingebauten Verzichten auf Konkretisierung trägt man zwar der Individualität der Akteure und der
industriellen Revolution. Daran zerbricht die traditionsreiche kosmologische Situierung des Menschen in einer Komplexität des Gesellschaftssystems Rechnung, bringt aber das, was dann noch Gesellschaft heißen kann, in
Ordnung, die ihm Rang und Lebensform zuweist, und statt dessen wird das Verhältnis von Individuum und eine derart ausgedünnte Begrifflichkeit, daß die Theorie allenfalls noch in genügend verdichteten Teilbereichen
Gesellschaft zum Problem. Wie immer man Traditionsbegriffe, besonders "Vernunft" fortführt: offensichtlich der Gesellschaft funktioniert. Im übrigen müßte dann, wider besseres Wissen, sozialen Konflikten, Dissensen
gehört ja nicht alles, was den Menschen individuiert (wenn überhaupt irgendetwas an ihm) zur Gesellschaft. und abweichendem Verhalten die Zugehörigkeit zur Gesellschaft abgesprochen werden oder man müßte sich
Die Gesellschaft wiegt nicht genau so viel wie alle Menschen zusammen und ändert auch nicht mit jeder damit begnügen, zu versichern, daß auch dies noch irgendwelche Konsense (zum Beispiel über den
Geburt und jedem Tod ihr Gewicht. Sie wird nicht etwa dadurch reproduziert, daß in den einzelnen Zellen des Beleidigungswert bestimmter Beschimpfungen) voraussetze. Und umgekehrt sieht John Rawls sich genötigt,
Menschen Makromoleküle oder in den Organismen der einzelnen Menschen Zellen ausgetauscht werden. Sie für die Ausgangssituation der vertragsähnlichen Begründung von Prinzipien der Gerechtigkeit einen "Schleier
19
lebt also nicht. Auch die selbst für das Bewußtsein unzugänglichen neurophysiologischen Prozesse des des "Nichtwissens" zu postulieren, der Individuen daran hindert, ihre Stellung und ihre Interessen zu kennen
Gehirns wird niemand ernstlich als gesellschaftliche Prozesse ansehen, und das gleiche gilt für all das, was — also Individuen ohne Individualität vorauszusetzen. Aber das ist offensichtlich nur eine andere Weise der
sich im aktuellen Aufmerksamkeitsbereich des Einzelbewußtseins an Wahrnehmungen und an Invisibilisierung der Paradoxie jedes Rückgriffs auf Ursprünge.
Gedankenabfolgen abspielt. Georg Simmel, der dies Problem auf den modernen Individualismus zurückführte, Eine weitere Konsequenz der Annahme, daß Individuen mit ihrem Verhalten die Gesellschaft
opferte in dieser Situation lieber den Gesellschaftsbegriff als das soziologische Interesse an Individuen. materialisieren, liegt in der Hypothese, daß strukturelle Probleme der Gesellschaft (zum Beispiel zu
Aggregatbegriffe, und so erschien ihm das Problem, seien überhaupt fragwürdig und durch relationale weitgetriebene Differenzierung ohne ausreichende Integration oder Widersprüche in den Strukturen und
17
Theorien abzulösen. Schließlich sei auch die Astronomie keine Theorie "des Sternenhimmels". Verhaltenszumutungen der Gesellschaft) als individuelles Fehlverhalten erscheinen und hier empirisch
20
Wenn es nicht mehr einleuchtet, daß die Gesellschaft natural aus konkreten Menschen bestehe, denen abgelesen werden können. Die klassische Monographie hierzu war Durkheims Selbstmordstudie. Aber auch
Solidarität als ordinata concordia und speziell als ordinata caritas vorgeschrieben sei, kann als Ersatzkonzept Instabilität der Familien, Kriminalität, Drogenkonsum oder Rückzug aus sozialen Engagements ließen sich
eine Konsenstheorie einspringen. Das führt im 17. und 18. Jahrhundert zur Wiederbelebung und nennen. Das Individuum mag dann seine persönliche Reaktion auf "Anomie" wählen; aber im Grunde handelt
18
Radikalisierung der Lehre von Sozialvertrag. Der Naturbegriff wird, zumindest bei Hobbes, auf es sich um funktional äquivalente Einstellungen, die dem Soziologen als Indikator für Probleme dienen, deren
Wurzeln er in der Gesellschaft zu suchen hat. Aber selbst wenn solche Zusammenhänge statistisch
(parallelisierte) Erlebnisse aktualisiert. Siehe z.B. Peter M. Hejl, Zum Begriff des Individuums - Bemerkungen zum nachgewiesen werden können, bleibt die Frage, wie ein Individuum dazu kommt, Symptome gesellschaftlicher
ungeklärten Verhältnis von Psychologie und Soziologie, in: Günter Schiepek (Hrsg.), Systeme erkennen Systeme: Pathologien zu zeigen — oder nicht zu zeigen. Vor allem aber müßte überlegt werden, welche
Individuelle, soziale und methodische Bedingungen systemischer Diagnostik, München 1987, S. 115-154 (128). Aber das Strukturprobleme der Gesellschaft sich überhaupt zur Umsetzung in individuelles Fehlverhalten eignen. Nicht
macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer; denn dann kann man erst recht nicht mehr angeben, welche Operation
diese "insoweit"-Unterscheidung durchführt - doch offenbar weder die Zellchemie noch das Gehirn, noch das Bewußtsein,
zuletzt die ökologischen Probleme zwingen dazu, sich dieser Frage zu stellen.
noch die gesellschaftliche Kommunikation, sondern allenfalls ein entsprechend unterscheidender Beobachter. Der typische Das alles müßte der Soziologie Anlaß geben, zu zweifeln, ob sie einer konsensuellen Integration
Ausweg ist es dann, auf systemkonstituierende Operationen gar nicht einzugehen, sondern Theoriekonstruktionen nur auf überhaupt eine die Gesellschaft konstituierende Bedeutung zuschreiben muß. Es würde ja genügen, wenn man
der Ebene von "Variablen" anzusetzen, deren Auswahl dann freilich theoretisch nicht mehr kontrolliert werden kann. Für annimmt, daß Kommunikation im Zuge ihrer eigenen Fortsetzung Identitäten, Referenzen, Eigenwerte,
ein Beispiel siehe B. Abbott Segraves, Ecological Generalization and Structural Transformation of Sociocultural Systems, 21
Objekte erzeugt — was immer die Einzelmenschen erleben, wenn sie damit konfrontiert werden.
American Anthropologist 76 (1974), S. 530-552.
15
Nach heutigem Wissensstand wird man vermutlich sagen müssen, daß das, was als Vernunft, Wille, Gefühl usw. 19
Siehe in deutscher Übersetzung John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975, S. 27 ff.
erfahren und bezeichnet wird, eine nachträgliche Interpretation bereits vorliegender Resultate neurophysiologischer
20
Operationen ist, also wohl deren Aufbereitung für bewußte Weiterbehandlung dient, aber keineswegs die ausschlaggebende Siehe Emile Durkheim, Le suicide: Etude de sociologie, Paris 1987.
Ursache menschlichen Verhaltens ist. Siehe z.B. Brian Massumi, The Autonomy of Affect, Cultural Critique 31 (1995), S. 21
83-109. Diese Auffassung verdankt entscheidende Anregungen dem "sozialen Behaviorismus" von George Herbert Mead, der
freilich immer wieder in die übliche Konsenstheorie eingebaut und so in dem entscheidenden Punkte mißverstanden wird.
16
Vgl. James L. Clifford (Hrsg.), Man versus Society in Eighteenth Century Britain, Cambridge 1968. Es geht Mead jedoch in erster Linie um die Erzeugung permanenter Objekte als Stabilisatoren des von Ereignis zu Ereignis
17 fließenden Verhaltens und erst in zweiter Linie darum, daß solche Objekte auch als Symbole für übereinstimmende
So in: Über sociale Differenzierung (1890), zit. nach: Georg Simmel, Gesamtausgabe Bd. 2, Frankfurt 1989, S. 109-295
Sichtweisen fungieren können — aber als Symbole eben deshalb, weil Konsens unter der Bedingung gleichzeitiger
(126).
Ereignishaftigkeit des Erlebens und Handelns niemals kontrolliert werden kann. Es geht in erster Linie um eine Zeittheorie
18
Zur heutigen Diskussion vgl. A. Carbonaro / C. Catarsi (Hrsg.), Contrattualismo e scienze sociali, Milano 1992. und erst in zweiter Linie um eine auf notwendigen Fiktionen aufbauende Sozialtheorie. Die Frage ist, wie Sozialität unter
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 13 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 14

Dieser Überlegungsgang konvergiert mit einer Version von Systemtheorie, die konstitutiv (Begriff und (societas civilis) hieß. Bindet man den Gesellschaftsbegriff an herrschafts- oder wertezentralistische
Realität betreffend) auf die Differenz von System und Umwelt abstellt. Wenn man von der Unterscheidung Prämissen, unterschätzt man nicht nur die auch regional sichtbare Vielfalt und Komplexität kommunikativer
System/Umwelt ausgeht, muß man den Menschen als lebendes und bewußt erlebendes Wesen entweder dem Zusammenhänge, sondern auch, und vor allem, das Ausmaß, in dem die "Informationsgesellschaft" weltweit
System oder der Umwelt zuordnen. (Eine Halbierung, Drittelung usw. und eine entsprechende Aufteilung ist dezentral und konnexionistisch über Netzwerke kommuniziert — eine Tendenz, die in einer absehbaren
empirisch undurchführbar). Würde man den Menschen als Teil des Gesellschaftssystems ansehen, zwänge das Zukunft durch Computerisierung sicher noch verstärkt werden wird.
dazu, die Theorie der Differenzierung als Theorie der Verteilung von Menschen anzulegen — sei es auf Humanistische und regionalistische (nationale) Gesellschaftsbegriffe sind theoretisch nicht mehr
Schichten, sei es auf Nationen, Ethnien, Gruppen. Damit geriete man jedoch in einen eklatanten Widerspruch satisfaktionsfähig; sie überleben nur noch im Sprachgebrauch. Somit hinterläßt die gegenwärtige
zum Konzept der Menschenrechte, insbesondere zum Konzept der Gleichheit. Ein solcher "Humanismus" soziologische Theorie einen zwiespältigen, janusköpfigen Eindruck: Sie benutzt Konzepte, die den Anschluß
28
würde also an eigenen Vorstellungen scheitern. Es bleibt nur die Möglichkeit, den Menschen voll und ganz, die Tradition noch nicht aufgeben, aber schon Fragen ermöglichen, die ihren Rahmen sprengen könnten. Sie
mit Leib und Seele, als Teil der Umwelt des Gesellschaftssystems anzusehen. verwendet an grundbegrifflicher Stelle den Begriff der Handlung, um sich auf ereignisförmige Letzteinheiten
Daß man gegen alle offensichtlichen Diskrepanzen und trotz der bekannten philosophischen Kritik an einzustellen — und um immer wieder daran erinnern zu können, daß nur individuelle Menschen handeln
22
anthropologischen Fundierungen an einem menschbezogenen "humanistischen" Gesellschaftsbegriff können. Sie bildet den Begriff des global system, um Globalisierungen anzuerkennen — und den Begriff der
23
festhält , ist vermutlich bedingt durch die Befürchtung, anderenfalls jeden Maßstab für die Beurteilung der Gesellschaft auf nationalstaatlicher Ebene zurücklassen zu können.
Gesellschaft und jedes Recht auf die Forderung, die Gesellschaft solle "menschlich" eingerichtet werden, Im Falle des menschbezogenen Gesellschaftsbegriffs wird zu viel eingeschlossen, im Falle des
aufgeben zu müssen. Selbst wenn dies so wäre, müßte man aber immer noch unabhängig von solchen territorialen Gesellschaftsbegriff zu wenig. In beiden Fällen könnte das Festhalten an derart unbrauchbaren
Kriterien zunächst feststellen können, was die Gesellschaft aus den Menschen macht und wieso dies geschieht. Konzepten damit zusammenhängen, daß man die Gesellschaft als etwas denken möchte, das man von außen
24
Ähnlich evidente Einwände sprechen gegen das territoriale Gesellschaftskonzept. Mehr als je zuvor beobachten kann. Dabei muß man sich jedoch auf eine Erkenntnistheorie stützen, die längst überholt ist - auf
greifen weltweite Interdependenzen heute in alle Details des gesellschaftlichen Geschehens ein. Wollte man eine Erkenntnistheorie, die von der Unterscheidung Denken/Sein, Erkenntnis/Gegenstand, Subjekt/Objekt
das ignorieren, müßte man sich auf einen durch Herrschaft definierten oder auf einen kulturnostalgischen ausgeht und den Realvorgang des Erkennens auf der einen Seite dieser Unterscheidung dann nur noch als
Gesellschaftsbegriff zurückziehen. Man müßte den Gesellschaftsbegriff von willkürlich gezogenen Reflexion erfassen kann. Davon ist man spätestens seit der linguistischen Wende der Philosophie
25
Staatsgrenzen abhängig machen oder trotz all der damit verbundenen Unklarheiten auf Einheit einer abgekommen, - bei allen logischen Problemen, die man sich mit dem Übergang zu einer "naturalisierten
regionalen "Kultur", auf Sprache und dergleichen abstellen. Alle für die weitere Entwicklung wichtigen Epistemologie" (Quine) einhandelt. Warum fällt es der Soziologie aber so schwer, diese Wende
26
Bedingungen blieben einem anderen Begriff überlassen, etwa dem des "global system". Für Anthony mitzuvollziehen?
Giddens ist der Begriff society gleichbedeutend mit nation-state, deshalb fast überflüssig, und dann wird nur Vielleicht liegt der Grund darin, daß sie die Gesellschaft zu gut kennt (oder dies jedenfalls vorgeben
27
noch von dem "world-embracing" character of modern institutions gesprochen. Aber damit wäre dann dieser muß), um daran Gefallen zu finden, sich selbst als Teil dieser Realität zu begreifen. Man möchte in
Begriff des global system der eigentliche Nachfolgebegriff für das, was in der Tradition "Gesellschaft" Opposition zur Gesellschaft, zumindest aber in resoluter Resignation Frankfurter Stils verharren können. Aber
das wäre ja auch und gerade dann möglich, wenn man die eigene Theorie als Teil ihres eigenen Gegenstandes
der Bedingung von Gleichzeitigkeit (= Unkontrollierbarkeit) überhaupt möglich ist; und die Antwort lautet: über die
erkennen würde. Man könnte die Leichtigkeit und die Indirektheit des Blickes copieren, mit denen Perseus die
29
Konstitution von Objekten als Eigenwerten des in der Zeit fließenden Verhaltens. Siehe vor allem den Aufsatz Eine Medusa geköpft hatte (und es geht auch der Soziologie nur um die Köpfe). Man könnte daran erinnern, daß
behavioristische Erklärung des signifikanten Symbols, und (unter Berufung auf Whitehead): Die Genesis der Identität und die Theologie für die Funktion der Beobachtung Gottes und seiner Schöpfung die Figur des Teufels erfunden
die soziale Kontrolle, beides zitiert nach der deutschen Übersetzung in: George Herbert Mead, Gesammelte Aufsätze Bd. 1, hatte und daß die großen Sophisten des 19. Jahrhunderts wie Marx, Nietzsche und Freud durch ihre
Frankfurt 1980, S. 290-298 und 299-328. Zur Kritik der Sozialvertragslehren an Hand eines Begriffs des "quasi-objets" vgl. 30
"inkongruenten Perspektiven" charakterisiert worden sind. Das Problem dürfte daher eher in den
auch Michel Serres, Genèse, Paris 1982, S. 146 ff. Serres hat allerdings nur den Sonderfall im Sinn, daß bestimmte Schwierigkeiten logischer und theorietechnischer Art liegen, denen man sich stellen muß, wenn man, wie die
symbolische Objekte eigens konstituiert werden, um eine soziale Koordination zu leisten. Die Ausführungen oben im Text
gehen weit darüber hinaus.
Linguistik sagt, mit "autologischen" Konzepten arbeitet und sich nötigt, sich selbst im eigenen Gegenstand,
22
also Soziologie als Selbstbeschreibung der Gesellschaft zu entdecken. In letzter Konsequenz führte das dazu,
Siehe Martin Heidegger, Sein und Zeit § 10, 6. Aufl. Tübingen 1949, S. 45 ff. für den bekanntesten Fall. daß man zwar die Vorstellung beibehalten kann, Realität sei am Widerstand zu erkennen, den sie ausübe, aber
23
So heute besonders pointiert (aber eben deshalb auch eher untypisch) Günter Dux, Geschlecht und Gesellschaft: Warum zugeben muß, daß solcher Widerstand gegen Kommunikation nur durch Kommunikation geleistet werden
wir lieben: Die romantische Liebe nach dem Verlust der Welt, Frankfurt 1994. könne. Könnte man sich darauf einlassen, würde damit die Subjekt/Objekt-Unterscheidung "dekonstruiert"
31
24
Die Einwände sind durchaus geläufig und werden gerade von Autoren gepflegt, die von Individuen/Personen ausgehen. werden , und damit wäre auch den vorherrschenden Erkenntnisblockierungen ihre heimliche Stütze
Siehe z.B. Tim Ingold, Evolution und Social Life, Cambridge England 1986, S. 119 ff. Sie werden aber typisch als genommen. Und dann könnte man die humanistische ebenso wie die regionalistische Begriffstradition an ihrer
Einwände gegen einen systemtheoretischen Begriff von Gesellschaft vorgetragen — so als ob die Systemtheorie genötigt eigenen Unbrauchbarkeit zerbrechen lassen.
wäre, Grenzen der Systeme in Raum und Zeit anzugeben. Wir haben mithin ein doppeltes Problem, nämlich (1) zu
erklären, weshalb Soziologen evidente Bedenken gegen das territorialistische Konzept nicht zur Kenntnis nehmen, und (2)
die Systemtheorie als Grundlage der Gesellschaft so zu formulieren, daß sie in der Bestimmung der Gesellschaftsgrenzen
nicht auf Raum und Zeit angewiesen ist.
28
25 Vgl. dazu (in Anwendung auf die Entwicklung der kybernetischen Systemtheorie) den der archäologischen Anthropologie
Ein scharfer Kritiker dieses Konzepts der Staatsgesellschaft weist darauf hin, daß dann in diesem Jahrhundert der
entnommenen Begriff eines skeuomorph bei N. Katherine Hayles, Boundary Disputes: Homeostasis, Reflexivity, and the
Sprachraum Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik und Österreich mehrfach eine Gesellschaft
Foundations of Cybernetics, Configurations 3(?), (1994), S. 441-467. "A Skeuomorph is a design feature, no longer
bzw. mehrere Gesellschaften gewesen seien. Siehe Immanuel Wallerstein, Societal Development, or Development of the
functional in itself, that refers back to an avatar that was functional at an earlier time" (446).
World-System, International Sociology 1(1986), S. 3-17, neu gedruckt in: Martin Albrow / Elisabeth King (Hrsg.),
29
Globalization, Knowledge and Society, London 1990, S. 157-171. Andererseits hält gerade Wallerstein an einem Dies rät Italo Calvino in seinen Lezioni Americane: Sei proposte per il prossimo millenio, Milano 1988, S. 6 f. Vgl. auch
regionalen Gesellschaftsverständnis fest und spricht im übrigen nur von world-system. Niklas Luhmann, Sthenographie, Delfin X (1988), S. 4-12; auch in Niklas Luhmann et al., Beobachter: Konvergenz der
26 Erkenntnistheorien?, München 1990, S. 119-137.
Siehe nur Wilbert E. Moore, Global Sociology: The World as a Singular System, American Journal of Sociology 71
30
(1966), S. 475-482; Roland Robertson, Globalization: Social Theory and Global Culture, London 1992. durch Kenneth Burke, Permanence and Change, New York 1935.
27 31
So in: The Consequences of Modernity, Stanford Cal. 1990, S. 12 ff. (16); ferner S. 63 ff. ausführlich über Siehe nur Paul de Man, The Resistance to Theory, Minneapolis 1986, formuliert in der Begrifflichkeit von Sprache und
"globalisation". Text.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 15 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 16

In ihrem gegenwärtigen Wissenschaftsverständnis kann die Soziologie kaum auf den Anspruch II. Methodologische Vorbemerkung
verzichten, Phänomene der sozialen Wirklichkeit zu erklären. Das wiederum erfordert, daß man die zu
erklärenden Phänomene gegeneinander abgrenzt und, so präzise wie möglich, die Merkmale angibt, durch die Ihrem Wissenschaftskonzept zufolge bezieht sich die Soziologie auf die soziale Realität, wie sie faktisch
sie sich unterscheiden. "Was sind ..."-Fragen wie zum Beispiel: Was ist ein Unternehmen?, was ist eine soziale vorhanden ist. Normative Fragen müssen dann aus dieser Realität heraus entwickelt, also nicht als
Bewegung?, was ist eine Stadt? erfordern aber, schon als Fragen, die Angabe von Wesensmerkmalen, also Idealvorstellungen der Soziologie von außen an die Gesellschaft herangetragen werden. Das hat dazu geführt,
essentialistische Begriffsbildungen, die heute zwar nicht mehr in der Natur, wohl aber in den methodischen die am Anfang des 19. Jahrhunderts noch übliche Konfrontierung von Ideal und Realität zu ersetzen durch die
Erfordernissen der wissenschaftlichen Forschung verankert werden. Wie soll die Soziologie, muß man deshalb 33
Doppelfrage: "Was ist der Fall?" und "Was steckt dahinter?". Nur für die "Aufhebung" dieser Differenz
fragen, eine Gesellschaftstheorie formulieren, wenn sie nicht angeben kann,was sie mit diesem Begriff sucht? spielen Idealkonstruktionen (etwa: Emanzipation; oder: ein normativer Begriff von Rationalität) noch eine
Aber zugleich kann man auch bemerken, daß die Soziologie sich mit diesem Typus von Was-Fragen in Rolle. Auf dieser Linie hat sich von Marx bis Habermas eine "kritische" Soziologie entwickelt, die
den Zustand einer Dauerunruhe versetzt, also sich selbst als autopoietisches System einrichtet. Es kann keine Methodologie dadurch ersetzt, daß sie die Auffassungen ihrer (von ihr aus gesehenen) Gegner an ihren
endgültige Antwort auf solche Fragen, keine weiterer Forschung entzogene Fixpunkte geben, sondern nur die kritischen Ambitionen mißt. Dann steht aber das Urteil schon vor der Untersuchung fest.
Beobachtung, welche Begriffsfestlegungen welche Folgen haben. Im Modus der (Selbst-)Beobachtung zweiter Diesen Strang wollen wir im folgenden nicht weiter verfolgen. Aber auch zu dem, was fachüblich als
Ordnung, im Modus konstruktivistischer Erkenntnistheorie also, lösen sich deshalb alle Merkmalsvorgaben 34
"empirische" Forschung behandelt wird, geraten wir in Distanz. Die klassische Methodologie weist die
wieder auf, und man sieht ihre Notwendigkeit für die Forschung ebenso wie ihre Kontingenz. Es sind Forscher an, sich so zu verhalten, als ob sie ein einziges "Subjekt" seien. Das ermöglicht, so hofft man, eine
gleichsam auszuprobierende Selbstfestlegungen, es sind Forschungsprogramme, die unentbehrlich, aber Fortführung der (logischen und ontologischen) Tradition, die von einer Unterscheidung von Denken und Sein
auswechselbar sind, wenn es überhaupt um den Unterschied von Wahrheit und Unwahrheit gehen soll. ausging und im Denken das Sein zu erreichen suchte. Gewiß ist Übereinstimmung ein lobenswertes Ziel, aber
Im weiten Feld interdisizplinärer Forschungen gibt es heute viele Angebote, die dem Rechnung tragen, man darf auch fragen, was verloren geht, wenn man die Forschung an diesem Ziel ausrichtet. Schließlich ist
etwa die Gründung jeder Art von Kognition auf die operative Schließung beobachtender Systeme; oder die die moderne Gesellschaft, in der auch die Forschung zu arbeiten hat, ein polykontexturales System, das eine
Chaos-Theorie genannte Mathematik der nichtlinearen Funktionen und der Prognose von Mehrheit von Beschreibungen ihrer Komplexität zuläßt. Man wird daher von der Forschung kaum erwarten
Unprognostizierbarkeit; oder die Evolutionstheorie der Zufallsauslösung von Strukturbildungen. Wir werden können, daß sie der Gesellschaft eine monokontexturelle Beschreibung aufzwingt — jedenfalls dann nicht,
davon bei Bedarf Gebrauch machen. Speziell für die Soziologie fließen diese Desiderate in ihren Bemühungen wenn es um Gesellschaftstheorie geht.
um eine Gesellschaftstheorie zusammen, denn als Gesellschaft ist ihr ein Gegenstand gegeben, der alles, was Von einer konstruktivistischen Position aus gesehen kann die Funktion der Methodik nicht allein darin
die Forschung an Gegenstandsbestimmtheiten (Wesensmerkmalen) braucht, immer schon selbst erzeugt hat. liegen, sicherzustellen, daß man die Realität richtig (und nicht irrig) beschreibt. Eher dürfte es um raffinierte
Es kann daher nur die Frage sein, wie man diesem Sachverhalt dadurch Rechnung tragen kann, daß man Formen der systeminternen Erzeugung und Bearbeitung von Information gehen. Das heißt: Methoden
festlegt, was der Begriff der Gesellschaft bezeichnen soll. ermöglichen es der wissenschaftlichen Forschung, sich selbst zu überraschen. Dazu bedarf es einer
Die folgenden Untersuchungen wagen diesen Übergang zu einem radikal antihumanistischen, einem Unterbrechung des unmittelbaren Kontinuums von Realität und Kenntnis, von dem die Gesellschaft zunächst
32
radikal antiregionalistischen und einem radikal konstruktivistischen Gesellschaftsbegriff. Sie leugnen ausgeht.
selbstverständlich nicht, daß es Menschen gibt, und sie ignorieren auch nicht die krassen Unterschiede der Die die soziologische Methodendiskussion dominierende Gegenüberstellung von quantitativen und
Lebensbedingungen in den einzelnen Regionen des Erdballs. Sie verzichten nur darauf, aus diesen Tatsachen qualitativen Methoden lenkt von den eigentlichen Problemen eher ab. Sie läßt vor allem ungeklärt, wie man
ein Kriterium für die Definition des Begriffs der Gesellschaft und für die Bestimmung der Grenzen des Distanz zum Gegenstand in Erkenntnisgewinn transformieren könne und wie man die Milieukenntnisse der
entsprechenden Gegenstandes herzuleiten. Und gerade durch diesen Verzicht gewinnt man die Möglichkeit, sozial erfahrenen Teilnehmer (die auf Fragen antworten sollen) in sozialer Kommunikation zugleich bestätigen
normative und evaluative Standards im Umgang mit Menschen, zum Beispiel: Menschenrechte oder und überbieten könne. Daß die entsprechenden Äußerungen als "Daten" behandelt werden, gibt darauf
verständigungsorientierte Kommunikationsnormen im Sinne von Habermas und schließlich: Einstellungen zu natürlich keine Antwort.
den Entwicklungsunterschieden einzelner Regionen, als Eigenleistung der Gesellschaft zu erkennen, statt sie Die übliche Methodenempfehlung ist mit dem Begriff der Variable formuliert und fragt nach
als regulative Ideen oder als Komponenten des Begriffs von Kommunikation voraussetzen zu müssen. Die Beziehungen zwischen Variablen, eventuell nach Korrelationen und nach den Bedingungen, von denen sie
Vorfrage bleibt jedoch: wie bringt die Gesellschaft sich selbst dazu, solchen und anderen Themen Aktualität 35
abhängen. Für die projektförmig durchgeführte Forschung werden die wenigen Variablen, die man
zu gewähren? behandeln kann, als geschlossener Bereich aufgefaßt und alles andere wird durch eine methodologisch
Schon Nietzsche hatte (in: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben) gegen die eingeführte Fiktion als indifferent angesetzt. Dabei wird ignoriert oder doch aus Methodengründen
Geschichtsabhängigkeit seiner Zeitgenossen rebelliert und ihnen ein ironisches, wenn nicht zynisches ausgeklammert, daß das Verhältnis von Einschließung und Ausschließung durch die sozialen Systeme selbst
Bewußtsein bescheinigt in der Form eines: so geht es nicht mehr und anders auch nicht. Die Diagnose mag geregelt ist; und daß im übrigen der Sinngebrauch in sozialen Systemen immer auch Verweisungen auf
noch zutreffen, aber statt Ironie findet man eher eine theoretisch-hilflose Verlegenheit. Deshalb kann es auch Unbekanntes, auf Ausgeschlossenes, auf Unbestimmbares, auf Informationsmängel und auf eigenes
nicht weiterhelfen, wenn man statt auf Geschichte auf Leben setzt und damit die Fähigkeit des Vergessens
assoziiert. Die Empfehlung für heute ist daher eher: die an sich verfügbaren theoretischen Ressourcen besser
zu nutzen — nicht zuletzt auch für eine Rekonstruktion des Verhältnisses zur Geschichte und zu ihren
semantischen Erblasten.
33
Ausführlicher Niklas Luhmann, Was ist der Fall, was steckt dahinter? Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie,
Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), S. 245-260.
34
Eine lehrreiche Skizze der Grenzen dieser Methodenvorstellungen findet man bei Karl E. Weick, Organizational
Communication: Toward a Research Agenda, in: Linda L. Putnam / Michael E. Pacanowski (Hrsg.), Communication and
Organizations: An Interpretive Approach, Beverly Hills 1983, S. 13-29.
32 35
Man kann natürlich bestreiten, daß sich auf diesem Wege die Erwartungen an eine Gesellschaftstheorie einlösen lassen. Eine skeptische Beschreibung dieses Begriffs hat ihrerseits Tradition. Vgl. z.B. Herbert Blumer, Sociological Analysis
So Thomas Schwinn, Funktion und Gesellschaft: Konstante Probleme trotz Paradigmawechsel in der Systemtheorie Niklas and the "Variable", American Sociological Review 21 (1956), S. 683-690. Andererseits führt der Verzicht auf diese
Luhmanns, Zeitschrift für Soziologie 24 (1995), S. 196-214. Aber dann müßte genauer angegeben und begründet werden, Einschränkung zu einer Art Überdetermination der Forschungsergebnisse, die es erschwert, wenn nicht unmöglich macht,
was als Gesellschaftstheorie erwartet wird. zu generalisierbaren Resultaten zu kommen. Der entsprechende Schulenstreit dauert nun schon Jahrzehnte.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 17 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 18
36
Nichtwissen mitführt. Das kann als Verweisung auf die Zukunft und auf in Aussicht stehende daß die übliche Methodologie in ihren theoretischen Prämissen sich auf Handlung bezieht — und nicht auf
Bestimmungsmöglichkeiten geschehen (so in Husserls Phänomenologie) aber auch in der Form einer Kommunikation.
Negativterminologie, die das, was sie bestimmt, nur negiert und dabei offen läßt, was statt dessen der Fall ist. Ein weiterer Punkt betrifft die methodologische Präferenz für möglichst einfache Erklärungen —
40
Zwar wird wie zur Entschuldigung von "Kontext" gesprochen, der zu berücksichtigen sei; aber das bleibt eine einfach im Verhältnis zur Komplexität der Daten. Man weiß mindestens seit Poincaré , daß es sich hierbei
paradoxe Forderung, deren Erfüllung ja dazu führen müßte, daß der "Kontext" in einen "Text" verwandelt um eine Konvention ohne Rückhalt in der Realität handelt; eine Konvention also, mit der die Wissenschaft
wird. Vor allem aber wäre es, wenn man dem Begriff der Kommunikation eine theoretisch zentrale Bedeutung sich selbst bedient. Die Frage, was denn dadurch ausgeschlossen (also: als ausgeschlossen eingeschlossen) ist,
37
gibt, notwendig, das immer mitzuerheben, was nicht gesagt wird, wenn etwas gesagt wird ; denn im sozialen hat die Soziologie nie wirklich beschäftigt; und zwar auch dort nicht, wo sie sich darüber im klaren ist, daß
Verkehr werden die Reaktionen sehr häufig durch eine Mitreflexion des Nichtgesagten bestimmt sein. Will Wissenschaft in der Gesellschaft betrieben wird. Mit Popper Falsifikationsmethodologie ist die Problem nicht
man der sozialen Realität gerecht werden, kann man aber nicht davon abstrahieren, daß alle dort gebrauchten zu lösen. Es stellt sich bei Falsifikationsversuchen ebenso wie bei Verifikationsversuchen. Man könnte
Sinnformen eine andere Seite haben, die einschließt, was sie für den Moment ihres Gebrauchs ausschließen. vermuten, ausgeschlossen sei das hinter allen erkennbaren Strukturen liegende Chaos, aber damit würde die
Wir werden versuchen, dies über den Sinnbegriff, aber auch über den Begriff der Form, den mathematischen Welt nur in erkennbar/unerkennbar unterteilt. Eine andere, wohl überzeugendere Antwort wäre, daß dadurch
Begriff des "re-entry" einer Form in die Form und ganz grundsätzlich über einen differentialistischen Ansatz die Gesellschaft selbst mit ihren anderen Möglichkeiten der Kommunikation ausgeschlossen, also von
der Theorie zu berücksichtigen. Interferenz in wissenschaftliche Wahrheitsproduktion abgehalten wird. Die Gesellschaft kann in sich selbst
Die geläufige Frage nach den Zusammenhängen von Variablen korrespondiert sehr gut mit wissenschaftliche Forschung nur vorsehen, wenn sie es der Forschung erlaubt, möglichst einfache (zum
handlungstheoretischen Gegenstandsvorstellungen. Dies allerdings nicht deshalb, weil Handlung ein besonders Beispiel mathematische) Erklärungsmodelle auszuprobieren und weitere Forschungen einzustellen, wenn die
geeigneter Gegenstand für empirische Forschungen wäre. Gerade das kann man mit guten Gründen bestreiten. Erklärung den methodologischen Anforderungen genügt; oder anderenfalls sich an komplexere Datenvorgaben
Aber Handlungen kann man sich leicht in Interaktionszusammenhängen vorstellen, wenn man Max Weber heranzuwagen. Dagegen ist sicher nichts zu sagen. Nur: wenn es um eine Theorie der Gesellschaft geht,
folgt und der Handlung einen sozial gemeinten Sinn unterstellt. Die Motive der Handelnden (und eventuell: müßte diese Erlaubnis, sich selbst mit Hilfe von Konventionen Erfolge und Mißerfolge zu bescheinigen, als
ihre rational auswählende Struktur) dienen dann zur Erklärung der Formen, die Interaktionen annehmen. Eigenart des Gegenstandes der Forschung in die Forschung einbezogen werden. Man brauchte eine Theorie,
Genau damit wird jedoch die andere Seite der Form ausgeblendet oder allenfalls als rational nicht wählbar die den methodologischen Rahmen der Forschung desavouiert. Derrida würde vielleicht sagen: dekonstruiert.
mitgeführt. Die eine Gesellschaftstheorie primär interessierende Frage wäre jedoch, weshalb fast alle Nach hundert Jahren Erfahrung mit der fachüblichen empirischen Forschung kann man (wenn man
möglichen Handlungen und Interaktionen nicht zustandekommen. Sie liegen offensichtlich außerhalb des extrapolieren darf) sagen, daß man auf diesem Wege zwar durchaus makrosoziologische Phänomene (wie
Schemas möglicher Motive und rationaler Kalkulationen. Aber wie bringt die Gesellschaft dies Aussortieren zum Beispiel steigende/fallende Kriminalität, Migrationsbewegungen, Scheidungsraten) erfassen kann, aber
des doch Möglichen zustande? Wieso gehört es zum Sinn der Formen des sozialen Lebens, daß diese nicht zu einer Theorie der Gesellschaft (als Gesamtheit aller sozialer Phänomene) gekommen ist und daß die
gewaltigen Überschüsse des Möglichen als unmarked space unbeachtet bleiben? Denkbar wäre zumindest, weiteren Aussichten nicht gerade günstig sind. Die Ambition der empirischen Forschung wurzelt in einem
daß die gesellschaftlichen Strukturen nicht als Aggregate präferierter Handlungsmotive entstehen, sondern viel Vertrauen in das eigene Instrumentarium und in der Prämisse (dem "Vorurteil"), daß man mit diesen Mitteln
elementarer als Einschluß dieses Ausschlusses in die Form. zur Realität kommen und nicht nur eigene Konstruktionen validieren könne. Dem könnte man entgegenhalten,
Die Neigung des methodologischen Individualismus (ob zwangsläufig oder nicht), am Individuum daß die Koinzidenz von Empirie und Realität ihrerseits empirisch nicht feststellbar ist, also
abzufragen, was es weiß oder meint, und dann die entsprechenden Daten statistisch auszuwerten, greift erkenntnistheoretisch als zufällig behandelt werden muß. Das muß nicht dazu führen, daß man Resultate
prinzipiell am Phänomen der Kommunikation vorbei, denn Kommunikation findet ihren Anlaß ja typisch im empirischer Forschung nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Aber sie führen typisch zu stimulierenden Fragen
38
Nichtwissen. Man muß einschätzen können, welche Mitteilungen für andere Information bedeuten, also (warum dies?, warum so?) und nicht zu Antworten im Sinne eines von da ab gesicherten Wissens, das nur
etwas, was sie nicht oder nicht sicher wissen, ergänzen. Ebenso muß, umgekehrt gesehen, jeder Teilnehmer durch den (allerdings typisch zu erwartenden) sozialen Wandel außer Kraft gesetzt werden könnte.
etwas nicht wissen, um Information aufnehmen zu können. Diese Rolle des Nichtwissens läßt sich nicht auf Wollten wir uns an dieser Alternative von kritischer und positiver (methodologisch "empirischer")
ein je individuelles Wissen des Nichtwissens anderer reduzieren. Es ist auch völlig unrealistisch, anzunehmen, Soziologie orientieren, kämen wir in der bevorstehenden Aufgabe nicht sehr weit. Wir müssen nicht ablehnen
39
ein Individuum wisse, was es nicht wisse. Vielmehr erzeugt und testet die Kommunikation selbst das für (denn das würde nicht helfen). Wir müssen ergänzen. Sowohl im Faktischen als auch im Begrifflichen können
ihren weiteren Betrieb notwendige Nichtwissen. Sie lebt, könnte man auch sagen, von ungleich verteiltem hierzu Vorschläge gemacht werden.
Wissen/Nichtwissen. Sie beruht auf der Form des Wissens, die immer zugleich eine andere Seite des noch Was Fakten betrifft, so fällt auf, daß vieles bekannt ist und keiner weiteren empirischen Untersuchung
nicht Gewußten mitlaufen läßt. Und ebenso muß jeder Teilnehmer abschätzen können, was überhaupt nicht bedarf; und auch: daß die bekannten Tatsachen oft viel gravierendere Konsequenzen haben als das, was der
gewußt werden kann, damit er vermeiden kann, erkennbar Unsinn zu reden. Es überrascht nach all dem nicht, common sense schon weiß oder die empirische Forschung feststellt. Es wäre also viel damit zu gewinnen,
könnte man Bekanntes aus ungewohnten, inkongruenten Perspektiven neu beleuchten oder anders
41
kontextieren. Aber dafür fehlt derzeit eine ausgearbeitete Methodologie, die stärker, als man im allgemeinen
36
Für einen Überblick über neuere Interessen an diesen Fragen siehe Michael Smithson, Ignorance and Uncertainty: annimmt, von Theorieentwicklungen abhängen dürfte.
Emerging Paradigms, New York 1989. Im übrigen haben eher Linguisten als Soziologen Verständnis dafür, daß bei der Die Begrifflichkeit einer Gesellschaftstheorie steht vor der Aufgabe, ihr Komplexitätspotential zu
Benutzung von Sprache immer der Auswahlbereich und damit das Nichtgesagte mitaktualisiert wird. Siehe z.B. M.A.K. steigern, nämlich mehr heterogene Sachverhalte mit denselben Begriffen zu interpretieren und dadurch
Halliday, Language as Social Semiotic: The Social Interpretation of Language and Meaning, London 1978, z.B. S. 52 und
öfter. Vergleichbarkeit von sehr verschiedenen Sachverhalten zu gewährleisten. Diese Absicht, selbst extrem
37
Ungleiches noch als vergleichbar zu behandeln, folgt der Methode des funktionalen Vergleichens. Sie schließt
Hier mag denn auch einer der Gründe liegen, weshalb der Soziologie die Umstellung von Handlung auf Kommunikation vor allem eine rein klassifikatorische Methode aus; denn Klassifikationen gehen ja davon aus, daß bei
schwer fällt.
38
Dazu bereits oben S. ..... Für eine ähnliche Korrektur am typischen Vorgehen der Forschung über "artificial intelligence"
siehe Bd. 8, Heft 1 (1994) der Revue internationale de systémique. 40
Vor allem: Henri Poincaré, La Science et l'Hypothèse, zitiert nach der Ausgabe Paris 1929.
39
Als theoretische Abschlußfigur ist eine solche Annahme rasch zu widerlegen, obwohl jedermann in spezifischen 41
Hinsichten natürlich feststellen kann, daß er etwas nicht weiß. Aber das ist eine Frage des Gedächtnisses — sei es, daß Vgl. hierzu auch Kenneth J. Gergen, Toward a Transformation in Social Knowledge, New York 1982, S. 103 f. nach
man etwas sucht, was man vergessen hat; sei es, daß man glaubt, sich erinnern zu können, daß man etwas nie gewußt hat. einer vernichtenden Kritik der Vorgehensweise und der Resultate der üblichen empirischen Sozialpsychologie: "The
theorist could succeed in furnishing the necessary linkages with observation language by drawing selectively from the
storehouse of 'what everybody knows'". Das methodologische Problem steckt natürlich im 'selectively'.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 19 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 20
44
Ungleichheit eine andere Klasse in Frage kommt. Selbstverständlich werden wir nicht darauf verzichten, Weltqualität, die sich einer Schöpfung, einer Stiftung, einem Ursprung verdankt. Es gibt demnach keine von
Sachverhalte allgemeinen Begriffen zuzuordnen, aber wir sehen in der Klassifikation, in einer Art der Realität des faktischen Erlebens und Kommunizierens abgehobene Idealität. Platon hatte zwar Recht, daß
Namengebung also, nicht die Form, mit der methodisches Bemühen um Erkenntnis stillgestellt werden kann. Ideen mit Gedächtnis zusammenhängen. Aber die Erinnerung führt nicht zurück zum eigentlichen, fast
Das methodische Desiderat des funktionalen Vergleichens spiegelt Eigenarten der modernen vergessenen Sinn des Seienden, seinen Wesensformen, den Ideen; sondern das Gedächtnis konstruiert
Gesellschaft, und auch darin liegt ein Grund, sich theoretisch wie methodisch nicht länger auf Strukturen nur für momentanen Gebrauch zur Bewahrung von Selektivität und zur Einschränkung von
Traditionsvorgaben zu verlassen. Denn, wie wir ausführlich zeigen werden, ist die moderne Gesellschaft durch Anschlußfähigkeit. Es ist eine Selbstillusionierung sinnkonstituierender Systeme, wenn sie meinen,
funktionale Autonomisierung und operative Schließung ihrer wichtigsten Teilsysteme charakterisiert. Ihre zeitüberdauernde Identitäten habe es immer schon gegeben und werde es weiterhin geben und man könne sich
Funktionssysteme sind für eigene Selbstorganisation und Selbstreproduktion freigesetzt. Das aber heißt, daß daher auf sie wie auf Vorhandenes beziehen. Alle Orientierung ist Konstruktion, ist von Moment zu Moment
das Gesamtsystem sich nicht mehr durch operative Kontrolle, sondern nur noch über strukturelle reaktualisierte Unterscheidung.
Auswirkungen ihrer Differenzierungsform auf die Teilsysteme zur Geltung bringen kann. Diese Einsicht führt Über diese Feststellung, die zunächst wie eine bloße Behauptung klingt (es gibt keinen Sinn außerhalb
zu methodologischen Konsequenzen: Weder Ideale noch Normen können den Ausgangspunkt für der Systeme, die Sinn als Medium benutzen und reproduzieren), gelangt man hinaus, wenn man sich eine
methodologische Richtlinien (zum Beispiel: Approximationsmessungen) bieten; denn das würde das Problem Konsequenz operativer Schließung für die Beziehungen des Systems zu seiner operativ unerreichbaren
nur verschieben in die Frage, weshalb die Gesellschaft sich selbst mit Ideen belastet, denen sie nicht genügen Umwelt vor Augen führt. Lebende Systeme schaffen für ihre Zellen eine Sonderumwelt, die sie schützt und
kann, und wie sie solche Ideen auswählt. Statt dessen kann und muß man die Gesellschaftsbedingtheit von ihre Spezialisierung erlaubt, nämlich Organismen. Sie schützen sich durch materielle Grenzen im Raum.
Befunden dadurch nachweisen, daß man zeigt, daß und wie sich in völlig verschiedenartigen Psychische und soziale Systeme bilden ihre Operationen als beobachtende Operationen aus, die es
Funktionsbereichen (Familie und Politik, Religion und Wirtschaft, kognitive Wissenschaft und imaginative ermöglichen, das System selbst von seiner Umwelt zu unterscheiden — und dies obwohl (und wir müssen
Kunst oder normatives Recht) dieselben Grundstrukturen nachweisen lassen. Das Argument lautet dann: hinzufügen: weil) die Operation nur im System stattfinden kann. Sie unterscheiden, anders gesagt,
solche Koinzidenzen können sich nicht zufällig ergeben; sie können und müssen auf die Form des Selbstreferenz und Fremdreferenz. Für sie sind Grenzen daher keine materiellen Artefakte, sondern Formen
Gesellschaftssystems zurückgeführt werden. mit zwei Seiten.
Insofern hängen die folgenden Untersuchungen nicht nur theoretisch, sondern auch methodologisch von Abstrakt gesehen handelt es sich dabei um ein "re-entry" einer Unterscheidung in das durch sie selbst
sehr abstrakten Begriffsentscheidungen ab. Die Gründe dafür liegen in einem zirkulären Argument. Denn die Unterschiedene. Die Differenz System/Umwelt kommt zweimal vor: als durch das System produzierter
soeben formulierten Annahmen über die Eigenart der modernen Gesellschaft und über das, was in diesem Unterschied und als im System beobachteter Unterschied. Mit dem Begriff des "re-entry" zitieren wir zugleich
Zusammenhang als hinreichend evidente Tatsache behandelt werden kann, sind natürlich abhängig von der angebbare Konsequenzen, die George Spencer Brown als Schranken eines auf Arithmetik und Algebra
45
Beobachtungsweise und den Unterscheidungen, mit denen die Gesellschaftstheorie sich selbst etabliert. Das beschränkten mathematischen Kalküls dargestellt hat. Das System wird für sich selbst unkalkulierbar. Es
kann nicht vermieden werden, denn schließlich muß die Gesellschaftstheorie in der Gesellschaft formuliert erreicht einen Zustand von Unbestimmtheit, der nicht auf die Unvorhersehbarkeit von Außeneinwirkungen
42
werden. Auch "Methodologie" bietet keine ab extra einführbaren, a priori hinzunehmenden Ausgangspunkte. (unabhängige Variable) zurückzuführen ist, sondern auf das System selbst. Es braucht deshalb ein
Will man diesem Sachverhalt Rechnung tragen, so bleibt nur die Möglichkeit, theoriebautechnisch so Gedächtnis, eine "memory function", die ihm die Resultate vergangener Selektionen als gegenwärtigen
46
transparent wie möglich zu verfahren und Begriffe als Entscheidungen auszuweisen, die mit erkennbaren Zustand verfügbar machen (wobei Leistungen des Vergessens und des Erinnerns eine Rolle spielen). Und es
Folgen geändert werden können. versetzt sich selbst in den Zustand des Oszillierens zwischen positiv und negativ gewerteten Operationen und
47
zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. Es konfrontiert sich selbst mit einer für es selbst
unbestimmbaren Zukunft, für die gleichsam Anpassungsreserven für unvorhersehbare Lagen gespeichert sind.
Das für das System selbst sichtbare Resultat dieser Konsequenzen des re-entry soll im Folgenden mit
III. Sinn dem Begriff "Sinn" bezeichnet werden.
Akzeptiert man diese Theoriedisposition, kann man nicht von einer vorhandenen Welt ausgehen, die aus
43
Was von Sinn zu halten ist, habe ich in mehreren Veröffentlichungen zu klären versucht. Im Kontext Dingen, Substanzen, Ideen besteht, und auch nicht mit dem Weltbegriff deren Gesamtheit (universitas rerum)
einer Gesellschaftstheorie müssen wir wenigstens kurz darauf zurückkommen, weil davon auszugehen ist, daß bezeichnen. Für Sinnsysteme ist die Welt kein Riesenmechanismus, der Zustände aus Zuständen produziert
weder die Theorie noch die Gesellschaft selbst das überschreiten kann, was als Sinn immer schon und dadurch die Systeme selbst determiniert. Sondern die Welt ist ein unermessliches Potential für
vorausgesetzt sein muß. Denn ohne von Sinn Gebrauch zu machen, kann keine gesellschaftliche Operation Überraschungen, ist virtuelle Information, die aber Systeme benötigt, um Information zu erzeugen, oder
48
anlaufen. genauer: um ausgewählten Irritationen den Sinn von Information zu geben. Folglich muß jegliche Identität
Legt man das allgemeine Theoriemuster von "Autopoiesis" zugrunde, widerspricht das als Resultat von Informationsverarbeitung oder, wenn zukunftsbezogen, als Problem begriffen werden.
Vorausgesetztsein von Sinn keineswegs dem Erzeugtsein von Sinn im Netzwerk derjenigen Operationen, die
Sinn immer auch voraussetzen. Im Gegenteil: die Eigenart des Mediums Sinn ist ein notwendiges Korrelat der 44
Siehe auch Gilles Deleuze, Logique du sens, Paris 1969, z.B. S. 87 ff.: "Le sens est toujours un effet." "Le sens n'est
operativen Schließung von erkennenden Systemen. Sinn gibt es ausschließlich als Sinn der ihn benutzenden
jamais principe ou origine, il est produit." Das steht auch bei Deleuze in engem Zusammenhang mit der These, daß Sinn
Operationen, also auch nur in dem Moment, in dem er durch Operationen bestimmt wird, und weder vorher nur durch Auflösung einer Paradoxie gewonnen werden kann.
noch nachher. Sinn ist demnach ein Produkt der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine 45
Siehe Laws of Form, Neudruck New York 1979, insb. S. 56 ff.
46
42 Kybernetiker würden hier von Wiedereinführung des Output als Input in dasselbe System sprechen.
Anders wird oft im sogenannten "Pragmatismus" argumentiert in dem Bemühen, Theorierelativismus
47
(Paradigmaverzicht, Pluralismus und all das) durch Festhalten an dem Erkenntnis sichernden Sinn von Methoden Mit dieser Unterscheidung gehen wir aus Gründen, die in der Systemtheorie liegen, über Spencer Brown hinaus.
auszugleichen. Siehe zum Beispiel Nicholas Rescher, Methodological Pragmatism: A Systems-theoretic Approach to the 48
Ob dies auch für sinnfrei operierende, aber diskriminierfähige lebende Systeme gilt, wird diskutiert. Siehe z.B.
Theory of Knowledge, Oxford 1977.
Madeleine Bastide / Agnès Lagache / Catherine Lemaire-Misonne, Le paradigme des signifiants: Schème d'information
43
Vgl. Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas / Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder applicable en Immunologie et en Homeopathie, Revue Internationale de systémique 9 (1995), S. 237-249. Siehe die
Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt 1971, S. 25-100; Soziale Systeme: Grundriß einer Formulierung: "La structure vivante est capable de recevoir l'objet sémantique non pas comme objet matériel affectant le
allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984, S. 92-147; Complexity and Meaning, in: Niklas Luhmann, Essays on Self-Reference, soi, mais comme information sur cet objet, appelant dès lors le traitement et la régulation active par l'ensemble du
New York 1990, S. 80-85. système." (241) Nur so läßt sich die Anwendung des Begriffs der Information auf lebende Systeme begründen.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 21 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 22

Identitäten "bestehen" nicht, sie haben nur die Funktion, Rekursionen zu ordnen, so daß man bei allem zum Beispiel nach ihrer Funktion in der Phänomenologie der Welt fragt und damit den Blick auf funktionale
Prozessieren von Sinn auf etwas wiederholt Verwendbares zurück- und vorgreifen kann. Das erfordert Äquivalente, also auf andere Möglichkeiten öffnet. Was mit der Sinnthese ausgeschlossen ist, ist nur der
selektives Kondensieren und zugleich konfirmierendes Generalisieren von etwas, was im Unterschied zu Gegenfall absoluter Leere, Nichtheit, das Chaos im ursprünglichen Sinne des Wortes und auch der
49
anderem als Dasselbe bezeichnet werden kann. Weltzustand des "unmarked state" im Sinne von Spencer Brown. Aber zugleich reproduziert alles sinnhafte
53
Daß sinnhafte Identitäten (empirische Objekte, Symbole, Zeichen, Zahlen, Sätze usw.) nur rekursiv Operieren immer auch die Anwesenheit dieses Ausgeschlossenen , denn die Sinnwelt ist eine vollständige
erzeugt werden können, hat weitreichende epistemologische Konsequenzen. Einerseits wird dadurch klar, daß Welt, die das, was sie ausschließt, nur in sich ausschließen kann. Auch "Unsinn" kann daher nur im Medium
54 55
der Sinn solcher Entitäten weit über das hinausreicht, was im Moment einer Beobachtungsoperation erfaßt Sinn, nur als Form von Sinn gedacht und kommuniziert werden. Alle Negation potentialisiert und bewahrt
werden kann. Andererseits heißt dies gerade nicht, daß es solche Gegenstände immer schon und auch dann damit, was sie explizit negiert und re-etabliert damit auch jenen unmarked space, in den sich jede, auch die
"gibt", wenn sie nicht beobachtet werden. Unterhalb der Prämissen der traditionellen logisch-ontologischen negierende Operation durch eine Unterscheidung einkerbt.
Realitätsauffassung wird eine weitere Ebene, ein weiteres operatives Geschehen sichtbar, das Gegenstände Darüber, wie Sinn funktioniert, lassen sich Aussagen machen mit Hilfe spezifischer, genau darauf
und Möglichkeiten, sie zu bezeichnen, überhaupt erst konstituiert. Soweit Rekursionen auf Vergangenes bezogener, Sinn definierender Unterscheidungen. Man kann Sinn phänomenologisch beschreiben als
verweisen (auf bewährten, bekannten Sinn), verweisen sie nur auf kontingente Operationen, deren Resultate Verweisungsüberschuß, der von aktuell gegebenen Sinn aus zugänglich ist. Sinn ist danach — und wir legen
gegenwärtig verfügbar sind, aber nicht auf fundierende Ursprünge. Soweit Rekursionen auf Künftiges Wert auf die paradoxe Formulierung — ein endloser, also unbestimmbarer Verweisungszusammenhang, der
56
verweisen, verweisen sie auf endlos viele Beobachtungsmöglichkeiten, also auf die Welt als virtuelle Realität, aber in bestimmter Weise zugänglich gemacht und reproduziert werden kann. Man kann die Form von Sinn
von der man noch gar nicht wissen kann, ob sie jemals über Beobachtungsoperationen in Systeme (und in bezeichnen als Differenz von Aktualität und Möglichkeit und kann damit zugleich behaupten, daß diese und
welche?) eingespeist werden wird. Sinn ist demnach eine durch und durch historische Operationsform, und keine andere Unterscheidung Sinn konstituiert. Man hat demnach, wenn man über Sinn spricht, etwas
nur ihr Gebrauch bündelt kontingente Entstehung und Unbestimmtheit künftiger Verwendungen. Alle Greifbares (Bezeichenbares, Unterscheidbares) im Sinn; und das heißt auch, daß mit der Sinnthese
Festlegungen müssen dieses Medium benutzen, und alle Einschreibungen in dieses Medium haben keinen eingeschränkt wird, was dann noch über Gesellschaft ausgemacht werden kann. Gesellschaft ist ein
anderen Grund als ihre durch Rekursionen abgesicherte Faktizität. sinnkonstituierendes System.
In der kommunikativen Erzeugung von Sinn wird diese Rekursivität vor allem durch die Worte der Die Modalisierung der Aktualität durch die Unterscheidung aktuell/möglich bezieht sich auf den Sinn,
50
Sprache geleistet, die in einer Vielzahl von Situationen als dieselben verwendet werden können. Darüber der jeweils in den Systemoperationen aktualisiert wird. Sie ist doppelt asymmetrisch gebaut; denn auch der
hinaus gibt es aber auch Objekte, die als wahrnehmbare Dinge mit sozialem Sinn angereichert werden können, aktualisierte Sinn ist und bleibt möglich und der mögliche Sinn aktualisierbar. In der Unterscheidung ist
so daß sie eine nicht auf Sprache angewiesene Koordinationsfunktion erfüllen können — man denke an demnach ein "re-entry" der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene mitvorgesehen. Sinn ist also eine
Sakralobjekte oder an Personen in Trance-Zuständen (Propheten, "Medien"), denen Geist-Besessenheit Form, die auf beiden Seiten eine Copie ihrer selbst in sich selbst enthält. Das führt zur Symmetrisierung des
57
zugeschrieben wird; an Könige, an Münzen, an Fußbälle. Auch die besondere Art, wie "Heimat" identifiziert zunächst asymmetrisch gegebenen Unterschiedes von aktuell und möglich , und folglich erscheint Sinn als
wird, läßt sich nicht allein auf Sprache zurückführen und deshalb sprachlich auch nicht angemessen weltweit überall dasselbe. Re-asymmetrisierungen sind möglich, ja fürs Beobachten erforderlich, aber sie
ausdrücken. Dasselbe gilt für die Ordnung von Raumverhältnissen durch Architektur oder für den Sinn von müssen durch weitere Unterscheidungen eingeführt werden, zum Beispiel durch die Unterscheidung
Handlungen. Immer geht es um die Grundfunktion der Ordnung von im Moment (und nur im Moment) System/Umwelt oder durch die Unterscheidung Bezeichnendes/Bezeichnetes.
verfügbaren Rekursionen. Sinnverwendende Systeme sind schon durch ihr Medium Systeme, die sich selbst und ihre Umwelt nur in
Im selbstkonstituierten Medium Sinn ist es unerläßlich, Operationen an Unterscheidungen zu orientieren. der Form von Sinn, und das heißt: mit re-entry der Form in die Form beobachten und beschreiben können. Es
51
Nur so läßt sich die für Rekursionen erforderliche Selektivität erzeugen. Sinn besagt, daß an allem, was gibt keine psychischen und sozialen Systeme, die im Medium Sinn nicht zwischen sich selbst und anderem
aktuell bezeichnet wird, Verweisungen auf andere Möglichkeiten mitgemeint und miterfaßt sind. Jeder unterscheiden könnten (welche Freiheiten immer dann in Fragen der Kausalzurechnung aktualisiert werden
52
bestimmte Sinn meint also sich selbst und anderes. Das heißt auch, daß es der Dingerfahrung widerspräche, mögen). Und konkreter: von Moment zu Moment wird das re-entry genutzt, wird aktuelle Sinnbehandlung
wollte man annehmen, das Ding würde verschwinden, wenn man es aus dem Auge lassen und sich anderem reproduziert und dabei auf Mögliches vorgegriffen. Aktualität ist so gleichsam die Schiene, auf der immer
zuwenden würde (denn dann würde man ja nie riskieren können loszulassen). Sinn ist in allem, was neue Systemzustände projektiert und realisiert werden. Daher erscheint die Aktualität dem System als
aktualisiert wird, als Weltverweisung co-präsent, und zwar aktuell appräsentiert. Das schließt auch die momentane Gegenwart und, vermittelt über Selbstthematisierung, zugleich als (wie immer prekäre) Dauer.
Verweisung auf die Bedingungen eigenen Könnens, eigenen Erreichen-Könnens und deren Grenzen in der Und es gibt für solche Systeme kein Ausweichen vor den strukturellen Konsequenzen eines re-entry, vor allem
Welt ein. Selbst die Unterscheidung aktuell/möglich kann noch als sinnhaft bezeichnet werden, indem man der Selbstüberlastung mit Möglichkeiten, die durch keine Beobachtung oder Beschreibung eingeholt werden
und nur als Selektivität beobachtet werden können. Eine historisch viel benutzte Form des Umgangs mit dieser
Selbstüberforderung mißt das System an Ideen (zum Beispiel der Perfektion), die es nicht verwirklichen kann.
49
In der Transzendentalen Phänomenologie Husserls bestünde das methodische Korrelat in der Unterscheidung von
phänomenologischer Reduktion, die nur die Seinsprätention in Bewußtsein auflöst, und der eidetischen Reduktion, die das
festhält, was sich in Variationen als Identisches zeigt. Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie Bd. 1, Husserliana Bd. III, Den Haag 1950, insb. S. 136 ff. 53
Diese auf Politik gemünzte Formulierung bei Bernard Willms, Politik als Erste Philosophie oder: Was heißt radikales
50
So versteht man auch den "linguistic turn" der Philosophie als Korrelat einer gesellschaftlichen Entwicklung, die der politisches Philosophieren?, in: Volker Gerhard (Hrsg.), Der Begriff der Politik: Bedingungen und Gründe politischen
Substanzontologie und ihrem transzendentalen Refugium die Plausibilität entzieht. Das impliziert zugleich einen Übergang Handelns, Stuttgart 1990, S. 252-267 (260, 265 f.).
von Was-Fragen zu Wie-Fragen, die Problematisierung der Übersetzbarkeit von Sprachen und allgemein die seit Saussure 54
So auch Deleuze a.a.O. S. 83 ff. Non-sens reflektiere nur das, was Deleuze (S. 87) dann "donation du sens" nennt.
gesehene Notwendigkeit, Identitäten durch Differenzen zu ersetzen.
55
51 Zu diesem Begriff Yves Barel, Le paradoxe et le système: Essai sur le fantastique social, 2. Aufl. Grenoble 1989, S. 71
Das muß nicht schon gleich im Sinne des "omnis determinatio est negatio" verstanden werden. Negation ist ja immer
f., 185 f., 302 f.
eine spezifische Operation, die die Identität des zu Negierenden, das man auch affirmieren könnte, voraussetzt. Wir
56
bewegen uns noch im Vorfeld der bereits spezifischen Unterscheidung von positiver und negativer Sinnverarbeitung, und Das schließt im übrigen diese Aussage selbst ein. Auch über "endlos" oder "unbestimmbar" kann nur in bestimmter
Unterscheidung selbst besagt gerade die mitkonstituierende Relevanz des Nichtbezeichneten. Weise gesprochen werden, nämlich im Kontext bestimmter (und nicht anderer) Unterscheidungen wie unendlich/endlich
52 oder unbestimmt/bestimmt.
Die Ausnahme, die die Tradition anbietet, ist der Begriff Gottes. Siehe für dessen Akzeptanz außerhalb der Theologie
57
z.B. Thomas Browne, Religio Medici (1643), zit. nach der Ausgabe der Everyman's Library London 1965, S. 40, 79. Eben Vgl. Louis H. Kauffman, Self-reference and Recursive Forms, Journal of Social and Biological Structures 10 (1987), S.
deshalb muß es sich bei "Gott" um einen außerordentlichen Begriff handeln. 53-72 (58 f.).
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 23 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 24

Systeme, die im Medium Sinn operieren, können, ja müssen Selbstreferenz und Fremdreferenz ist aber nur eine unter anderen Möglichkeiten, sinnhaft (nämlich durch spezifische Unterscheidungen) mit
unterscheiden; und dies in einer Weise, bei der mit der Aktualisierung von Selbstreferenz immer auch Varietät umzugehen. Vorrangig ist die Gegenwart diejenige Seite der Form von Sinn, die im Unterschied zur
Fremdreferenz und mit der Aktualisierung von Fremdreferenz immer auch Selbstreferenz als die jeweils anderen Seite dieser Form oben als Aktualität bezeichnet worden ist. Die andere Seite ist dann all das, was
andere Seite der Unterscheidung mitgegeben ist. Alle Formenbildung im Medium Sinn muß deshalb von hier aus zugänglich ist, sei es unmittelbar und real, sei es nur möglicherweise, sei es im Vollzug von
systemrelativ erfolgen, gleichgültig ob der Akzent im Moment auf Selbstreferenz oderauf Fremdreferenz liegt. Wahrnehmungen, sei es nur gedanklich oder imaginativ. Man könnte in loser Anlehnung an Spencer Brown
65
Erst diese Unterscheidung ermöglicht Prozesse, die man üblicherweise als Lernen, als Systementwicklung, als die Innenseite der Form als Attraktor der Operation von ihrer Außenseite unterscheiden. Sinnhaftes
evolutionären Aufbau von Komplexität bezeichnet. Und sie ermöglicht es auch, von zwei operativ sehr Operieren heißt dann, daß alle Operationen auf der Innenseite der Form, also aktuell stattfinden (oder eben:
verschiedenen sinnkonstituierenden Systemen auszugehen, die sich über Bewußtsein bzw. über nicht stattfinden); daß aber genau dazu eine andere Seite der Form, eben die Außenseite als ein ins Unendliche
Kommunikation reproduzieren, damit jeweils eigene Ausgangspunkte für die Unterscheidung von gehender Raum anderer Möglichkeiten erforderlich ist, wenn es denn Sinn sein soll.
Selbstreferenz und Fremdreferenz erzeugen und sich trotzdem über vorausgesetzte bzw. aktualisierte Daß die Zeitdimension von Sinn jederzeit unterscheidungsrelevant werden kann, hat erhebliche
Fremdreferenz immer aufeinander beziehen: psychische Systeme und soziale Systeme. Auswirkungen auf soziale Verhältnisse. Die Zeitdimension verhindert die dinghafte Verfestigung der
Als Universalmedium aller psychischen und sozialen, aller bewußt und kommunikativ operierenden Sozialdimension. Andere können im nächsten Moment anders beobachten, sie sind innerhalb der
Systeme regeneriert Sinn mit der Autopoiesis dieser Systeme anstrengungslos und wie von selbst. Schwierig Sachdimension von Sinn zeitlich beweglich. Das Ausmaß, in dem Gesellschaften dies zugestehen, variiert
ist es dagegen, Unsinn zu erzeugen, da die Bemühung darum schon wieder Sinn macht. Man kann dieses historisch mit der Komplexität des Gesellschaftssystems — leicht nachzuprüfen, wenn man den
58
Problem an den Versuchen mit einer non-sense Kunst verfolgen. Möglich ist Unsinnsproduktion nur, wenn Zusammenhang der Ding-Semantik ("res"), der zweiwertigen Logik, der Behandlung abweichender Meinung
man einen engeren Begriff des Sinnvollen (zum Beispiel: des alltäglich Üblichen, des Erwartbaren) bildet und als Irrtum und der Absonderung eines besonderen Meinungswissens als bloßer dóxa/opinio in der
dann Unsinn davon unterscheidet. Ähnliches gilt, wenn man durch angestrengte Bemühungen etwas besonders alteuropäischen Tradition bedenkt, während heute sehr viel stärker von der Zeitbedingtheit aller Einstellungen
"Sinnvolles" zustandebringen will und dann möglicherweise die Sinnlosigkeit aller Bemühungen darum zu zur Welt ausgegangen wird.
59
spüren bekommt. In das allgemeine unnegierbare Medium Sinn können also sekundäre positiv/negativ- Wenn jede Operation ein zeitpunktabhängiges Ereignis ist, das verschwindet, sobald es aktualisiert ist,
Zäsuren eingebracht werden; aber das bringt es unausweichlich mit sich, daß eine solche Unterscheidung als und folglich durch ein anderes Ereignis ersetzt werden muß, wenn überhaupt eine Sequenz von Operationen,
Unterscheidung dann wieder Sinn hat und Sinn reproduziert. Man kann deshalb zwar Sinn als Form also ein System zustandekommen soll (was nicht sein muß!), erfordert jeder Fortgang des Operierens ein
bezeichnen, indem man Sinn von Unsinn unterscheidet und ein Kreuzen der Grenze ermöglicht; aber das kann Kreuzen der Grenze der Form, nämlich einen Übergang zu etwas auf der anderen Seite, was vorher nicht
nur in der Weise geschehen, daß die Unterscheidung Sinn/Unsinn im Moment ihrer Verwendung Sinn bezeichnet war. Wir kümmern uns hier nicht um die logischen bzw. mathematischen Probleme dieses
60
annimmt und damit Sinn als Medium aller Formbildungen reproduziert. "crossing" (Spencer Brown), sondern halten nur fest, daß dazu eine Selektion erforderlich ist, die das, was auf
61
Daß Sinn als "Eigenbehavior" bestimmter Systeme entsteht und reproduziert wird, ergibt sich daraus, der anderen Seite möglich ist und möglich bleibt, auf eine spezifische, bezeichnungsfähige Aktualität
daß diese Systeme (also: Bewußtseinssysteme und Sozialsysteme) ihre Letztelemente als Ereignisse reduziert. Wozu erneut eine andere Seite der Form, ein Überschuß von Verweisungen, eine Welt voller nicht
produzieren, die zeitpunktbezogen entstehen und sofort wieder zerfallen, die keine Dauer haben können und zugleich aktualisierbarer Möglichkeiten erforderlich ist. Das Sequenzieren der Operationen hält also das
jeweils zum ersten und zum letzten Male vorkommen. Es handelt sich um temporalisierte Systeme, die Gesamt von Potentialitäten co-präsent, führt es nur mit, regeneriert es dadurch als Welt, ohne welche es nie zu
Stabilität nur als dynamische Stabilität, nur durch die laufende Ersetzung von vergehenden Elementen durch einer Selektion weiterer Operationen, nie zu einer Reproduktion des operierenden Systems kommen könnte.
neue, andere Elemente gewinnen können. Ihre Strukturen müssen darauf eingestellt sein. Die jeweils aktuelle Sinn kann, verkürzt gesagt, nur als Form reproduziert werden. Die Welt selbst bleibt als stets mitgeführte
62
Gegenwart ist kurz und so ausgelegt, daß in ihr alles, was überhaupt geschieht, gleichzeitig geschieht. Sie ist andere Seite aller Sinnformen unbeobachtbar. Ihr Sinn kann nur in der Selbstreflexion des Formgebrauchs
noch nicht eigentlich Zeit. Sie wird aber zur Zeit, wenn sie als Trennung eines "Vorher" und eines "Nachher", sinnhafter Operationen symbolisiert werden.
einer Vergangenheit und einer Zukunft aufgefaßt wird. Sinn erscheint daher in der Zeit und kann jederzeit auf Das Problem dabei ist, daß Sinn bei aller Deutlichkeit (oder Undeutlichkeit), Aufdringlichkeit und
zeitliche Unterscheidungen umschalten, das heißt: Zeit benutzen, um Komplexität zu reduzieren, nämlich faktischen Unbezweifelbarkeit der momentanen Aktualisation (hier denkt man natürlich sofort an Descartes)
63
Vergangenes als nicht mehr aktuell und Künftiges als noch nicht aktuell zu behandeln. Wenn (nur wenn!) die Welt des von hier aus Zugänglichen nur als Verweisungsüberschuß, also als Selektionszwang
66
diese Unterscheidung angewandt wird, kann man über Vergangenheit Redundanzen erzeugen und über repräsentieren kann. Das aktuell Appropriierte ist sicher , aber instabil, die andere Seite der Sinnform ist
64
Zukunft Varietät; und erzeugen heißt: in der Gegenwart präsent machen. Temporalisierung der Gegenwart stabil aber unsicher, weil alles davon abhängt, was im nächsten Moment intendiert sein wird. Die Einheit des
Gesamts der Möglichkeiten und erst recht natürlich die Einheit der Form selbst, also die Einheit von Aktualität
58 und Potentialität, kann nicht wiederum aktualisiert werden. Statt Welt zu geben, verweist Sinn auf selektives
Vgl. Winfried Menninghaus, Lob des Unsinns: Über Kant, Tieck und Blaubart, Frankfurt 1995.
Prozessieren. Und das gilt selbst dann (wie wir noch sehen werden), wenn in der Welt Weltbegriffe,
59
Vgl. hierzu Alois Hahn, Sinn und Sinnlosigkeit, in: Hans Haferkamp / Michael Schmid (Hrsg.), Sinn, Kommunikation Weltbeschreibungen, weltreferierende Semantiken gebildet werden, denn auch dies muß in einer sinnhaften
und soziale Differenzierung: Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt 1987, S. 155-164.
Operation geschehen, die das, was sie bezeichnet, von etwas anderem unterscheidet (etwa: als Sein vom
60
Wir beantworten hiermit zugleich die alte Frage, ob es ein Sinnkriterium gibt, daß es ermöglicht, Sinnhaftes und Seienden). Aktualisierter Sinn ist ausnahmslos selektiv zustandegekommen und verweist ausnahmslos auf
Sinnloses zu unterscheiden und ob, wenn ja, dieses Kriterium selbst sinnhaft oder sinnlos ist. weitere Selektion. Seine Kontingenz ist notwendiges Moment sinnhaften Operierens.
61
Im Sinne von Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside Cal. 1981, S. 273 ff. All dem liegt die nur als Paradox faßbare, operativ funktionierende, aber nicht beobachtbare Einheit des
67
62
Dazu näher: Niklas Luhmann, Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in ders., Soziologische Aufklärung Bd. 5, Opladen
Unterschiedenen voraus. Mit den beiden Seiten seiner Form kann und muß Sinn zugleich funktionieren,
1990, S. 95-130. anders ist seine operative Verwendung zur Bezeichnung von etwas (und nichts anderem) nicht möglich. Auch
63
für Sinn in jedem Sinne gilt, daß er nur durch Aktualisierung einer Unterscheidung bezeichnet werden kann,
Diese Möglichkeit besteht unabhängig von Zeitmessungen; aber Zeitmessungen können zusätzlich eingeführt werden,
um Distanzen zur Gegenwart zu bestimmen und damit die nicht mehr / noch nicht aktuelle Relevanz zeitferner Ereignisse
genauer abschätzen zu können. 65
Siehe George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck New York 1979, S. 5.
64
Wir merken hier vorgreifend schon an, daß diese Zeitform der Vermittlung von Redundanz und Varietät in der Neuzeit 66
Dies sowohl im alteuropäischen als auch im später subjektivierten Sinn von "securus". Speziell hierzu Emil Winkler,
größte Bedeutung gewinnt, weil die naturale Absicherung von Redundanzen über Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten
Sécurité, Berlin 1939.
mehr und mehr aufgegeben werden muß und zugleich die unkoordinierte Irritierbarkeit gesellschaftlicher Kommunikation,
67
also Varietät zunimmt. Siehe auch Niklas Luhmann, The Paradoxy of Observing Systems, Cultural Critique 31 (1985), S. 37-55.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 25 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 26

die etwas Nichtbezeichnetes als die andere Seite der Unterscheidung mitführt. Man kann natürlich auch die von Typen bzw. Ebenen vorgeschlagen. Das mag (trotz aller inzwischen geläufigen Kritik) für Zwecke der
Unterscheidung Aktualität/Potentialität selbst bezeichnen (wir tun es soeben), aber dies nur durch eine weitere Logik und der Linguistik brauchbar sein. Spencer Brown hilft sich mit einem Ignorieren des
Unterscheidung, die diese Unterscheidung von anderen unterscheidet und in der Welt lokalisiert. So können Ausgangsparadoxes und führt seinen Kalkül auf Grund einer Anweisung ("draw a distinction") durch bis zu
71
sinnhaft prozessierende Systeme durchaus sich vorstellen bzw. kommunizieren, daß es andere Systeme gibt, dem Punkt, an dem die Möglichkeit eines imaginären "re-entry" der Form in die Form auftaucht.
für die es keinen Sinn gibt, zum Beispiel Steine. Aber auch dies geht nur mit einer darauf zugeschnittenen Angewandt auf die spezifische Form von Sinn, nämlich die Differenz von Aktualität und Potentialität,
Unterscheidung, also nur in der Form von Sinn. Sinnhaft operierende Systeme bleiben an ihr Medium Sinn heißt dies, daß Sinn nur durch ein re-entry der Form in die Form operationsfähig wird. Die Innenseite der
gebunden. Es allein gibt ihnen Realität in der Form der sequentiellen Aktualisierung eigenen Operierens. Sie Form muß dieses re-entry aufnehmen können. Der Unterschied von momentaner Aktualität und offener
können sinnfrei existierende Systeme nicht verstehen und auch nicht simulieren. Sie bleiben auf Sinn als für Möglichkeit muß selbst aktuell für Bewußtsein und/oder Kommunikation verfügbar sein. Man muß aktuell
sie spezifische Form der Reduktion von Komplexität angewiesen. schon sehen können, wie das crossing dieser Grenze möglich ist und welche nächsten Schritte in Betracht
Während diese Verwendung einer Unterscheidung zwangsläufig erfolgt und nicht zu vermeiden ist, kommen. Das kann nicht heißen, daß der "unmarked space" des "alles Mögliche" im "marked space" des
erfolgt die Feststellung eines Unterschiedes explizit. Sie setzt sichtbare Selektion voraus und ist aktuell Bezeichneten unterkommen kann; er konstituiert das Aktuelle ja gerade dadurch, daß er es
gegebenenfalls begründungsbedürftig. Sprachlich kann und wird daher die in jedem Satzteil mitlaufende überschreitet. Dennoch können bestimmte Möglichkeiten aktuell erfaßt und bezeichnet werden und ein
Unterscheidung nicht zum Ausdruck gebracht, und es bleibt oft unklar, wovon zum Beispiel ein Apfel Kreuzen der Grenze von aktuell und potentiell vororientieren; allerdings immer nur so, daß der Nachvollzug
unterschieden wird, wenn von ihm die Rede ist. Die Feststellung eines Unterschieds wird dagegen deutlich dieser Möglichkeit als aktuelle Operation vollzogen wird und damit die Differenz von Aktualität und
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markiert und zur Dirigierung der weiteren Kommunikation eingesetzt. Aber selbstverständlich: auch dies im Potentialität, also Sinn, neu konstituiert. Auf diese Weise, nämlich durch re-entry der Form in die Form, wird
Medium Sinn. Sinn zu einem sich selbst laufend regenerierenden Medium für die laufende Selektion bestimmter Formen.
Daß alles Beobachten auf Unterscheidungen angewiesen ist, erklärt den Sinnreichtum der Welt. Denn Die Beschreibung auch noch dieses Sachverhaltes belegt ihn gewissermaßen selbst, ist also eine
man kann das, was man bezeichnet, identifizieren, indem man es immer wieder anderen Unterscheidungen autologische Operation. Sie zeigt aber auch, daß sie nur in der Form eines Paradoxes möglich ist, denn die in
aussetzt. So können verschiedene Beobachtungen verschiedener Beobachter koordiniert, und zwar gerade in die Form wiedereintretende Form ist dieselbe und ist nicht dieselbe Form.
ihrer Verschiedenheit koordiniert werden. Das gilt für Unterschiede in der Zeitdimension wie in der Diese wohlüberlegte Schneidigkeit der Entfaltung der Sinnparadoxie kann uns den Mut geben, auch
Sozialdimension, es gilt für ein Auswechseln der jeweils benutzten Unterscheidungen im Nacheinander ebenso andere Unterscheidungen in Betracht zu ziehen, die jeweils in sich re-entryfähig sein sollten. Wir werden im
wie für die Focussierung verschiedener Beobachter auf Dasselbe. Folgenden die Systemtheorie als Theorie der Unterscheidung von System und Umwelt verstehen, wobei auf
Die ontologische Metaphysik der Tradition hatte dem freien Lauf gelassen — aber gedeckt durch die der Seite des Systems ein re-entry vollzogen werden kann, wenn das System selbst, also in eigenen
Annahme transzendenter Grenzwerte. Das Seiende wurde unter der Form des Dings begriffen. Die Zeit wies Operationen, zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheidet. Die Behandlung von Kommunikation
auf einen "Ursprung" (arché, origo, principium, Quelle, Grund etc.), der bei allem Wechsel der laufend als derjenigen Operation, die spezifisch soziale Systeme reproduziert, orientiert sich an der Unterscheidung
aktualisierten Unterscheidungen derselbe blieb (und zwar jeweils gegenwärtig derselbe). Und dieser Ursprung von Medium und Form. Diese Unterscheidung kommt insofern in sich selber vor, als auf beiden Seiten lose
69
war letztlich Gott als das einzige sich nicht durch Unterscheidungen definierende Wesen. Die bzw. strikt gekoppelte Elemente vorausgesetzt sind, die ihrerseits nur als Formen erkennbar sind, also eine
72
Radikalisierung des Sinnbegriffs als Medium für ein unterscheidungsabhängiges Beobachten erlaubt eine weitere Unterscheidung von Medium und Form voraussetzen. Das letzte, für Sinnsysteme nicht
Auflösung dieser Prämissen. In allen Sinndimensionen kann die Welt jetzt begriffen werden als der Rahmen transzendierbare Medium ist deshalb der Sinn. Aber Formenbildungen in diesem Medium müssen als
(oder mit Husserl: der Horizont), der ein Auswechseln der Unterscheidungen erlaubt, mit denen man Dasselbe Systemoperationen vollzogen werden — sei es als Dirigierung bewußter Aufmerksamkeit, sei es als
73
beobachtet. Das setzt aber voraus, daß die Welt nicht mehr als Gesamtheit der Dinge und ihrer Beziehungen Kommunikation. Im Falle sprachlicher Kommunikation sind das Worte, die unter Beachtung grammatischer
begriffen wird, sondern als das Unbeobachtbare schlechthin, das mit jedem Wechsel der Unterscheidungen Regeln und nach Erfordernissen der Sinnbildung zu Sätzen gekoppelt werden. Schließlich benutzt auch die
reproduziert wird. Theorie gesellschaftlicher Evolution eine ihre Paradoxie entfaltende Unterscheidung. Die Paradoxie, daß
Jede Unterscheidung repräsentiert dann Welt, indem ihre andere Seite das mitführt, was im Moment etwas besteht, was sich ändert, wird nicht in der alten Weise in die Unterscheidung von beweglichen und
70
nicht bezeichnet wird. "Distinction is perfect continence", heißt es lapidar bei Spencer Brown. unbeweglichen (änderbaren/unveränderbaren) Elementen bzw. Teilen aufgelöst. An deren Stelle tritt nach dem
Unterscheidungen üben Selbstbeherrschung, sie ersparen sich externe Referenzen, da sie sie als andere Seite Vorbild der Darwinschen Theorie die Unterscheidung von Variation und Selektion, wobei die Variation selbst
immer schon enthalten. Sie enthalten Enthaltsamkeit. Schon insofern kann die Sinn-Form sich selbst nie selektiv vorgeht, da das System sich nicht beliebig, sondern nur hochselektiv irritieren, das heißt: zur Variation
sprengen. Aber in ihrem besonderen Fall gilt zusätzlich, daß sie selbst sich nur in Selbstanwendung also nur reizen läßt.
"autologisch" unterscheiden läßt. Sie ist das absolute Medium ihrer selbst.
Das schließt es nicht aus, weitere Schritte zu tun, die zu den folgenden Analysen der Gesellschaftstheorie
überleiten. Wir greifen dafür auf die Paradoxie des Unterscheidens zurück, die ihrerseits das "perfect
continence" sichert. Als operative Einheit aus Unterscheidung und Bezeichnung ist Sinn eine Form, die sich IV. Die Unterscheidung von System und Umwelt
selbst enthält, nämlich die Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung. Eine Form ist letztlich eine
Unterscheidung, die in sich selbst als Unterschiedenes wiedervorkommt. Aus einer solchen Situation kommt
man nur durch einen Sprung, durch eine Entparadoxierungsanweisung, durch Verdeckung der Paradoxie
durch eine weitere Unterscheidung heraus. Dafür haben Russell und Tarski bekanntlich die Unterscheidung 71
Wie Ranulph Glanville / Francisco Varela, "Your Inside is Out and Your Outside is In" (Beatles 1968), in: George E.
Lasker (Hrsg.), Applied Systems and Cybernetics Bd. II, New York 1981, S. 638-641, zeigen, gilt Dasselbe auch für alle
ähnlich gelagerten Paradoxe der Absolutheit von Universalem (nichts Ausschließendem) und Elementarem (nichts
68
Hier könnten Überlegungen anschließen, die die Spezialisierung der Wissenschaft auf (ungewöhnliche) Vergleiche Einschließendem) und von Anfang und Ende der Welt. Man findet sich hier in der Nähe von Argumenten, die Nicolaus von
betreffen, seien es quantitative, seien es funktionale. Dabei geht es um Markierung von Unterschieden im Bereich des noch Kues zu theologischen Reflexionen gereizt hatten.
Vergleichbaren. 72
Paradox ist, das sollte vorsorglich angemerkt werden, ein solches Voraussetzen von Voraussetzungen in derselben Form
69
Alle anderen Wesen sind "something but by distinction", heißt es bei Thomas Browne, Religio medici (1643), zit. nach natürlich nur, wenn es in der Form bleibt und wenn diese als geschlossene Weltdarstellung begriffen wird, weil es anders
der Ausgabe der Everyman's Library, London 1965, S. 40. auf einen infiniten Regreß hinausliefe.
70 73
A.a.O. S. 1. Dazu unten Kap. 2 .....
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 27 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 28

Die theoretischen Ressourcen für eine "sinngemässe" Revolutionierung des Paradigmas der Der Formbegriff unterscheidet sich damit nicht mehr nur vom Begriff des Inhalts; aber auch nicht nur
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Gesellschaftstheorie entnehmen wir nicht der fachsoziologischen Überlieferung, sondern führen sie von außen vom Begriff des Kontextes. Eine Form kann im Unterschied von etwas zu allem anderen liegen, ebenso auch
in die Soziologie ein. Wir orientieren uns dabei an neueren Entwicklungen in der Systemtheorie, aber auch an im Unterschied von etwas zu seinem Kontext (etwa eines Bauwerks zu seiner städtischen oder
Entwicklungen, die unter anderen Theorienamen laufen — etwa Kybernetik, cognitive sciences, landschaftlichen Umgebung), aber auch im Unterschied eines Wertes zu seinem Gegenwert unter Ausschluß
Kommunikationstheorie, Evolutionstheorie. In jedem Falle handelt es sich um interdisziplinäre dritter Möglichkeiten. Immer dann, wenn der Formbegriff die eine Seite einer Unterscheidung markiert unter
Diskussionszusammenhänge, die in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten einen Prozeß radikaler Veränderung der Voraussetzung, daß es noch eine dadurch bestimmte andere Seite gibt, gibt es auch eine Superform,
77
durchlaufen haben und mit der Systembegrifflichkeit der 50er und früher 60er Jahre kaum noch etwas gemein nämlich die Form der Unterscheidung der Form von etwas anderem.
haben. Es sind ganz neue, faszinierende intellektuelle Entwicklungen, die es erstmals ermöglichen, die alte Mit Hilfe dieser für einen Formenkalkül, für ein Prozessieren von Unterscheidungen entwickelten
78
Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften oder hard sciences und humanities oder Begrifflichkeit kann man auch die Unterscheidung von System und Umwelt interpretieren. Vom allgemeinen
gesetzesförmig bzw. textförmig (hermeneutisch) gegebenen Gegenstandsbereichen zu unterlaufen. Formenkalkül her gesehen ist es ein Sonderfall, ein Anwendungsfall. Methodisch gesehen geht es deshalb
Die am tiefsten eingreifende, für das Verständnis des Folgenden unentbehrliche Umstellung liegt darin, nicht schlicht darum, die Erklärung der Gesellschaft aus einem Prinzip (sei es "Geist", sei es "Materie") durch
daß nicht mehr von Objekten die Rede ist, sondern von Unterscheidungen, und ferner: daß Unterscheidungen die Erklärung durch eine Unterscheidung zu ersetzen. Der Unterscheidung von System und Umwelt, und
nicht als vorhandene Sachverhalte (Unterschiede) begriffen werden, sondern daß sie auf eine Aufforderung damit der Form "System", geben wir zwar eine zentrale Stellung, dies aber nur in dem Sinne, daß wir von hier
zurückgehen, sie zu vollziehen, weil man anderenfalls nichts bezeichnen könnte, also nichts zu beobachten aus die Konsistenz der Theorie, das heißt den Zusammenhang einer Vielzahl von Unterscheidungen
bekäme, also nichts fortsetzen könnte. Man kann dies mit Hilfe des Formbegriffs verdeutlichen, den George organisieren. Das Verfahren ist dann nicht deduktiv, sondern induktiv; es probiert aus, was Generalisierungen
74
Spencer Brown seinen "Laws of Form" zu Grunde legt. Formen sind danach nicht länger als (mehr oder einer Form für andere besagen. Und Konsistenz heißt dabei nichts anderes als Herstellung ausreichender
weniger schöne) Gestalten zu sehen, sondern als Grenzlinien, als Markierungen einer Differenz, die dazu Redundanzen, also sparsamer Umgang mit Informationen.
zwingt, klarzustellen, welche Seite man bezeichnet, das heißt: auf welcher Seite der Form man sich befindet Für die Systemtheorie selbst wird mit Hilfe dieses Formbegriffs klargestellt, daß sie nicht besondere
und wo man dementsprechend für weitere Operationen anzusetzen hat. Die andere Seite der Grenzlinie (der Objekte (oder sogar nur: technische Artefakte oder analytische Konstrukte) behandelt, sondern daß ihr Thema
"Form") ist gleichzeitig mitgegeben. Jede Seite der Form ist die andere Seite der anderen Seite. Keine Seite ist eine besondere Art von Form ist, eine besondere Form von Formen, könnte man sagen, die die allgemeinen
etwas für sich selbst. Man aktualisiert sie nur dadurch, daß man sie, und nicht die andere, bezeichnet. In Eigenschaften jeder Zwei-Seiten-Form am Fall von "System und Umwelt" expliziert. Alle Eigenschaften von
diesem Sinne ist Form entfaltete Selbstreferenz, und zwar zeitlich entfaltete Selbstreferenz. Denn man hat Form gelten auch hier: so die Gleichzeitigkeit von System und Umwelt und der Zeitbedarf aller Operationen.
immer von der jeweils bezeichneten Seite auszugehen und braucht die Zeit für eine weitere Operation, um auf Vor allem aber ist mit dieser Darstellungsweise deutlich zu machen, daß System und Umwelt als die zwei
79
der bezeichneten Seite zu bleiben oder die formkonstituierende Grenze zu kreuzen. Seiten einer Form zwar getrennt, aber nicht ohne die jeweils andere Seite existieren können. Die Einheit der
Kreuzen ist kreativ. Denn während die Wiederholung einer Bezeichnung nur deren Identität bestätigt Form bleibt als Differenz vorausgesetzt; aber die Differenz selbst ist nicht Träger der Operationen. Sie ist
(und wir werden später sagen: deren Sinn in verschiedenen Situationen testet und damit kondensiert), ist das weder Substanz noch Subjekt, tritt aber theoriegeschichtlich an die Stelle dieser klassischen Figuren.
Hin- und Herkreuzen keine Wiederholung und kann daher auch nicht zu einer einzigen Identität Operationen sind nur als Operationen eines Systems möglich, also nur auf der Innenseite der Form. Aber das
75
zusammengezogen werden. Das ist nur eine andere Version für die Einsicht, daß eine Unterscheidung sich System kann auch als Beobachter der Form operieren; es kann die Einheit der Differenz, die
bei ihrem Gebrauch nicht selbst identifizieren kann. Und eben darauf beruht, wie wir am Beispiel der binären Zwei-Seiten-Form als Form beobachten - aber nur, wenn es dafür seinerseits eine weitere Form bilden, also
Codierung ausführlich zeigen werden, die Fruchtbarkeit des Kreuzens. die Unterscheidung ihrerseits unterscheiden kann. So können dann auch Systeme, wenn hinreichend komplex,
Dieser Begriff der Form hat zwar eine gewiße Ähnlichkeit mit Hegels Begriff des Begriffs insofern, als die Unterscheidung von System und Umwelt auf sich selber anwenden; dies aber nur, wenn sie dafür eine
für beide der Einschluß einer Unterscheidung konstitutiv ist. In den Begriff des Begriffs hat Hegel jedoch sehr eigene Operation durchführen, die dies tut. Sie können, mit anderen Worten, sich selbst von ihrer Umwelt
viel weitergehende Ansprüche eingebaut, die wir weder mitvollziehen können noch benötigen. Anders als die unterscheiden, aber dies nur als Operation im System selbst. Die Form, die sie gleichsam blind erzeugen,
Form im hier gemeinten Sinne übernimmt es der Begriff, das Problem seiner Einheit selber zu lösen. Er indem sie rekursiv operieren und sich damit ausdifferenzieren, steht ihnen wieder zur Verfügung, wenn sie sich
beseitigt dabei die Selbständigkeit des Unterschiedenen (im Begriff Mensch zum Beispiel die Selbständigkeit selbst als System in einer Umwelt beobachten. Und nur so, nur unter genau diesen Bedingungen, ist dann auch
der gegeneinandergesetzten Momente Sinnlichkeit und Vernunft), und dies mit Hilfe der spezifischen die Systemtheorie Grundlage für eine bestimmte Praxis des Unterscheidens und Bezeichnens. Sie benutzt die
Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderen, mit deren Aufhebung sich der Begriff als einzelner Unterscheidung System und Umwelt als Form ihrer Beobachtungen und Beschreibungen; aber sie muß, um
konstituiert. Daran kann hier nur erinnert werden, um dagegen zu setzen: Form ist gerade die Unterscheidung dies tun zu können, diese Unterscheidung von anderen Unterscheidungen, etwa denen der Handlungstheorie,
selbst, indem sie die Bezeichnung (und damit die Beobachtung) der einen oder der anderen Seite erzwingt und unterscheiden können, und sie muß, um überhaupt auf diese Weise operieren zu können, ein System bilden,
die eigene Einheit (ganz anders als der Begriff) gerade deshalb nicht selber realisieren kann. Die Einheit der hier also: Wissenschaft sein. Das Konzept erfüllt mithin, in Anwendung auf Systemtheorie, das Erfordernis,
Form ist nicht ihr "höherer", geistiger Sinn. Sie ist vielmehr das ausgeschlossene Dritte, das nicht beobachtet nach dem wir suchen: das Erfordernis einer Selbstimplikation der Theorie. Sie wird durch ihr
werden kann, solange man mit Hilfe der Form beobachtet. Auch im Begriff der Form ist vorausgesetzt, daß Gegenstandsverhältnis zu "autologischen" Rückschlüssen auf sich selbst gezwungen.
beide Seiten in sich durch Verweisung auf die jeweils andere bestimmt sind; aber dies gilt hier nicht als
Voraussetzung einer "Versöhnung" ihres Gegensatzes, sondern als Voraussetzung der Unterscheidbarkeit
einer Unterscheidung. 76
Diesen Gegenbegriffsaustausch schlägt Christopher Alexander, Notes on the Synthesis of Form, Cambridge Mass. 1964,
Jede Bestimmung, jede Bezeichnung, alles Erkennen, alles Handeln vollzieht als Operation das vor.
Etablieren einer solchen Form, vollzieht wie der Sündenfall einen Einschnitt in die Welt mit der Folge, daß 77
Wir werden darauf zurückkommen, wenn wir auf die Unterscheidung von Medium und Form zu sprechen kommen
eine Differenz entsteht, daß Gleichzeitigkeit und Zeitbedarf entstehen und daß die vorausliegende werden. Siehe Kap.2,....
Unbestimmtheit unzugänglich wird. 78
So explizit und ausführlich Fritz B. Simon, Unterschiede, die Unterschiede machen: Klinische Epistemologie: Grundlage
einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik, Berlin 1988, insb. S. 47 ff.
79
74 Daraus folgt, daß die Unterscheidung System/Umwelt nicht mit Wichtigkeitsvorrang belegt, nicht "hierarchisiert" werden
Siehe George Spencer Brown, Laws of Form, zit. nach der Ausgabe New York 1979.
kann — oder wenn, dann mit dem Effekt einer "tangled hierarchy" im Sinne von Hofstadter. Siehe dazu Olivier Godard,
75
Spencer Brown a.a.O. S. 1 f. unterscheidet entsprechend zwei Axiome (die einzigen!): (1) "The value of a call made L'environment, du champs de recherche au concept: Une hiérarchie enchevétrée dans la formation du sens, Revue
again is the value of the call"; und (2) "The value of a crossing made again is not the value of the crossing". internationale de systémique 9 (1995), S. 405-428.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 29 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 30

Akzeptiert man diesen differenztheoretischen Ausgangspunkt, dann erscheinen alle Entwicklungen der Spezifikation von Strukturen bestimmen. Gesagt ist nur, daß man für die Beantwortung dieser Frage das
neueren Systemtheorie als Variationen zum Thema "System und Umwelt". Zunächst ging es darum, mit System selbst untersuchen muß.
Vorstellungen über Stoffwechsel oder Input und Output zu erklären, daß es Systeme gibt, die nicht dem Autopoiesis ist deshalb nicht als Produktion einer bestimmten "Gestalt" zu begreifen. Entscheidend ist
83
Entropiegesetz unterworfen, sondern in der Lage sind, Negentropie aufzubauen und damit gerade durch die vielmehr die Erzeugung einer Differenz von System und Umwelt. Durch Abkopplung des Systems von dem,
Offenheit und die Umweltabhängigkeit des Systems dessen Unterschied zur Umwelt zu verstärken. Daraus was dann als Umwelt übrig bleibt, entstehen intern Freiheitsspielräume, da die Determination des Systems
konnte man folgern, daß Unabhängigkeit und Abhängigkeit von der Umwelt keine sich wechselseitig durch seine Umwelt entfällt. Autopoiesis ist also, recht verstanden, zunächst Erzeugung einer systeminternen
ausschließenden Systemmerkmale sind, sondern unter bestimmten Bedingungen miteinander gesteigert werden Unbestimmtheit, die nur durch systemeigene Strukturbildungen reduziert werden kann. Das erklärt nicht
können. Die Frage war dann: unter welchen Bedingungen? Hierauf konnte man mit Hilfe der zuletzt, daß Gesellschaftssysteme das Medium Sinn erfunden haben, um dieser Offenheit für weitere
Evolutionstheorie eine Antwort suchen. Bestimmungen in den systeminternen Operationen Rechnung zu tragen. Sie kennen als eigene Operationen
Ein nächster Entwicklungsschritt lag in der Einbeziehung selbstreferentieller, also zirkulärer deshalb nur Sinnformen seligierende Kommunikationen.
Verhältnisse. Zunächst dachte man an den Aufbau von Strukturen des Systems durch systemeigene Prozesse Selbstverständlich kann diese autopoietische Reproduktion nicht ohne Umwelt geschehen (sonst wäre,
und sprach folglich von Selbstorganisation. Hierbei wurde die Umwelt als Quelle eines unspezifischen wie wir wissen, die andere Seite der Form kein System). Aber man muß jetzt sehr viel genauer angeben (und
(sinnlosen) "Rauschens" begriffen, dem das System gleichwohl durch den Zusammenhang eigener davon wird unsere Gesellschaftstheorie profitieren können), wie autopoietische Systeme, die alle Elemente, die
Operationen Sinn abgewinnen könne. So versuchte man zu erklären, daß das System - zwar in Abhängigkeit sie für die Fortsetzung ihrer Autopoiesis benötigen, selbst produzieren, ihr Verhältnis zu Umwelt gestalten.
von der Umwelt und keinesfalls ohne Umwelt, aber ohne durch die Umwelt determiniert zu sein - sich selbst Alle Außenbeziehungen eines solchen Systems sind daher unspezifisch gegeben (was natürlich nicht
80
organisieren und eine eigene Ordnung aufbauen könne: order from noise. Die Umwelt wirkt, vom System ausschließt, daß ein Beobachter das spezifizieren kann, was er selbst sehen will und sehen kann). Jede
81
her gesehen, zufällig auf das System ein ; aber genau diese Zufälligkeit sei für die Emergenz von Ordnung Spezifikation, auch der Beziehungen zur Umwelt, setzt eine Eigentätigkeit des Systems und einen historischen
unentbehrlich, und je komplexer die Ordnung werde, desto mehr. Zustand des Systems als Bedingung seiner Eigentätigkeit voraus. Denn Spezifikation ist selbst eine Form, also
In diesen Diskussionsstand hat Humberto Maturana mit dem Begriff der Autopoiesis ein neues Moment eine Unterscheidung; sie besteht in einer Auswahl aus einem selbstkonstruierten Auswahlbereich
82
eingeführt. Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, (Information), und diese Form kann nur im System selbst gebildet werden. Es gibt weder Input noch Output
aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen. Die Elemente (und zeitlich gesehen von Elementen in das System oder aus dem System. Das System ist nicht nur auf struktureller, es ist auch auf
sind das Operationen), aus denen autopoietische Systeme bestehen, haben keine unabhängige Existenz. Sie operativer Ebene autonom. Das ist mit dem Begriff der Autopoiesis gesagt. Das System kann eigene
kommen nicht bloß zusammen. Sie werden nicht bloß verbunden. Sie werden vielmehr im System erst erzeugt, Operationen nur im Anschluß an eigene Operationen und im Vorgriff auf weitere Operationen desselben
und zwar dadurch, daß sie (auf welcher Energie- und Materialbasis immer) als Unterschiede in Anspruch Systems konstituieren. Aber damit sind keineswegs alle Existenzbedingungen angegeben, und die Frage sei
genommen werden. Elemente sind Informationen, sind Unterschiede, die im System einen Unterschied nochmals wiederholt: wie kann man nun diese rekursive Abhängigkeit des Operierens von sich selbst
machen. Und insofern sind es Einheiten der Verwendung zur Produktion weiterer Einheiten der Verwendung, unterscheiden von den fraglos fortexistierenden Umweltabhängigkeiten? Diese Frage kann nur durch Analyse
für die es in der Umwelt des Systems keinerlei Entsprechung gibt. der Spezifik autopoietischer Operationen beantwortet werden (oder anders gesagt: die Antwort liegt nicht
Angesichts einer umfangreichen und recht kritischen Diskussion muß vor allem auf den geringen schon in dem oft oberflächlich rezipierten Begriff der Autopoiesis selbst). Diese Überlegungen werden uns
Erklärungswert des Begriffs der Autopoiesis hingewiesen werden. Er verlangt nur, daß man bei allen dazu führen, dem Begriff der Kommunikation zentrale Bedeutung für die Gesellschaftstheorie zuzusprechen.
Erklärungen von den spezifischen Operationen auszugehen hat, die ein System — und zwar das erklärte Zunächst klären die bisherigen Begriffsfestlegungen auch den heute oft benutzten Begriff der operativen
ebenso wie das erklärende — reproduzieren. Er sagt aber nichts darüber, welche spezifischen Strukturen sich (oder selbstreferentiellen) Geschlossenheit des Systems. Damit ist selbstverständlich nichts gemeint, was als
in solchen Systemen auf Grund von strukturellen Kopplungen zwischen System und Umwelt entwickelt kausale Isolierung, Kontaktlosigkeit oder Abgeschlossenheit des Systems verstanden werden könnte. Die
haben. Er erklärt also nicht die historischen Systemzustände, von denen die weitere Autopoiesis ausgeht. Die Einsicht, die schon mit der Theorie offener Systeme gewonnen war, daß Unabhängigkeit und Abhängigkeit
Autopoiesis des Lebens ist eine biochemische Einmalerfindung der Evolution; aber daraus folgt nicht, daß es aneinander und durch einander gesteigert werden können, bleibt voll erhalten. Man formuliert jetzt nur anders
Würmer und Menschen geben müsse. Und ebenso für den Fall der Kommunikation. Die autopoietische und sagt, daß alle Offenheit auf der Geschlossenheit des Systems beruhe. Etwas ausführlicher gesagt, heißt
Operation der Kommunikation voraussetzenden Kommunikation erzeugt Gesellschaft, aber daraus ergibt sich dies, daß nur operativ geschlossene Systeme eine hohe Eigenkomplexität aufbauen können, die dann dazu
noch nicht: was für eine Gesellschaft. Autopoiesis ist demnach ein für das jeweilige System invariantes dienen kann, die Hinsichten zu spezifizieren, in denen das System auf Bedingungen seiner Umwelt reagiert,
Prinzip, und erneut: für das erklärte ebenso wie für das erklärende. Damit wird die ontologische, in während es sich
84
Seinsinvarianten liegende Erklärungsweise aufgegeben und mit ihr die Subjekt/Objekt-Differenz. Aber damit in allen übrigen Hinsichten dank seiner Autopoiesis Indifferenz leisten kann.
ist noch nicht gesagt, welche historischen Ausgangslagen über strukturelle Kopplungen die Richtung der Ebensowenig wird die Einsicht Gödels widerrufen, daß kein System sich selbst zu einer logisch
85
widerspruchsfreien Ordnung schließen könne. Damit ist letztlich nichts anderes gesagt als das, was auch wir
voraussetzen: daß der Systembegriff auf den Umweltbegriff verweist und deshalb weder logisch noch
analytisch isoliert werden kann. Auf operativer Ebene (in unserem Themenbereich: in bezug auf
80
Siehe Heinz von Foerster, On Self-organizing Systems and Their Environments, in: Marshall C. Yovits / Scott Cameron Kommunikation) beruht Gödels Argument auf der Einsicht, daß eine Aussage über Zahlen eine Aussage über
(Hrsg.), Self-organizing Systems: Proceedings of an Interdisciplinary Conference; Oxford 1960, S. 31-50, dt. Übers. in
ders., Sicht und Einsicht: Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig 1985, S. 115-130; Henri Altan,
83
Entre le cristal et la fumée, Paris 1979. Im Deutschen kann man von "Ausdifferenzierung" sprechen. Im Englischen gibt es kein entsprechendes Wort. Das
81 erklärt vielleicht, daß diese Seite der Autopoiesis bisher nicht zureichend beachtet worden ist. Immerhin unterscheidet
Henri Altan geht sogar so weit, zu sagen, daß deshalb Organisationsänderungen des Systems nur extern erklärt werden
Maturana deutlich zwischen Autopoiesis und autopoietischer Organisation (Strukturbildung).
könnten. Siehe: L'emergence du nouveau et du sense, in: Paul Dumouchel / Jean-Pierre Dupuy (Hrsg.), L'auto-organisation:
84
De la physique au politique, Paris 1983, S. 115-130. Vgl. auch ders., Disorder, Complexity and Meaning, in: Paisley Das Paradebeispiel hierfür ist heute das Gehirn. Siehe für eine knappe Einführung Jürgen R. Schwarz, Die neuronalen
Livingston (Hrsg.), Disorder and Order: Proceedings of the Stanford International Symposium, Saratoga Cal. 1984, S. Grundlagen der Wahrnehmung, in: Schiepek a.a.O. S. 75-93.
109-128. 85
Das ist heute allgemein akzeptiert, wobei aber oft die Spezifik der Gödelschen Beweisführung übersehen wird. Vgl.
82
Siehe zusammenfassend: Humberto Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, deshalb ergänzend die systemtheoretische Argumentation von W. Ross Ashby, Principles of the Self-Organizing System, in:
Braunschweig 1982. Für einen Überblick über die neuere Diskussion siehe John Mingers, Self-Producing Systems: Heinz von Foerster / George W. Zopf (Hrsg.), Principles of Self-Organization, New York 1962, S. 255-278; neu gedruckt in
Implications and Applications of Autopoiesis, New York 1995. Walter Buckley (Hrsg.), Modern Systems Research for the Behavioral Scientist: A Sourcebook, Chicago 1968, S. 108-118.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 31 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 32

die Aussage über Zahlen impliziert (oder anders: daß Kommunikation nur selbstreferentiell funktionieren Konsistenz hin kontrolliert zu werden. Hier wird nicht auf Zusammenhänge geachtet. Daher wird
kann). Zugleich muß aber betont werden, daß dies nur einen Beobachter betrifft, der mit Hilfe der normalerweise rasch vergessen, wovon das Bezeichnete unterschieden worden war — sei es vom unmarked
Unterscheidung System/Umwelt bzw. mit Bezug auf Operationen beobachtet und uns in der Frage noch nicht space, sei es von Gegenbegriffen, die für weitere Operationen nicht in Betracht kommen. Die andere Seite
festlegt, wie denn die Einheit des Systems zustandekommt. wird zwar laufend mitgeführt, weil anders keine Unterscheidung zustandekäme, aber sie wird nicht benutzt,
Die Einsichten in die zirkuläre, selbstreferentielle und insofern logisch symmetrische Bauweise dieser um etwas Bestimmtes zu erreichen.
Systeme haben zu der Frage geführt, wie denn diese Zirkel unterbrochen und Asymmetrien hergestellt werden. Weitere Klärungen ergeben sich aus der Einsicht, daß die elementare Operation der Gesellschaft ein
Wer sagt denn, was Ursache und was Wirkung ist. Oder noch radikaler: was vorher und was nachher, was zeitpunktgebundenes Ereignis ist, das, sobald es vorkommt, schon wieder verschwindet. Dies gilt für alle
innen und was außen geschieht. Die Instanz, die darüber befindet, wird heute oft "Beobachter" genannt. Dabei Komponenten der Kommunikation: für Information, die nur einmal überraschen kann, für Mitteilung, die als
ist keineswegs nur an Bewußtseinsprozesse, also nicht nur an psychische Systeme zu denken. Der Begriff Handlung an einen Zeitpunkt gebunden ist, und für das Verstehen, das ebenfalls nicht wiederholt, sondern
wird hochabstrakt und unabhängig von dem materiellen Substrat, der Infrastruktur oder der spezifischen allenfalls erinnert werden kann. Und es gilt für mündliche wie für schriftliche Kommunikation mit dem
Operationsweise benutzt, die das Durchführen von Beobachtungen ermöglicht. Beobachten heißt einfach (und Unterschied, das die Verbreitungstechnologie der Schrift das Ereignis der Kommunikation zeitlich und
so werden wir den Begriff im Folgenden durchweg verwenden): Unterscheiden und Bezeichnen. Mit dem räumlich an viele Adressaten verteilen und damit zu unvorhersehbar vielen Zeitpunkten realisieren kann.
Begriff Beobachten wird darauf aufmerksam gemacht, daß das "Unterscheiden und Bezeichnen" eine einzige Mit diesem zeitpunktbezogenen Begriff der Kommunikation korrigieren wir zugleich einen populären
Operation ist; denn man kann nichts bezeichnen, was man nicht, indem man dies tut, unterscheidet, sowie Begriff der Information. Information ist eine überraschende Selektion aus mehreren Möglichkeiten. Sie kann
auch das Unterscheiden seinen Sinn nur darin erfüllt, daß es zur Bezeichnung der einen oder der anderen Seite als Überraschung weder Bestand haben noch transportiert werden; und sie muß systemintern erzeugt werden,
dient (aber eben nicht: beider Seiten). In der Terminologie der traditionellen Logik formuliert, ist die da sie einen Vergleich mit Erwartungen voraussetzt. Außerdem sind Informationen nicht rein passiv zu
Unterscheidung im Verhältnis zu den Seiten, die sie unterscheidet, das ausgeschlossene Dritte. Und somit ist gewinnen als logische Konsequenz von Signalen, die aus der Umwelt empfangen werden. Vielmehr enthalten
auch das Beobachten im Vollzug seines Beobachtens das ausgeschlossene Dritte. Wenn man schließlich mit in sie immer auch eine volitive Komponente, das heißt einen Vorausblick auf das, was man mit ihnen anfangen
90
Betracht zieht, daß Beobachten immer ein Operieren ist, das durch ein autopoietisches System durchgeführt kann. Bevor es zur Erzeugung von Informationen kommen kann, muß sich also ein Interesse an ihnen
werden muß, und wenn man den Begriff dieses System in dieser Funktion als Beobachter bezeichnet, führt das formieren.
zu der Aussage: der Beobachter ist das ausgeschlossene Dritte seines Beobachtens. Er kann sich selbst beim Wenn man Kommunikation als Einheit begreift, die aus den drei Komponenten Information, Mitteilung
Beobachten nicht sehen. Der Beobachter ist das Nicht-Beobachtbare, heißt es kurz und bündig bei Michel und Verstehen besteht, die durch die Kommunikation erst erzeugt werden, schließt das die Möglichkeit aus,
86
Serres. Die Unterscheidung, die er jeweils verwendet, um die eine oder die andere Seite zu bezeichnen, dient einer dieser Komponenten einen ontologischen Primat zuzusprechen. Weder kann man davon ausgehen, daß
als unsichtbare Bedingung des Sehens, als blinder Fleck. Und dies gilt für alles Beobachten, gleichgültig ob es zunächst eine Sachwelt gibt, über die dann noch gesprochen werden kann; noch liegt der Ursprung der
die Operation psychisch oder sozial, ob sie als aktueller Bewußtseinsprozeß oder als Kommunikation Kommunikation in der "subjektiv" sinnstiftenden Handlung des Mitteilens; noch existiert zunächst eine
durchgeführt wird. Gesellschaft, die über kulturelle Institutionen vorschreibt, wie etwas als Kommunikation zu verstehen sei. Die
Das Gesellschaftssystem wird demnach nicht durch ein bestimmtes "Wesen", geschweige denn durch Einheit der kommunikativen Ereignisse ist weder objektiv, noch subjektiv, noch sozial ableitbar, und eben
eine bestimmte Moral (Verbreitung von Glück, Solidarität, Angleichung von Lebensverhältnissen, vernünftig- deshalb schafft die Kommunikation sich das Medium Sinn, in dem sie dann laufend darüber disponieren kann,
konsensuelle Integration usw.) charakterisiert, sondern allein durch die Operation, die Gesellschaft produziert ob die weitere Kommunikation ihr Problem in der Information, in der Mitteilung oder im Verstehen sucht. Die
87 88
und reproduziert. Das ist Kommunikation. Mit Kommunikation ist folglich (wie schon mit Operation) ein Komponenten der Kommunikation setzen einander wechselseitig voraus; sie sind zirkulär verknüpft. Sie
jeweils historisch-konkret ablaufendes, also kontextabhängiges Geschehen gemeint — und nicht eine bloße können daher ihre Externalisierungen nicht mehr als Eigenschaften der Welt ontologisch fixieren, sondern
89
Anwendung von Regeln richtigen Sprechens. Für das Zustandekommen von Kommunikation ist unerläßlich, müssen sie im Übergang von einer Kommunikation zur anderen jeweils suchen.
daß alle Beteiligten mit Wissen und mit Nichtwissen beteiligt sind. Das hatten wir in den methodologischen Die Zeitpunktgebundenheit der Operation Kommunikation bezieht sich auf den Zeitpunkt des Verstehens
Vorbemerkungen schon notiert und als Einwand gegen den methodologischen Individualismus angesehen. auf Grund der Beobachtung einer Differenz von Information und Mitteilung. Erst das Verstehen generiert
Denn wie soll man Nichtwissen als einen Bewußtseinszustand auffassen, wenn nicht in Abhängigkeit von nachträglich Kommunikation. (Wir brauchen diese Festlegung, um schriftliche Kommunikation und auch
kommunikativen Situationen, die bestimmten Anforderungen spezifizieren bzw. bestimmte Kommunikation mittels Geld einbeziehen zu können.) Kommunikation ist also eine bestimmte Art, Welt zu
Informationschancen erkennbar werden lassen. Schon deshalb ist Kommunikation eine autopoietische beobachten an Hand der spezifischen Unterscheidung von Information und Mitteilung. Sie ist eine der
Operation, weil sie die Verteilung von Wissen und Nichtwissen erst produziert, indem sie sie ändert. Möglichkeiten, auf Grund von Spezifikation Universalität zu gewinnen. Sie ist keine "Übertragung" von
91
Als Sinnpraxis sieht sich auch Kommunikation genötigt, Unterscheidungen zu treffen, um die eine Seite Sinn , wenngleich im Zeitpunkt des Verstehens weite Zeithorizonte konstruiert werden können, um
zu bezeichnen und auf dieser Seite für Anschlüsse zu sorgen. Damit wird die Autopoiesis des Systems Kommunikation im Hinblick auf den Zeitpunkt der Mitteilung besser verstehen zu können. Das Problem ist
fortgesetzt. Aber was geschieht mit der anderen Seite? Sie bleibt unbezeichnet und braucht daher nicht auf aber, daß die Kommunikation das, was im Zeitpunkt des Verstehens gleichzeitig geschieht, nicht kontrollieren
kann, also immer auf Rückschlüsse aus ihrer eigenen Vergangenheit, auf Redundanzen, auf selbstkonstruierte
86
Der Parasit, dt. Übers. Frankfurt 1981, S. 365.
Rekursionen angewiesen bleibt.
87
Verstehen in kommunikativen Zusammenhängen wäre deshalb ganz unmöglich, wäre es darauf
Dies operative Verständnis sozialer Systeme unterscheidet sich radikal von einem ganz anderen Zugriff, der soziale angewiesen, zu entschlüsseln, was gleichzeitig psychologisch abläuft. Zwar muß vorausgesetzt werden, daß
Systeme durch eine Mehrheit interagierender Elemente und durch Erhaltung ihres Netzwerks auch bei Ausscheiden der
Elemente definiert. So Milan Zeleny, Ecosocieties: Societal Aspects of Biological Self-Production, Soziale Systeme 1
Bewußtsein mitwirkt, aber keiner der an Kommunikation Beteiligten kann wissen, wie das im einzelnen
(1995), S. 179-202. Die Konsequenz ist, daß dann auch Organismen, ja selbst Zellen als soziale Systeme aufzufassen sind.
Diese begriffliche Überdehnung wollen wir vermeiden. 90
Siehe dazu Gotthard Günther, Cognition and Volition: A Contribution to a Cybernetic Theory of Subjectivity, in ders.,
88
Zur begrifflichen Klärung vgl. ausführlich Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik Bd. 2, Hamburg 1979, S. 203-240, mit der wichtigen Einsicht,
Frankfurt 1984, S. 191 ff. Wir kommen darauf an vielen Stellen zurück, immer wenn wir im Fortgang der Analyse mehr daß kein operativ geschlossenes System auf eine aktive Rolle in bezug auf seine Umwelt verzichten kann (212).
Tiefenschärfe brauchen. 91
Zum Einfluß dieser und anderer Metaphern auf den Begriff der Kommunikation siehe Klaus Krippendorff, Der
89
Vgl. dazu als literaturwissenschaftliche Ausarbeitung Henk de Berg, Kontext und Kontingenz: verschwundene Bote: Metaphern und Modelle der Kommunikation, in: Klaus Merten / Siegfried J. Schmidt / Siegfried
Kommunikationstheoretische Überlegungen zur Literaturhistoriographie, Opladen 1995; ders., A Systems Theoretical Weischenberg (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien: Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994,
Perspective on Communication, Poetics Today 16 (1995), S. 709-736. S. 79-113.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 33 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 34

geschieht — und zwar weder für andere Beteiligte noch für sich selbst. Vielmehr muß die Kommunikation transportiert werden. Das geht nur, wenn das, worauf das Zeichen sich bezieht (hier vor allem die Intention),
99
(also die Gesellschaft) das für sie benötigte Verstehen selbst beschaffen. Das geschieht durch abwesend ist. Die Notwendigkeit zeitlicher Sequenzierung, so können wir zusammenfassen, zwingt zur
Nichtbeliebigkeiten in der Vernetzung kommunikativer Ereignisse, also durch die selbstreferentielle Struktur Differenzierung von System und Umwelt und im System zur operativen Schließung der Rekursionen.
der Kommunikationsprozesse. Denn jedes Einzelereignis gewinnt seine Bedeutung (= Verständlichkeit) nur Das Konzept der selbstreferentiellen, operativen Geschlossenheit verändert den Begriff der Systemgrenze
dadurch, daß es auf andere verweist und einschränkt, was sie bedeuten können, und genau dadurch sich selbst und kompliziert ihn in einer Weise, die einer sorgfältigen Analyse bedarf. Bei lebenden Systemen, also bei
92
bestimmt. einer autopoietischen Organisation von Molekülen im Raum, kann man noch von räumlichen Grenzen
Ein Kommunikationssystem besteht demnach nur im Moment seines Operierens; aber es benutzt für die sprechen. Ja, Grenzen sind hier besondere Organe des Systems, Membranen von Zellen, Haut von
Bestimmung seiner Operationen das Medium Sinn und ist dadurch imstande, von jeder Operation aus sich Organismen, die spezifische Funktionen der Abschirmung und der selektiven Vermittlung von
selektiv auf andere Operationen zu beziehen und dies in Horizonten, die dem System die gleichzeitig Austauschprozessen erfüllen. Diese Form von Grenze (die natürlich nur für einen externen Beobachter
93
bestehende Welt präsentieren. Alle Dauer muß deshalb durch Übergang zu anderen Ereignissen produziert sichtbar ist und im System einfach nur lebt) entfällt bei Systemen, die im Medium Sinn operieren. Diese
werden. Kommunikative Systeme sind nur als rekursive Systeme möglich, da sie ihre einzelnen Operationen Systeme sind überhaupt nicht im Raum begrenzt, sondern haben eine völlig andere, nämlich rein interne Form
94
nur durch Rückgriff und Vorgriff auf andere Operationen desselben Systems produzieren können. Das von Grenze. Das gilt schon für das Bewußtsein, das sich eben dadurch vom Gehirn unterscheidet und nur so
100
wiederum bringt die Doppelanforderung von Kontinuität und Diskontinuität mit sich, und daraus ergibt sich die neurophysiologische Selbstbeobachtung des Organismus "externalisieren" kann. Es gilt erst recht für
die Frage, wie Sinn in anderen Situationen als derselbe behandelt werden kann. Es muß erkennbare das Kommunikationssystem Gesellschaft, wie seit der Erfindung der Schrift oder spätestens seit der Erfindung
Wiederholung eingerichtet werden. Nur wenn und soweit dies der Fall ist, kann die klassische Begrifflichkeit, des Telephons evident ist. Die Grenze dieses Systems wird in jeder einzelnen Kommunikation produziert und
die von "Element" und "Relation" gesprochen und dabei stabile Gegenstände unterstellt hatte, beibehalten reproduziert, indem die Kommunikation sich als Kommunikation im Netzwerk systemeigener Operationen
95
werden. Und die Frage ist: wie ist dies im Medium von Sinn möglich? bestimmt und dabei keinerlei physische, chemische, neurophysiologische Komponenten aufnimmt. Jede
In der Formentheorie von Georges Spencer Brown läßt dieses Desiderat sich mit der Operation trägt, anders gesagt, zur laufenden Ausdifferenzierung des Systems bei und kann anders ihre eigene
96
Doppelbegrifflichkeit von condensation und confirmation ausdrücken , die nicht auf einen Begriff reduziert Einheit nicht gewinnen. Die Grenze des Systems ist nichts anderes als die Art und Konkretion seiner
101
werden kann. Rekursionen müssen Identitäten erzeugen, die sich für Wiederverwendung eignen; das kann nur Operationen, die das System individualisieren. Sie ist die Form des Systems, deren andere Seite damit zur
durch selektives Kondensieren geschehen, durch Weglassen von nichtwiederholbaren Momenten anderer Umwelt wird.
Situationen. Sie müssen aber außerdem den so kondensierten Sinn in neuen Situationen bewähren, und das Dasselbe läßt sich mit Hilfe der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz formulieren.
erfordert Generalisierungen. Wenn diese Anforderungen, etwa mit Hilfe von Sprache, wiederholt erfüllt Sinnhaft operierende Systeme reproduzieren sich in laufendem Vollzug der Unterscheidung von Selbstreferenz
werden müssen, bilden sich generalisierte Sinninvarianten, deren Bedeutungen in der Form von Definitionen und Fremdreferenz. Die Einheit dieser Unterscheidung kann nicht beobachtet werden; ihr Vollzug geschieht
nicht zureichend erfaßbar ist. Sie ergeben sich aus Verwendungserfahrungen, die ganz und gar von dem immer nur operativ und immer nur intern (denn anderes könnte von Selbstreferenz und Fremdreferenz nicht
Benutzersystem abhängen. Wir sehen darin einen Grund für die Evolution symbolisch generalisierter die Rede sein). Wie lebende Systeme können auch sinnhaft operierende Systeme mit eigenen Operationen nie
97
Kommunikationsmedien. die eigenen Grenzen überschreiten. Aber im Medium Sinn haben Grenzen immer eine andere Seite, sind
98
Ähnliche Überlegungen findet man unter dem Stichwort différance bei Jacques Derrida. Nicht nur Formen immer als Zwei-Seiten-Formen (und nicht nur als pure Faktizität des operativen Vollzugs) gegeben.
beim Schreiben, sondern auch beim Reden, ja bei jeder Art von Erfahrung müssen Zeichen gesetzt und in Das heißt: das den Fortgang von Operation zu Operation begleitende Beobachten bemerkt immer auch die
andere Situationen verschoben werden. Also müssen Unterscheidungen (Brüche, ruptures) in der Zeit Selektivität der rekursiven Verknüpfung und damit etwas, was nicht zum System, sondern zur Umwelt gehört.
In der Kommunikation werden Informationen über etwas aktualisiert und verändert, was selbst nicht
92
Kommunikation ist. Die Fremdreferenz wird bei allem Suchen nach passenden Anschlüssen im Netzwerk der
Siehe dazu Michael Hutter, Communication in Economic Evolution: The Case of Money, in: Richard W. England (Hrsg.), Kommunikation immer mitgeführt. Die Grenze des Systems ist daher nichts anderes als die selbstproduzierte
Evolutionary Concepts in Contemporary Economics, Ann Arbor 1994, S. 111-136 (115): "The self-referential nature of the
process implies its logical closure. Understanding appears always complete, because it contains its own foundation.
Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz, und sie ist als solche in allen Kommunikationen präsent.
Understanding operates blindly, and it has to. The sense of completeness is an eminently helpful property; without it, we Mit der laufend reproduzierten Unterscheidung von Information und Mitteilung kann ein soziales System
would probably die of fear and insecurity. sich selbst beobachten. Ein Beobachter dieses Beobachtens, ein Beobachter zweiter Ordnung (zum Beispiel
93
Für Theorievergleiche sei angemerkt, daß wir damit auf die klassische Unterscheidung von Prozeß und Struktur
das Sozialsystem Wissenschaft) kann außerdem Themen und Funktionen der Kommunikation unterscheiden
verzichten können, die zwei Ebenen unterscheiden mußte und deshalb keine Möglichkeit hatte, die (Produktion der) und damit Bedingungen der Wiederholbarkeit von Operationen (hier: Kommunikationen) beobachten. Themen
Einheit des Systems zu bezeichnen — es sei denn rein sprachlich durch das "und" zwischen Prozeß und Struktur. ermöglichen die Unterscheidung von Themen und Beiträgen, also von Strukturen und Operationen, die dann
94
Welche Konsequenzen dies hat, läßt sich auch am mathematischen Begriff der rekursiven Funktionen vorführen, der der
an der Innenseite der Grenze zur Umwelt haften. Das erlaubt eine sequentielle Ordnung der Kommunikation
modernen Mathematik des Unerwartbaren und der Kompensation von Unausrechenbarkeit durch systemische Produktion
von Eigenwerten zugrundeliegt. Vgl. dazu Heinz von Foerster, Für Niklas Luhmann: Wie rekursiv ist Kommunikation?,
Teoria Sociologica 1/2 (1993), S. 61-85, mit dem Ergebnis: Kommunikation ist Rekursivität.
99
95 "C'est que cette unité de la forme signifiante ne se constitue que par son itérabilité, par son possibilité d'être répétée en
Es gibt nach wie vor gute Gründe für die Beibehaltung dieser Begriffe, wenn es darum geht, Systemmodelle zu
l'absence non seulement de son "réferent", ce qui va de soi, mais en l'absence d'un signifié déterminé ou de l'intention de
beschreiben. Aber über Modellbildung kommt man damit nicht hinaus. In ihrer operativen Wirklichkeit und in der Fluidität
signification actuelle, comme de toute intention de communication présente." (a.a.O. S. 378)
— vor allem auch: im Reichtum ihrer übergangenen Möglichkeiten — sind Systeme sehr viel komplexer, als es in einem
100
Modell gezeigt werden kann. Deshalb vermag ich auch dem Vorschlag von Pierpaolo Donati, Teoria relazionale della Wir müssen hier offen lassen, wie das genau zu verstehen ist. Jedenfalls kann das Nervensystem nur den Organismus
società, Milano 1991, nicht zu folgen, die Systemtheorie durch eine Relationentheorie zu ersetzen; oder zu ergänzen, wie beobachten, von dem und in dem es lebt. Es diskriminiert Zustände des Organimus ohne irgendeinen Zugang zu dessen
Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie: Selbstreferenz — Selbstorganisation Prozeduralisierung, Berlin 1992 (vgl. Umwelt. Das Bewußtsein scheint entstanden zu sein zur Lösung der sich dabei ergebenden Konflikte der
z.B. S. 165) meint. Informationsverarbeitung. Es sieht dann einen externen Raum, eine den aktuellen Moment überschreitende Zeit, es
96 imaginiert Abwesendes, um Widersprüche zu bereinigen, die sich anderenfalls (zum Beispiel als Folge des binokularen
Vgl. a.a.O. S. 10, 12.
Sehen oder der Konsistenzprüfungen des Gedächtnisses) ergeben würden. Aber dieser Ausweg kann, schon bei Tieren, nur
97
Vgl. Kap. 2 ...... funktionieren, wenn das Bewußtsein nicht seinerseits wieder irgendwo im Raum begrenzt lebt.
98 101
Siehe Marges de la philosophie, Paris 1972, insb. S. 1 ff., 365 ff. Für eine vergleichende Analyse siehe auch Niklas Entsprechend für das "Selbst" Gregory Bateson, Geist und Natur: Eine notwendige Einheit, dt. Übers. Frankfurt 1982, S.
Luhmann, Deconstruction as Second-Order Observing, New Literary History 24 (1993), S. 763-782. 163 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 35 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 36
102
und führt zu einem nach Themen gegliederten, gleichsam lokal ("topisch") geordneten Gedächtnis. zusammen, die für alle sozialen Systeme gelten, selbst für Interaktionssysteme von kurzer Dauer und geringer
106
Funktionen beziehen sich dagegen auf die Autopoiesis des Systems und die dazu nötige Reproduktion, Bedeutung. Auf dieser Ebene erscheint die Gesellschaft (wie die klassische societas civilis) als ein
Änderung oder Neuentwicklung von Strukturen. In der Kommunikation über Kommunikation können dann Sozialsystem unter vielen anderen und kann verglichen werden mit Organisationssystemen und Systemen der
auch noch Themen und Funktionen der Kommunikation zum Thema werden — ein re-entry der Interaktion unter Anwesenden als anderen Typen sozialer Systeme.
Unterscheidung in sich selbst. Und damit schließt sich das System auch reflexiver Ebene, erreicht also den Erst auf der dritten Ebene kommt die Spezifik von Gesellschaftssystemen zur Geltung. Hier muß
103
Zustand doppelter Schließung , der hohe interne Flexibilität garantiert, aber auch Intransparenz für jeden artikuliert werden, was das Merkmal "umfassend" besagt, das auf die Anfangssätze der Politik des Aristoteles
Beoachter aufzwingt. zurückgeht. Offensichtlich liegt dem eine Paradoxie zu Grunde. Sie besagt, daß ein Sozialsystem (koinonía)
Wir werden noch sehen, daß diese Analyse uns festlegt auf die Annahme eines einzigen unter anderen zugleich alle anderen in sich einschließt. Bei Aristoteles wurde diese Paradoxie durch Emphase
Weltgesellschaftssystems, das gleichsam pulsierend wächst oder schrumpft je nach dem, was als aufgelöst und letztlich durch ein ethisches Verständnis von Politik. Sie wurde für die Tradition damit
Kommunikation realisiert wird. Eine Mehrheit von Gesellschaften wäre nur denkbar, wenn es keine invisibilisiert. Wir entfalten diese Paradoxie durch die hier vorgeschlagene Unterscheidung von Ebenen der
kommunikativen Verbindungen zwischen ihnen gäbe. Analyse von Gesellschaft. Das läßt die Möglichkeit zu, bei Gelegenheit an die paradoxe Fundierung der
Gesamttheorie zu erinnern. (Denn die Unterscheidung von "Ebenen" ist in unseren Begriffen eine "Form", die
zwei Seiten hat; der Begriff der Ebene impliziert, daß es andere Ebenen gibt).
Obwohl wir diese Ebenen unterscheiden, bleibt der Gegenstand unserer Untersuchungen (ihre
V. Gesellschaft als umfassendes Sozialsystem "Systemreferenz") das Gesellschaftssystem. Wir unterscheiden, mit anderen Worten, die Ebenen der Analyse
am Gegenstand Gesellschaft und befassen uns im vorliegenden Kontext nicht mit Systemen, die auf den
Die Gesellschaftstheorie ist nach dem hier auszuarbeitenden Verständnis die Theorie des umfassenden anderen Ebenen ebenfalls thematisiert werden könnten. Methodologisch führt die Unterscheidung der Ebenen
sozialen Systems, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt. Diese Definition ist fast ein Zitat. Sie zu der Forderung, Abstraktionsmöglichkeiten auszuschöpfen, Systemvergleiche auf möglichst
104
bezieht sich auf die Einleitungssätze der Politik von Aristoteles , die die städtische Lebensgemeinschaft verschiedenartige Systeme zu erstrecken und Erkenntnisgewinne, die bei der Gesellschaftsanalyse anfallen, so
(koinonía politiké) definieren als die herrlichste (herrscherlichste, kyriotáte) Gemeinschaft, die alle anderen in weit möglich für Auswertung auf allgemeineren Ebenen zur Verfügung zu stellen. Es handelt sich nach all
sich schließt (pásas periéchousa tàs állas). Wir schließen mithin an die alteuropäische Tradition an, sofern es dem nicht, wie Soziologen immer wieder befürchten, um einen Analogieschluß, und es handelt sich
um den Begriff der Gesellschaft geht. Freilich werden alle Komponenten der Definition (einschließlich des ebensowenig um eine "nur metaphorische" Verwendung biologischen Ideenguts. Die Unterscheidung trifft
Begriffs des Eingeschlossenseins = periéchon, den wir mit dem Konzept der Differenzierung systemtheoretisch keine Aussage über das Sein oder über das Wesen der Dinge im Sinne der "analogia entis". Sie ist nichts
auflösen werden) anders aufgefaßt, denn es geht uns um eine Theorie der modernen Gesellschaft für die anderes als eine Form der Entfaltung der Paradoxie der sich selbst einschließenden Einheit und hat die
moderne Gesellschaft. Der Zusammenhang mit der alteuropäischen Tradition bleibt also gewahrt, aber spezifische Funktion, den Gedankenaustausch zwischen den Disziplinen zu fördern und das wechselseitige
105
zugleich geht es um eine Neubeschreibung, eine "redescription" ihrer Kernaussagen. Anregungspotential zu steigern. Sie ist mit all dem keine Seinsaussage, sondern eine wissenschaftsspezifische
Gesellschaft wird also zunächst als System begriffen, und die Form des Systems ist, wie gesagt, nichts Konstruktion.
anderes als die Unterscheidung von System und Umwelt. Das heißt aber nicht, daß die allgemeine Auf allen Ebenen der Analyse des Gesellschaftssystems werden wir uns zur Spezifikation der
Systemtheorie ausreicht, um im logischen Verfahren erschließen zu können, was als Gesellschaft der Fall ist. notwendigen Theorieentscheidungen systemtheoretischer Mittel bedienen. Die allgemeine Theorie
Vielmehr muß zusätzlich bestimmt werden, worin die Besonderheit sozialer Systeme besteht, und innerhalb autopoietischer Systeme verlangt eine genaue Angabe derjenige Operation, die die Autopoiesis des Systems
der Theorie sozialer Systeme dann, was die Besonderheit eines Gesellschaftssystems ausmacht, das heißt: was durchführt und damit ein System gegen seine Umwelt abgrenzt. Im Falle sozialer Systeme geschieht dies
impliziert ist, wenn wir die Gesellschaft als das umfassende Sozialsystem bezeichnen. durch Kommunikation.
Wir müssen mithin drei verschiedene Ebenen der Analyse von Gesellschaft unterscheiden: Kommunikation hat alle dafür erforderlichen Eigenschaften: Sie ist eine genuin soziale (und die einzige
(1) die allgemeine Systemtheorie und in ihr die allgemeine Theorie autopoietischer Systeme; genuin soziale) Operation. Sie ist genuin sozial insofern, als sie zwar eine Mehrheit von mitwirkenden
(2) die Theorie sozialer Systeme; Bewußtseinssystemen voraussetzt, aber (eben deshalb) als Einheit keinem Einzelbewußtsein zugerechnet
(3) die Theorie des Gesellschaftssystems als eines Sonderfalls sozialer Systeme. werden kann. Sie schließt überdies mit den Bedingungen ihres eigenen Funktionierens aus, daß die
107
Auf der Ebene der allgemeinen Theorie autopoietischer, selbstreferentieller, operativ geschlossener Bewußtseinssysteme den jeweils aktuellen Innenzustand des oder der anderen kennen können , und zwar bei
Systeme rekrutiert die Gesellschaftstheorie Begriffsentscheidungen und Ergebnisse empirischer Forschungen, mündlicher Kommunikation, weil die Beteiligten mitteilend/verstehend gleichzeitig mitwirken und bei
die auch für andere Systeme dieses Typs (zum Beispiel für Gehirne) gelten. Hier ist ein sehr weit greifender schriftlicher Kommunikation, weil sie abwesend mitwirken. Die Kommunikation kann also nur unterstellen,
108
interdisziplinärer Austausch von Erfahrungen und Anregungen möglich. Wie im vorigen Abschnitt gezeigt, daß ein für sie ausreichendes Verstehen auch psychische Korrelate hat. Sie ist in diesem Sinne (und nichts
gründen wir die Gesellschaftstheorie auf innovative Entwicklungen in diesem Bereich. anderes kann mit "Interpenetration" gemeint sein) auf operative Fiktionen angewiesen, die nur gelegentlich und
Auf der Ebene der Theorie sozialer Systeme geht es um die Besonderheit autopoietischer Systeme, die wiederum nur durch Kommunikation getestet werden müssen.
als soziale begriffen werden können. Auf dieser Ebene muß die spezifische Operation bestimmt werden, deren
autopoietischer Prozeß zur Bildung sozialer Systeme in entsprechenden Umwelten führt. Das sind
Kommunikationen. Die Theorie sozialer Systeme faßt mithin alle Aussagen (und nur solche Aussagen) 106
Vorarbeiten dazu in Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984.
107
Man kann natürlich argumentieren, daß dies angesichts von Komplexität und Operationstempo der Bewußtseinssysteme
102
Wir sprechen hier vom Gedächtnis des Kommunikationssystems selbst und nicht von neurophysiologischen oder ohnehin unmöglich ist und daß die Evolution eben deshalb auf den Ausweg der Kommunikation verfallen ist, was den
psychischen Leistungen. Das Kommunikationssystem kann denn auch, durch Gebrauch des Eigenmittels Kommunikation, Bewußtseinssystemen zugleich die Möglichkeit freigestellt hat, eigene Komplexität zu entwickeln. Und auch das trifft zu.
Gedächtnisleistungen einzelner psychischer Systeme substituieren und sich schließlich mit Schrift ein eigenes Gedächtnis Das oben im Text gebrachte Argument besagt dann aber immer noch, daß Kommunikation nicht dazu führt, daß man die
schaffen. Bewußtseinszustände der Beteiligten erkennt, sondern nur: daß man sie als Begleitphänomen so weit errät oder fingiert,
103 daß die Kommunikation fortgesetzt werden kann. Im übrigen schließt das Argument im Verhältnis zwischen Menschen
im Sinne von Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside Cal. 1981, S. 304 ff.
ebensowenig wie im Verhältnis zu Dingen das Entstehen von Redundanzen aus: Man kennt ihre Schritte und seinen Hut,
104
Pol. 1252 a 5-6. und man weiß, womit man den anderen ärgern kann.
105 108
etwa im Sinne von Mary Hesse, Models and Analogies in Science, Notre Dame 1966, S. 157 ff. Siehe auch Alois Hahn, Verstehen bei Dilthey und Luhmann, Annali di Sociologia 8 (1992), S. 421-430.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 37 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 38

Kommunikation ist genuin sozial auch insofern, als in keiner Weise und in keinem Sinne ein Auf diese Weise käme es nur zu wechselseitiger Irritierung und Stimulation der (Autopoiesis der)
"gemeinsames" (kollektives) Bewußtsein hergestellt werden kann, also auch Konsens im Vollsinne einer Organismen, zu mehr oder weniger okkasionellen und eventuell relativ häufigen Koordinationen. Entscheidend
109
vollständigen Übereinstimmung unerreichbar ist und Kommunikation statt dessen funktioniert. Sie ist die ist vielmehr nach Mead, daß Symbole entstehen, die es dem einzelnen Organismus ermöglichen, sich in sich
kleinstmögliche Einheit eines sozialen Systems, nämlich jene Einheit, auf die Kommunikation noch durch selbst mit dem Verhalten anderer abzustimmen und zugleich selbst die entsprechenden "vocal gestures" zu
110
Kommunikation reagieren kann. Kommunikation ist, und das ist dasselbe Argument in anderer Fassung, benutzen; oder mit Maturana gesprochen: daß es zur Koordination der Koordinationen der Organismen
114
autopoietisch insofern, als sie nur im rekursiven Zusammenhang mit anderen Kommunikationen erzeugt kommt. Diese Erklärung kann in Richtung auf eine Semiotik des Sozialen ausgebaut werden. Sie führt
werden kann, also nur in einem Netzwerk, an dessen Reproduktion jede einzelne Kommunikation selber jedoch nicht zu einer Theorie der Gesellschaft als eines sich selbst durch Kommunikation gegen eine Umwelt
111 115
mitwirkt. Mit Verstehen bzw. Mißverstehen wird eine Kommunikationseinheit abgeschlossen ohne (auch der beteiligten Organismen) abgrenzenden sozialen Systems. Alle Aussagen über Kommunikation
Rücksicht auf die prinzipiell endlose Möglichkeit, weiter zu klären, was verstanden worden ist. Aber dieser bleiben Aussagen über das "behavioral organism", über das Nervensystem (biologisch) oder über das
Abschluß hat die Form des Übergangs zu weiterer Kommunikation, die solche Klärungen nachvollziehen oder Bewußtsein (psychologisch).
sich anderen Themen zuwenden kann. Elementproduktion ist Autopoiesis. Schon die Kommunikation des Dabei ist noch nicht berücksichtigt, daß Teilnahme an Kommunikation ein hohes und kontinuierlich
Annehmens oder Ablehnens des Sinnvorschlags einer Kommunikation ist eine andere Kommunikation und durchgehaltenes Tempo in der Identifikation sukzessiver Sinnpartikel erfordert. Ohne dieses Tempo würde das
ergibt sich, bei allen thematischen Bindungen, nicht von selbst aus der vorigen Kommunikation. Für die Kurzzeitgedächtnis der Kommunikation versagen. Andererseits ist das Bewußtsein in seinen
Autopoiesis der Gesellschaft und ihre Strukturbildungen ist es eine wesentliche Voraussetzung, daß neurobiologischen Grundlagen darauf nicht vorbereitet und muß in einem sehr spezifischen Sinne evoluieren,
116
Kommunikation nicht schon von selbst ihre eigene Akzeptanz enthält, sondern daß darüber erst noch durch um Schritthalten zu können. Dafür hält die Kommunikation dann deutlich distinkte Lautkombinationen
weitere, unabhängige Kommunikation entschieden werden muß. bereit. Jedenfalls liegt hier, und nicht im bloßen Behandeln von Zeichen, das eigentliche Problem der Co-
Da Kommunikation Zeit braucht, um Kommunikationen an Kommunikation anschließen zu können, evolution von Gehirn, Bewußtsein und Sprache.
führt diese Operationsweise zu einer zeitlichen Entkopplung von System und Umwelt. Das ändert nichts Man braucht an diesen Einsichten nichts zu korrigieren und nichts zurückzunehmen; aber dann bleibt
daran, daß System und Umwelt gleichzeitig existieren und diese Gleichzeitigkeit aller Konstitution von Zeit immer noch die Frage, ob und wie Kommunikation eine Operation sein kann, die zur Emergenz und
112
zugrundeliegt. Aber innerhalb der dadurch gegebenen Beschränkungen muß das System eine Eigenzeit operativen Schließung eines eigenständigen sozialen Systems mit einer eigenen, nicht wahrnehmbaren (!),
konstituieren, die das Operationstempo und die Zeitperspektiven des Systems internen Möglichkeiten anpaßt. sondern nur denotierbaren Umwelt führt. Oder um ein Argument Maturanas aus der Zellbiologie in die
Das System muß dann auf eins-zu-eins Kopplungen von Umweltereignissen und Systemereignissen verzichten Theorie sozialer Systeme zu überführen: Aus einer Beschreibung der Gesamtheit der Zustände beteiligter
und intern Einrichtungen schaffen, die dem Umstande Rechnung tragen, daß in der Umwelt andere Nervensysteme oder Bewußtseinssysteme folgt noch nichts für die Frage, wie eine Autopoiesis des Sozialen
Zeitverhältnisse herrschen als im System. Das System entwickelt Strukturen (Erinnerungen und möglich ist.
Erwartungen), um in seinen Operationen Zeitverhältnisse im System und in der Umwelt auseinanderhalten Entscheidend dafür dürfte sein, daß Sprechen (und dies nachahmende Gesten) eine Intention des
und die Eigenzeit organisieren zu können. Teils muß das System gegenüber der Umwelt Zeit gewinnen, also Sprechers verdeutlicht, also eine Unterscheidung von Information und Mitteilung und im weiteren dann eine
117
Vorsorge treffen; teils muß es Überraschungen hinnehmen und verkraften können. Es muß Reaktionen Reaktion auf diesen Unterschied mit ebenfalls sprachlichen Mitteln erzwingt. Erst dadurch entsteht
verzögern oder auch beschleunigen können, während dessen in der Umwelt schon wieder etwas anderes überhaupt, als Komponente dieser Unterscheidung, eine Information mit Informationswert, das heißt: eine
geschieht. Aber zum Problem wird dies nur dadurch, daß System und Umwelt ausweglos gleichzeitig Information, die den Zustand des sie prozessierenden Systems ändert (im Sinne des berühmten Diktums von
operieren und das System also nicht in die Zukunft der Umwelt vorauseilen oder in deren Vergangenheit Bateson: a difference that makes a difference). Es kommt hinzu, und das unterscheidet Kommunikationen von
zurückbleiben kann. Das System kann also nie in eine Zeitlage gelangen, in der es sicher sein kann, daß in der biologischen Prozessen jeder Art, daß es sich um eine Operation handelt, die mit der Fähigkeit zur
Umwelt nichts geschieht. Selbstbeobachtung ausgestattet ist. Jede Kommunikation muß zugleich kommunizieren, daß sie eine
Dies gilt auch und speziell für das Verhältnis von Kommunikation und Bewußtsein, also für die Kommunikation ist, und sie muß markieren, wer was mitgeteilt hat, damit die Anschlußkommunikation
Bewußtseins- und vor allem die Wahrnehmungsvorgänge, die in der Umwelt der Gesellschaft vorauszusetzen bestimmt und so die Autopoiesis fortgesetzt werden kann. Sie erzeugt mithin nicht nur durch bloßen Vollzug
sind. Auch diese Differenz erfordert und ermöglicht zeitliche Entkopplungen bei unbestreitbar gleichzeitigem als Operation eine Differenz (das auch!), sondern sie verwendet auch eine spezifische Unterscheidung,
113
Zusammenwirken. Seit den bahnbrechenden Analysen von Mead weiß man, daß Kommunikation nicht nämlich die von Mitteilung und Information, um zu beobachten, daß dies geschieht.
schon dadurch zustandekommt, daß ein Organismus wahrnimmt, wie ein anderer sich verhält, und sich darauf Diese Einsicht hat sehr weittragende Konsequenzen. Sie besagt nicht nur, daß die Identifikation von
einstellt; und auch nicht dadurch, daß er die Gesten des anderen, etwa Drohgesten oder Spielgesten, imitiert. Mitteilung als "Handlung" das Konstrukt eines Beobachters ist, nämlich das Konstrukt des sich selbst
beobachtenden Kommunikationssystems. Sie besagt vor allem, daß soziale Systeme (und das schließt dann
109
Darauf weist Alois Hahn mit dem Begriff der Verständigung hin, die Konsensfiktionen einschließen, aber auch andere
den Fall Gesellschaft ein) nur als sich selber beobachtende Systeme zustandekommen können. Wir sind durch
Mittel benutzen kann, um die Fortsetzung von Kommunikation bei divergenten psychischen Zuständen zu ermöglichen. diese Überlegung gezwungen, im Gegensatz zu Parsons und zu all dem, was gegenwärtig als
Siehe: Verständigung als Strategie, in: Max Haller / Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny / Wolfgang Zapf (Hrsg.), Kultur Handlungstheorie auf dem Markt ist, auf eine handlungstheoretische (und damit "individualistische")
118
und Gesellschaft: Soziologentag Zürich 1988, Frankfurt 1989, S. 346-359. Begründung der Soziologie zu verzichten. Wir gewinnen damit zugleich ein Problem, aber zunächst nichts
110
Weitere Dekompositionen in einzelne Worte oder phonetische Wortbestandteile (phoneme) sind natürlich möglich und
eventuell für die Linguistik bedeutsam. Aber dann ist nicht mehr von Kommunikation, sondern von Sprache die Rede — 114
Siehe Maturana a.a.O. (1982), insb. S. 258 ff. Vgl. auch S. 155, wo Sprache als "rekursive strukturelle Kopplung des
von Sprache als Gegenstand von Kommunikation. Von der Kommunikation her gesehen sind Lauteinheiten bzw. Worte nur
Nervensystems mit seiner eigenen Struktur" beschrieben wird (Hervorhebung durch mich, N.L.).
(lose gekoppelte) Medien der Kommunikation, die in der Kommunikation nur funktionieren, wenn sie zu jeweils
115
sinnbestimmten Aussagen (Formen) gekoppelt werden. Dazu näher Kap. ..... Das sieht, und akzeptiert, auch Peter M. Hejl, Sozialwissenschaft als Theorie selbstreferentieller Systeme, Frankfurt
111 1982.
Vgl. Heinz von Foerster, Für Niklas Luhmann: Wie rekursiv ist Kommunikation?, Teoria Sociologica 1/2 (1993), S. 61-
116
88. Vgl. Philip Lieberman, Uniquely Human: The Evolution of Speech, Thought, and Selfless Behavior, Cambridge Mass.
112 1991, insb. S. 36 ff.
Ausführlicher Niklas Luhmann, Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in ders., Soziologische Aufklärung Bd. 5,
117
Opladen 1990, S. 95-130. Ausführlicher hierzu Luhmann, Soziale Systeme a.a.O. S. 191 ff.; Ferner unten Kap. 2 ... über Sprache.
113 118
Vor allem in: George Herbert Mead, Mind, Self, and Society From the Standpoint of a Social Behaviorist, Chicago Der Grund dafür ist: daß der Begriff der Handlung, der nach allgemeinem Verständnis Handelnde voraussetzt, die
1934. Grenzen zwischen Systemen und Umwelten verwischt. Das schließt aber keineswegs aus, den Begriff der Handlung als
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 39 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 40

weiter als dieses Problem eines Systems, das zur laufenden Selbstbeobachtung genötigt ist, wobei die Kastensystem als Darstellung der Einheit durch Differenz hat regional ganz verschiedene und mit der Einheit
Beobachtung, wie oben gesagt, eine unterscheidungsabhängige Operation ist, die im Moment ihres Operierens einer hierarchischen Ordnung inkompatible Ausprägungen erhalten. Und wer außerhalb des Klerus, des Adels
selbst als das ausgeschlossene Dritte fungiert. Auch alle Selbstbeobachtung ist ja bedingt durch einen blinden und der juristisch geschulten Richter und Verwaltungsbeamten die Drei-Stände-Lehre des späten Mittelalters
Fleck. Sie ist nur möglich, weil sie ihr Sehen nicht sehen kann. So fungiert die Kommunikation selbst operativ gekannt und an sie geglaubt hat, bleibt eine empirische Frage. Aus der Sicht von Bauern war es wohl eher eine
als Einheit der Differenz von Information, Mitteilung und Verstehen, ohne diese Einheit kommunizieren zu Ein-Klassen-Gesellschaft mit dem Ausnahmefall des jeweiligen Gutsherrn und seiner Familie.
können. Aber sie benutzt zur nachträglichen Selbstbeobachtung die Unterscheidung von Information, Es gibt im Falle von Gesellschaft eben keine externe Beschreibung, an der man sich korrigieren könnte
Mitteilung und Verstehen, um festlegen zu können, ob die weitere Kommunikation auf Zweifel an der — so sehr Literaten und Soziologen sich um eine solche Position bemühen. Die Tradition hatte das Interesse
Information, auf vermutete Mitteilungsabsichten (zum Beispiel Täuschungsabsichten) oder auf an einer unfehlbaren Beschreibung externalisiert und die entsprechende Position Gott genannt. Gott konnte
Verständnisschwierigkeiten zu reagieren hat. Keine Selbstbeobachtung ist mithin in der Lage, die volle alles, nur nicht sich irren. Aber man hatte dann doch konzedieren müssen, daß das Urteil der Priester über das
Wirklichkeit des Systems, das sie durchführt, zu erfassen. Sie kann nur etwas statt dessen tun, nur Urteil Gottes fehlbar sein könne und daß die richtige Beschreibung, das wahre Sündenregister, erst am Ende
Ersatzlösungen wählen; und dies geschieht durch die Wahl von Unterscheidungen, mit denen das System der Zeit als Weltgericht bekannt werden würde, und zwar in der Form einer Überraschung.
Selbstbeobachtungen ausführt. Ein System kann, wenn hinreichend komplex, vom Beobachten seiner Vor dem Hintergrund dieser These eines Überschußes an Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und
Operationen zum Beobachten seines Beobachtens und schließlich zur Beobachtung des Systems selbst Selbstbeschreibung werden wir im abschließenden Kapitel zu zeigen versuchen, daß Selbstbeschreibungen
übergehen. In diesem Falle muß es die Unterscheidung "System und Umwelt" zu Grunde legen, also gleichwohl nicht zufällig zustandekommen. Es gibt strukturelle Bedingungen für die Plausibilität von
Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden können. Aber auch dies geschieht, anders wäre es keine Darstellungen; und es gibt geschichtliche Trends in der Evolution von Semantiken, die den Spielraum für
Selbstbeobachtung, durch Operationen des Systems im System. Die Unterscheidung von Selbstreferenz und Variationen stark einschränken. Die soziologische Theorie kann dann Zusammenhänge nach der Art von
Fremdreferenz ist eine Unterscheidung, die im System praktiziert wird und sich als solche reflektiert. Wir Korrelationen zwischen Gesellschaftsstrukturen und Semantiken erkennen; aber sie kann zugleich wissen, daß
können auch sagen: sie ist eine Konstruktion des Systems. solche Theorien ihre eigenen Konstrukte sind und nicht mit den zur gegebenen Zeit kursierenden Darstellung
Angesichts der Unmöglichkeit, die Fülle des Seins zu erblicken und das System für sich selbst des Gesellschaftssystems verwechselt werden dürfen.
transparent zu machen, entsteht ein komplexes Gebilde von Unterscheidungen, die den Beobachtungsprozeß Die Gesellschaft hat also, so können wir zusammenfassen, kein Wesen. Ihre Einheit läßt sich nicht durch
des Systems leiten, ihn nach innen oder nach außen lenken je nach dem, welche Seite der Unterscheidung von Reduktion aufs Essentielle erschließen mit der Folge, daß widersprechende Auffassungen sich als Irrtum
"innen" und "außen" bezeichnet wird. Dann kann das System, wenn es über entsprechende abweisen ließen (denn auch dies müßte ja in der Gesellschaft kommuniziert werden und würde damit das
Speichereinrichtungen, zum Beispiel über Schrift verfügt, Erfahrungen sammeln, situative Eindrücke durch ändern, wovon die Rede ist). Die Einheit des Gesellschaftssystems liegt also lediglich in der Abgrenzung nach
Wiederholung kondensieren und sich ein operatives Gedächtnis aufbauen, ohne Gefahr zu laufen, dabei sich außen, in der Form des Systems, in der operativ laufend reproduzierten Differenz. Genau das ist der Punkt,
selbst ständig mit der Umwelt zu verwechseln. All dies geschieht im Anschluß an die Grundunterscheidung auf den die "redescription" der alteuropäischen Tradition Wert legen muß.
von Selbstreferenz und Fremdreferenz mit jeweils geeigneten anderen Unterscheidungen. Wenn wir sagen, daß nur Kommunikationen und alle Kommunikationen zur Autopoiesis der
Der Begriff der Selbstbeobachtung setzt nicht voraus, daß es in einem System jeweils nur eine solche Gesellschaft beitragen und dadurch das Merkmal "umfassend" redefinieren, steckt auch in dieser These ein
Möglichkeit gibt. Es können viele Kommunikationen gleichzeitig praktiziert und gleichzeitig selbstbeobachtet tiefreichender Bruch mit der Tradition. Es kommt dann weder auf Ziele noch auf gute Gesinnungen, weder auf
werden. Dasselbe gilt für die Beobachtung der Einheit des Systems im Unterschied zur Umwelt. Ein soziales Kooperation noch auf Streit, weder auf Konsens noch auf Dissens, weder auf Annahme noch auf Ablehnung
System, und besonders natürlich eine Gesellschaft, kann sich selbst gleichzeitig oder im nacheinander auf ganz des zugemuteten Sinnes an. Auch das individuelle Glück spielt keine, oder allenfalls als Thema der
120
verschiedene - wir werden sagen: "polykontexturale" - Weise beobachten. Es gibt also, vom Objekt her, keinen Kommunikation eine Rolle. Nur die Autopoiesis selbst wird durch alle diese Kommunikationen
Zwang zur Integration der Selbstbeobachtungen. Das System tut, was es tut. transportiert. Und natürlich erst recht durch alle Kommunikationen, die den Teilsystemen der Gesellschaft
Was bisher gesagt ist, gilt für soziale Systeme der verschiedensten Art, zum Beispiel auch für zuzurechnen sind. Unterscheidungen wie: Wirtschaft und Gesellschaft, Recht und Gesellschaft, Schule und
Organisationen oder, wie Familientherapeuten wissen, für Familien. Wenn wir nunmehr auf die dritte Ebene Gesellschaft sind deshalb verwirrend und, in unserer Theorie, nicht erlaubt. Sie erwecken den Eindruck, als ob
zu sprechen kommen, auf der die Spezifik eines Gesellschaftssystems zu behandeln ist, machen sich die die Komponenten der Unterscheidung sich wechselseitig ausschließen, während in Wahrheit Wirtschaft,
Probleme der Vielfalt möglicher Selbstbeobachtungen mit besonderer Evidenz und mit besonderer Tragweite Recht, Schule usw. nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern nur als ihr Vollzug gedacht werden können. Es
bemerkbar. Denn die Gesellschaft kennt als das umfassende soziale System keine sozialen Systeme außerhalb handelt sich um den gleichen Unsinn wie bei dem Versuch, Frauen und Menschen zu unterscheiden- nur eben
119
ihrer Grenzen. Sie kann also gar nicht von außen beobachtet werden. Zwar können psychische Systeme die um einen sehr viel weiter verbreiteten Unsinn.
Gesellschaft von außen beobachten; aber das bleibt sozial ohne Folgen, wenn es nicht kommuniziert, wenn "Alle Kommunikationen" besagt: Kommunikationen wirken autopoietisch insofern, als ihr Unterschied
also die Beobachtung nicht im sozialen System praktiziert wird. Die Gesellschaft ist, mit anderen Worten, der keinen Unterschied macht. Daß kommuniziert wird, ist in der Gesellschaft mithin keine Überraschung, also
Extremfall von polykontexturaler Selbstbeobachtung, der Extremfall eines Systems, das zur auch keine Information. (Anders natürlich für psychische Systeme, die unvermutet angesprochen werden.)
Selbstbeobachtung gezwungen ist, ohne dabei wie ein Objekt zu wirken, über das nur eine einzige richtige Andererseits ist Kommunikation gerade das Aktualisieren von Information. Mithin besteht die Gesellschaft
Meinung bestehen kann, so daß alle Abweichung als Irrtum zu behandeln ist. Selbst wenn die Gesellschaft aus dem Zusammenhang derjenigen Operationen, die insofern keinen Unterschied machen, als sie einen
routinemäßig sich selbst von ihrer Umwelt unterscheidet, ist keineswegs vorab klar, was damit von seiner Unterschied machen. Das verweist alle Annahmen über Verständigung, Fortschritt, Rationalität oder andere
Umwelt unterschieden wird. Und selbst wenn Texte, also Beschreibungen, angefertigt werden, die gern gesehene Ziele in eine zweitrangige Theorieposition. Genau das wird dann aber der Theorie symbolisch
Beobachtungen steuern und koordinieren, bedeutet das nicht, daß es nur jeweils eine richtige Beschreibung generalisierter Kommunikationsmedien ihr besonderes Gewicht geben.
gibt. Man wird nicht ohne weiteres unterstellen dürfen, daß südchinesische Fischer ebenso wie die Mandarine "Alle Kommunikationen" schließt sogar paradoxe Kommunikation ein, also Kommunikation, die negiert,
und Bürokraten die Grundlage des Reiches in der konfuzianischen Ethik gesehen haben. Auch das indische daß sie sagt, was sie sagt. Man kann paradox kommunizieren, und dies keineswegs "sinnlos" (im Sinne von

Konstrukt eines beobachtenden Systems wiedereinzuführen, wobei das System Handlungen als Zurechnungspunkte im 120
Eine ähnliche Ausklammerung aller Bewußtseinszustände, subjektiven Intentionen oder Gefühle findet man in der
System und in der Umwelt lokalisieren kann.
Diskurstheorie von Lyotard. Die Basiseinheit ist hier der Satz (phrase), der sich mit anderen Sätzen verkettet
119
Pierre Livet, La fascination de l'auto-organisation, in: Paul Dumouchel / Jean-Pierre Dupuy (Hrsg.), L'auto-organisation: (enchaînement). Siehe Jean-François Lyotard, Le différend, Paris 1983. Lyotard blendet jedoch die systemtheoretische
De la physique au politique, Paris 1983, S. 165-171, spricht für diesen Fall von clôture épistémologique, stellt aber Vorstellung explizit aus, daß in der Verkettung selbst zwangsläufig schon die Erzeugung einer System/Umwelt-Differenz
zugleich fest, daß damit noch keineswegs die Einheitlichkeit einer einzig-richtigen Selbstbeschreibung gewährleistet sei. liegt, die im System (im Diskurs?) zu reflektieren wäre.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 41 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 42
121
unverständlich = autopoietisch wirkungslos). Als Operation funktioniert die paradoxe Kommunikation, der man sich zu fügen hat. Phänomenologie wird als Ontologie praktiziert. Diese Bedingung ist zwar
auch wenn sie, und das ist ihre wohlverstandene Absicht, den Beobachter verwirrt. Sowohl die klassische durchschaubar. Sie ist in der Beobachtung zweiter Ordnung aufhebbar; aber dies geschieht ohne Möglichkeit
Rhetorik als auch die moderne Literatur, sowohl die Nietzsche-Heidegger Tradition der Philosophie als auch des vollständigen Verzichts auf jede Beobachtung erster Ordnung, da schließlich auch die Beobachtung
die Familientherapeuten bedienen sich des offenen Paradoxierens; und mehr noch: es ist üblich geworden, zweiter Ordnung noch einen Beobachter muß beobachten können; und daher bleibt auch die durchschaute
beim Beobachten des Beobachtens anderer auf verdeckte Paradoxien zu achten. Die Funktion der paradoxen Realitätsillusion ein Faktum in der realen Welt. Man sieht, daß die Sonne "aufgeht" und kann es nicht anders
Kommunikation ist nicht völlig geklärt und vermutlich selbst paradox, nämlich als Versuch, Destruktion und sehen, obwohl man weiß, daß man sich täuscht. Anders gesagt: Auf der Ebene der Beobachtung erster
Kreation in einem Akte zu vollziehen. Wir kommen mehrfach darauf zurück. Im Moment genügt die Ordnung, die nie ganz aufgegeben werden kann, kann zwischen Realität und Realitätsillusion nicht
Feststellung, daß damit nicht die autopoietische Operation, sondern nur deren Beobachtung in Schwierigkeiten unterschieden werden.
122
gerät. Operative Geschlossenheit hat zur Konsequenz, daß das System auf Selbstorganisation angewiesen ist.
Die eigenen Strukturen können nur durch eigene Operationen aufgebaut und geändert werden - also zum
Beispiel Sprache nur durch Kommunikation und nicht unmittelbar durch Feuer, Erdbeben,
Weltraumstrahlungen oder Wahrnehmungsleistungen des Einzelbewußtseins. Alle Operationen
VI. Operative Schließung und strukturelle Kopplungen (Kommunikationen) haben mithin eine Doppelfunktion: Sie legen (1) den historischen Zustand des Systems
fest, von dem dieses System bei den nächsten Operationen auszugehen hat. Sie determinieren das System als
Beschreibt man die Gesellschaft als System, so folgt aus der allgemeinen Theorie autopoietischer jeweils so und nicht anders gegeben. Und sie bilden (2) Strukturen als Selektionsschemata, die ein
Systeme, daß es sich um ein operativ geschlossenes System handeln muß. Auf der Ebene der eigenen Wiedererkennen und Wiederholen ermöglichen, also Identitäten (oft sagt man im Anschluß an Piaget auch:
Operationen gibt es keinen Durchgriff in die Umwelt, und ebensowenig können Umweltsysteme an den Invarianzen) kondensieren und in immer neuen Situationen konfirmieren, also generalisieren. Diese Erinnern
123
autopoietischen Prozessen eines operativ geschlossenen Systems mitwirken. Das gilt selbst dann, ja gerade und Vergessen ermöglichende Strukturbildung ist nicht durch Einwirkung von außen möglich, und eben
dann — und auf diesen schwierigen Gedanken, der der gesamten erkenntnistheoretischen Tradition deshalb spricht man von Selbstorganisation. Geschlossenheit, Selbstdetermination und Selbstorganisation
widerspricht, müssen wir ausdrücklich hinweisen —, wenn es sich bei diesen Operationen um machen ein System in hohem Maße, und darin liegt der evolutionäre Vorteil, kompatibel mit Unordnung in der
Beobachtungen handelt oder um Operationen, deren Autopoiesis eine Selbstbeobachtung erfordert. Umwelt, oder genauer: mit nur fragmentatisch, nur bruchstückhaft, nicht als Einheit geordneten Umwelten.
Beobachtungen können nur auf Beobachtungen einwirken, können nur Unterscheidungen in andere Insofern führt die Evolution quasi zwangsläufig zur Schließung von Systemen, die ihrerseits dann wieder dazu
Unterscheidungen transformieren, können, mit anderen Worten, nur Informationen verarbeiten; aber nicht beiträgt, daß eine Gesamtunordnung entsteht, der gegenüber sich operative Schließung und Selbstorganisation
Dinge der Umwelt berühren - mit der wichtigen aber sehr schmalen Ausnahme all dessen, was über bewähren. In genau diesem Sinne entspricht auch die operative Schließung des Kommunikationssystems
strukturelle Kopplungen involviert ist. Auch für beobachtende Systeme gibt es auf der Ebene ihres Operierens Gesellschaft der Tatsache, daß bewegliche Organismen mit Nervensystemen und schließlich mit Bewußtsein
keinen Umweltkontakt. Alle Umweltbeobachtung muß im System selbst als interne Aktivität mit Hilfe eigener entstanden sind; und die Gesellschaft verstärkt dann noch, weil sie es erträgt, die unkoordinierte
Unterscheidungen (für die es in der Umwelt keine Entsprechung gibt) durchgeführt werden. Anders hätte es Perspektivenvielfalt dieser endogen unruhigen Einzelsysteme.
gar keinen Sinn, von Umweltbeobachtung zu sprechen. Alle Umweltbeobachtung setzt die Unterscheidung Innerhalb ihrer eigenen Tradition muß der Systemtheorie die These von der Geschlossenheit der Systeme
von Selbstreferenz und Fremdreferenz voraus, die nur im System selbst (wo denn sonst?) getroffen werden als extravagant erscheinen, denn die Systemtheorie hatte sich mit einem Blick auf das Entropiegesetz gerade
kann. Und das macht zugleich verständlich, daß alle Umweltbeobachtung Selbstbeobachtung stimuliert und umgekehrt als Theorie offener (und deshalb negentropischer) Systeme konstituiert. Diese Position im
jeder Distanzgewinn zur Umwelt die Frage des Selbst, der eigenen Identität aufwirft. Denn weil man nur mit Verhältnis zum Entropiegesetz soll natürlich nicht widerrufen werden. Mit "Geschlossenheit" ist denn auch
Unterscheidungen beobachten kann, macht die eine Seite der Unterscheidung sozusagen neugierig auf die nicht thermodynamische Abgeschlossenheit gemeint, sondern nur operative Geschlossenheit, das heißt:
andere, stimuliert sie ein Überqueren (Spencer Brown würde sagen: ein "crossing") der Grenzlinie, die durch rekursive Ermöglichung eigener Operationen durch die Resultate eigener Operationen. Denn man muß davon
die Form "System und Umwelt" markiert wird. ausgehen, daß reale Operationen nur in einer gleichzeitig existierenden Welt möglich sind. Das schließt es
Allerdings bleibt auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung diese Unterscheidung von zunächst aus, daß eine Operation auf eine andere Einfluß nimmt. Wenn dies trotzdem möglich werden soll,
Umweltkontakt und nur intern anschlußfähiger Fremdreferenz unberücksichtigt — und zwar in dann im unmittelbaren Anschluß einer Operation an eine andere. Solche rekursiven Verhältnisse, in denen der
Bewußtseinssystemen ebenso wie in Kommunikationssystemen. Alle Spuren der operativen Schließung Abschluß einer Operation die Bedingung für die Möglichkeit einer anderen ist, führen aber zu einer
werden gelöscht. Bewußtseinssysteme wissen nichts von den Arbeitsbedingungen ihrer Gehirne, aber sie Differenzierung von Systemen, in denen Schließung auf eine strukturell oft hochkomplexe Weise realisiert
denken "im Kopf". Kommunikationssysteme wissen nicht, daß Kommunikationen nichts anderes kontaktieren wird, und deren gleichzeitig existierender Umwelt. Das Ergebnis nennen wir operative Geschlossenheit.
als Kommunikationen. Die Systeme operieren mithin unter der Illusion eines Umweltkontaktes — jedenfalls Dies ganze Thema kann man auch an Bewußtseinssystemen abhandeln und dann zeigen, weshalb und
solange sie nur beobachten, was sie beobachten und nicht beobachten, wie sie beobachten. Erfahrung von wie die moderne Distanz von Individuum und Gesellschaft das Individuum zur Reflexion, zur Frage nach dem
Widerstand und Nichtbeliebigkeit der Operationsresultate werden extern verbucht und geben daher eine Welt, Ich des Ichs, zur Suche nach einer eigenen Identität anregt. Das, was immer schon gesehen wurde und das,
was die Welt war, ist nun "draußen". Und was ist dann "drinnen"? Eine unbestimmbare Leere? Wendet man
die Theorie autopoietischer Systeme auf den Fall der Gesellschaft an, kommt man zum selben Ergebnis,
121
bezogen natürlich auf eine andere Operationsweise, nämlich auf Kommunikation.
Vgl. hierzu die in Niklas Luhmann / Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt 1989, erörterten Beispiele.
Die Gesellschaft ist ein kommunikativ geschlossenes System. Sie erzeugt Kommunikation durch
122
Entsprechendes scheint Yves Barel, Le paradoxe et le système: Essai sur le fantastique social, 2. Aufl. Grenoble 1989, Kommunikation. Ihre Dynamik besteht im Einwirken von Kommunikation auf Kommunikation und in diesem
insb. S. 19 ff. sagen zu wollen mit der Unterscheidung von logischen und existentiellen Paradoxien. Letztere sind in jedem Sinne: in der Transformation jeweils aktueller Unterscheidungen und Bezeichnungen, nie aber in der
System unvermeidlich, das über Möglichkeit selbstreferentieller Operationen verfügt. 124
Umgestaltung der äußeren Umwelt. Man kann die Dinge nicht zurechtreden, so wenig wie man sie
123
Wil Martens, Die Autopoiesis sozialer Systeme, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 43 (1991), S. wegdenken oder umdenken kann.
625-646, meint, sie könnten immerhin die Komponenten der Elemente sozialer Systeme (also zur Kommunikation
Information, Mitteilung und Verstehen) beisteuern. Aber selbst das ist nicht möglich. Natürlich gibt es, kausal gesehen,
einen solchen Fremdursprung. Aber diese Herkunft kann nicht mitkommuniziert werden. Sie geht nicht in den Sinn der
124
Kommunikation ein, sondern bleibt im Zuge der Emergenz des sozialen Systems in der Umwelt zurück. Das ist nur eine Daß diese Feststellung durch den Begriff der strukturellen Kopplung innerhalb der Reichweite dieses Sachverhalts
andere Formulierung für das Prinzip, daß der autopoietische Prozeß zwangsläufig Systemgrenzen zieht. modifiziert werden muß, werden wir sogleich sehen.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 43 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 44
126
Gesellschaft ist daher ein vollständig und ausschließlich durch sich selbst bestimmtes System. Alles, was Dagegen referiert das System über Informationen typisch seine Umwelt. Die Struktur der kommunikativen
als Kommunikation bestimmt wird, muß durch Kommunikation bestimmt werden. Alles, was als Realität Operation hat mithin genau die Form, die nötig ist, um die Differenz von System und Umwelt in das System
125
erfahren wird, ergibt sich aus dem Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation , und nicht aus hineinzuverlagern und hier als Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz zu handhaben. Das
einem Sichaufdrängen der irgendwie geordnet vorhandenen Außenwelt. Das schließt natürlich die schlichte Operieren reproduziert nur die Differenz von System und Umwelt durch stets selektive Rekursion.
Kommunikation über Umweltabhängigkeiten ein; aber auch dann erfolgt die Bestimmung dessen, was Über die Unterscheidung von Mitteilung und Information wird dann ein "re-entry" der Unterscheidung in das
127
kommuniziert wird, an Hand der systemeigenen Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz und Unterschiedene vollzogen. Die Differenz von System und Umwelt erscheint im System in der Form von
durch rekursiven Rückgriff bzw. Vorgriff auf andere Kommunikationen. Diese Eigendetermination ermöglicht Referenzrichtungen — und nur so. Das Problem der operativ unzugänglichen Umwelt wird dadurch von
128
erst das Tolerieren, ja absichtliche Placieren von Unbestimmtheiten, zum Beispiel von Fragen, von Operation auf Kognition umgesetzt. Das System reproduziert sich selbst im imaginären Raum seiner
Mehrdeutigkeiten, von paradoxen Mitteilungen, von Ironie. Die Kommunikation selbst entscheidet, notfalls Referenzen, und dies dadurch, daß es mit jeder kommunikativen Operation die Unterscheidung von
über Rückfragen oder Unbeachtetlassen, über ihre eigenen Ansprüche an Bestimmtheit, ebenso wie übereinen Selbstreferenz und Fremdreferenz als Form seiner Autopoiesis erneuert.
bestimmten Verwendungssinn von Unbestimmtheiten. Und die letzte Kontrolle über die Selbstfestlegung auf Die Autopoiesis des Kommunikationssystems Gesellschaft vollzieht also immer und notwendig die
der Dimension von bestimmt zu unbestimmt liegt in der Frage, was zur Fortsetzung bzw. zum Abbruch Reproduktion derjenigen Unterscheidung, die Referenzen nach Selbstreferenz und Fremdreferenz aufteilt. Sie
laufender Kommunikationen beiträgt. kann auch diese Unterscheidung noch referieren, indem sie sie als eigene Unterscheidung unter
Als Kommunikationssystem kann die Gesellschaft nur in sich selber kommunizieren, aber weder mit sich "Selbstreferenz" subsumiert. Das wäre dann schon ein re-entry einer Unterscheidung in ein bereits vollzogenes
selbst, noch mit ihrer Umwelt. Sie produziert ihre Einheit durch operativen Vollzug von Kommunikationen im re-entry der Unterscheidung von System und Umwelt in das System. Immer bleibt dabei auf operativer Ebene
rekursiven Rückgriff und Vorgriff auf andere Kommunikationen. Sie kann dann, wenn sie das diese Unterscheidung vorausgesetzt als operativ nicht fassbare Bedingung des Referierens. Alle internen
Beobachtungsschema "System und Umwelt" zu Grunde legt, in sich selbst, über sich selbst oder über ihre Transformationen, alle Informationsverarbeitung, alles Umsetzen von Unterscheidungen in Unterscheidungen
Umwelt kommunizieren, aber nie mit sich selbst und nie mit ihrer Umwelt. Denn weder sie selbst noch ihre kann sich daher immer nur auf ein kommunikatives Referieren beziehen. Es kann nicht direkt in die Umwelt
Umwelt können in der Gesellschaft gleichsam als Partner, als Adresse für Kommunikation, nochmals eingreifen. Entsprechend sind "Objekte" für das System immer Referenzen; also nie in der Außenwelt
vorkommen. Ein solcher Versuch würde ins Leere sprechen, würde keine Autopoiesis in Gang setzen und gegebene Dinge, sondern strukturelle Einheiten der Autopoiesis des Systems, das heißt Bedingungen der
129
würde deshalb unterbleiben. Denn Gesellschaft ist nur als autopoietisches System möglich. Fortsetzung von Kommunikation. Und ebensowenig kann das System auf die eigene Einheit durchgreifen.
Diese Geschlossenheit bezieht sich auf die spezifische operative Weise der Reproduktion des Systems, Wenn es das tut, aktualisiert es stets nur die Selbstreferenz, also nur die eine Seite derjenigen Unterscheidung,
also auf Kommunikation, nicht also auf Kausalität schlechthin. Daß die Umwelt immer mitwirkt und ohne sie die das Referieren ermöglicht. Die andere Seite bleibt unerwähnt. Deshalb sind alle Selbstbeschreibungen der
nichts, absolut gar nichts geschehen kann, ist selbstverständlich. Der Begriff der Produktion (oder eben: Gesellschaft, auf die wir im letzten Kapitel ausführlich eingehen werden, immer nur mit der Hälfte derjenigen
poíesis) bezeichnet immer nur einen Teil der Ursachen, die ein Beobachter als erforderlich identifizieren Realität befaßt, die sie als Einheit von Selbst- und Fremdreferenz aktualisieren. Als Beobachter operiert das
könnte; und zwar jenen Teil, der über die interne Vernetzung der Operationen des Systems gewonnen werden System blind, weil es die Einheit der Unterscheidung, die ein Beobachten ermöglicht, weder auf der einen noch
kann; jenen Teil, mit dem das System seinen eigenen Zustand determiniert. Und Reproduktion heißt dann im auf der anderen Seite der Unterscheidung unterbringen kann. Und weil alles, was geschieht, als Operation des
alten Sinne dieses Begriffs: Produktion aus Produkten, Bestimmung des Zustandes des Systems als Systems im System geschieht, ist weder die Einheit der Umwelt noch die Einheit der Autopoiesis des Systems
Ausgangspunkt für jede weitere Bestimmung des Zustandes des Systems. Und da diese für das System greifbar. Es gibt nur die im Beobachten benutzten, verkürzenden Bezeichnungen.
Produktion/Reproduktion eine Unterscheidung externer und interner Bedingungen erfordert, vollzieht das Diese Darstellung gibt allerdings noch kein zureichendes Bild des Umweltverhältnisses des
System dabei immer auch die Reproduktion seiner Grenzen, und das heißt: seiner Einheit. Insofern heißt Gesellschaftssystems. Denn die Realmöglichkeit der Kommunikation hat, wie ein Beobachter feststellen kann,
Autopoiesis: Produktion des Systems durch sich selber. zahlreiche faktische Voraussetzungen, die das System selbst weder produzieren noch garantieren kann.
Kommunikation kommt aber nur dadurch zustande, daß zwischen Mitteilung und Information Geschlossensein ist immer Eingeschlossensein in etwas, was von drinnen her gesehen dann draußen ist. Oder
unterschieden und der Unterschied verstanden wird. Alle weitere Kommunikation kann sich dann entweder auf anders gesagt: Alles Einrichten und Erhalten von Systemgrenzen — und das gilt selbstverständlich auch für
die Mitteilung oder auf die Information beziehen; aber dies nur durch eine Anschlußkommunikation, die Lebewesen — setzt ein Materialitätskontinuum voraus, das diese Grenzen weder kennt noch respektiert.
ihrerseits wieder die Differenz von Mitteilung und Information reproduziert. Im operativen Vollzug (dadurch (Deshalb kann Prigogine bereits im Bereich physikalischer und chemischer Sachverhalte von "dissipativen
daß sie geschieht) reproduziert die Kommunikation die Geschlossenheit des Systems. Durch die Art ihrer Strukturen" sprechen.) Die Frage ist dann aber: wie gestaltet ein System, und in unserem Falle: wie gestaltet
Beobachtungsweise (dadurch wie sie geschieht, nämlich durch die Unterscheidung von Mitteilung und
Information) reproduziert sie die Differenz von Geschlossenheit und Offenheit. Und so entsteht ein System,
126
daß auf Grund seiner Geschlossenheit umweltoffen operiert, weil seine basale Operation auf Beobachtung Wir sagen typisch, da nicht ausgeschlossen sein soll, daß das System bei hinreichender Komplexität auch über sich
eingestellt ist. Die Formdifferenz von Mitteilung und Information ist mithin für das System eine selber Informationen einholt, das heißt: sich mit sich selber überrascht. Die Differenz Selbstreferenz/Fremdreferenz bezieht
unvermeidbare Bedingung autopoietischer Reproduktion. Im anderen Falle gäbe es nur das sich zunächst also nur auf die einzelne Operation, nicht ohne weiteres auf das System. Während dann die Mitteilung gar
nicht anders als systemintern begriffen werden kann, läßt die Informationskomponente zwei Externa zu: operationsextern
Nicht-mehr-Kommunizieren, das Beenden der Operationen des Systems. und systemextern.
Diese auf die Form der Kommunikation bezogene Notwendigkeit besagt zugleich, daß das System 127
immer auch eine doppelte Referenz reproduziert, und zwar, wie bereits mehrfach gesagt, die Unterscheidung Siehe zur Funktion dieses re-entry und der entsprechenden Entstehung eines "imaginären" Raums, der allein jetzt noch
Einheit darstellen kann, George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck New York 1979, S. 56 f., 69 ff. Siehe auch Louis
von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Über Mitteilung bezieht das System sich auf sich selbst. Die H. Kauffman, Self-Reference and Recursive Forms, Journal of Social and Biological Structures 10 (1987), S. 53-72 (56 f.);
Mitteilung aktualisiert die Möglichkeit, rekursiv weitere Kommunikation auf das System zu beziehen. Jacques Miermont, Les conditions formelles de l'état autonome, Revue internationale de systémique 3 (1989), S. 295-314.
128
So gesehen ist es denn auch kein Zufall, daß gleichzeitig mit der Theorie operativ geschlossener Systeme ein dazu
passender, sehr allgemeiner, "konstruktivistischer" Begriff der Kognition entstanden ist, für den die alten Einwände gegen
einen vermeintlich realitätslosen Idealismus nicht mehr gelten.
129
Der Akzent liegt hier auf: strukturelle Einheiten im Unterschied zu bloß operativen Einheiten (Ereignissen). Das heißt:
125
Wir erweitern damit etwas, was in der Linguistik und Literaturtheorie als "resistance of language to language" Objekte können im Fortgang von Kommunikationen zu Kommunikation identisch bleiben - aber dies nicht deshalb, weil
bezeichnet wird — mit dieser Formulierung von Wlad Godzich in seiner Einleitung zu: Paul de Man, The Resistance to die natürlichen Bedingungen der Außenwelt ihnen Beständigkeit garantieren, sondern deshalb, weil sie durch das
Theory, Minneapolis 1986, S. XVII. Fremdreferieren des Systems (als "Themen" der Kommunikation) als strukturelle Einheiten des Systems erzeugt werden.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 45 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 46

das Gesellschaftssystem, seine Beziehungen zur Umwelt, wenn es keinen Kontaktzur Umwelt unterhalten und Verhältnis zur Umwelt stützen können. Auge und Ohr mit den entsprechenden Anschlußoperationen im
nur über eigenes Referieren verfügen kann. Die gesamte Gesellschaftstheorie hängt von der Beantwortung Gehirn sind dafür die besten Beispiele.
dieser Frage ab — und wir sehen jetzt auch, daß und wie der humanistische und regionalistische Strukturelle Kopplungen müssen eine Realitätsbasis haben, die von den gekoppelten autopoietischen
Gesellschaftsbegriff es vermieden hat, diese Frage auch nur zu stellen. Systemen unabhängig ist (obwohl dies allein die Funktion des strukturellen Koppelns natürlich nicht
133
Auf eine schwierige Frage antwortet ein schwieriger Begriff. Im Anschluß an Humberto Maturana erklärt). Sie setzen, anders gesagt, ein Materialitäts- (oder Energie-)Kontinuum voraus, in das die Grenzen
130
wollen wir von "struktureller Kopplung" sprechen. Strukturelle Kopplungen beschränken den Bereich der Systeme sich nicht einzeichnen, also vor allem eine physikalisch funktionierende Welt. Sie weisen ferner
möglicher Strukturen, mit denen ein System seine Autopoiesis durchführen kann. Sie setzen voraus, daß jedes hohe Stabilität auf — eben weil sie mit allen autopoietisch möglichen Strukturentwicklungen der Systeme
autopoietische System als strukturdeterminiertes System operiert, also die eigenen Operationen nur durch kompatibel sind. Aber das heißt natürlich auch, daß ihre Gefährdung oder Destruktion katastrophale Folgen
eigene Strukturen determinieren kann. Strukturelle Kopplung schließt also aus, daß Umweltgegebenheiten haben muß, auf die die Systeme nicht reagieren können, weil alle Möglichkeiten der Reaktion auf
nach Maßgabe eigener Strukturen spezifizieren können, was im System geschieht. Maturana würde sagen: die Vorwegfilterung durch strukturelle Kopplungen angewiesen sind. Schließlich ist vorauszuschicken, daß auch
131
strukturelle Kopplung steht orthogonal zur Selbstdetermination des Systems. Sie bestimmt nicht, was im strukturelle Kopplungen Zwei-Seiten-Formen sind, die etwas einschließen dadurch, daß sie anderes
System geschieht, sie muß aber vorausgesetzt werden, weil anderenfalls die Autopoiesis zum Erliegen käme ausschließen. Sie bündeln und steigern bestimmte Kausalitäten, die auf das gekoppelte System einwirken, es
und das System aufhören würde zu existieren. Insofern ist jedes System immer schon angepaßt an seine irritieren und dadurch zur Selbstdetermination anregen können. Und sie schließen andere Formen der
Umwelt (oder es existiert nicht), hat aber innerhalb des damit gegebenen Spielraums alle Möglichkeiten, sich Einflußnahme aus. Auf ihrer Außenseite gibt es auch Kausalität, die das System betreffen kann (wie ein
unangepaßt zu verhalten — und das Resultat sieht man mit besonderer Deutlichkeit an den ökologischen Beobachter feststellen könnte), aber solche Kausalität kann nur destruktiv wirken.
Problemen der modernen Gesellschaft. Im Sinne dieses schon recht komplex bestimmten Begriffs ist alle Kommunikation strukturell gekoppelt
Mit einer aus der Computerbranche stammenden Terminologie kann man auch festhalten, daß an Bewußtsein. Ohne Bewußtsein ist Kommunikation unmöglich. Kommunikation ist total (in jeder
132
strukturelle Kopplungen analoge Verhältnisse digitalisieren. Da die Umwelt und in ihr die anderen Operation) auf Bewußtsein angewiesen — allein schon deshalb, weil nur das Bewußtsein, nicht aber die
Systeme stets gleichzeitig mit dem jeweiligen Bezugssystem der Beobachtung operieren, sind zunächst nur Kommunikation selbst, sinnlich wahrnehmen kann und weder mündliche noch schriftliche Kommunikation
134
analoge (parallellaufende) Verhältnisse gegeben. Daraus können die beteiligten Systeme keine Information ohne Wahrnehmungsleistungen funktionieren könnte. Außerdem ist Kommunikation, zumindest in ihren
ziehen, denn dies setzt Digitalisierung voraus. Strukturelle Kopplungen müssen daher zunächst analoge in primären mündlichen Form, darauf angewiesen, daß schon im Wahrnehmungsbereich der beteiligten
digitale Verhältnisse umformen, wenn über sie die Umwelt Einfluß auf ein System gewinnen soll. Das ist, im Bewußtseinssysteme Reziprozität hergestellt werden kann, und zwar in der Form der Wahrnehmung des
135
Verhältnis des Kommunikationssystems zu den Bewußtseinssystemen eine Funktion der Sprache, die ein Wahrgenommenwerdens. Es geht also um eine Sonderleistung des Bewußtseins, die ein nahezu
kontinuierliches Nebeneinander in ein diskontinuierliches Nacheinander verwandelt. gleichzeitiges Prozessieren von Mitteilung und Verstehen ermöglicht und primäre Selbstkorrekturen der
Eine weitere Voraussetzung struktureller Kopplungen ist weniger beachtet worden und muß daher Kommunikation vorsehen kann, indem zum Beispiel eine Mitteilung gestoppt wird, wenn der Mitteilende
besonders betont werden. Sie setzen voraus, daß das System intern Möglichkeitsüberschüsse erzeugt (zum sieht, daß der Empfänger nicht aufpaßt. Und trotzdem ist das Bewußtsein weder das "Subjekt" der
Beispiel: weder durch den Raum noch durch den Organismus in ihrer Richtung definierte Kommunikation noch in irgendeinem anderen Sinne "Träger" der Kommunikation. Es trägt zur
Bewegungsmöglichkeiten). Nur dadurch ist das System in der Lage, sich auf Einschränkungen seiner Kommunikation keinerlei Operationen bei (etwa im Sinne einer sukzessiven Abfolge von
Freiheiten einzulassen, und dies in einer Weise, die von Situation zu Situation variieren kann. Für psychische Gedanke-Rede-Gedanke-Rede). Kommunikation funktioniert vielmehr nur, weil zwischen so heterogenen
und für soziale Systeme sind diese Möglichkeitsüberschüsse durch das Medium Sinn vorgegeben. Für die Operationsweisen keine Rekursionen hergestellt werden müssen und weil die Kommunikation die
Auflösung dieser Unbestimmtheiten (die in jedem Falle intern erfolgen muß) benötigt das System Voraussetzung von Bewußtsein nicht thematisieren muß, sondern sie sich durch strukturelle Kopplungen
Anhaltspunkte, die es dem eigenen Gedächtnis, aber auch den strukturellen Kopplungen entnehmen kann. (Der geben läßt. Wir müssen deshalb auch die klassische Metapher aufgeben, Kommunikation sei eine
Körper erinnert sich an die Grenzen seiner Bewegungsmöglichkeiten und sieht sie im Gelände.) "Übertragung" von semantischen Gehalten von einem psychischen System, das sie schon besitzt, auf ein
136
Mit der Übernahme dieses Begriffs der strukturellen Kopplung kann man der Tatsache Rechnung anderes.
tragen, daß die Angepaßtheit des Systems weder durch "natural selection" noch als Ergebnis kognitiver
Leistungen des Systems angemessen erklärt werden kann. Denn kein System kann die dafür notwendige 133
Die Kritiker könnten hier ein Aha-Erlebnis haben, und dem wollen wir vorbeugen. Die Aussage des Textes ist keine
"requisite variety" (Ashby) aufbringen. Es kann nur das Unbekanntsein der Umwelt durch die internen
Einschränkung der konstruktivistischen Grundthese und kein Rückfall in einen ontologischen Weltbegriff. Wir erläutern
Möglichkeitsüberschüsse, also durch ein matching von Unbestimmtheit mit Unbestimmtsein kompensieren. hier nur die Implikationen einer theoretischen Beobachtungsweise, die sich des Begriffs der Autopoiesis bedient. Der
Das gilt erst recht, wenn man Kognition, anders als Maturana, als Bezeichnung auf Grund einer Ausgangspunkt bleibt ein differenztheoretischer: daß die System/Umwelt-Unterscheidung in eine Welt eingeführt werden
Unterscheidung definiert und damit eine Unterscheidungskapazität voraussetzt, für die es in der Umwelt des muß, die ohne jede Unterscheidung unbeobachtbar bliebe. Und mit "Realität" meinen wir hier wie immer: ein Resultat von
Systems keinerlei Korrelate gibt. Soll dies erreicht werden, muß das System sich einerseits operativ schließen Konsistenzprüfungen.
und autopoietisch reproduzieren und sich andererseits auf extrem eingeschränkte strukturelle Kopplungen im 134
Daß dies die Lenkung von Wahrnehmungsleistungen durch Kommunikation nicht ausschließt, sei hier nur angemerkt.
Denn auch hierfür sind Bewußtseinsleistungen erforderlich, deren eigene Autopoiesis sich durch (wahrnehmende)
Teilnahme an Kommunikation laufend irritieren läßt.
135
130 Siehe dazu Jurgen Ruesch / Gregory Bateson, Communication: The Social Matrix of Psychiatry, New York 1951, 2.
Maturana a.a.O. (1982), S. 143 ff., 150 ff., 243 f., 251 ff.; ders. und Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis: Die
Aufl. 1968, S. 23 f., 208 ff.
biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, München 1987, insb. S. 85 ff, 252 ff.; Mingers a.a.O. (1995), S. 34
136
ff.Auf die Schwierigkeit der Abgrenzung der eigenen Operationen von Kausalitäten, die über strukturelle Kopplungen auf Kritisch dazu bereits Klaus Merten, Kommunikation: Eine Begriffs- und Prozeßanalyse, Opladen 1977, S. 43 ff. Das
das System einwirken, ist wiederholt hingewiesen worden. Siehe etwa Stein Bråten, Simulation and Self-Organization of Übertragungskonzept wird heute auch von Seiten der kognitiven Psychologie in vielen seiner Voraussetzungen bestritten,
Mind, Contemporary Philosophy 2 (1982), S. 189-218 (204). Wir versuchen, dies Problem durch eine möglichst genaue etwa in den Annahmen, daß Kommunikation vorhandene Gedanken in Worten ausdrücke, daß Worte im
Bestimmung des Begriffs der Kommunikation zu lösen. Übertragungsprozeß als Träger eines bestimmten semantischen Inhalts fungierten, daß Verstehen der inverse Prozeß der
131 Umsetzung von Worten in Gedanken sei, und mit all dem: daß Semantik einen Repräsentationsvorgang bezeichne - sowohl
Vgl. z.B. Humberto R. Maturana, Reflexionen: Lernen oder onto-genetische Drift, Delfin II (1983), S. 60-72 (64).
im psychischen System als auch in der Kommunikation. Siehe diese Punkte bei Benny Shanon, Metaphors for Language
132
Vgl. Gregory Bateson, Ökologie des Geistes: Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische and Communication, Revue internationale de systémique 3 (1989), S. 43-59. Die Konsequenz ist, daß man die Semantik
Perspektiven, dt. Übers., Frankfurt 1981, S. 376 f.; Anthony Wilden, System and Structure: Essays in Communication and von der Pragmatik (also der Autopoiesis der Kommunikation) her verstehen muß und nicht, wie allgemein üblich,
Exchange, 2. Aufl. London 1980, S. 155 ff. und passim. umgekehrt.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 47 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 48

Gibt man diese Vorstellung der Kommunikation als Übertragung auf, muß das weitreichende, zur Zeit Referenzen zu "personifizieren". Jede Kommunikation muß zwischen Information und Mitteilung
kaum überblickbare Konsequenzen haben für die allgemeine Systemtheorie und ihre Anwendung auf soziale unterscheiden können (denn sonst wäre sie selbst nicht unterscheidbar). Das aber heißt, daß sich
138
Systeme. Denn die klassische Systemtheorie (Wiener, von Bertalanffy, Forrester) hatte sich grundsätzlich auf entsprechende sachliche und personale Referenzen bilden. In Anlehnung an Begriffe von Spencer Brown
einen Begriff des Transfers oder des Flußes bezogen und Systeme als dessen Regulierung begriffen. Das galt ließe sich auch sagen, daß die Wiederverwendung solcher Referenzen Personen (bzw. Dinge) kondensiert,
für alle Arten von Transfers — für biologische und für ökonomische Systeme, für Organisationen, für nämlich als identische fixiert, und sie zugleich konfirmiert, nämlich mit neuen Sinnbezügen aus andersartigen
Bewußtseinssysteme und für Maschinen und ermöglichte deren Vergleich. Die Umweltbeziehungen wurden Mitteilungen anreichert. Geschieht das, so entwickelt sich eine entsprechende Semantik. Personen haben
entweder mit Hilfe eines Input/Output-Modells oder mit Hilfe einer Rückkopplungsschleife dargestellt, immer Namen. Was Personalität heißt und wie man damit umzugehen hat, mag in komplizierten Formen näher
unter der Voraussetzung, daß das System diesen Prozeß durch Regulierung unter Kontrolle bringe oder ihn beschrieben werden. Dies alles ändert jedoch nichts an der Separatheit und operativen Geschlossenheit der
sogar erst erzeuge. Wenn man Kommunikation jedoch nicht als Übertragung begreifen kann, bricht eine strukturell gekoppelten Systeme. Und besonders die moderne Semantik des Lebens, der Subjektivität, der
139
wesentliche Prämisse dieser Systemtheorie weg. Man muß dann entweder dem alten Verdacht nachgeben, daß Individualität wirkt so, als ob sie zum Ausgleich für dieses unaufhebbare Fürsichsein erfunden worden sei.
sich Soziales überhaupt nicht für eine systemtheoretische Behandlung eigne — oder die Systemtheorie neu Über strukturelle Kopplungen kann ein System an hochkomplexe Umweltbedingungen angeschlossen
fassen. Dies könnte an Hand der Frage geschehen, wie es überhaupt zur Produktion und Reproduktion einer werden, ohne deren Komplexität erarbeiten oder rekonstruieren zu müssen. Wie man an der physikalischen
Differenz von System und Umwelt kommt. Eben diese Frage soll, für eine spezifische Art von Systemen, Schmalspurigkeit von Augen und Ohren erkennen kann, erfassen strukturelle Kopplungen immer nur einen
nämlich soziale Systeme, der Begriff der Kommunikation beantworten. extrem beschränkten Ausschnitt der Umwelt. Alles damit ausgeschlossene kann nicht irritierend und
Kommunikationen bilden, wenn autopoietisch durch Rekursionen reproduziert, eine emergente Realität stimulierend, sondern nur destruktiv auf das System einwirken. Nur so kann die Autonomie der Autopoiesis
sui genesis. Nicht der Mensch kann kommunizieren, nur die Kommunikation kann kommunizieren. Ebenso des Systems und der Aufbau eigener Systemkomplexität gesichert werden. Das gilt bereits für die
wie Kommunikationssysteme sind auch Bewußtseinssysteme (und auf deren anderer Seite Gehirne, Zellen physikalischen Umweltkopplungen des Nervensystems und besonders eindrucksvoll auch für die Kopplung
usw. ...) operativ geschlossene Systeme, die keinen Kontakt zueinander unterhalten können. Es gibt keine nicht des Kommunikationssystems an die individuell verstreuten Bewußtseinssysteme. Die Komplexität der
sozial vermittelte Kommunikation von Bewußtsein zu Bewußtsein, und es gibt keine Kommunikation gekoppelten Umweltsysteme bleibt für das System intransparent, sie wird auch nicht in die eigene
140
zwischen Individuum und Gesellschaft. Jedes hinreichend präzise Verständnis von Kommunikation schließt Operationsweise übernommen, denn dazu fehlt es, in der Terminologie Ashbys, an "requisite variety". Sie
solche Möglichkeiten aus (ebenso wie die andere Möglichkeit, daß die Gesellschaft als Kollektivgeist denken wird zumeist nur in der Form von Voraussetzung und Störung oder von Normalität und Irritation im eigenen
könne). Nur ein Bewußtsein kann denken (aber eben nicht: in ein anderes Bewußtsein hinüberdenken), und nur Operieren rekonstruiert. In Kommunikationssystemen dienen auch Pauschalbezeichnungen wie Namen oder
die Gesellschaft kann kommunizieren. Und in beiden Fällen handelt es sich um Eigenoperationen eines Begriffe wie Mensch, Person, Bewußtsein dem eigenen Prozessieren von Referenz auf Umweltkomplexität.
operativ geschlossenen, strukturdeterminierten Systems. Immer geht es darum, geordnete (strukturierte, aber gerade nicht: berechenbare!) Komplexität nach Maßgabe
Zu den Besonderheiten dieses Falles struktureller Kopplung Bewußtsein-Kommunikation gehört, daß der eigenen Operationsmöglichkeiten — und in der Gesellschaft heißt das: sprachlich — zu verwenden. Für
auf beiden Seiten autopoietische Systeme beteiligt sind. Es geht also nicht um die Kopplung eines den Fall, daß sich solche Verhältnisse wechselseitig koevolutiv entwickeln und keines der in dieser Weise
141
autopoietischen Systems an invariante Gegebenheiten seiner Umwelt — so wie die Muskulatur von strukturell gekoppelten Systeme ohne sie existieren könnte, kann man auch von Interpenetration sprechen.
selbstbeweglichen Organismen abgestimmt ist auf die Anziehungskraft des Erdballs. Auch im Verhältnis Das Verhältnis von Nervenzellen und Gehirnen ist dafür ein gutes Beispiel; das Verhältnis von
Bewußtsein/Kommunikation gibt es einige strukturelle Invarianten, zum Beispiel die Grenzen des Tempos der Bewußtseinssystemen und Gesellschaft ein — auch rein quantitativ in etwa vergleichbarer — anderer Fall.
Veränderung von Bewußtseinszuständen, die die Kommunikation nicht überfordern darf. Wichtiger, oder Wie leicht erkennbar, wird die regelmäßige strukturelle Kopplung von Bewußtseinssystemen und
142
jedenfalls: evolutionär unwahrscheinlicher ist, daß Kommunikation endogen unruhige, sich zwangsläufig in Kommunikationssystemen durch Sprache ermöglicht. Ein auch in der Soziologie viel diskutiertes Thema
143
immer andere Zustände versetzende Umweltsysteme voraussetzt. Das führt dazu, daß die Kommunikation des Verhältnisses von Gesellschaft, Kultur, Sprache und psychischen "Mentalitäten" wird damit auf einen
sich auf ständige Irritation durch ihre Umwelt einstellen muß, ohne daß dies dazu führen dürfte, daß
Wortschatz und grammatische Regeln sich von Moment zu Moment ändern. Es ist vielmehr die besondere
138
Eigenart von Sprache, daß sie der Kommunikation Irritationen vermitteln kann, ohne daran zu zerbrechen. A.a.O. S. 10.
Wie immer funktioniert auch in diesem Falle die strukturelle Kopplung unaufhörlich und unbemerkt, sie 139
Hierzu näher Niklas Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik
funktioniert auch und gerade, wenn man nicht daran denkt und nicht darüber spricht — so wie man ja auch Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 149-258. Vgl. ferner Kap. 5 ................
bei einem Spaziergang den nächsten Schritt tun kann, ohne an das dafür physikalisch notwendige eigene 140
So W. Ross Ashby, An Introduction to Cybernetics, London 1956, S. 206 ff.; ders., Requisite Variety and its
Gewicht zu denken. Und so wie das Gewicht nur in einem sehr engen Ausschnitt von Möglichkeiten ein Implications for the Control of Complex Systems, Cybernetica 1 (1958), S. 83-99.
Spazierengehen erlaubt (oder mit anderen Worten: so wie die Anziehungskraft der Erde weder etwas stärker 141
Hierzu ausführlich Niklas Luhmann, Soziale Systeme a.a.O. S. 286 ff.
noch etwas schwächer sein dürfte), so sind auch Bewußtseinssysteme und Kommunikationssysteme vorweg
142
aufeinander abgestimmt, um dann unbemerkt koordiniert funktionieren zu können. Dabei ist wechselseitige Da wir mit Begriffen Autopoiesis und strukturelle Kopplung Anregungen Maturanas aufgreifen, ist hier eine
Abgrenzungsbemerkung angebracht. Wir teilen die Ablehnung eines rein denotativen und ebenso eines rein
Intransparenz der gekoppelten Systeme nicht nur faktisch hinzunehmen, sondern auch notwendige Bedingung
strukturalistischen Begriffs von Sprache und setzen, wie Maturana, auf den Primat des Begriffs der Operation. Im
der strukturellen Kopplung; denn anders ließen sich die endogen bestimmten Operationen der Systeme nicht Unterschied zu Maturana bezieht die strukturelle Kopplung durch Sprache im obigen Text sich aber nicht auf das
synchronisieren. Daß man mit solchen hochunwahrscheinlichen Bedingungen rechnen kann und damit auf Verhältnis von Lebewesen zu Lebewesen, sondern auf das Verhältnis von Bewußtsein und Kommunikation. Nervensysteme
beiden Seiten der Kopplung ein sehr enger Ausschnitt aus vielen Möglichkeiten realisiert ist, läßt sich ebenso verschiedener Lebewesen können auch ohne Sprache strukturell gekoppelt sein. Wir ersparen uns damit die Konstruktion
wie die Möglichkeit des Spazierengehens nur evolutionstheoretisch erklären. eines "Super-Beobachters" der Sprache, die bei Maturana nötig wird, um den Realitätsbezug der Sprache beschreiben zu
Dies unbemerkte, geräuschlose Funktionieren der strukturellen Kopplung von Kommunikation und können (a.a.O., 1982, S. 264 ff.) und ersparen uns auch die Frage nach den strukturellen Kopplungen dieses Beobachters.
Statt dessen gehen wir vom autopoietischen System der Kommunikation aus, das von strukturellen Kopplungen mit
Bewußtsein schließt es keineswegs aus, daß die Teilnehmer an der Kommunikation in der Kommunikation
Bewußtseinssystemen abhängt, die ihrerseits dann sowohl über Sprache als auch über Wahrnehmungen anderer Art auch
identifiziert und sogar angesprochen werden. Wir werden sie unter diesem Aspekt im Anschluß an eine alte untereinander gekoppelt sein können. Daß jedes Bewußtsein auf strukturelle Kopplungen mit seinem eigenen
137
Tradition "Personen" nennen , also sagen, daß der Kommunikationsprozeß in der Lage ist, externe Nervensystem angewiesen ist, wird damit natürlich nicht bestritten. Der Super-Beobachter wird eingespart durch die sehr
viel einfachere Annahme, daß in Kommunikationssystemen unter anderem auch über Sprache kommuniziert werden kann.
143
C. Wright Mills zum Beispiel hielt speziell dafür ein eigenes Fach für notwendig; er nannte es "Sociotics". Über die
137
Ausführlicher Niklas Luhmann, Die Form "Person", Soziale Welt 42 (1991), S. 166-175. Andeutung und über zahlreiche Detailforschungen ist man jedoch nicht hinausgekommen. Siehe Mills, The Language and
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 49 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 50

für die Theoriekonstruktion notwendigen und dadurch gehaltenen Begriff gebracht. Bereits Humboldt hatte in umgehen, und erst recht nicht: welche Anschlußkommunikationen sich aus der Verwendung von Schemata
subtilen Analysen den sowohl subjektiven als auch objektiven Charakter von Sprache herausgearbeitet. Der ergeben. Die Schemata können konkretisiert und jedem Bedarf angepaßt werden. Zum Beispiel: Prügel
Sprecher müsse eine objektive Form wählen und sein Eigentum am gesprochenen Wort aufgeben mit der nützen/schaden der Erziehung. Sie dienen in konkreten Situationen dem "gap filling", der Suche nach
147
Folge, daß bei sprachlicher Kommunikation keiner der Beteiligten genau das denke, was ein anderer denke. Ergänzungen und Ausfüllungen. Auf alle Fälle können sie als Extraktionen aus dem Gedächtnis nicht
148
Die Sprache verselbständigt sich gegenüber ihren Schöpfern (!) als Form. Aber dann heißt es: "Die wahre schematisch angewandt werden. Sie dienen als Reduktionen struktureller Komplexität dem Aufbau
144
Lösung jenes Gegensatzes liegt in der Einheit der menschlichen Natur." Es fehlt eine Sozialtheorie, die von operativer Komplexität und damit der laufenden Anpassung der strukturellen Kopplung psychischer und
Kommunikation, nicht von Sprache auszugehen hätte, und diese Lücke wird zunächst durch eine sozialer Systeme an sich ändernde Vorgaben. Und auch hier gilt, daß Funktion und Mechanismen der
philosophische Anthropologie geschlossen. Erst die Annahme zweier verschiedener Arten autopoietischer Kopplung in den Operationen der Systeme nicht mitvollzogen werden müssen, sondern als geräuschlos
Systeme ermöglicht es, die Voraussetzung der "Einheit der menschlichen Natur" durch den Begriff der funktionierend vorausgesetzt werden können.
strukturellen Kopplung zu ersetzen. Es ist in unserem Zusammenhang einer Theorie des Gesellschaftssystems nicht zweckmäßig, gleichsam
Die Wahl dieses Begriffs impliziert, daß Sprache psychisch unreflektiert und sozial unkommentiert in der Form eines Riesenexkurses eine Sprachtheorie und eine Theorie der Schematismen auszuarbeiten, die
funktioniert, was nicht ausschließt, die Wortwahl zu überlegen, wenn das Bewußtsein dazu einen Anlaß sieht, auf diese Funktion der strukturellen Kopplung gegründet ist. Wir weisen nur darauf hin, daß wir hiermit
oder über Ausdrucksweisen zu sprechen, wenn für das soziale System hier ein Verständigungsproblem Grundvoraussetzungen der Saussureschen Linguistik widersprechen: Sprache hat keine eigene
auftaucht. Aber solche eher exzeptionellen Beschäftigungen setzen ebenfalls voraus, daß die Sprache Operationsweise, sie muß entweder als Denken oder als Kommunizieren vollzogen werden; und folglich bildet
unbemerkt funktioniert; oder in anderen Worten: daß sie "orthogonal" steht im Verhältnis zu den Sprache auch kein eigenes System. Sie ist und bleibt darauf angewiesen, daß Bewußtseinssysteme auf der
autopoietischen Prozessen der an ihr beteiligten Systeme. einen und das Kommunikationssystem der Gesellschaft auf der anderen Seite ihre eigene Autopoiesis mit
Im evolutionären Kontext gesehen ist Sprache eine extrem unwahrscheinliche Art von Geräusch, das völlig geschlossenen eigenen Operationen fortsetzen. Wenn dies nicht geschähe, würde sofort jedes Sprechen
eben wegen dieser Unwahrscheinlichkeit hohen Aufmerksamkeitswert und hochkomplexe Möglichkeiten der aufhören und bald darauf auch nicht mehr sprachlich gedacht werden können.
149
Spezifikation besitzt. Wenn gesprochen wird, kann ein anwesendes Bewußtsein dieses Geräusch leicht von In lockerem Anschluß an Analysen von Talcott Parsons kann man diese Form der strukturellen
anderen Geräuschen unterscheiden und kann sich der Faszination durch die laufende Kommunikation kaum Kopplung auch als "symbolische Generalisierung" bezeichnen. Freilich wird der Ausdruck "symbolisch" hier
entziehen (was immer es im unhörbaren eigenen System dabei denken mag). Zugleich erlauben die anders eingesetzt als in Bezug auf Symbolentwicklungen innerhalb der gesellschaftlichen Kommunikation -
Spezifikationsmöglichkeiten der Sprache den Aufbau hochkomplexer Kommunikationsstrukturen, also also wenn zum Beispiel Genealogien unter dem Gesichtspunkt der Abstammung zusammengestellt werden,
einerseits das Komplexwerden und Wiederabschleifen sprachlicher Regeln selbst und andererseits den Aufbau um die Ähnlichkeit verschiedener Personen zu begründen. Als Kopplung von Bewußtseinssystemen und
sozialer Semantiken für die situative Reaktivierung wichtiger Kommunikationsmöglichkeiten. Dasselbe gilt, Kommunikationssystemen besagt Symbol nur, daß eine Differenz vorliegt, die von beiden Seiten aus gesehen
mutatis mutandis, für die vom akustischen Medium ins optische Medium übertragene Sprache, also für als Dasselbe behandelt werden kann. In diesem Sinne setzt ein symbolischer Gebrauch sprachlicher
Schrift. Auf die enormen, immer noch unterschätzten Auswirkungen dieser Optisierung von Sprache werden Generalisierungen (= Wiederverwendbarkeiten) die Zeichenhaftigkeit der Sprache voraus, das heißt die
wir im folgenden Kapitel näher eingehen. Fähigkeit, im Bewußtsein und in der Kommunikation das Bezeichnende (Worte) vom Bezeichneten (Dinge) zu
Während Sprache als Struktur relativ zeitbeständig fixiert sein muß, gibt es einen zweiten unterscheiden. Nur das Bezeichnende eignet sich für symbolische Verwendung, nicht die bezeichneten Dinge
Kopplungsmechanismus, der labil und gleichsam lernfähig eingerichtet ist. Wir nennen ihn unter Übernahme selbst. Oder anders gesagt: im Gegensatz zu Annahmen unserer Tradition kann die Vermittlung von Mensch
145
eines Begriffs aus der kognitiven Psychologie "Schemata". In einem schlecht koordinierten und Gesellschaft sich nicht auf die "Natur" berufen.
Forschungsgebiet hat er auch viele andere Namen, zum Beispiel "frames", "scripts", "prototypes", Ebenso wichtig wie Artifizialität, Kondensiertheit, Konfirmiertheit und symbolmäßige Verwendung der
"stereotypes", "cognitive maps", "implicit theories" — und nur einige zu nennen. Diese Begriffe bezeichnen Sprachzeichen ist ein oft weniger beachtetes Moment: die binäre Codierung der Sprache. Alle Kommunikation
Sinnkombinationen, die der Gesellschaft und den psychischen Systemen dazu dienen, ein Gedächtnis zu eröffnet die zweifache Möglichkeit, angenommen oder abgelehnt werden. Aller (kondensierte und
bilden, das fast alle eigenen Operationen vergessen, aber einiges in schematisierter Form doch behalten und konfirmierte) Sinn kann in einer Ja-Fassung und in einer Neinfassung ausgedrückt werden. Darin liegt eine
150
wiederverwenden kann. Beispiele wären standardisierte Formen der Bestimmung von etwas als etwas (zum Weichenstellung für die nachfolgende Behandlung des Themas. Dieselbe Einrichtung ist aber auch als
Beispiel: Getränk als Wein), Attributionsschemata, die Ursachen und Wirkungen verknüpfen und eventuell Form der strukturellen Kopplung von Bedeutung und ist vermutlich deshalb entstanden. Denn die Bifurkation
mit Handlungsaufforderungen oder Schuldzuweisungen ausstatten. (In diesen Fällen spricht man von des Kommunikationscodes Sprache eröffnet zugleich dem Bewußtsein die Option für die eine oder die andere
146
Skripts. ) Aber auch Zeitschemata, insbesondere Vergangenheit/Zukunft oder Präferenzcodes wie Seite der Form. Es kann sich mit diesem Minimum an Freiheitsgraden der Determination durch den
gut/schlecht, wahr/unwahr, Eigentum/Nichteigentum erfüllen die Schematisierungsfunktion. Bei der Kommunikationsverlauf entziehen und sich der (für es selbst intransparenten) Selbstdetermination überlassen.
Verwendung von Schemata setzt die Kommunikation voraus, daß jedes beteiligte Bewußtsein versteht, was Es sagt aus Gründen, die man nicht kennen kann, ja oder nein; nimmt an oder lehnt ab; unterstützt oder
gemeint ist, daß aber andererseits dadurch nicht festgelegt ist, wie die Bewußtseinssysteme mit dem Schema blockiert den weiteren Verlauf der Kommunikation; und all dies in einer kommunikativ verständlichen Weise
auf der Grundlage von Motiven, die für es selbst und für andere unverständlich bleiben mögen und in der
Ideas of Ancient China, in ders., Power, Politics and People, New York 1963, S. 469-520 (Sociotics S. 492 f.). Vgl. auch
Kommunikation keine (oder nur ausnahmsweise eine) thematische Rolle spielen. Diese Sachlage ist durch den
ders., Language, Logic, and Culture, American Sociological Review 4 (1939), S. 670-680. Der systemtheoretische Ansatz Code der Sprache universell auferlegt, unabhängig von Worten, Themen, Motiven, Kontexten. Sie ist immer
hat demgegenüber den Vorteil, den unklaren Begriff der "Kultur" entbehrlich zu machen und die Distanz zwischen gegeben und in jedem Moment. Sie ist in dieser Form eine unerläßliche Bedingung der strukturellen Kopplung
psychischen und sozialen Systemen extrem werden zu lassen. Nur das führt auf die Frage: welche Begriffe dies dann unterschiedlicher Autopoiesen.
aushalten.
144
Wilhelm von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige 147
Vgl. Arthur C. Graesser et al., Memory for Typical and Atypical Actions in Scripted Activities, Journal of Experimental
Entwicklung des Menschengeschlechts, Werke Bd. III, Darmstadt 1963, S. 368-756 (425 ff., Zitat 438).
Psychology, Learning, Memory and Cognition 6 (1980), S. 503-515.
145
Vgl. als Anregung für umfangreiche Forschungen Frederic C. Bartlett, Remembering: A Study in Experimental and 148
Vgl. Joseph W. Alba / Lynn Hasher, Is Memory Schematic?, Psychological Bulletin 93 (1983), S. 203-231.
Social Psychology, Cambridge Engl. 1932.
149
146 Vor allem in: Talcott Parsons / Robert F. Bales / Edward A. Shils, Working Papers in the Theory of Action, Glencoe Ill.
Siehe etwa Roger C. Schank / Robert P. Abelson, Scripts, Plans, Goals and Understanding, An Inquiry into Human
1953.
Knowledge Structures, Hillsdale N.J. 1977; Robert P. Abelson, Psychological Status of the Script Concept, American
150
Psychologist 36 (1981), S. 715-729. Wir kommen darauf im folgenden Kapitel auführlicher zurück.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 51 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 52

Daß Kommunikationssysteme über Sprache an Bewußtseinssysteme gekoppelt sind so wie Bewußtsein immer schon tätig gewesen, wenn die Kommunikation Ereignisse erzeugt. Das Bewußtsein
Bewußtseinssysteme an Kommunikationssysteme, hat sehr weittragende Konsequenzen für den strukturellen interpretiert, könnte man sagen, was im Gehirn schon geschehen ist, als Entschluß oder als Gefühl oder als
Aufbau der entsprechenden Systeme, also für deren Morphogenese, für deren Evolution. Anders als Einsicht. Die Kommunikation aktualisiert und hält dadurch im Bewußtsein fest, was dort schon entschieden
Bewußtseinssysteme, die sinnlich wahrnehmen können, ist die Kommunikation nur durch Bewußtsein war. Diese eigentümliche Nachträglichkeit in den strukturellen Kopplungen bleibt ihrerseits unbemerkt. Sie
affizierbar. Alles, was von außen, ohne Kommunikation zu sein, auf die Gesellschaft einwirkt, muß daher den wird als Gleichzeitigkeit gelesen. Sie wird gleichsam übersetzt in die Annahme einer Realität, die unabhängig
Doppelfilter des Bewußtseins und der Kommunikationsmöglichkeit passiert haben. Die strukturelle Kopplung von den kognitiven Operationen existiert. Die Notwendigkeit, Zeit nach den Anforderungen der jeweils
von Bewußtsein und Kommunikation ist mithin eine Form, die einschließt und ausschließt: die in ihrem Kanal eigenen Autopoiesis zu synchronisieren, erklärt somit die Emergenz einer Welt, die unabhängig von
Möglichkeiten wechselseitiger Irritation steigert, aber dies nur unter der Bedingung tun kann, daß alle nicht Kognitionen so ist, wie sie ist. Die Systeme rechnen Zeitverhältnisse in Realität um, ohne damit konkret auf
damit erfaßten Einflüsse ausgeschlossen bzw. auf destruktive Wirkungen beschränkt werden. bestimmte Sinnformen vorzugreifen.
Man muß sich vor Augen führen (buchstäblich: vor Augen führen), was dies bedeutet: Die gesamte Man kann nach diesen Analysen auf die Annahme eines ontologischen Substrats der Welt verzichten und
physikalische Welt kann einschließlich der physikalischen Grundlagen der Kommunikation selbst nur über zugleich diese Annahme selbst erklären. Daß man dabei von der Zeitlichkeit der Operationen strukturell
operativ geschlossene Gehirne und diese nur über operativ geschlossene Bewußtseinssysteme auf gekoppelter Systeme ausgehen muß, ergibt sich daraus, daß die basalen Elemente dieser Systeme zeitbezogen
Kommunikation einwirken, also auch nur über "Individuen". Darin liegt ein enormer und, evolutionär gesehen erzeugt werden. Alle sind, wie eine genauere Analyse zeigen kann, recht komplexe Bedingungen. Alle
sehr unwahrscheinlicher Selektionsvorgang, der zugleich die hohen Freiheitsgrade der Operationen in den gekoppelten Systemen sind nur Ereignisse, die vergehen, sobald sie vorkommen. Sie
Gesellschaftsentwicklung bedingt. Es gibt keinen direkten Zugriff physikalischer, chemischer, biologischer müssen daher die Differenz zur Umwelt über ein Nacheinander zueinander passender Operationen erzeugen.
Vorgänge auf die Kommunikation — es sei denn im Sinne von Destruktion. Lärm oder Entzug von Luft oder Das erfordert jeweils systemeigene Gedächtnisse. Obwohl das Gedächtnis nur an eigenen Operationen
räumliche Distanz können mündliche Kommunikation ausschließen. Bücher können verbrennen oder sogar teilnimmt, also auch nur eigene Operationen erinnern bzw. vergessen kann, präsentiert es die Ergebnisse
verbrannt werden. Aber kein Feuer kann ein Buch schreiben, und es kann nicht einmal den Buchschreiber so (Produkte) der Operationen auf Grund der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Jedes
stark irritieren, daß er, während das Manuskript brennt, es anders schreibt, als er es ohne Feuer tun würde. System projiziert deshalb Gleichlauf mit anderen Systemen und Ähnlichkeit der fremdreferentiell angezeigten
Das Bewußtsein hat also unter allen Außenbedingungen der Autopoiesis eine privilegierte Stellung. Es Sachverhalte in die Welt, obwohl es dafür keine Kontrollen und auch keine Metagarantien der
kontrolliert gewissermaßen den Zugang der Außenwelt zur Kommunikation, aber dies nicht als "Subjekt" der Übereinstimmung gibt. Es weiß zugleich sich selbst als anders und die Außenwelt als auch anderen
Kommunikation, nicht als eine ihr "zu Grunde liegende" Entität, sondern dank seiner Fähigkeit zur (ihrerseits zugänglich. Daher bildet das Bewußtsein, ebenso wie die gesellschaftliche Kommunikation, im Bereich
hochfiltrierten, selbsterzeugten) Wahrnehmung, die ihrerseits unter der Bedingung struktureller Kopplung auf intentionaler bzw. thematischer Fremdreferenzen die Vorstellung von extern bestehenden Dingen, obwohl ein
153
die neurophysiologischen Prozesse des Gehirns und, über diese, auf weitere Prozesse der Autopoiesis des System nichts anderes ist oder hat als die Geschichte der eigenen Bewegung. Diese Paradoxie der
Lebens angewiesen ist. Unterstellung von Ähnlichkeit trotz Separatheit erklärt, daß es bei Teilnahme an Kommunikation zu
Daß Kommunikationssysteme in einer direkten Weise nur an Bewußtseinssysteme gekoppelt sind und so Dauerirritationen der Bewußtseinssysteme kommt, die dann ihrerseits ein structural drift erzeugt, das auf die
von deren Selektivität profitieren, ohne durch sie spezifiziert zu sein, wirkt wie ein Panzer, der im großen und Voraussetzungen der weiteren Teilnahme an Kommunikation zurückwirkt. In diesem Sinne regeneriert die
ganzen verhindert, daß die Gesamtrealität der Welt auf die Kommunikation einwirkt. Kein System wäre Kommunikation durch die Art, wie sie sich in ihrer Umwelt auswirkt, Voraussetzungen der Fortsetzung
komplex genug, um dies aushalten und seine eigene Autopoiesis dagegen durchhalten zu können. Nur dank weiterer Kommunikation, wobei jedoch ganz offenbleibt, was in der Kommunikation jeweils als Konsens bzw.
dieses Schutzes konnte sich ein System entwickeln, dessen Realität im Prozessieren bloßer "Zeichen" besteht. Dissens registriert wird.
Hierbei ist auch zu bedenken, daß Bewußtseinssysteme in großer Zahl, in heute mehr als 5 Milliarden Die einzige Alternative zur strukturellen Kopplung Bewußtsein/Kommunikation, die sich gegenwärtig
Einheiten, vorhanden sind, die gleichzeitig in Betrieb sind. Selbst wenn man berücksichtigt, daß bereits andeutet, aber unabschätzbare Folgen haben würde, ist der Computer. Bereits heute sind Computer in
Bewußtseinssysteme auf der anderen Seite des Erdballs im Moment schlafen und andere sich aus anderen Gebrauch, deren Operationen weder für Bewußtsein noch für Kommunikationen zugänglich sind, und zwar
Gründen im Augenblick nicht an irgendwelchen Kommunikationen beteiligen, ist die Zahl der gleichzeitig weder zeitgleich noch rekonstruktiv. Obwohl produzierte und programmierte Maschinen, arbeiten solche
operierenden Systeme immer noch so groß, daß eine effektive Koordination (und damit auch die Bildung von Computer in einer Weise, die für Bewußtsein und für Kommunikation intransparent bleibt — und trotzdem
Konsens in einem empirisch greifbaren Sinne) völlig ausgeschlossen ist. Das Kommunikationssystem ist über strukturelle Kopplungen auf Bewußtsein und Kommunikation einwirkt. Sie sind streng genommen
deshalb zwangsläufig auf sich selbst gestellt, es kann sich nur selbst dirigieren; und es kann dies, sofern es ihm unsichtbare Maschinen. Das Problem wird falsch gestellt und wohl auch verharmlost, wenn man fragt, ob
nur gelingt, in seiner Umwelt das dafür nötige Bewußtseinsmaterial zu aktivieren. Computer bewußtseinsanalog arbeitende Maschinen sind und Bewußtseinssysteme ersetzen oder sogar
Von irgendeiner Gleichartigkeit der Operationen und Zustände der strukturell gekoppelten Systeme kann überbieten können. Auch kommt es nicht darauf an, ob die internen Operationen des Computers wie
nach all dem nicht die Rede sein. Daran ändert auch die Verwendung von Sprache und von kognitiven Kommunikationen aufgefasst werden können. Man wird vermutlich alle Analogien dieser Art beiseitelassen
Schemata nichts. Daß dennoch strukturelle Kopplungen zustandekommen, muß andere Gründe haben. Sie müssen und statt dessen fragen müssen, welche Konsequenzen es haben wird, wenn Computer eine ganz
dürften wohl in der Zeitlichkeit der Operationen sowohl der neurophysiologischen, als auch der bewußten, als eigenständige strukturelle Kopplung zwischen einer für sie konstruierbaren Realität und Bewußtseins- bzw.
151
auch der kommunikativen Systeme liegen. Diesen zeitlichen Aufbau autopoietischer Systeme müssen wir, Kommunikationssystemen herstellen können.
immer im Blick auf ihre strukturellen Kopplungen, etwas genauer vorstellen; denn obwohl für jedes System So sehr diese Frage weitere Aufmerksamkeit verdient, so wenig lassen sich die Konsequenzen in der
die Welt gleichzeitig existiert, bilden Gehirne, Bewußtseinssysteme und Kommunikationssysteme weiteren Evolution des Gesellschaftssystems gegenwärtig überblicken. Immerhin sollte jede
unterschiedliche Ereignissequenzen und damit auch unterschiedliche Operationsgeschwindigkeiten. Was dem Gesellschaftstheorie eine Unbestimmtheitsstelle dafür reservieren, und eine solche Möglichkeit bietet der
Bewußtsein als Intensität erscheint, wird im Nervensystem durch eine Sequenz von Impulsen aufgebaut. Auch Begriff der strukturellen Kopplung. Wir gehen im Folgenden zwar davon aus, daß Kommunikationssysteme
152
beim Erleben von Willensentschlüssen und Gefühlen gibt es solche Zeitdifferenzen. Entsprechend ist das über Sprache an Bewußtseinssysteme gekoppelt sind und nur deshalb sich Indifferenz gegenüber allem

153
151 formuliert in Anlehnung an den Abschnitt Die sinnliche Gewißheit in Hegels Phänomenologie des Geistes (zit. nach der
Einen ähnlichen Gedanken finden wir bereits bei Kant im Hauptstück "Von dem Schematismus der reinen
Ausgabe von Johannes Hoffmeister, 4. Aufl., Leipzig 1937, S. 79 ff.). Daher widerspricht nach Hegel das Bewußtsein sich
Verstandesbegriffe", Kritik der reinen Vernunft B 176 ff. für das Verhältnis von Vorstellung und Begriff. Aber Kant
selbst, wenn es sich sagt: dies ist ein Baum, weil es im nächsten Moment sagen wird (und dies weiß): dies ist ein Haus. Zu
spricht noch von Gleichartigkeit, weil sein Problem im Inneren des subjektiven Bewußtseins liegt.
dieser Spannung zwischen dem Gemeinten und der Art des Meinens auch Paul de Man, Resistance to Theory, Minneapolis
152
Speziell hierzu Brian Massumi, The Autonomy of Affect, Cultural Critique 31 (1995), S. 83-109. 1986, S. 61 f., 86 f. an Hand von Benjamins Essai über Übersetzung.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 53 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 54

anderen leisten können. Aber zugleich kann man es für wahrscheinlich halten, daß der Computer andere beobachtet, getestet, verworfen oder auch verstärkt und für immer mehr Anschlüsse benutzt. Dabei wirken
Formen struktureller Kopplung ermöglichen wird. selbstreferentielle und fremdreferentielle Komponenten mit. Deshalb bewirkt die Differenzierung eines
Der Begriff der strukturellen Kopplung erklärt schließlich auch, daß Systeme sich zwar völlig Systems immer auch die Ausdifferenzierung des Systems im Sinne der Unterbrechung von Punkt-für-Punkt
eigendeterminiert, aber im großen und ganzen doch in einer Richtung entwickeln, die von der Umwelt toleriert Koinzidenzen von Komponenten des Systems und Komponenten seiner Umwelt. Und genau diese
wird. Die Systeminnenseite der strukturellen Kopplung läßt sich mit dem Begriff der Irritation (oder Störung, Unterbrechung macht es unvermeidlich, daß das System mit einer interpretierten Umwelt zurechtzukommen
oder Perturbation) bezeichnen. Autopoietische Systeme reagieren unmittelbar auf negative bzw. nicht hat.
typisierbare Reize. Sie sind jedenfalls nicht von sich aus, wie die ökonomische Theorie vermuten würde,
154
Nutzenmaximierer. Auch in ihrer Irritierbarkeit sind die Systeme, und zwar sowohl die Bewußtseinssysteme
als auch das Kommunikationssystem Gesellschaft, völlig autonom. Irritationen ergeben sich aus einem
internen Vergleich von (zunächst unspezifizierten) Ereignissen mit eigenen Möglichkeiten, vor allem mit VII. Kognition
etablierten Strukturen, mit Erwartungen. Somit gibt es in der Umwelt des Systems keine Irritation, und es gibt
auch keinen Transfer von Irritation aus der Umwelt in das System. Es handelt sich immer um ein In dem Maße, als man Kommunikationssysteme als autopoietische Systeme eigener Art zu untersuchen
systemeigenes Konstrukt, immer um Selbstirritation — freilich aus Anlaß von Umwelteinwirkungen. Das beginnt, müssen auch die überlieferten Vorstellungen von "Kognition" überprüft werden. Auch dabei geht es
System hat dann die Möglichkeit, die Ursache der Irritation in sich selber zu finden und daraufhin zu lernen um eine Neubeschreibung des humanistischen Erbes der europäischen Tradition. Diese hatte kognitive
oder die Irritation der Umwelt zuzurechnen und sie daraufhin als "Zufall" zu behandeln oder ihre Quelle in der Fähigkeiten auf den Menschen bezogen und dabei die Eigenart des Menschen durch zwei Unterscheidungen
Umwelt zu suchen und auszunutzen oder auszuschalten. Auch diese verschiedenen Möglichkeiten sind in der fixiert: durch die Unterscheidung Mensch/Tier und durch die Unterscheidung Mensch/Maschine. Auf der
systemeigenen Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz angelegt, und wenn man einmal über die Suche nach Eigenschaften, die nur dem Menschen und nicht Tieren oder Maschinen zukommen, stellten
Möglichkeit, sie zu unterscheiden, verfügt, kann man die Perspektive auch wechseln und Reaktionen Theorien der Kognition eine Art Reservatbegrifflichkeit zur Verfügung, die dann mit Vorstellungen über
kombinieren, etwa mit der Identifikation von Umweltursachen zugleich lernen. Vernunft, Verstand und Reflexionsvermögen spezifiziert wurde. Folglich blieben die Vermögen sinnlicher
Dauerirritationen eines bestimmten Typs, etwa die wiederholte Irritation eines Kleinkindes durch die Wahrnehmung, die der Mensch mit dem Tier teilt, unterbelichtet. Sie zählten zu den niederen (im Vergleich zu
Auffälligkeiten der Sprache oder die Irritation einer auf Landwirtschaft beruhenden Gesellschaft durch 155
höheren) Fähigkeiten. Maschinen dagegen waren nur Ergänzungen und Entlastungen menschlichen
Wahrnehmung klimatischer Bedingungen, lenken die Strukturentwicklungen in bestimmte Richtung, weil Handlungsvermögens, wobei die Handlung selbst auf Willensfreiheit und auf die Möglichkeit vernünftiger
diese Systeme sehr spezifischen Irritationsquellen ausgesetzt sind und sich daher dauernd mit ähnlichen Kontrolle zugerechnet werden konnte.
Problemen beschäftigen. Selbstverständlich heißt dies nicht, daß wir zu den Klima-und-Kultur Theorien des Diese Prämisse einer spezifisch menschbezogenen Kognitionstheorie zerbrechen heute an Entwicklungen
18. Jahrhunderts zurückkehren könnten; und es heißt auch nicht, daß wir bereit wären, eine rein soziologische innerhalb der Wissenschaft und der Maschinentechnik. Die moderne Physik läßt es allenfalls noch zu,
Theorie der Sozialisation zu akzeptieren. In all diesen Fragen muß man stets eine Mehrheit von Kognition als Spezialfall von Veränderungen in den Beziehungen elektromagnetischer Felder zu beschreiben.
Systemreferenzen in Rechnung stellen und mit entsprechend komplexen Theoriemodellen arbeiten. Jedenfalls So könnte man eventuell die Frage beantworten, wie die Welt es ermöglicht, sich selbst zu beobachten. Aber
gewinnt die Umwelt nur unter der Bedingung struktureller Kopplungen und nur im Rahmen von dadurch von da aus gibt es keinen Zugang zur Phänomenologie der Welt. Neurophysiologische Forschungen
kanalisierten und gehäuften Möglichkeiten der Selbstirritation Einfluß auf die Strukturentwicklung von beschreiben das Gehirn als operativ geschlossenes System, und die Frage, wie man dann trotzdem zur
Systemen. Vorstellung einer Außenwelt kommen kann, stellt sich für Tiere und für Menschen gleichermaßen. Die
Dies alles gilt auch für die moderne Gesellschaft. Hier kommt jedoch noch hinzu, daß die Umwelt sich Antwort kann nur über den Begriff der sinnlichen Wahrnehmung gegeben werden, der damit allen reflexiven
ihrerseits stärker als je zuvor unter den Einwirkungen der Gesellschaft selbst ändert. Das gilt für die Prozessen vor-, wenn nicht übergeordnet wird. Wahrnehmung leistet (auf immer noch rätselhafte Weise) die
physikalischen, chemischen und biologischen Bedingungen des Lebens, also für den Komplex, der Externalisierung von Resultaten neurophysiologischer Prozesse — bei höheren Tierarten ebenso wie beim
üblicherweise als "Ökologie" bezeichnet wird, das gilt aber auch, und erst recht, für die Deformation Menschen. Im Verhältnis zu Maschinen hat die Technologie elektronischer Maschinen für Datenverarbeitung
psychischer Systeme unter modernen Lebensbedingungen, etwa für all das, was man im Begriff des modernen eine Umorientierung ausgelöst. Diese Maschinen können nicht mehr als Supplemente körperlicher Aktivität
Individualismus oder mit der Theorie steigender Anspruchshaltungen zum Ausdruck zu bringen sucht. Wie in aufgefaßt werden und erzwingen deshalb eine Neubeschreibung des Verhältnisses von Mensch und
einem ökologischen Hyperzyklus sind die strukturellen Kopplungen zwischen Gesellschaftssystem und 156
Maschine. Forschungen über "artificial intelligence" zeigen diese Veränderungen an — bis hin zu der
Umwelt heute unter Variationsdruck gesetzt, und dies mit einem Veränderungstempo, das die Frage Frage, ob die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Maschine überhaupt noch eine
aufkommen läßt, ob und wie die dadurch irritierte Gesellschaft, die sich all dies selber zurechnen muß, daraus kognitionstheoretisch adäquate Problemstellung ist.
schnell genug lernen kann. Unter diesen Bedingungen muß die Frage nach einer "reserve category" spezifisch menschlicher
Die operative Geschlossenheit gibt uns schließlich den Schlüssel zur Theorie der Systemdifferenzierung, 157
Besonderheiten neu gestellt und neu beantwortet werden. Dazu kann die Analyse des Mediums Sinn einen
die wir im 4. Kapitel näher ausarbeiten werden. Wie immer die Gesellschaft in sich selbst soziale Systeme 158
Beitrag liefern. Dies Medium wird jedoch sowohl von psychischen als auch von sozialen Systemen benutzt.
ausdifferenziert: stets ist der Anlaß eine Bifurkation eigener Operationen. Nie handelt es sich um eine
Abbildung von Unterscheidungen, die in der Umwelt bereits vorhanden sind. Nur sehr primitive
Gesellschaften haben mit einer Anlehnung an anthropologische Vorgaben wie Geschlecht und Alter
155
experimentiert, aber das hat sich als eine evolutionäre Sackgasse erwiesen. Schon Familienbildung und Und dies auch nach der Aufwertung der sinnlichen Wahrnehmung durch die moderne Ästhetik, die mit Alexander
segmentäre Differenzierung führen darüber hinaus. Wenn später strukturellen Unterscheidungen Gottlieb Baumgarten, Aesthetica Bd. 1, Frankfurt/Oder 1750, Nachdruck Hildesheim 1970, begann und die
diskriminierende Bedeutung verliehen wird (etwa Bauern/Nomaden, Stadtbewohner/Landbewohner oder heute Ausdifferenzierung eines autonomen Kunstsystems begleitete. Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Die Kunst der
Gesellschaft, Frankfurt 1995, S. 13 ff.
zuweilen: Rassenunterschiede) handelt es sich eindeutig um soziale Aspekte, die nur in dem Maße Gewicht
156
gewinnen, als sie mit den Formen der Systemdifferenzierung verknüpft werden können. Genetisch gesehen Vgl. Steve Woolgar, Reconstructing Man and Machine: A Note on Sociological Critiques of Cognitivism, in: Wiebe E.
handelt es sich immer um eine Eigenleistung des Kommunikationssystems: Eine Abweichung wird angeregt, Bijker / Thomas P. Hughes / Trevor J. Pinch (Hrsg.), The Social Construction of Technological Systems: New Directions in
the Sociology and History of Technology, Cambridge Mass 1987, S. 311-328.
157
154 Diese Formulierung bei Woolgar a.a.O. S. 327, Anm. 5.
Auch unter Ökonomen gibt es allerdings Überlegungen in anderer Richtung. Siehe z.B. Ronald H. Coase, The Firm, the
158
Market, and the Law, Chicago 1988, S. 4. Siehe oben Abschnitt .....
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 55 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 56

Man kann daher ebensogut die Besonderheit von Menschen durch Teilhabe an sinnhafter Kommunikation basale Operation zur Verfügung. Und während Organismen nur auf Irritationen ihrer Außenflächen reagieren
definieren. können, wie immer sie diese Irritationen dann intern interpretieren, steigern Kommunikationssysteme ihre
Das allein führt jedoch noch nicht zu einem ausreichenden, den neuen Bedingungen angemessenen Irritierbarkeit, indem sie räumliche Grenzen durch sinnhafte Unterscheidungen ersetzen. Kommunikation
Begriff der Kognition. Hierfür gehen wir vom Begriff des Beobachtens aus, begreifen Beobachten als erfordert als Teil der operativen Notwendigkeiten immer auch Selbstbeobachtung der Operation, nämlich die
Bezeichnen im Kontext einer Unterscheidung und verlangen zusätzlich Gedächtnis als Fähigkeit, Vergessen Möglichkeit, zwischen Information und Mitteilung zu unterscheiden; und sie sondert mit genau dieser
und Erinnern zu diskriminieren. Sinnhafte Kognition ist dann nur noch ein Sonderfall, allerdings der Fall, der Unterscheidung einen Bereich, nämlich Information, ab, an den sie Kognition anschließen kann. Auch hier
für die Gesellschaftstheorie allein in Betracht kommt. Kognition ist, anders gesagt, die Fähigkeit, neue gilt, daß die basale Operation nicht Kognition ist. Aber sie garantiert doch, daß Kognition unvermeidbar
Operationen an erinnerte anzuschließen. Sie setzt voraus, daß Kapazitäten des Systems durch Vergessen immer mitläuft und ausgebaut werden kann. Die Unterscheidung von Mitteilung und Information und das
freigemacht werden; aber zugleich auch, daß neue Situationen zu hochselektiven Rückgriffen auf Kondensate Angewiesensein auf Verstehen machen deutlich, daß auch die Kommunikation als Operation umweltangepaßt
vergangener Operationen führen können. ablaufen muß, ohne diese Abhängigkeit kognitiv kontrollieren zu können. Kein Kommunikationsprozeß kann
Diese Überlegungen nötigen uns, eine Vorstellung aufzugeben, die die Tradition beherrscht hatte und Schritt für Schritt kontrollieren (das heißt: kommunikativ zum Ausdruck bringen), ob die Teilnehmer noch
noch heute für viele selbstverständlich ist: daß ein System sich seiner Umwelt durch Kognition anpassen leben, ob die Luft ausreicht, um Laute zu transportieren, oder ob die Elektronik der Apparate noch
könne und daß folglich Evolution durch eine Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten, durch tiefer funktioniert. Die Effizienz der evolutionären Errungenschaft Kommunikation würde durch solche
eindringende, zutreffendere, vorwarnende Erkenntnis der Umwelt ermöglicht werde. Ein Zusammenhang Anforderungen entscheidend gelähmt und es wäre, müßten sie erfüllt werden, gar nicht erst zur Entwicklung
163
zwischen Evolution und einer Veränderung der kognitiven Fähigkeiten hochentwickelter Systeme soll kommunikativer Systeme gekommen. Die Sequenz kommunikativer Operationen muß, anders gesagt,
selbstverständlich nicht bestritten werden, aber die These eines Bedingungszusammenhanges von Kognition, voraussetzen, daß das, was im Verhältnis zu ihr Umwelt ist, ihre Operationsweise ermöglicht und toleriert. Es
besserer Anpassung und Evolution läßt sich in dieser einfachen Fassung nicht halten — auch nicht in der kann dann immer noch vorbehalten bleiben, daß Ausfälle und Störungen, wenn sie vorkommen, als Ereignisse
159
Biologie. berücksichtigt und in der Form von darauf bezogener Kommunikation bearbeitet werden.
Schon in der älteren kybernetischen Systemtheorie findet man Gründe für Zweifel — so in Ashbys Nur so kann die Kommunikation sich auf sich selbst konzentrieren. Nur so kann sie ihre Operationen
These, daß Systeme energetisch offen, aber informationell geschlossen seien und daß es ihnen an "requisite durchführen. Nur so kann sie die Information, die sie erzeugt (und nicht etwa: der Umwelt entnimmt)
160
variety" fehle. Die Kybernetik der Kontrollschleifen ist denn auch so eingerichtet, daß sie ohne Kenntnis der digitalisieren. Nur so kann sie laufend die Anschlußfähigkeit (Verständlichkeit, eventuell: Konsensfähigkeit)
Umwelt funktionieren kann — ohne Objekt und ohne Subjekt, könnte man sagen. Die Theorie operativer ihrer Operationen testen. Nur so ist sie in der Lage, riesige Informationsmengen zu erzeugen, in komplexen
Geschlossenheit und die These, daß autopoietische Systeme immer schon angepaßt sein müssen, um ihr Systemen zu verteilen und sowohl gleichzeitig als auch nacheinander zu verarbeiten. Und vor allem: nur so
evolutionäres Potential nutzen zu können, führt darüber hinaus. Die erste Frage ist dann immer: welche kann sie die innere Grenze ihrer eigenen Unterscheidung laufend kreuzen und die Mitteilung einer Information
Operationen die Reproduktion des Systems durchführen und wie das System schon auf dieser präkognitiven als Information über das Mitgeteilte oder über den Mitteilenden behandeln oder umgekehrt aus Informationen
161
Ebene angepaßt sein könne. Nur dann kann man die Frage stellen, wie es zu spezifischen Operationen über die Art oder über die Motive der Mitteilung auf die Qualität der Information zurückschließen.
kommen kann, die Beobachtungen durchführen und wie auf dieser Basis dann kognitive Fähigkeiten Die Kommunikation benötigt, um sich fortzusetzen, also keine Garantie der Übereinstimmung mit der
(Digitalisierung, Gedächtnis, Lernen, Distanzorientierung, Antezipation, Irrtumskorrekturen) entstehen Umwelt. Sie benutzt statt dessen Kognition. Ohnehin enthält die Umwelt ja weder "Informationen" noch
können. "Themen". Sie enthält auch keine Äquivalente der Formen, mit denen die Kommunikation arbeitet. Was an die
Kognition ist, von ihrer Funktion her gesehen, kein Copieren oder Repräsentieren von Stelle solcher Übereinstimmungsgarantien tritt, ist lediglich der Zeitbezug der Kommunikation: daß sie aus
Umweltgegebenheiten im System. Sie leistet vielmehr die Erzeugung von Redundanzen, die es dem System Operationen (Ereignissen) besteht, die mit ihrem Auftreten schon wieder verschwinden; daß sie folglich eine
162
ersparen, Informationserarbeitung zu wiederholen. Redundanzen werden als Wissen markiert, sie werden unbestimmte Zukunft vor sich herschiebt; daß sie alle selbstgebildeten Strukturen (inclusive solche des
wiedererkennbar registriert und dann "ökonomisch" eingesetzt, um allfällige Prüfung neuer Informationen zu "Wissens") wiederbestätigen oder ändern kann; daß sie stets rekursiv operiert, also an sich selbst anschließt,
konzentrieren und zu beschleunigen. So kann Kognition dem System dazu verhelfen, sich vorübergehend auf aber eben deshalb auch auf sich selbst reflektieren und sich selbst korrigieren kann.
Lagen einzustellen, und darin liegen in einer veränderlichen Welt bedeutende Vorteile. Aber genau diese Für die Gesellschaftstheorie ergeben sich aus diesen Analysen weitreichende Konsequenzen. Die
Spezialisierung schließt es aus, daß Kognition auch die strukturelle Weltangepaßtheit der Systeme garantieren Gesellschaft muß bei der Fortsetzung ihrer eigenen Operationen ihre Umweltangepaßtheit voraussetzen, ohne
kann. sie kognitiv kontrollieren zu können. Sie kann Störungen erkennen und zum Thema weiterer Kommunikation
Während Organismen zunächst einmal metabolische Prozesse der Reproduktion des Lebens sicherstellen machen; aber auch dabei muß sie dann wieder voraussetzen, daß es möglich ist und möglich bleibt,
und auf dieser Ebene angepaßt sein müssen, bevor sie, daran anschließend und dadurch bedingt, spezifische Kommunikation durch Kommunikation zu erreichen und damit die Reproduktion des Systems fortzusetzen.
kognitive Fähigkeiten entwickeln können, steht für die Bildung sozialer Systeme nur Kommunikation als Der Ausbau kognitiver Fähigkeiten über Zeichensysteme (vor allem: Sprache), über Generalisierungen (eins-
zu-viele Regeln) und über Verbreitungstechniken, über eine gut sortierte Semantik, die Bewahrenswertes für
159 Wiederverwendung verfügbar hält und über die Ausdifferenzierung eines auf kognitive Innovation (Lernen)
Siehe hierzu A. Moreno / J. Fernandez / A. Etxeberria, Computational Darwinism as a Basis for Cognition, Revue
internationale de systémique 6 (1992), S. 205-221.
spezialisierten und dafür freigestellten Funktionssystems Wissenschaft kann daran im Prinzip nichts ändern.
160
Immer müssen dieselben Grundvoraussetzungen wiederholt in Anspruch genommen werden. Das heißt vor
Siehe W. Ross Ashby, Design for a Brain: The Origin of Adaptive Behaviour, 2. Aufl. London 1954; ders., An allem: daß die Gesellschaft mit einer ihr unbekannt bleibenden Welt zurechtkommen muß. Es heißt, daß sie
Introduction to Cybernetics, London 1956; ders., Requisite Variety and its Implications for the Control of Complex
Systems, Cybernetica 1 (1958), S. 83-99; ders., Systems and Their Informational Measures, in: George J. Klir (Hrsg.),
darauf spezialisierte Symbolsysteme ausbilden muß, besonders Religion, aber auch "Kontingenzformeln" in
Trends in General Systems Theory, New York 1972, S. 78-97. den einzelnen Funktionssystemen. Und es heißt schließlich, daß im Zeitlauf gesehen die Gesellschaft ihre
161
eigene Zukunft nicht antezipieren und nicht planen kann. Sie ist in Morphogenese und in durchgreifenden
Dies setzt natürlich einen noch zu spezifizierenden Begriff der Kognition voraus. Maturana vermeidet das Problem
Strukturänderungen auf Evolution angewiesen. Man muß sogar damit rechnen, daß der Ausbau von immer
durch einen zu sehr verallgemeinerten Begriff der Kognition. Es ist aber sinnvoll, sich die Frage einer Evolution spezifisch
kognitiver Mechanismen innerhalb von Systemen offen zu halten.
162 163
Wir sehen hier zunächst von gesellschaftsgeschichtlichen Einschränkungen des Verständnisses von Wissen ab, um einen Das Argument läßt sich auch für Bewußtseinssysteme wiederholen. Auch sie können zum Beispiel ihre
allgemeinen Rahmenbegriff zu gewinnen. Es gibt ja auch Gesellschaften, die die "Kenntnis der Namen" als Wissen neurophysiologischen Bedingungen nicht kontrollieren, ja nicht einmal registrieren. Neuronale Prozesse sind streng an den
behandeln. Unser Begriff schließt Meinungswissen (doxa, certitude morale) ebenso ein wie gewisses, unbestreitbares Ort gebunden, an dem sie stattfinden; aber das Bewußtsein muß alle Informationen über den Ort weglassen, muß Kognition
Wissen, sofern nur der Umgang mit Informationen dadurch ermöglicht und erleichtert wird. also delokalisieren, um den Eindruck erzeugen zu können, als ob es etwas wahrnehmen könne, was "draußen" ist.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 57 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 58

nur selbstreferentiell einsetzbaren kognitiven Fähigkeiten die Umweltanpassung des Systems nicht verbessert, geworden sind. Dieser Einschränkungsbedarf erklärt, daß ökologische Zusammenhänge nur interessieren,
sondern allenfalls die Irritierbarkeit des Systems steigert, so daß Belastungen hinzukommen, die aus eben sofern sie als Umwelt die Gesellschaft betreffen, sei es, daß sie durch gesellschaftlich ausgelöste Einwirkungen
dieser laufenden Selbstirritation resultieren. verändert werden, sei es, daß sie auf die Gesellschaft zurückwirken. Dann braucht man aber in erster Linie
Wenn alle Kognition sich auf Operationen stützen muß, die schon vorweg ermöglicht sind, hat das einen Begriff der Gesellschaft, will man klären, was von hier aus gesehen Umwelt ist. Nur so trägt jede
weitreichend erkenntnistheoretische Folgen. Die Frage Kants nach den Bedingungen der Möglichkeit von weitere Ausarbeitung dieses Theorie-designs direkt oder indirekt zum Verständnis der so offensichtlichen
Kognition bleibt erhalten. Die Antwort lautet aber jetzt: operative Schließung; und das Forschungsinteresse ökologischen Probleme bei, die die Evolution der Gesellschaft schon immer begleitet haben, sich aber im
verlagert sich damit von den Bedingungen der Möglichkeit auf die Möglichkeit von Konditionierungen in letzten Jahrhundert dramatisch zugespitzt haben.
164
immer komplexeren Zusammenhängen. Auch die klassische Vorstellung, Realität erweise sich am Die Soziologie ist danach für eine bestimmte Systemreferenz zuständig, für das Gesellschaftssystem und
Widerstand gegen Erkenntnis oder gegen Willensimpulse, bleibt erhalten. Aber der Widerstand liegt jetzt im dessen Umwelt. Sie kann sich nicht länger auf eine intrasoziale Perspektive beschränken. Ihr Thema ist die
System selbst: im Widerstand der Operationen des Systems gegen die Operationen desselben Systems, hier Gesellschaft und alles andere, sofern es von der Gesellschaft aus gesehen Umwelt ist. Eine systemtheoretische
165
also: von Kommunikationen gegen Kommunikationen. Es bleibt auch dabei, daß die Wissenschaft es mit Grundlagenoption lenkt ihre Aufmerksamkeit auf die Erhaltung dieser Differenz von System und Umwelt.
166
selbsterzeugten (und nur deshalb absoluten!) Gewißheiten zu tun hat. Wenn man aber das zugesteht, muß Die begriffliche Konfiguration von operativer Schließung, Selbstorganisation und Autopoiesis gewinnt in
man eine sehr viel weitergehendere Prämisse akzeptieren, nämlich die, daß die Wissenschaft es durchweg mit diesem Zusammenhang besondere Bedeutung. Wir erinnern daran: ein operativ geschlossenes System kann
selbsterzeugten Ungewißheiten zu tun hat. Denn Gewißheit ist eine Form, die man nur verwenden kann, wenn mit eigenen Operationen die Umwelt nicht erreichen. Es kann seine Umweltanpassung nicht über Kognition
man ihre andere Seite, die Ungewißheit, mitakzeptiert. sicherstellen. Es kann nur im System, also nicht teils drinnen, teils draußen operieren. Alle Strukturen und alle
Die Systemtheorie sagt also nicht, daß die Gewißheit der Erkenntnis ihr fundamentum in re im System Systemzustände, die als Bedingung der Möglichkeit weiteren Operierens fungieren, sind durch die eigenen
hat (sozusagen als Ergebnis seiner Leistungen) und die Ungewißheit draußen zu verorten ist als übermäßige Operationen des Systems produziert, das heißt: hervorgebracht.
Komplexität, wenn nicht Chaos der Welt. Sie sagt vielmehr, daß das Schema gewiß/ungewiß eine Das zwingt uns, zwischen Operation und Kausalität zu unterscheiden (ohne damit die Kausalität der
Eigenleistung der Kognition ist, die diese einsetzen kann, solange ihre Autopoiesis funktioniert. Systemoperationen zu leugnen). Operationen, genau das sagen klassische Begriffe wie poíesis oder
Produktion, kontrollieren und variieren immer nur einen Teil der Ursachen, die für die Reproduktion des
Systems erforderlich sind. Immer wirkt auch die Umwelt mit. Außerdem erfordern Kausalfeststellungen
immer spezifischer Leistungen eines Beobachters. Es müssen bestimmte Ursachen auf bestimmte Wirkungen
VIII. Ökologische Probleme zugerechnet werden unter Auswahl aus unendlich vielen anderen Kausalfaktoren. Je nach
Attributionsinteresse kann diese Zuordnung daher sehr verschieden ausfallen. Dasist in der juristischen, in der
Die klassische Soziologie hatte soziale Systeme (soziale Tatsachen, soziale Beziehungen, soziale ökonomischen und seit einigen Jahrzehnten auch in der sozialpsychologischen Attributionsforschung so
Ordnungen oder wie immer es hieß) als besondere Gegenstände behandelt. Das, was für die Gesellschaft geläufig, daß es hier keiner weiteren Argumente bedarf. Will man wissen, welche Kausalzusammenhänge
Umwelt ist, war für sie Gegenstand anderer Disziplinen, deren Zuständigkeit zu respektieren war. Die rasch angenommen (ausgewählt) werden, muß man also Beobachter beobachten, und man kann wissen, daß jede
zunehmende Thematisierung ökologischer Probleme in den letzten Jahrzehnten kam für die Soziologie daher Zurechnung kontingent ist (was aber keineswegs heißt: daß sie beliebig oder rein fiktiv erfolgen kann).
als Überraschung, auf die sie nicht vorbereitet war, und findet sie noch heute in einem Zustande theoretischer Es ist also überhaupt nicht zu bestreiten, daß Systemoperationen kausal von Umweltbedingungen
Hilflosigkeit. In gewohnt kritischer Manier konnten Soziologen daher nur beklagen, daß die moderne abhängen, die entweder über strukturelle Kopplungen vermittelt werden oder, wenn sie vorkommen, destruktiv
Gesellschaft derart rücksichtslos mit ihrer Umwelt umgehe. Aber die Äußerungen hierzu haben bestenfalls wirken. Und ebensowenig ist zu bestreiten, daß Systemoperationen Umweltzustände kausal verändern. Die
literarische Qualität und unterstützen politisch die ökologischen Bewegungen, die dieses Problem mit Recht Systemgrenzen blockieren, anders gesagt, in keiner Richtung Kausalitäten. Eine Kommunikation versetzt Luft
und mit Erfolg der allgemeinen Aufmerksamkeit empfehlen. in Schwingungen oder verfärbt Papier, verändert die elektromagnetischen Zustände der entsprechenden
168
Man gelangt auf prinzipiell andere Theoriegrundlagen, wenn man, wie oben gefordert, die Systemform Apparate und die Zustände der beteiligten Bewußtseinssysteme. Das betrifft ihre jeweiligen Medien , die aus
als Form der Differenz von System und Umwelt ansieht. Zunächst ist freilich nur Konfusion zu beobachten. loser Kopplung in temporäre feste Kopplungen überführt werden. Daran besteht kein Zweifel, und es kann
Die Massenmedien haben die Worte Ökologie (ecology) und Umwelt (environment) verschmolzen , die
167 auch nicht hinweggedacht werden, ohne daß Kommunikation entfiele. Die Frage ist nur: welche
Alltagssprache hat diese Konfusion übernommen und bringt auf diese Weise Ratlosigkeit und Verärgerung gesellschaftliche Bedeutung hat eine solche Umweltkausalität. Verändert sie irgendwie — und in welchen
zum Ausdruck, ohne zur Klärung der Begriffe beizutragen. Zeithorizonten — die Bedingungen der Selektion weiterer Operationen im System?
Unter Ökologie versteht man heute nicht mehr, dem Wortsinn gemäß, die wohnliche Einrichtung der Offensichtlich handelt es sich hier um minimale Effekte oder Defekte, die sich im System, wenn sie sich
Welt, obwohl dies unausgesprochen als Wunschbegriff die Diskussion beherrscht. Andererseits kann auch störend bemerkbar machen, leicht ausgleichen lassen. Man nimmt anderes Papier — oder ein anderes
kaum gemeint sein, daß die gesamten physikalisch-chemisch-biologischen Weltzusammenhänge zum Problem Bewußtsein. Über Störungen kann im Kommunikationssystem Gesellschaft leicht kommuniziert werden. Die
Resorptionsfähigkeit reicht normalerweise aus. So jedenfalls schätzt das kommunikative Operieren
normalerweise die eigenen Bedingtheiten ein. Materialien oder Motive mögen bei übermäßiger
164
unter Einschluß von Konditionierung von Konditionierungen. Siehe dazu W. Ross Ashby, Principles of the Self- Inanspruchnahme knapp werden; aber dann ist eben Knappheit diejenige Form, über die im System weiter
Organizing System, in: Heinz von Foerster / George W. Zopf (Hrsg.), Principles of Self-Organization, New York 1962, S. kommuniziert werden muß, aber auch kommuniziert werden kann. Also keine gravierenden Probleme?
255-278. Mit diesem Theorieansatz reißen wir zunächst eine Erklärungslücke auf. Wie ist von diesen
165
Mit dieser Umdisposition können wir zugleich die Frage beantworten, die in der Tradition nicht einmal gestellt werden Ausgangspunkten her zu erklären, daß die moderne Gesellschaft besondere, zugespitzte Probleme mit ihrer
konnte, nämlich die Frage nach der Realität derjenigen Operationen des Erkennens oder Wollens, die sich einem Umwelt hat, obwohl doch Evolution seit Jahrmilliarden desaströse Rückwirkungen auf sich selbst erzeugt und
Widerstand ausgesetzt finden. Siehe dazu Jacques Miermont, Réalité et construction des connaissances, Revue auch die Gesellschaftssysteme unserer Geschichte nie in der Lage gewesen sind, die ökologischen
internationale de systémique 9 (1995), S. 251-268 (262 f.). Bedingungen ihrer Reproduktion wirklich zu kontrollieren. Hat sich etwas geändert? Und das heißt: Hat die
166
Eine Feststellung, mit der Henri Poincaré noch am Anfang des 20. Jahrhunderts die scientific community schockieren Gesellschaft sich selbst geändert? Welche Formen, welche Variablen variieren?
konnte. Siehe etwa: La Science et l'Hypothèse, zitiert nach der Ausgabe Paris 1929, z.B. S. 133.
167
Für Nachweise aus den USA siehe Timothy W. Luke, On Environmentality: Geo-Power and Eco-Knowledge in the
168
Discourses of Contemporary Environmentalism, Cultural Critique 31 (1995), S. 57-81. Wir kommen darauf unter .... zurück.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 59 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 60

Eine sinnvolle Hypothese ist, daß die Veränderungen mit der Form gesellschaftlicher kann man aber auch größere Freiheitsgrade für die Reaktion auf hinreichend eindeutige Situationen in
169
Systemdifferenzierung zusammenhängen und mit den durch sie ausgelösten Komplexitätssteigerungen. Wir Rechnung stellen. Selbst normative Strukturen sind kontingent, also änderbar festgelegt unter Verzicht auf
müssen deshalb hier auf ein Thema vorgreifen, das erst im 4. Kapitel ausführlich behandelt werden wird. jeden Rückgriff auf "natürliche" Ordnung. So vor allem das positive Recht. Die Kommunikation über
Funktionale Differenzierung heißt vor allem: operative Schließung auch der Funktionssysteme. Dadurch ökologische Probleme erzeugt in der Wirtschaft nicht nur Kosten, sondern auch Märkte. Vor allem aber läßt
werden Teilsysteme mit einer Leistungsfähigkeit ausgestattet, die bei einer gesamtgesellschaftlichen der Mechanismus der Organisation eine unwahrscheinliche Spezifikation menschlichen Verhaltens unter nach
Vernetzung — man könnte auch sagen: allein auf Grund von Sprache — nicht erbracht werden könnte. Die Bedarf änderbaren Regeln zu. Organisation ist, so gesehen, wie Geld ein gesellschaftliches Medium für jeweils
Teilsysteme übernehmen eine Universalzuständigkeit für je ihre spezifische Funktion. Das führt zu einer nur temporär festgelegte Formen. Andererseits sind die Möglichkeiten, Organisationen zu nutzen, durch die
immensen Steigerung des Auflöse- und Rekombinationsvermögens, sowohl in bezug auf die eigenen Reproduktionsbedingungen der Funktionssysteme beschränkt. Gehälter müssen attraktiv bleiben und gezahlt
Operationen als auch in bezug auf die gesellschaftsinterne und die gesellschaftsexterne Umwelt der werden können, und das geht nicht ohne ein leistungsfähiges Wirtschaftssystem, das seinerseits wiederum die
Funktionssysteme. Außerdem gewinnt Organisation eine eigenständige Bedeutung. Über den eigentümlichen Umwelt strapaziert.
171
Inklusions-/Exklusionsmechanismus der Mitgliedschaft kann das Verhalten der Mitglieder in hochgradig Schlechtanpassung an die Umwelt ist nach all dem kein ungewöhnlicher Sachverhalt. Die theoretische
spezifischer Weise geregelt und konkret angewiesen, das heißt durch Kommunikation beeinflußt werden, und Erklärung dafür liegt in der These, daß operative geschlossene Systeme nur die Möglichkeit haben, sich intern
dies relativ unabhängig von den sonstigen Verpflichtungen der Mitglieder in der Umwelt des jeweiligen an internen Problemen zu orientieren. Ungewöhnlich und erklärungsbedürftig ist dagegen das Ausmaß, in dem
Organisationssystems, also unabhängig von ihren eigenen anderen Rollen. gerade dieses Problem die Kommunikation im heutigen Gesellschaftssystem beschäftigt.
Diese strukturellen Veränderungen ändern nichts am Prinzip der operativen Schließung. Sie bauen
vielmehr auf diesem Prinzip auf und wiederholen es mit der Autopoiesis der Funktionssysteme im Inneren des
Gesellschaftssystems. Es verändern sich aber die kausalen Berührungsflächen zwischen Kommunikation und
Nichtkommunikation, also zwischen dem Gesellschaftssystem und dessen Umwelt, und damit verändert sich
auch die Beobachtung und Thematisierung von Kausalitäten durch Kommunikation. Man kann sie mit sehr
viel größerer Tiefenschärfe, aber deshalb auch mit sehr viel mehr Unsicherheit formulieren, seitdem es IX. Komplexität
Wissenschaft gibt. Man kann ausrechnen und an Erfahrungen kontrollieren, welche Arten und Mengen von
Produktion sich im Hinblick auf die Aufnahmefähigkeit des Marktes rentieren, und läßt dann durch den Die bisher aufgezählten Merkmale, und zwar Sinn, Selbstreferenz, autopoietische Reproduktion und
Markt, also gesellschaftsintern, bestimmen, welche Rohstoffe der gesellschaftlichen Umwelt entnommen und operative Geschlossenheit mit Monopolisierung eines eigenen Operationstypus, nämlich Kommunikation,
welcher Abfall an sie wieder abgegeben wird. Die Umsetzung dieser Kommunikation in Kausalitäten, die sich führen dazu, daß ein Gesellschaftssystem eigene strukturelle Komplexität aufbaut und die eigene Autopoiesis
auf die Umwelt auswirken, erfolgt im wesentlichen über Organisation, aber natürlich auch über die 172
damit organisiert. Oft spricht man in diesem Zusammenhang auch von "emergenten" Ordnungen und will
Verlockungen des sichtbar gemachten Konsumangebots. damit sagen, daß Phänomene entstehen, die nicht auf die Eigenschaften ihrer Komponenten, zum Beispiel auf
Gerade weil aber die Funktionssysteme diese Effekte ohne gesamtgesellschaftliche Kontrolle und die Intentionen von Handelnden zurückgeführt werden können. Aber "Emergenz" ist eher die Komponente
Limitierung erzeugen, lassen die Ergebnisse sich schwer bilanzieren. Es fehlt an Integration und an 173
einer Erzählung als ein Begriff, der zur Erklärung von Emergenz verwendet werden könnte. Wir werden
Steuerbarkeit und auch an Möglichkeiten, über eine Moral des Maßes oder die Idee eines "standesgemäßen uns deshalb mit der Vorstellung begnügen, daß die Ausdifferenzierung eines Systems und das Kappen von
Unterhalts" die Ordnung der Gesellschaft selbst in der Gesellschaft (und sei es nur normativ) zum Ausdruck Umweltbezügen Voraussetzung dafür ist, daß im Schutze von Grenzen systemeigene Komplexität aufgebaut
zu bringen. Man findet, wenn man auf Kausalitäten achtet und darüber kommuniziert, mehr Möglichkeiten werden kann.
vor, also mehr Auswahlmöglichkeiten, aber zugleich damit auch eine Komplexität, die sich der Prognose Organisierte (strukturelle) Komplexität steht seit langem und nach wie vor im Treffpunkt theoretischer
entzieht. Man kann nur experimentieren, auch und gerade im Bereich der scheinbar so kontrollierbaren 174
und methodologischer Überlegungen. Dies sei die zentrale Problemstellung der Systemtheorie, meint
170
Technologien. 175
Helmut Willke , und zugleich dasjenige Problem, dessen Bearbeitung durch Prozesse derSelbstorganisation,
Zwei Folgerungen drängen sich auf: Die Systemtheorie muß eine ihrer Lieblingsideen aufgeben, aus den Kontrolle und Steuerung der modernen Gesellschaft zunehmend Sorgen bereite. Wir werden zahlreiche
kausalen Beziehungen zwischen System und Umwelt auf Anpassung des Systems an die Umwelt zu schließen. Einzelaspekte dieses Phänomens besprechen, zum Beispiel Systemdifferenzierung (Kapitel 4),
Auch die Evolutionstheorie wird auf diesen Gedanken verzichten müssen. Systeme erzeugen durch operative Medium/Form-Differenzen oder Duplikationsvorgänge wie Codierungen und Ego/Alter-Unterscheidung (vor
Schließung eigene Freiheitsgrade, die sie ausschöpfen können, solange es geht, das heißt: solange die Umwelt allem im Kapitel 2), müssen an dieser Stelle aber einige zusammenfassende Erörterungen vorausschicken.
es toleriert. Es eignen sich dafür nur wenige, hinreichend strukturaufnahmefähige Formen der Autopoiesis, vor Der Ausgangspunkt ist: daß es einen Zusammenhang gibt zwischen der operativen Schließung des
allem natürlich die äußerst robuste Biochemie des Lebens. Der Gesamteffekt aber ist, nach allem, was man Systems und einer evolutionären Tendenz zum Aufbau von Eigenkomplexität (Systemkomplexität). Nur wenn
sieht, nicht Anpassung, sondern Abweichungsverstärkung.
Und zweitens: In der modernen Gesellschaft nimmt aus den angegebenen Gründen sowohl das
171
Selbstgefährdungspotential als auch die Rekuperationsfähigkeit zu. Die unbeabsichtigt oder jedenfalls Siehe für ältere Gesellschaftsformationen auch Roy A. Rappaport, Ecology, Meaning, and Religion, Richmond Cal.
unbezweckt erzeugten Auswirkungen auf die Umwelt scheinen zu explodieren, und jede Vorstellung, sie als 1979, insb. S. 145-173.
"Kosten" in eine Wirtschaftlichkeitsrechnung einzubeziehen, ist angesichts des Umfangs und der Zeithorizonte 172
Der Begriff des Organisierens ist hier, um erneut darauf hinzuweisen, anders gebraucht als bei Maturana, nämlich im
des Problems (also auch: angesichts kommunikablen Nichtwissens) illusorisch. Die verbreitete Neigung, in Sinne der Erzeugung geordneter (anschlußfähiger) Selektionen. Siehe auch Karl E. Weick, Der Prozeß des Organisierens,
dieser Lage "Verantwortung" anzumahnen, kann nur als Verzweiflungsgeste beobachtet werden. Zugleich dt. Übers. Frankfurt 1985 — hier allerdings mit einem nicht ausreichend explizierten Kriterium (S. 11).
173
Vgl. als Überblick über Bemühungen um Präzisierung die beiden Aufsätze von Eric Bonabeau / Jean-Louis Dessalles /
Alain Grumbach, Characterizing Emergent Phenomena 1 und 2 in: Revue internationale de systémique 9 (1995), S. 327-
169 346 und 347-371.
Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf
174
ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986. Siehe etwa Thomas J. Fararo, The Meaning of General Theoretical Sociology: Tradition and Formalization, Cambridge
170 Engl. 1989, insb. S. 139 ff.
Hierzu siehe Wolfgang Krohn / Johannes Weyer, Die Gesellschaft als Labor: Risikotransformation und
175
Risikokonstitution durch moderne Forschung, in: Jost Halfmann / Klaus Peter Japp (Hrsg.), Riskante Entscheidungen und Siehe Helmut Willke, Systemtheorie entwickelter Gesellschaften: Dynamik und Riskanz moderner gesellschaftlicher
Katastrophenpotentiale: Elemente einer soziologischen Risikoforschung, Opladen 1990, S. 89-122. Selbstorganisation, Weinheim 1989, S. 10.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 61 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 62

das System sich gegenüber der Umwelt hinreichend isoliert, nur wenn es also darauf verzichtet, für möglichst Unwahrscheinlichkeiten kommt also noch hinzu, daß evolutionär avancierte Systeme die
viele, möglichst alle Umweltzustände eigene interne Entsprechungen zu entwickeln, kann es sich von der Verknüpfungsfähigkeit ihrer Elemente drastisch limitieren müssen und deshalb etwas erfinden müssen, um die
Umwelt durch eine eigene interne Ordnung der Verknüpfung von Elementen unterscheiden. Nur die auf dieser damit verbundenen Relationierungsverluste auszugleichen.
Basis in Gang gebrachte Produktion eigener Elemente durch eigene Elemente (Autopoiesis) kann zum Aufbau Denn die Evolution stoppt das Wachstum der Systeme offensichtlich nicht an der Schwelle, von der ab
eigener Komplexität führen. In welchem Umfange dies geschieht und wo diese Entwicklung stoppt und wie es nicht mehr möglich ist, jedes Element jederzeit mit jedem anderen zu verknüpfen und dann auch jede
179
weit auch relativ einfache Systeme in einer hochkomplexen Umwelt überlebensfähig sind (das heißt: ihre Störung von außen im gesamten System durchzuchecken. Erst diese Analyse führt auf das Problem, an dem
Autopoiesis fortsetzen können), ist eine Frage, die wir der Evolutionstheorie überlassen müssen. Im Moment die Entfaltung der Komplexitätsparadoxie fruchtbar wird. Die hierfür maßgebende Unterscheidung ist jetzt:
geht es nur darum, den Zusammenhang zwischen operativer Schließung und der Ermöglichung des Aufbaus Systeme mit vollständiger und Systeme mit nur selektiver Verknüpfung ihrer Elemente; und es liegt auf der
von Eigenkomplexität festzuhalten. Es ist dieser Zusammenhang, der die "Richtung" von Evolution bestimmt. Hand, daß die realen Systeme der evoluierten Welt auf der zuletztgenannten Seite der Unterscheidung zu
176
Aber was ist Komplexität? Was wird mit diesem Begriff bezeichnet? Komplexität ist keine Operation, finden sind. Die Form der Komplexität ist also, kurz gesagt, die Notwendigkeit des Durchhaltens einer nur
ist also nichts, was ein System tut oder was in ihm geschieht, sondern ist ein Begriff der Beobachtung und selektiven Verknüpfung der Elemente, oder in anderen Worten: die selektive Organisation der Autopoiesis des
Beschreibung (inclusive Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung). Wir müssen also fragen: was ist die Systems.
Form dieses Begriffs, was ist die ihn konstituierende Unterscheidung? Bereits diese Frage führt zu einer Als Instrument des Beobachtens und Beschreibens kann der Begriff der Komplexität auf alle möglichen
Kaskade von Anschlußüberlegungen, denn der Begriff der Komplexität ist kein einfacher Begriff, sondern Sachverhalte angewandt werden, sofern nur der Beobachter in der Lage ist, an dem Sachverhalt, den er als
seinerseits komplex, also autologisch gebildet. komplex bezeichnet, Elemente und Relationen zu unterscheiden. Es muß sich nicht um Systeme handeln.
Für einen Beobachter, wird häufig gesagt, ist ein System komplex, wenn es weder völlig geordnet noch Auch die Welt ist komplex. Der Begriff setzt auch nicht voraus, daß ein komplexer Sachverhalt nur in einer
völlig ungeordnet ist, also eine Mischung von Redundanz und Varietät realisiert. Das gilt vor allem für Weise komplex ist. Es mag verschiedene Komplexitätsbeschreibungen geben je nach dem, in welcher Weise
Systeme mit selbsterzeugter Unbestimmtheit. Tiefer greift die Frage, weshalb ein vielfältiger Sachverhalt der Beobachter die Einheit einer Vielheit in Elemente und Relationen auflöst. Schließlich kann auch ein
180
überhaupt durch einen Begriff erfaßt werden soll, der seine Einheit voraussetzt. Die Komplexität System sich selbst in verschiedener Weise als komplex beschreiben. Das folgt schon aus der paradoxen
konstituierende Unterscheidung hat dann die Form einer Paradoxie: Komplexität ist die Einheit einer Vielheit. Anlage des Begriffs; aber auch daraus, daß ein Beobachter die Komplexitätsbeschreibungen eines anderen
Ein Sachverhalt wird in zwei verschiedenen Fassungen ausgedrückt: als Einheit und als Vielheit, und der Beobachters beschreiben kann, so daß hyperkomplexe Systeme entstehen können, die auch eine Pluralität von
Begriff negiert, daß es sich dabei um etwas Verschiedenes handelt. Damit ist der leichte Ausweg blockiert, Komplexitätsbeschreibungen enthalten; und es sollte klar sein, daß auch Hyperkomplexität ein autologischer
daß man von Komplexität mal als Einheit und mal als Vielheit spricht. Das führt aber nur zu der weiteren Begriff ist. Nur wenn man die formale Begrifflichkeit so weit treibt, kann man erkennen, daß und weshalb die
Frage, wie denn diese Paradoxie kreativ umgesetzt, wie sie "entfaltet" werden kann. Gesellschaftstheorie den Begriff der Komplexität benötigt.
Die übliche Auskunft dekomponiert Komplexität mit Hilfe der Begriffe Element und Relation, also mit Schließlich ist eine neuere Entwicklung der Komplexitätsbegrifflichkeit zu beachten, die, thematisch auf
Hilfe einer weiteren Unterscheidung. Eine Einheit ist in dem Maße komplex, als sie mehr Elemente besitzt und Systeme beschränkt, deren unvermeidliche Intransparenz betont. Hier geht es um die Art und Weise, in der
diese durch mehr Relationen verbindet. Das läßt sich ausarbeiten, wenn man die Elemente nicht nur zählt, Zeit berücksichtigt wird. Schon die klassische Theorie komplexer Systeme hatte Zeit als Dimension beachtet
sondern qualitative Verschiedenheiten berücksichtigt; und weiter: wenn man die Zeitdimension hinzunimmt und Komplexität unter anderem als Verschiedenheit der Systemzustände im Nacheinander beschrieben.
und auch Verschiedenheit im Nacheinander, also instabile Elemente zuläßt. Mit solchen Ausarbeitungen wird Darüber gelangt man hinaus, wenn man die zu verknüpfenden Elemente selbst als zeitpunktbezogene
181
der Begriff komplexer und realistischer; aber er wird auch multidimensional, so daß man die Möglichkeit Einheiten, als Ereignisse bzw. Operationen auffaßt. Dann erfordert die Theorie der Komplexität rekursive
verliert, Komplexität nach größer oder kleiner zu vergleichen. (Ist ein Gehirn komplexer als eine Gesellschaft, Operationen, also Rückgriffe und Vorgriffe auf jeweils nicht aktuelle andere Operationen im selben System.
weil es in einem Gehirn mehr Nervenzellen gibt als in einer Gesellschaft Menschen?) Dann genügt es nicht mehr, die Systementwicklung als Entscheidungsbaum oder als Kaskade darzustellen,
Eine weitere Unterscheidung ist für die Zwecke der Gesellschaftstheorie wichtiger. Sie setzt die sondern die Rekursion selbst wird zur Form, in der das System Grenzziehungen und Strukturbildungen
182
Unterscheidung von Element und Relation voraus, betont aber besonders, daß die möglichen Relationen ermöglicht. Deshalb wird der Umgang mit Komplexität heute vielfach als Strategie ohne feststehenden
183
zwischen Elementen in geometrischer Progression anwachsen, wenn man die Zahl der Elemente vermehrt, Anfang und ohne festgelegtes Ziel beschrieben. Das heißt nicht zuletzt, daß das System alle eigenen
wenn also das System wächst. Da die reale Verknüpfungsfähigkeit von Elementen drastische Grenzen hat, Operationen am jeweils eigenen historischen Zustand ansetzt, also jeweils einmalig operiert und alle
zwingt dieses mathematische Gesetz schon bei sehr geringen Größenordnungen zu einer nur noch selektiven
Verknüpfung der Elemente. So gesehen ist die "Form" der Komplexität die Grenze zu Ordnungen, indenen es
noch möglich ist, jedes Element mit jedem anderen jederzeit zu verknüpfen. Alles, was darüber hinausgeht,
beruht auf Selektion und erzeugt damit kontingente (auch anders mögliche) Zustände. Alle erkennbare
177
Ordnung beruht auf einer Komplexität, die sichtbar werden läßt, daß auch anderes möglich wäre. 179
Zu diesem Problem W. Ross Ashby, Design for a Brain, 2. Aufl. London 1960, Neudruck 1978, insb. S. 80ff. zu
Gehen wir für Zwecke der Gesellschaftstheorie von der Einzelkommunikation als Element aus, liegt eine ultrastabilen Systemen.
extreme Beschränkung der Verknüpfungsfähigkeit auf der Hand: Ein Satz kann nur auf sehr wenige andere 180
Vgl. z.B. Lars Löfgren, Complexity of Descriptions of Systems: A Foundational Study, International Journal of General
178
Sätze bezugnehmen. Zusätzlich zu den in der mathematischen Abstraktion erkennbaren Systems 3 (1977), S. 197-214.
181
Der Begriff der Operation sabotiert im Grunde den klassischen Begriff der Komplexität, weil er die Unterscheidung von
176
Eine recht umfangreiche Literatur befaßt sich mit der weitergehenden Frage, wie Komplexität formal modelliert und Element und Relation in einen Begriff (Operation = selektive Relationierung als Elementareinheit) aufhebt. Vielleicht ist
gemessen werden kann, zum Beispiel als Bedarf für Information, die ein Beobachter benötigen würde, um ein System das der Grund, weshalb von Komplexität heute weniger die Rede ist als früher. Trotzdem kann die Systemtheorie auch
vollständig zu beschreiben. Wir lassen diese Überlegungen hier beiseite, da ihre Ergiebigkeit für die Theorie sozialer heute den Begriff der Komplexität nicht entbehren, weil sie ihn für die Darstellung der Beziehung zwischen System und
Systeme noch nicht zureichend geklärt ist. Umwelt braucht.
177 182
Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Haltlose Komplexität, in ders. Soziologische Aufklärung Bd. 5, Opladen 1990, S. Für eine umfangreiche Ausarbeitung siehe vor allem Edgar Morin, La Méthode, 4 Bde. Paris 1977-1991. Vgl. auch
59-76. ders., Complexity, International Social Science Journal 26 (1974), S. 555-582.
178 183
Wenn man "Menschen" als Elemente ansieht, ist das Problem weniger drastisch, weil ein Mensch viele andere So z.B. von Jean-Louis Le Moigne / Magali Orillard, L'intelligence stratégique de la complexité, "En attente de
kontaktieren kann. Aber das Problem gewinnt die im Text bezeichnete Schärfe zurück, wenn man Zeit in Betracht zieht bricolage et de bricoleur", Revue internationale de systémique 9 (1995), S. 101-104. Die im Anschluß an diesen
und fragt, mit wievielen anderen jemand auf einmal Kontakt haben kann. Einleitungsaufsatz veröffentlichten Beiträge werden allerdings diesem Anspruch kaum gerecht.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 63 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 64
184
Wiederholungen in die eigene Operationsweise künstlich hineinkonstruieren muß. Gewisse Redundanzen wäre) in sinnprozessierenden Systemen zu repräsentieren. Jede Aktualisierung von Sinn potentialisiert andere
189
können hineinorganisiert werden, und sie helfen dem System, sich in sich selbst zurechtzufinden. Aber das Möglichkeiten. Wer etwas Bestimmtes erlebt, wird durch diese Bestimmtheit auf anderes hingewiesen, das
ändert nichts am Prinzip: an der Zeitpunktabhängigkeit und Unvorhersehbarkeit dessen, was als Operation er ebenfalls aktualisieren oder wiederum nur potentialisieren kann. Dadurch wird die Selektivität (oder,
185
produziert werden kann. Das heißt nicht zuletzt, daß Kommunikation sich selbst nur retrospektiv erfassen modaltheoretisch gesprochen: die Kontingenz) aller Operationen zur unvermeidbaren Notwendigkeit: zur
186
kann und dabei mitbeobachtet, daß es eine erst noch zu entscheidende Zukunft gibt. In die Zeitdimension Notwendigkeit dieser Form von Autopoiesis.
aufgelöst, erscheint Komplexität nicht nur als ein zeitliches Nacheinander verschiedener Zustände, sondern So ist in jedem Augenblick die ganze Welt präsent - aber nicht als plenitudo entis, sondern als Differenz
außerdem als ein Zugleich von schon feststehenden und noch nicht feststehenden Zuständen. von aktualisiertem Sinn und den von da aus zugänglichen Möglichkeiten. Die Welt ist stets gleichzeitig
Offensichtlich ist die Gesellschaft ein Extremfall in dem durch den Begriff der Komplexität erfaßten präsent, und zugleich ist die Form, in der dies geschieht, auf ein sequentielles Prozessieren eingestellt. Alle
Gegenstandsbereich. Extrem nicht deshalb, weil sie komplexer ist als andere Systeme (etwa Gehirne), sondern anderen Formen, die das Beobachten und Beschreiben in solchen Systemen anleiten können, partizipieren an
deshalb, weil die Art ihrer elementaren Operationen, nämlich Kommunikationen, sie unter erhebliche dieser Sinnform; denn sie setzen, wie oben ausgeführt, die Form als Zwei-Seiten-Form voraus, in der beide
Beschränkungen setzen. Man muß sich deshalb zunächst einmal wundern, daß und wie mit einem Seiten gleichzeitig gegeben sind, aber — wie wir jetzt sagen können: die eine in aktualisierter, die andere in
Operationstyp dieser Art überhaupt hochkomplexe Systeme gebildet werden können. Denn Kommunikationen potentialisierter Modalität. Um von der einen Seite der Form zur anderen zu gelangen (um die Grenze zu
sind extrem schmalspurig gebaut und für Verknüpfungen auf Sequenzierung angewiesen. Entsprechend hoch kreuzen) braucht man Zeit, so wie man immer Zeit braucht, wenn man Potentielles aktualisieren will.
ist ihr Zeitbedarf und das heißt immer auch: ihre Zerfallswahrscheinlichkeit. Strukturelle Konsequenzen dieser Wie bei Unterscheidungen im allgemeinen hat auch im Kontext der sinnstiftenden Unterscheidung von
Ausgangslage, das heißt Formen, die sich ihretwegen bewähren, werden uns laufend beschäftigen, vor allem Aktualität und Potentialität die Wiederholung einer Operation einen Doppeleffekt. Einerseits schafft und
im Zusammenhang mit den Verbreitungsmedien Schrift und Buchdruck, mit Problemen der Kettenbildung kondensiert sie Identität; die Wiederholung erkennt sich als Wiederholung Desselben und macht es als Wissen
190
und Verzweigungsfähigkeit und mit den Vorteilen der Systemdifferenzierung. Im Augenblick betrachten wir verfügbar. Andererseits geschieht dies in einem etwas anderen Kontext (zumindest: zeitlich später).
nur die allgemeine Form, die sich entwickelt hat, weil das Gesellschaftssystem unter diesen Beschränkungen Dadurch kommt es zu einer Anreicherung von Sinn durch Eignung zur Verwendung in verschiedenen
operieren muß, oder anderenfalls nicht evoluieren kann. Wir sehen zwei miteinander eng zusammenhängende Situationen. Im Ergebnis wird Sinn dadurch mit Verweisungsüberschüssen ausgestattet und im strengen Sinne
Lösungen dieses Problems, nämlich (1) ein sehr hohes Maß an Selbstreferenz der Operationen und die (2) undefinierbar. Man kann nur neue Bezeichnungen (Worte, Namen, "Definitionen") erfinden, um die operative
Repräsentation von Komplexität in der Form von Sinn. Weiterverwendung zu sichern. Letztlich referiert jeder Sinn Welt, und das macht es unumgänglich,
Die Rekursivität der Autopoiesis der Gesellschaft ist nicht durch Kausalresultate (outputs als inputs) Operationen als Selektionen zu generieren.
191
und auch nicht in der Form von Ergebnissen mathematischer Operationen organisiert, sondern reflexiv, das Wenn im Anschluß an Kenneth Burke oder Jerome Bruner von "Reduktion der Komplexität" die Rede
187 192
heißt: durch Anwendung von Kommunikation auf Kommunikation. Jede Kommunikation setzt sich selbst ist, kann also nicht eine Art Annihilation gemeint sein. Es geht nur um ein Operieren im Kontext von
der Rückfrage, der Bezweifelung, der Annahme oder Ablehnung aus und antezipiert das. Jede Komplexität, nämlich um ein laufendes Verlagern von Aktuellem und Potentiellem. Und auf einer selbst
Kommunikation! Es gibt keine Ausnahme. Wollte ein Kommunikationsversuch sich dieser Form von komplexeren Ebene kann dann auch gemeint sein, daß komplexe Beschreibungen (etwa des Systems oder
reflexiver Rekursivität entziehen, würde er nicht als Kommunikation gelingen, wäre er nicht als solche seiner Umwelt) angefertigt werden, die der Komplexität ihres Gegenstandes nicht gerecht werden, sondern sie
erkennbar. Die Folge dieser Antwort auf das Komplexitätsproblem ist eine nicht eliminierbare in die vereinfachte Form eines Modells, eines Textes, einer Landkarte bringen.
Unendgültigkeit der Kommunikation. Es gibt kein letztes Wort. (Es gibt natürlich Möglichkeiten, Leute zum Für die wissenschaftliche Behandlung des Themas Komplexität folgt aus all dem, daß eine Idealisierung
Schweigen zu bringen). Das heißt auch, daß die Darstellung der Komplexität des Systems und seiner Umwelt oder eine vereinfachende Modellbildung nicht genügt. Solch ein Vorgehen würde Komplexität als
188
im System offen bleiben kann als ein immer weiter zu klärendes Phänomen. Und es heißt auch, daß Komplikation mißverstehen. Ebensowenig genügen die klassischen Anthropomorphismen, die sich auf
Kommunikation Autorität in Anspruch nehmen muß im Sinne der Fähigkeit, mehr sagen, erläutern, begründen Annahmen über "den Menschen" stützen und Sinn entsprechend "subjektiv" auffassen. Es bleibt aber die
zu können, als im Moment zweckmäßig erscheint. Möglichkeit, diese Annäherungsweisen durch eine Methodik der Beobachtung zweiter Ordnung zu ersetzen.
Mit dieser reflexiven Lösung des Problems sequentieller Rekursivität konvergiert - und man wird von Man verzichtet damit auf die Idee, Komplexität transparent und einsichtig (intelligibel) zu machen; aber man
Co-evolution sprechen können - die wichtigste evolutionäre Errungenschaft, die gesellschaftliche hält sich die Möglichkeit offen, zu fragen, wie sie beobachtet wird. Die erste Frage bleibt dann immer: wer ist
Kommunikation überhaupt erst möglich macht: die Repräsentation von Komplexität in der Form von Sinn. der Beobachter, den wir beobachten? (Ohne Beobachter gibt es keine Komplexität.). Der Beobachter ist
Form heißt auch hier: Unterscheidung von zwei Seien. Die zwei Seiten der Sinnform hatten wir oben definiert durch das Schema, das er seinen Beobachtungen zugrundelegt, also durch die Unterscheidungen, die
(Abschnitt...) bereits dargestellt. Es sind: Wirklichkeit und Möglichkeit; oder im Vorausblick auf ihren
operativen Gebrauch formuliert: Aktualität und Potentialität. Es ist diese Unterscheidung, die es ermöglicht,
189
den Selektionszwang der Komplexität (ihre eine Seite, deren andere die Komplettrelationierung der Elemente Diese Ausdrucksweise fanden wir bei Yves Barel, a.a.O. S. 71: "... un système s'actualise, les autres, de ce fait, se
potentialisent." In der Husserlschen Phänomenologie wird derselbe Sachverhalt vom Standpunkt des transzendentalen
Bewußtseins aus formuliert. Die intentionale Aktivität des Bewußtseins kann einen Gegenstand nur als Verweisung
184 weitere Möglichkeiten des Erlebens, nur in "Horizonten" anderer Möglichkeiten identifizieren.
Das erklärt, wenngleich auf Umwegen, im übrigen ein neuartig ansetzendes Interesse an den Bedingungen der
190
Möglichkeit von Wiederholbarkeit. Siehe nur Gilles Deleuze, Différence et Répétition, Paris 1968. Auf elegante Weise wird derselbe Doppelsinn bei Spencer Brown durch die Unterscheidung von "condensation" und
185 "confirmation" ausgedrückt. Die Wiederholung eines Ausdrucks bringt nichts neues, sondern kondensiert ihn nur ( → ).
Siehe dazu auch Henri Atlan, Entre de cristal et la fumée: Essai sur l'organisation du vivant, Paris 1979.
Rückwärts gelesen ( → ) kann man dieselbe Gleichung als Entfaltung einer Tautologie verstehen. Spencer Brown
186
Siehe dazu Karl E. Weick, Der Prozeß des Organisierens, Dt. Übers. Frankfurt 1985; ders., Sensemaking in spricht von "confirmation". Vgl. a.a.O. S. 10. Was wir stärker betonen möchten, ist die Verschiedenheit der
Organizations, Thousand Oaks Cal. 1995. Wiederholungssituationen, die dadurch zustandekommt, daß die rekursiv aneinander anschließenden Operationen Systeme
187 ausdifferenzieren.
Das ist im übrigen einer von vielen Gründen, weshalb weder mechanistische (maschinentheoretische) noch
191
mathematisch-kalkulatorische (heute oft auch "Maschine" genannte) Darstellungen der Gesellschaft ausreichen. Siehe das Kapitel "Scope and Reduction" in Kenneth Burke, A Grammar of Motives (1945), zit. nach der Ausgabe
188 Cleveland 1962, S. 59 ff. und Jerome S. Bruner et al., A Study of Thinking, New York 1956, insb. S. 12.
Mit gewissem Recht hat deshalb Henri Atlan vorgeschlagen, Komplexität durch die H Funktion der Informationstheorie
192
Shannons zu beschreiben, das heißt: als Maß für die Information, die für eine vollständige Beschreibung des Systems noch Wir wählen hier bewußt diesen Gegenbegriff zu Schöpfung; denn wir wollen ja nicht ausschließen, daß Komplexität
fehlt. Vgl. Henri Atlan, Entre le cristal et la fumée, Paris 1979; oder ders., Hierarchical Self-Organization in Living negiert und in dieser Form der Negativität dann potentialisiert, also für spätere Aktualisierung aufgehoben werden kann.
Systems: Noise and Meaning, in: Milan Zeleny (Hrsg.), Autopoiesis: A Theory of Living Organization, New York 1981, S. Man kann natürlich sagen, etwas Komplexes (zum Beispiel die Körperbewegungen beim Schwimmen) sei ganz einfach;
185-208. aber man gibt eben damit anderen die Möglichkeit, dies zu bestreiten.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 65 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 66
196
er verwendet. Im Begriff des Beobachters fallen also die traditionellen Vorstellungen des Subjekts und der geführt zu haben, daß man die Welt über die eigenen Grenzen hinaus als Völkervielfalt beschrieb. Und
Ideen bzw. Begriffe zusammen. Und die Autologie, die der Methodik des Beobachtens zweiter Ordnung politische Reichsbildungen, die sich im Zuge zunehmender Kommunikationsmöglichkeiten formten, hatten bis
zugrundeliegt, nämlich die Einsicht, daß auch dies nur ein Beobachten ist, garantiert die kognitive in die Neuzeit hinein das Problem, wie von einem Zentrum aus ein größeres Territorium zu beherrschen das
197
Geschlossenheit dieses Umgangs mit Komplexität. Weder gibt es, noch benötigt man, einen Rückgriff auf heißt: durch Kommunikation zu kontrollieren sei. Aus dieser Erfahrung stammt wohl auch die oben
externe Garantien. behandelte Neigung, Gesellschaften mit politischen Herrschaftsbereichen zu identifizieren, also regional zu
definieren.
Eine letzte Chance, diesen dinglichen Weltbegriff zu retten, hatte der Gottesbegriff geboten. Er wurde
198
gleichsam als Weltduplikat entworfen und zugleich als Person für Funktionen der Beobachtung zweiter
X. Weltgesellschaft Ordnung bestimmt. Man konnte dann in der Welt und an Hand der Welt versuchen, Gott zu beobachten und
zwar als Beobachter der Welt zu beobachten. Das führte dann zwar in die Paradoxie der docta ignorantia, des
Die Bestimmung der Gesellschaft als das umfassende Sozialsystem hat zur Konsequenz, daß es für alle Wissens des Nichtwissens, aber dem konnte man durch Hinweis auf die Offenbarung entgehen; und im
anschlußfähige Kommunikation nur ein einziges Gesellschaftssystem geben kann. Rein faktisch mögen übrigen genügte diese Paradoxieabsorption, um die Welt in einem ontologisch-logischen Sinne paradoxiefrei
mehrere Gesellschaftssysteme existieren, so wie man früher von einer Mehrzahl von Welten gesprochen hat; anzusetzen als zugänglich für sündenbelastetes, kontrahiertes, endlichesErkennen und Handeln.
aber wenn, dann ohne kommunikative Verbindung dieser Gesellschaften oder so, daß von den Solange die Welt dinghaft begriffen wurde — als Gesamtheit der Dinge oder als Schöpfung — mußte
Einzelgesellschaften aus gesehen, eine Kommunikation mit den anderen unmöglich ist oder ohne alles, was rätselhaft blieb, in der Welt vorgesehen sein — als Gegenstand von admiratio: als Wunder, als
199
Konsequenzen bleibt. Geheimnis, als Mysterium, als Anlaß zu Schrecken und Entsetzen oder zu hilfloser Frömmigkeit. Dies
Auch in dieser Hinsicht kontinuiert und diskontinuiert unser Begriff die alteuropäische Tradition. Der ändert sich, wenn die Welt nur noch ein Horizont, nur noch die andere Seite jeder Bestimmung ist. Dieser
200
Begriff des Einschlußes aller anderen Sozialsysteme stammt aus dieser Tradition, und ebenso Merkmale wie Weltbegriff war spätestens mit der Philosophie des transzendentalen Bewußtseins erreicht. Dann kann das
Autarkie, Selbstgenügsamkeit, Autonomie. Sieht man genauer zu, zeigt sich aber rasch, daß diese Begriffe in Mysterium ersetzt werden durch die Unterscheidung marked/unmarked im Alltagsgebrauch von Beobachtern,
der Tradition anders gemeint waren als in unserem Kontext. Stadtsysteme der Antike galten als autark ohne daß sich die Gesamtheit des Markierten aufsummieren oder gar mit dem Unmarkierten gleichsetzen
insofern, als sie dem Menschen alles boten, was zur Perfektion seiner Lebensführung notwendig ist. Die ließe. Die Welt der modernen Gesellschaft ist eine Hintergrundsunbestimmtheit ("unmarked space"), die
201
civitas mußte, wie man in Italien später sagen wird, das bene e virtuose vivere garantieren können: nicht mehr Objekte erscheinen und Subjekte agieren läßt. Aber wie ist es zu diesem Sinneswandel gekommen? Wie läßt
und nicht weniger. Wie weit dazu größere Territorien, also regna, erforderlich sind, sei es aus Schutzgründen, er sich soziologisch erklären?
sei es aus Gründen der Heiratspraxis des endogam lebenden Adels, wurde seit dem Mittelalter diskutiert.
193 Wir vermuten, daß dafür die Vollentdeckung des Erdballs als einer abgeschlossenen Sphäre sinnhafter
Jedenfalls war nie daran gedacht, daß alle Kommunikation innerhalb dieser einen civitas sive societas civilis Kommunikation die ausschlaggebende Weiche gestellt hat. Die alten Gesellschaften hatten mit Grenzen
stattfinden müsse; und selbstverständlich wurde in der alteuropäischen Tradition nicht an wirtschaftliche rechnen müssen, die durch die Dinge selbst gegeben waren, hatten aber zugleich mit Beobachtungen und
Unabhängigkeit gedacht, ja es gab dafür nicht einmal einen Begriff der Wirtschaft im heutigen Sinne. Kommunikationen gespielt, die diese Grenzen überschreiten und admirabilia in jedem Sinne thematisieren
Entsprechend war der Weltbegriff dieser Gesellschaften dinghaft konzipiert, und die Dinge konnten nach konnten. Diese Bedingungen haben sich seit dem 16. Jahrhundert allmählich und schließlich irreversibel
Namen, Arten und Gattungen geordnet werden. Die Welt wurde als aggregatio corporum begriffen oder sogar verändert. Von Europa ausgehend wurde der gesamte Erdball "entdeckt" und nach und nach kolonialisiert
194
als ein großes, sichtbares Lebewesen, das alle anderen Lebewesen enthält. In ihr gab es sterbliche und oder doch in regelmäßige Kommunikationsbeziehungen eingespannt. Seit der zweiten Hälfte des 19.
unsterbliche Lebewesen, Menschen und Tiere, Städte und Länder und in ferneren Gegenden dem Vernehmen Jahrhunderts gibt es auch eine einheitliche Weltzeit. Das heißt: Man kann an jedem Ort des Erdballs
nach (aber eben: ohne Möglichkeit einer direkten kommunikativen Kontrolle) auch Fabelwesen und Monstren, unabhängig von der lokalen Uhrzeit Gleichzeitigkeit mit allen anderen Orten herstellen und weltweit ohne
die sich den in der Gesellschaft bekannten Typen nicht fügten und gleichsam in ihrer Seltsamkeit als Zeitverlust kommunizieren. Wie in der Physik die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit so garantiert in der
Platzhalter für das Jenseits-der-Grenzen fungierten. Gesellschaft die Weltzeit die Umrechenbarkeit aller Zeitperspektiven: Was irgendwo früher oder später ist, ist
Diese Weltordnung setzte voraus, daß mit räumlicher Entfernung Kommunikationsmöglichkeiten rasch auch anderswo früher bzw. später. Im gleichen Bewegungsgang stellt sich die Gesellschaft, wie wir im 4.
abnehmen und unsicher werden. Zwar gab es schon vor dem Entstehen von Hochkulturen weiträumige Kapitel eingehend zeigen werden, auf eine Differenzierung in Funktionssysteme um. Damit entfällt die
Handelsbeziehungen, aber deren kommunikativer Effekt blieb gering. Technologien wurden von Gesellschaft Möglichkeit, die Einheit eines Gesellschaftssystems durch territoriale Grenzen oder durch Mitglieder im
zu Gesellschaft weitergereicht (Beispiel: Metallbearbeitung) und auch die Diffusion von Wissen war möglich
195
nach Maßgabe der Aufnahmekapazität zweiter und dritter Empfänger. Oft fanden Technologien und 196
So Jan Assmann, Der Einbruch der Geschichte: Die Wandlungen des Gottes- und Weltbegriffs im alten Ägypten,
Wissensformen erst im Prozeß der Anpassung an Übernahmebedingungen ihre ausgereifte Form (Beispiel:
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. November 1987, für Ägypten nach den Hyksos-Kriegen.
phonetische Schrift). Alles in allem brauchten diese Prozesse jedoch viel Zeit und wurden schließlich zwar mit
197
Universalisierung einzelner Religionen, nicht aber mit der Vorstellung einer regional unbegrenzten Vgl. Shmuel N. Eisenstadt, The Political Systems of Empires, New York 1963.
Weltgesellschaft beantwortet. Die Kenntnis fernerer Weltteile blieb sporadisch, war durch Personen vermittelt 198
"extra te igitur, Dominus, nihil esse potest", liest man bei Nikolaus von Kues, De visione Dei IX, zit. nach:
und wurde dann offenbar durch Berichte über Berichte in der Art von Gerüchten verstärkt und verformt. Vor Philosophisch-Theologische Schriften Bd. 3, Wien 1967, S. 130.
allem kriegerische Verwicklungen — aber eben nicht: kommunikative Koordinationen — scheinen dazu 199
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 6.45 zit. nach: Schriften Bd. 1, Frankfurt 1969, S. 82: "Das
Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische."
200
193 Man kann dies mit Friedrich Schlegel auch so formulieren: Der Verzicht auf die Annahme von "Dingen außer uns"
Vgl. Aegidius Columnae Romanus (Egidio Colonna), De regimine principum, zit. nach der Ausgabe Rom 1607, S. 403,
zwinge nicht zum Verzicht auf den Begriff der Welt. Siehe die Jenaer Vorlesung Transzendentalphilosophie (1800-1801),
411 f.
zit. nach Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd. XII, München 1964, S. 37. Bereits Schlegel begründet dies im übrigen
194
Platon, Timaios 92 C. mit der These, daß nur das ins Bewußtsein eingehen könne, was durch Unterscheidungen bestimmt werden könne.
195 201
Die Darstellung dieses Prozesses mit Begriffen wie Imitation oder Diffusion leistet zu wenig und begünstigt die Dieser Weltbegriff ist mit der zweiwertigen Logik der Tradition nicht zu fassen. Weder kann er zugleich positiv und
Vorstellung, daß es sich um einen in eine Richtung verlaufenden Prozeß handele. Tatsächlich verändert die Abgabe jedoch negativ bezeichnet werden, weil dies dem Ausschluß von Widersprüchen zuwiderlaufen würde; noch steht für die
auch das abgebende System, und nicht zuletzt daran kann man erkennen, daß die stets zirkuläre Kommunikation, soweit sie Bezeichnung von Welt ein dritter Wert zur Verfügung. Die Tradition kam also, wie man rückblickend sieht, gar nicht
reicht, Weltgesellschaft produziert. umhin, die Welt als Objektmenge (aggregatio corporum, universitas rerum) aufzufassen.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 67 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 68
202
Unterschied zu Nichtmitgliedern (etwa Christen im Unterschied zu Heiden) zu definieren. Denn die des Weltgesellschaftssystems, und erzeugt damit eine durch die Umwelt nicht mehr determinierbare, interne
Funktionssysteme wie Wirtschaft oder Wissenschaft, Politik oder Erziehung, Krankenbehandlung oder Recht Unbestimmtheit offener Kommunikationsmöglichkeiten, die nur mit Eigenmitteln, nur überSelbstorganisation
stellen jeweils eigene Anforderungen an ihre eigenen Grenzen, die sich nicht mehr konkret in einem Raum oder in Form gebracht werden kann. Außerdem kommt es seit der Erfindung des Buchdrucks — und auch hier
im Hinblick auf eine Menschengruppe integrieren lassen. zunächst allmählich und schließlich irreversibel — zu einer enormen Vermehrung und Verdichtung des
Ihre letzte, unschlagbare Evidenz gewinnt die Weltgesellschaft schließlich aus der Umstellung der Kommunikationsnetzes der Gesellschaft. Im Prinzip ist die Gesellschaft heute von demographischen
Zeitsemantik auf das Schema Vergangenheit/Zukunft und, innerhalb dieses Schemas, aus der Verlagerung der Vermehrungen oder Verminderungen der Bevölkerung unabhängig. Für die Fortsetzung der Autopoiesis des
203
Primärorientierung aus der Vergangenheit (Identität) in die Zukunft (Kontingenz). Auf ihre Herkunft und Gesellschaftssystems auf dem erreichten Entwicklungsniveau steht auf alle Fälle genug Kapazität zur
ihre Traditionen hin betrachtet macht die Weltgesellschaft nach wie vor einen regional deutlich differenzierten Verfügung. Und sobald man das merkt, kann man dazu übergehen, Bevölkerungswachstum nicht mehr als
Eindruck. Fragt man jedoch nach der Zukunft, so läßt sich kaum mehr bestreiten, daß die Weltgesellschaft ihr Segen, sondern als Problem, wenn nicht als Fluch zu beschreiben.
Schicksal in sich selbst aushandeln muß — in ökologischer wie in humaner, in wirtschaftlicher wie in Schließlich wurden alle Funktionssysteme operativ auf ein Beobachten zweiter Ordnung, auf ein
technischer Hinsicht. Die Differenz der Funktionssysteme interessiert im Hinblick auf ihre Folgen für die Beobachten von Beobachtern umgestellt, das sich auf die jeweils systeminternen Perspektiven der
Zukunft. Unterscheidung von System und Umwelt bezieht. Damit verliert die Gesellschaft die Möglichkeit einer
Das, worin alle Funktionssysteme übereinkommen und worin sie sich nicht unterscheiden, ist nur noch verbindlichen Weltrepräsentation. Die damit einhergehende Anerkennung kultureller Diversität — und dafür
204
die Tatsache kommunikativen Operierens. Abstrakt gesehen ist Kommunikation, um diese paradoxe ist der reflexive (Kultur als Kultur reflektierende) Kulturbegriff gegen Ende des 18. Jahrhunderts eingeführt
207
Formulierung zu wiederholen, die Differenz, die im System keine Differenz macht. Als worden — erfordert die Aufgabe des am Ding orientierten Weltbegriffs. Er wird durch die Annahme einer
Kommunikationssystem unterscheidet die Gesellschaft sich von ihrer Umwelt, aber dies ist eine externe, keine unbeobachtbaren Welt ersetzt. Alles kommt darauf an, welche Beobachter man beobachtet, und in der
interne Grenze. Für alle Teilsysteme der Gesellschaft sind Grenzen der Kommunikation (im Unterschied zu rekursiven Wiederverwendung von Beobachtungen im Beobachten ergibt sich nur noch eine unbeobachtbare
Nichtkommunikation) die Außengrenzen der Gesellschaft. Darin, und nur darin, kommen sie überein. An Einheit — die Gesamtwelt als Einheitsformel aller Unterscheidungen.
diese Außengrenze muß und kann alle interne Differenzierung anschließen, indem sie für die einzelnen Ferner haben die neuen Kommunikationstechnologien und vor allem das Fernsehen Auswirkungen, die
Teilsysteme unterschiedliche Codes und Programme einrichtet. Sofern sie kommunizieren, partizipieren alle kaum zu überschätzen sind. Sie bagatellisieren, wenn man so sagen darf, den Platz, von dem aus man etwas
Teilsysteme an der Gesellschaft. Sofern sie in unterschiedlicher Weise kommunizieren, unterscheiden sie sich. sieht. Was man im Fernsehen sieht, findet anderswo statt und trotzdem nahezu gleichzeitig (jedenfalls
Geht man von Kommunikation als der elementaren Operation aus, deren Reproduktion Gesellschaft unabhängig von der Reisezeit, die man benötigen würde, um den Ort zu erreichen, an dem man das Geschehen
konstituiert, dann ist offensichtlich in jeder Kommunikation Weltgesellschaft impliziert, und zwar ganz unmittelbar miterleben könnte). Aber diese Bagatellisierung des Standortes löst keinen Zweifel an der Realität
unabhängig von der konkreten Thematik und der räumlichen Distanz zwischen den Teilnehmern. Es werden des Geschehens aus. Die Realität wird rein zeitlich gesichert durch das Erfordernis realzeitlicher
immer weitere Kommunikationsmöglichkeiten vorausgesetzt und immer symbolische Medien verwendet, die Gleichzeitigkeit von Filmaufnahme und Geschehen, und dies trotz aller Tricks der selektiven Montage
205
sich nicht auf regionale Grenzen festlegen lassen. Dies gilt selbst für die Bedingungen, unter denen man mehrerer gleichzeitiger Aufnahmen und bei allen eingeplanten Zeitdifferenzen zwischen Aufnahme und
206
über territoriale Grenzen spricht. Denn auf der anderen Seite jeder Grenze gibt es wiederum Länder mit Sendung. (Oder anders gesagt: man kann nichts filmen, bevor es geschieht oder nachdem es geschehen ist.)
Grenzen, die ihrerseits eine andere Seite haben. Dies ist natürlich "nur" ein theoretisches Argument, das bei Auch sonst darf man vermuten, daß Raumerleben dank größerer Bewegungsspielräume und
einer anderen Begrifflichkeit entfiele. Aber der Realitätsgehalt eines solchen "Landkartenbewußtseins" ist Geschwindigkeiten vom Platzbezug auf Bewegungsbezug umgestellt wird. Dem passen sich dann
gleichwohl hoch, denn es wird heute kaum eine erfolgreiche Kommunikation geben, die diese Tatsache der Vorstellungen über die Welt als Rahmen der Erreichbarkeit von Wahrnehmung und Kommunikation an.
Grenzen hinter Grenzen in Zweifel zieht. Weltgesellschaft ist das Sich-ereignen von Welt in der Dies wiederum setzt eine Bedingung voraus, die seit dem 19. Jahrhundert die Umrechenbarkeit aller
Kommunikation. Lokalzeiten garantiert: die bereits erwähnte Zeitzoneneinteilung des Erdballs. Das macht es möglich, ohne
Von minimalen Unschärfen abgesehen (etwa bei Zweifeln, ob wahrnehmbares Verhalten als Mitteilung Verankerung in den physikalischen Gegebenheiten der Tages- und Nachtzeiten von einer Gleichzeitigkeit allen
gemeint war oder nicht) sind die Grenzen des Gesellschaftssystems durch die Operationsweise des Weltgeschehens auszugehen, auch wenn Kommunikation darüber an einem Ort nachts eintrifft, während es
Kommunizierens völlig klar und eindeutig gezogen. Ambivalenzen bleiben möglich und werden gepflegt (etwa woanders Tag ist. Dem folgt dann die Temporalisierung der Differenz von anwesend und abwesend. Man
in den Formen von rhetorischer Paradoxierung, Humor oder Ironie), aber sie werden als zu wählende und zu kann über den ganzen Erdball hinweg an gleichzeitigen Ereignissen teilnehmen bzw. durch Kommunikation
verantwortende, Rückfragen ausgesetzte Ausdrucksweisen gehandelt. Die Eindeutigkeit der Außengrenze (= Gleichzeitigkeit herstellen, auch wenn es sich um für Interaktion und Wahrnehmung Unerreichbares handelt.
die Unterscheidbarkeit von Kommunikation und Nichtkommunikation) ermöglicht die operative Schließung In diesem Sinne ist dann nur noch das Vergangene oder das Zukünftige schlechthin abwesend.
Mit diesen strukturellen Verschiebungen verändert sich der Weltbegriff. In der alten Welt konnte man
202
Zu dieser Tradition und ihrem Auslaufen im 18. Jahrhundert vgl. Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen
darüber diskutieren, ob die Welt endlich sei oder unendlich, und ob sie einen Anfang habe und ein Ende haben
Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, zit. nach dem Abdruck in ders., Vergangene Zukunft: Zur Semantik werde oder nicht. Diese Kontroverse war deshalb ebenso unvermeidlich wie unentscheidbar, weil man keine
208
geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, S. 211-259; Rudolf Stichweh, Fremde, Barbaren und Menschen: Vorüberlegungen Grenze denken kann, ohne eine andere Seite der Grenze mitzudenken. Nicht auf dieser Dimension liegt die
zu einer Soziologie der 'Menschheit', in: Peter Fuchs / Andreas Göbel (Hrsg.), Der Mensch — das Medium der Veränderung. Nach heutiger Auffassung ist die Welt weder ein schönes Lebewesen, noch eine aggregatio
Gesellschaft?, Frankfurt 1994, S. 72-91.
203
Hierzu ausführlicher Kap. 5, ......
207
204 Ein wichtiger Schritt in dieser Richtung waren Kants Thesen von der Unendlichkeit des Weltraums, der
Roland Robertson, Globalization: Social Theory and Global Culture, London 1992, S. 60, wendet hiergegen ein, dieser
Unabgeschlossenheit der Schöpfung und vom "unvermeidlichen Hang, den ein jegliches zur Vollkommenheit gebrachtes
Begriff behandele das globale System als "an outcome of processes of basically intra-societal origin". Das ist richtig, zeigt
Weltgebäude nach und nach zu seinem Untergange hat" in: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1975),
aber nur, daß es in der Kontroverse um den Gesellschaftsbegriff geht. Die Gegenseite müßte jetzt zeigen, daß ein
7. Hauptstück, Zitat S. 109 der Ausgabe J.H. von Kirchmann, Leipzig 1872.
Gesellschaftsbegriff möglich ist, der gesellschaftsexterne Kommunikation vorsieht. Damit fällt man in die Schwierigkeiten
208
zurück, die sich ergeben, wenn man trotz allem Zugeständnis von Globalisierung an einer Mehrheit von Gesellschaften Siehe aus dem reichen ideengeschichtlichen Schrifttum etwa Pierre Duhem, Le système du monde: Histoire des
festhalten will. doctrines cosmologiques de Platon à Copernic, 2. Aufl. Paris ab 1954. Ferner etwa R. Mondolfo, L'infinito nel pensiero dei
205 Greci, Firenze 1934; Charles Mugler, Deux thèmes de la cosmologie Grecque: Devenir cyclique et pluralité des mondes,
Für ein ähnliches Argument siehe Rudolf Stichweh, Zur Theorie der Weltgesellschaft, Soziale Systeme 1 (1995), S. 29-
Paris 1953; A.P. Orbán, Les dénominations du monde chez les premiers chrétiens, Nijmegen 1970; James F. Anderson,
45.
Time and Possibility of an Eternal World, Thomist 15 (1952), S. 136-161; Anneliese Maier, Diskussionen über das aktuell
206
Vgl. Franco Cassano, Pensare la frontiera, Rassegna Italiana di Sociologia 36 (1995), S. 27-39. Unendliche in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, Divus Thomas 25 (1947), S. 147-166, 317-337.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 69 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 70
211
corporum. Sie ist auch nicht die universitas rerum, also nicht die Gesamtheit der sichtbaren und der einer Forderung, die zu sich selbst keine Alternativen zuläßt. Man kann nach all dem nicht davon ausgehen,
unsichtbaren Sachen, der Dinge und der Ideen. Sie ist schließlich auch nicht die ausfüllungsbedürftige daß die Welt ein "Ganzes" sei, das in "Teile" gegliedert sei. Sie ist vielmehr eine unfaßbare Einheit, die auf
Unendlichkeit, nicht der absolute Raum oder die absolute Zeit. Sie ist keine Entität, die alles "enthält" und verschiedene, und nur auf verschiedene, Weisen beobachtet werden kann. Ihre "Dekomposition" ist nicht
212
dadurch "hält". All diese Beschreibungen und noch viele andere können in der Welt angefertigt werden. Die auffindbar, sie kann nur konstruiert werden, und dies setzt die Wahl von Unterscheidungen voraus. Dem
Welt selbst ist nur der Gesamthorizont alles sinnhaften Erlebens, mag es sich nach innen oder nach außen trägt der radikale Konstruktivismus in der Weise Rechnung, daß er Welt als unbeschreibbar voraussetzt und
richten und in der Zeit voraus oder zurück. Sie ist nicht durch Grenzen geschlossen, sondern durch den in ihr das Geschäft der Selbstbeobachtung der Welt in der Welt auf die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung
aktivierbaren Sinn. Die Welt will nicht als Aggregat, sondern als Korrelat der in ihr stattfindenden verlegt.
209
Operationen verstanden sein. Sie ist, um erneut auf die Terminologie von George Spencer Brown All dies ist mitgemeint, wenn wir die moderne Gesellschaft als Weltgesellschaft bezeichnen. Einerseits
210
zurückzugreifen, das Korrelat der Einheit einer jeden Form; oder das, was als "unmarked state" durch jede heißt dies, daß es auf dem Erdball und sogar in der gesamten kommunikativ erreichbaren Welt nur eine
Zäsur, durch die Grenzlinie der Form, verletzt wird und danach nur noch unterscheidungsrelativ, also nur Gesellschaft geben kann. Das ist die strukturelle und die operative Seite des Begriffs. Zugleich soll der
noch in der Bewegung von der einen zur anderen Seite abzutasten ist. Und für einen systemtheoretischen Ausdruck Weltgesellschaft aber auch sagen, daß jede Gesellschaft (und im Rückblick gesehen: auch die
Weltbegriff heißt dies, daß die Welt die Gesamtheit dessen ist, was für ein jedes System System-und-Umwelt Gesellschaften der Tradition) eine Welt konstruiert und das Paradox des Weltbeobachters dadurch auflöst.
ist. Die dafür in Frage kommende Semantik muß plausibel sein und zu den Strukturen des Gesellschaftssystems
Die alte Welt war voll unergründlicher "Geheimnisse", ja sie war so wie das Wesen der Dinge und der passen. Die Weltsemantik variiert mit der strukturellen Evolution des Gesellschaftssystems; aber: das zu
Wille Gottes selbst ein Geheimnis und nicht, oder nur sehr begrenzt, zur Erkenntnis, wohl aber zur staunenden sehen und das zu sagen, gehört zur Welt unserer Gesellschaft, ist ihre Theorie und ihre
Bewunderung geschaffen. Schon das Namengeben mußte als gefährlich gelten, weil es die Welt für Geschichtskonstruktion. Und nur wir können beobachten, daß die alten Gesellschaften sich selbst und ihre
Kommunikation erschließt, und entsprechend war das Kennen der Namen dem Zauber verwandt, der die Welt so nicht beobachten konnten.
Natur provoziert, aus sich herauszutreten. Auch das entsprach der räumlichen Begrenztheit des Mit ihren besonderen Merkmalen ist die moderne Welt wiederum ein genaues Korrelat der modernen
Gesellschaftsverständnisses, bei dem schon einige Meter unter dem Boden oder auf den Gipfeln der höchsten Gesellschaft. Zu einer Gesellschaft, die sich als Natur beschrieb, die aus Menschen besteht, paßte eine Welt,
Berge oder jenseits der Horizontlinie des Meeres das Unbekannte und Unvertraute beginnen konnte. Die die aus Dingen (im Sinne von lateinisch res) besteht. Einer Gesellschaft, die sich als operativ geschlossenes
moderne Welt ist nicht mehr als Geheimnis zu verehren und zu fürchten. Sie ist in genau diesem Sinne nicht Kommunikationssystem beschreibt und die sich ausdehnt oder schrumpft je nach dem, wie viel kommuniziert
mehr heilig. Sie bleibt gleichwohl unzugänglich, weil sie zwar operativ zugänglich (zum Beispiel prinzipiell wird, entspricht eine Welt mit genau den gleichen Merkmalen: eine Welt, die sich ausdehnt oder schrumpft je
erforschbar) ist, aber jede Operation des Kennenlernens und Kommunizierens für sich selbst unzugänglich ist. nach dem, was vorkommt. Ältere Gesellschaften waren hierarchisch und nach der Unterscheidung von
In der Welt kann beobachtet werden. Aber der Beobachter selbst fungiert in dieser Operation als der Zentrum und Peripherie organisiert. Dem entsprach ihre Weltordnung, die eine Rangordnung (eine series
ausgeschlossene Dritte. Die Einheit der Welt ist somit kein Geheimnis, sie ist ein Paradox. Sie ist das Paradox rerum) und ein Zentrum vorsah. Die Differenzierungsform der modernen Gesellschaft zwingt dazu, diese
des Weltbeobachters, der sich in der Welt aufhält, aber sich selbst im Beobachten nicht beobachten kann. Strukturprinzipien aufzugeben, und entsprechend hat diese Gesellschaft eine heterarchische und eine
Damit scheint sich eine Prämisse aufzulösen, die in der alten Welt unbesonnen vorausgesetzt war. Sie azentrische Welt. Ihre Welt ist Korrelat der Vernetzung von Operationen und von jeder Operation aus gleich
besagt: die Welt sei für alle Beobachter dieselbe Welt, und sie sei durch Beobachtung bestimmbar. Der zugänglich. Ältere Gesellschaften sahen auf Grund der Form ihrer Differenzierung die feste Inklusion von
restliche Problemzustand wurde dann der Religion überlassen, die die Transformation von Unbestimmbarkeit Menschen in bestimmten Sozialpositionen vor. Deshalb mußten sie die Welt als Gesamtheit der Dinge
in Bestimmbarkeit zu erklären hatte. Sobald man das Weltverhältnis des Beobachtens problematisiert, löst begreifen. Die moderne Gesellschaft hat als Folge ihrer funktionalen Differenzierung diese
diese Metaeinheit von Einheit (Selbigkeit für alle) und Bestimmbarkeit sich auf, und die gegenteilige Annahme Inklusionsvorstellung aufgeben müssen. Der neuzeitliche Individualismus und vor allem die Freiheitsthematik
wird plausibler. Sofern die Welt für alle Beobachter (für jede Wahl einer Unterscheidung) dieselbe ist, ist sie des 19. Jahrhunderts gaben daher einen wichtigen Anlaß, eine Vorstellung von Weltgesellschaft
213
unbestimmbar. Sofern sie bestimmbar ist, ist sie nicht für alle Beobachter dieselbe, weil Bestimmung auszubilden. Aber auch unabhängig davon hat funktionale Differenzierung Auswirkungen auf den
Unterscheidungen erfordert. Eben deshalb wird die Frage akut, ob und wie das Gesellschaftssystem das Weltbegriff. Die moderne Gesellschaft regelt ihre eigene Ausdehnung, die moderne Welt auch. Die moderne
Beobachten so verknüpft, daß die Autopoiesis von Kommunikation möglich bleibt, auch wenndie Welt, sei es Gesellschaft kann sich nur selber ändern und ist deshalb zu ständiger Selbstkritik aufgelegt. Sie ist eine
als unbestimmbar, sei es als verschieden bestimmbar vorausgesetzt werden muß. Gerade unter dieser selbstsubstitutive Ordnung. Die moderne Welt auch. Auch sie kann nur in der Welt sich ändern. Die Semantik
Bedingung wird die Gesellschaft das primordiale Weltverhältnis des Beobachtens. von Modernität/Modernisierung ist dafür einer der wichtigsten Indikatoren — und dies nicht als
Wie eine umfangreiche Debatte über "Relativismus" und "Pluralismus" zeigt, fällt es schwer, aus dieser
Sachlage die erkenntnistheoretischen Konsequenzen zu ziehen. Man geht so weit, zuzugestehen, daß alle 211
Es ist, anders gesagt, logisch naiv, den weltweit grassierenden Fundamentalismus mit einer Ethik des Pluralismus zu
Gesellschaften, Kulturen usw. eine "eigene Welt" erzeugen und daß man dies in den Sozialwissenschaften zu
bekämpfen. Fundamentalismus ist eine ansteckende Krankheit, die besonders auch ihre Gegner infiziert. Vgl. dazu Peter
akzeptieren hat. Aber dann bleibt der Standort des Beobachters, der Pluralismus akzeptiert, ungeklärt. Man M. Blau, Il paradosso del multiculturalismo, Rassegna Italiana di Sociologia 36 (1995), S. 53-63.
wird ihn kaum, in Gottnachfolge, als weltlosen Beobachter beschreiben können oder als "freischwebende" 212
Eine ähnliche Auffassung findet man im übrigen bereits bei Henri Bergson, L'évolution créatrice (1907), zit. nach der
Intelligenz. Es muß also eine Erkenntnistheorie gefunden werden, die es erlaubt, ihn als Beobachter anderer
52. Aufl. Paris 1940, insb. Kap. 1 mit bezug auf mechanistische und finalistische Weltbeschreibungen.
Beobachter in der Welt zu lokalisieren, obwohl alle Beobachter, er eingeschlossen, verschiedene
213
Weltentwürfe erzeugen. Es kann deshalb keine pluralistische Ethik geben, oder wenn, dann nur als Paradox Hegel spricht deshalb in einem sehr bestimmten Sinne von "Weltgeschichte". Siehe dazu vor allem Joachim Ritter,
Hegel und die französische Revolution, zit. nach der Ausgabe in: Joachim Ritter, Metaphysik und Politik: Studien zu
Aristoteles und Hegel, Frankfurt 1969, S. 183-255. Dort heißt es (aus Anlaß von Überlegungen zum Problem der
Kolonisation): "Die industrielle bürgerliche Gesellschaft ist daher für Hegel schließlich durch ihr eigenes Gesetz dazu
bestimmt, zur Weltgesellschaft zu werden; die für das Verhältnis der politischen Revolution zur Weltgeschichte
entscheidende Beziehung der Freiheit auf die Menschheit und den Menschen als Gattung ist in dieser potenziellen
209 Universalität der bürgerlichen Gesellschaft begründet." (222). Die Überlegung, daß man aus der Individualität des
Die Einwände dagegen sind bekannt. Sie denunzieren eine solche Position als "Relativismus", und dies mit Recht, wenn
Menschen auf Weltgesellschaft schließen müsse, findet sich bereits bei John Locke, Two Treatises of Civil Government II
man dabei eines von den zahlreichen Bewußtseinssystemen im Auge hat. Aber wir meinen hier nicht ein Korrelat von
§ 128, zit. nach der Ausgabe der Everyman's Library, London 1953, S. 181: "... he and all the rest of mankind are one
Bewußtsein, sondern ein Korrelat von Kommunikation, und nicht ein Bezweifeln der Realität der Dinge, sondern das
community, make up one society distinct from all other creatures, and were it not for the corruption and viciousness of
Problem der Einheit, das sich immer stellt, wenn man Unterscheidungen einsetzt, um Informationen zu gewinnen.
degenerate men, there would be no need of any other, no necessity that men should separate from this great and natural
210
Siehe Spencer Brown a.a.O. S. 5. community and associate into lesser combinations."
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 71 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 72

Konvergenzthese, sondern deshalb, weil sie es erlaubt, die Regionen der Weltgesellschaft als mehr oder Sinne eines Systems, das segmentär in Nationalstaaten differenziert ist und nicht etwa funktional in
219
weniger modernisiert (entwickelt) darzustellen, und über diese Unterscheidung eine vollständige Beschreibung unterschiedliche Funktionssysteme. Andererseits dürfte kaum zu bestreiten sein, daß ungeachtet aller
mit möglicherweise wechselnden Auszeichnungen ermöglicht. Nichts ist nicht mehr oder weniger modern. Und regionalen Besonderheiten und ungeachtet aller Unterschiede in den ideologischen Ausrichtungen der Politik
wenn die Gesellschaft aus der Gesamtheit aller Kommunikationen besteht, ist die übrige Welt zur das, was überhaupt gemeint ist, wenn man von "Staat", Schulen usw. spricht, durch die moderne, weltweite
220
Sprachlosigkeit verurteilt. Sie zieht sich ins Schweigen zurück. Ja nicht einmal das ist ein angemessener "Kultur" vorgegeben ist.
Begriff, da Schweigen nur kann, wer kommunizieren könnte. Fragt man nach einer Begründung für das Festhalten an einem regionalen Gesellschaftsbegriff, so wird
Und was wird dann aus Gott? Parallel zur Gesellschaftsentwicklung gibt es ein ständiges Abschwächen in der Regel auf die krassen Unterschiede im Entwicklungsstand der einzelnen Regionen des Erdballs
der Figur "Kommunikation durch oder mit Gott", und heute wird die Kommunikation Gottes nur noch als ein hingewiesen. Das Faktum ist selbstverständlich weder zu bestreiten noch in seiner Bedeutung abzuschwächen.
historisches, textlich fassbares Faktum dargestellt: als eine ein für allemal geschehene Offenbarung. Wie sehr Bei genauerem Zusehen zeigt sich jedoch, daß die Soziologie hier einem Artefakt ihrer vergleichenden
die Religion mit dieser Figur auf eigene Anpassungsfähigkeit verzichtet, ohne andererseits eine Möglichkeit zu Methodologie aufsitzt. Wenn man regional vergleicht, erscheinen verständlicherweise regionale Unterschiede,
sehen, Gott um eine Kommentierung der Moderne zu bitten, kann man nur ahnen. eingeschlossen Unterschiede, die im Laufe der Zeit zunehmen. Wenn man dagegen historisch vergleicht,
Trotz der unübersehbaren weltweiten Zusammenhänge in der modernen Gesellschaft leistet die erscheinen übereinstimmende Trends, etwa die weltweite Auflösung von Familienökonomien in allen
Soziologie nachdrücklichen Widerstand, wenn es darum geht, dieses globale System als Gesellschaft Schichten oder die weltweite Abhängigkeit der Lebensführung von Technik und weltweit unausgeglichene
anzuerkennen. Wie im alltäglichen Sprachgebrauch ist es auch in der Soziologie ganz üblich, von italienischer demographische Entwicklungen, die es früher in diesem Ausmaß nicht gegeben hat. Auch hat die funktionale
Gesellschaft, spanischer Gesellschaft usw. zu sprechen, obwohl Namen wie Italien oder Spanien in einer Differenzierung der Gesellschaft in der Weltgesellschaft einen so starken Rückhalt, daß sie sich regional auch
Theorie schon aus methodologischen Gründen nicht verwendet werden sollten. Parsons hat sehr überlegt die mit stärkstem Einsatz politischer und organisatorischer Mittel nicht boykottieren läßt. Dies lehrt vor allem der
214 221
Formulierung "The System of Modern Societies" als Buchtitel gewählt. Immanuel Wallerstein spricht zwar Zusammenbruch des Sowjetimperiums.
von world-system, meint damit aber ein System der Interaktion verschiedener regionaler Gesellschaften, und Je nach Ansatz der vergleichenden Perspektive kann man die Divergenz oder Ähnlichkeit in der
215
dies auch für die Moderne. Und vor allem Autoren, die dem modernen Staat eine gesellschaftstheoretisch regionalen Entwicklung beleuchten. Methodologisch ist diese Diskrepanz nicht aufzulösen, und man kann
zentrale Rolle zusprechen (aber weshalb?) lehnen es aus diesem Grunde ab, das globale System als wissen, daß man sie mit der Wahl der Vergleichsperspektive reproduziert. Eben deshalb muß eine Theorie
216
Gesellschaft anzuerkennen. Das Phänomen der modernen Gesellschaft erscheint dann in der Figur des gesucht werden, die mit solchen Unterschieden kompatibel ist und sie interpretieren kann. Eine solche Theorie
217
"response to globalities". Wir hatten diese Fixierung oben bereits als eine der gegenwärtigen wird nicht behaupten (denn dafür gibt es wenig Anhaltspunkte), daß regionale Unterschiede allmählich
222
Erkenntnisblockierungen der Gesellschaftstheorie gekennzeichnet. Auch Politikwissenschaftler sprechen im verschwinden würden (Konvergenzthese). Andererseits ist damit die Annahme einer Weltgesellschaft nicht
218
allgemeinen nur von "internationalen Beziehungen" oder "internationalem System" , richten ihr Augenmerk widerlegt. Das Ungleichheitsargument ist kein Argument gegen, sondern ein Argument für Weltgesellschaft.
also primär auf den Nationalstaat, und wenn sie ausnahmsweise von Weltgesellschaft sprechen, dann im Das Interesse an Entwicklung ebenso wie das Interesse an der Erhaltung der mannigfaltigen kulturellen
Gegebenheiten der einzelnen Länder ist ja selbst ein durch die Gesellschaft geformtes Interesse, und das wird
214
besonders evident, wenn man an die typisch moderne Paradoxie des gleichzeitigen Strebens nach Veränderung
Siehe Talcott Parsons, The System of Modern Societies, Englewood Cliffs N.J. 1971.
und Bewahrung denkt. Erneut auf den Formbegriff von Spencer Brown zurückgreifend können wir auch
215
Das Spezifische des modernen Weltsystems ist dann nur die unbegrenzte Möglichkeit der Akkumulation von Kapital. sagen: Entwicklung ist eine Form, deren eine Seite (nach derzeitigem Verständnis) in der Industrialisierung
Siehe Immanuel Wallerstein, The Modern World-System Bd. III: The Second Era of Great Expansion of the Capitalist und deren andere in der Unterentwicklung besteht.
World-Economy, 1730-1840, San Diego 1989; ders., The Evolution of the Modern World-System, Protosoziologie 7 (1995),
Gerade der unterschiedliche Entwicklungsstand in den einzelnen Gebieten des Erdballs erfordert eine
S. 4-10. Auch Christopher Chase-Dunn, Global Formation: Structures of the World-economy, Oxford 1989, definiert im
Rahmen dieser Tradition ein world-system als "intersocietal and transsocietal relations" (S. 1), aber im Glossary fehlt ein gesellschaftstheoretische Erklärung, und diese kann nicht nach dem Jahrtausende alten Muster "Völkervielfalt"
Eintrag für den Begriff der Gesellschaft. Siehe auch Christopher Chase-Dunn / Thomas D. Hall, The Historical Evolution gegeben werden, sondern erfordert als Ausgangspunkt die Einheit des diese Unterschiede erzeugenden
of World-Systems: Iterations and Transformations, Protosoziologie 7 (1995), S. 23-34 (S. 23). Gesellschaftssystems. Es gibt zum Beispiel, vergleicht man die moderne Gesellschaft mit traditionalen
216
So z.B. Anthony Giddens, The Nation-State and Violence, Cambridge Engl. 1985; ders., The Consequences of Gesellschaften, einen weltweiten Trend zur Übertragung von Erziehungs- und Ausbildungsprozessen auf
Modernity, Stanford Cal. 1990, S. 12 ff.
217 219
Eine Formulierung und ein Forschungsthema von Roland Robertson a.a.O. (1992). Siehe auch Roland Robertson / Frank Siehe zum Beispiel John W. Burton, World Society, Cambridge Engl. 1972. Siehe immerhin S. 19: "But the study of
Lechner, Modernization, Globalization and the Problem of Culture in World-Systems Theory, Theory, Culture and Society world society is not confined to relations among states or state authorities. There are important religious, language,
11 (1985), S. 105-118. Zu "globalization" ohne zugrundeliegende Gesellschaftstheorie auch Mike Featherstone (Hrsg.), scientific, commercial and other relations in addition to a variety of formal, non-governmental institutions that are
Global Culture: Nationalism, Globalization and Modernity, London 1990. Vgl. ferner Giddens a.a.O. (1990), insb. S. 63 ff. world-wide". Aber die Orientierung an einem Nationen-bezogenen Differenzierungsschema und die Formulierung des
zu "globalisation", begriffen als Abstraktion und Auseinanderziehen von Raum/Zeit-Zusammenhängen. Wo immer auch Zusammenhalts dieser Weltgesellschaft über den blassen Begriff der "relations" hindern den Verfasser, dieser Einsicht
sonst von "Globalisierung" gesprochen wird, scheint ein Prozeß gemeint zu sein, der voraussetzt, daß eine Weltgesellschaft ausreichend nachzugehen.
noch nicht besteht. So explizit Margaret S. Archer, Forewood, in: Martin Albrow / Elisabeth King (Hrsg.), Globalization, 220
Siehe hierzu George M. Thomas et al., Institutional Structure: Constituting State, Society, and the Individual, Newbury
Knowledge and Society, London 1990, S. 1.
Park Cal. 1987, und darin insb. John W. Meyer, The World Polity and the Authority of the Nation-State (allerdings mit
218
Nachdrücklich verteidigt zum Beispiel Kurt Tudyka, "Weltgesellschaft — Unbegriff und Phantom, Politische ungeklärtem Gesellschaftsbegriff).
Viertelsjahresschrift 30 (1989), S. 503-508, den Begriff des "internationalen Systems" gegenüber dem in Mode 221
Dazu Nicolas Hayoz, Fiction socialistes et société moderne: Aspects sociologique du naufrage programmé de l'URSS,
kommenden Begriff der Weltgesellschaft. Die Begründung kann jedoch nicht überzeugen. Unklarheiten im Begriff der
Diss. Genf 1996.
Weltgesellschaft sind zuzugeben, da es an einer ausreichenden Gesellschaftstheorie fehlt. Aber der Begriff des
222
internationalen Systems ist noch viel unklarer, da man weder genau weiß, was eine Nation ist, noch vorgeführt bekommt, Auch früher hatte man, von Europa ausgehend, die Hoffnung auf Weltgesellschaft als Hoffnung auf Gleichartigkeit der
wie ein "inter" ein System sein kann. Brauchbarer ist es dann schon, von "Staatensystem" zu sprechen (so Klaus Faupel, Lebensbedingungen und des Zivilisationsstandes verstanden. "Das gestörte Gleichgewicht der eignen Kräfte macht den
Ein analytischer Begriff der Entspannung: Große Politik, Machtpolitik und das Ende des Ost-West-Konflikts, Zeitschrift einzelnen Menschen elend, die Ungleichheit der Bürger, die Ungleichheit der Völker macht die Erde elend", heißt es in
für Politik 38 (1991), S. 140-165). Dann ist klar, daß nur das politische System der Weltgesellschaft gemeint sein kann. Jean Pauls "Hesperus". Und weiter: "Ein ewiges Gleichgewicht von Europa setzt ein Gleichgewicht der vier übrigen
Und in der Tat: "Entspannung" findet man ja nicht als Zustand der Weltgesellschaft, sondern, wenn überhaupt, als Zustand Weltteile voraus, welches man, kleine Librationen abgerechnet, unserer Kugel versprechen kann. Man wird künftig
ihres politischen Systems. Bemerkenswert schließlich der Begriff der "transnational society" bei Gerhart Niemeyer, Law ebensowenig einen Wilden als eine Insel entdecken. Ein Volk muß das andere aus seinen Tölpeljahren ziehen. Die
Without Force: The Function of Politics in International Law, Princeton 1941, die dann allerdings nur als Netzwerk von gleichere Kultur wird die Kommerzientraktate mit gleichern Vorteilen abschließen". Zitate nach Jean Paul, Werke (Hrsg.
Privatinteressen begriffen wird. Norbert Miller) Bd. 1, München 1960, S. 871, 872.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 73 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 74

Schulen und Universitäten und zur Benutzung dieser Einrichtungen als Leitstellen für Karrieren und Gesellschaft. Das wäre nur sinnvoll, wenn die "Natur der Sache" die entsprechenden Kriterien anbieten und
223
Lebenschancen. Gerade diese neue Beweglichkeit ermöglicht es jedoch regionalen Unterschieden, sich die Begrifflichkeit vorschreiben würde. Diese Voraussetzung wird heute niemand mehr akzeptieren. Dann
224
ungleichheitsverstärkend auszuwirken. Und überall gelten heute Museen oder musealisiertes Wissen als muß man aber auch in der Theorie die Konsequenzen ziehen. Die Modernität der Gesellschaft liegt nicht in
Kontext, vor dem und gegen den sich neue Kunst als neu durchzusetzen hat; aber zugleich ist die Idee des ihren Merkmalen, sondern in ihren Formen, das heißt: in den Unterscheidungen, die sie verwendet, um ihre
universalen Museums gescheitert und die Kontexte, die funktional äquivalent das Sehen von Neuem kommunikativen Operationen zu dirigieren. Und die typisch modernen Sorge-Begriffe wie Entwicklung oder
ermöglichen, werden in zahllosen, auch regionalen Brechungen immer wieder neu erfunden. Nur die Struktur Kultur lenken die Aufmerksamkeit auf ganz spezifische Unterscheidungen (und, wie wir auf Grund der
Werk/Kontext hat sich weltgesellschaftlich durchgesetzt, aber gerade sie ermöglicht nun auch die Theorie des Beobachtens sagen können: ohne zu sehen, daß man dann nicht sieht, was man auf diese Weise
Differenzierung der Kontexte, die unterschiedlichen Innovationen unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten nicht sehen kann). Es ist nicht weiter erstaunlich, daß damit bestimmte Differenzen forciert werden und andere
bieten. Offensichtlich partizipieren die einzelnen Regionen in sehr unterschiedlichem Maße an den Vorteilen unsichtbar bleiben. Auf der Ebene der Unterscheidung von Unterscheidungen (oder: des Beobachtens von
und den Nachteilen funktionaler Differenzierung, und soweit Nachteile vorherrschen, scheinen die bereits Beobachtungen) bleibt der Vorgang kontingent. Aber jede Gesellschaft verdeckt sich ihre Kontingenzen, und
ausdifferenzierten Funktionssysteme, zum Beispiel Politik und Wirtschaft, einander wechselseitig zu die moderne Gesellschaft verdeckt sich — mit weniger Selbstsicherheit freilich, weil mit weniger Tradition —
behindern. Aber das rechtfertigt es nicht, von verschiedenen Regionalgesellschaften auszugehen; denn es ist die Kontingenzen von Entwicklung und Kultur. Statt dessen beobachtet man sich und sorgt man sich im
gerade die Logik funktionaler Differenzierung und der Vergleich — nicht mit anderen Gesellschaften, sondern Kontext der jeweils präferierten Unterscheidungen.
mit den Vorteilen der Vollrealisierung funktionaler Differenzierung, der diese Probleme ins Auge springen In der vormodernen Gesellschaft waren weitreichende interregionale Kontakte eine Angelegenheit einiger
läßt. weniger Familienhaushalte gewesen — sei es des Adels, sei es einiger großer Handelshäuser. Der Handel
Auch mit einem Seitenblick auf die Methodologie funktionaler Vergleiche läßt sich der Ausgangspunkt transportierte vor allem "Prestigegüter", die lokal die stratifikatorische Differenzierung sichtbar machten und
beim System der Weltgesellschaft gut begründen. Geht man von Regionalgesellschaften aus, wird man über verstärkten. Auf diese Weise blieb der Außenkontakt von Regionalgesellschaften an deren interne
eine Aufzählung und Zusammenstellung ihrer Besonderheiten nicht hinauskommen. Man wird Differenzierung angeschlossen. Diese beruhte zunächst auf der segmentären Differenzierung von
unterschiedliche kulturelle Traditionen, geographische Eigenarten der Länder, Rohstoffbasis, demographische Familienhaushalten und dann auf deren Aufgliederung, sei es unter dem Gesichtspunkt der Stratifikation, sei
Fakten etc. nachweisen an Hand dieser eher deskriptiven Kategorien Länder vergleichen können. Geht man es nach Stadt/Land-Unterschieden, sei es nach Berufen. Das ermöglichte jene Auszeichnung bestimmter
dagegen von der Weltgesellschaft und ihrer funktionalen Differenzierung aus, ergeben sich Anhaltspunkte für Haushalte für grenzüberschreitende Kontakte. In der heutigen Gesellschaft beruht Interregionalität auf der
die Probleme, mit denen die einzelnen Regionen sich konfrontiert finden. Dann kann man besser sehen und vor Operation oder Kooperation von Organisationen, vor allem der Wirtschaft, der Massenmedien, der Politik, der
allem besser erklären, weshalb gewisse Regionaldaten einen Unterschied machen und weshalb gegebene Wissenschaft, des Verkehrs. Die Wirtschaft ist nicht nur durch ihre Märkte (Finanzmärkte, Rohstoff- und
Differenzen sich verstärken oder abschwächen je nach dem, wie sie sich zirkulär mit weltgesellschaftlichen Produktmärkte, zunehmend sogar Arbeitsmärkte) weltweit verflochten; sie bildet auch entsprechend
227
Vorgaben vernetzen. Das wird sicher nicht zu linearen Kausalzurechnungen führen, wie sie in der operierende Organisationen, die versuchen, von den vorgefundenen Differenzen zu profitieren. Selbst der
225
Systemtheorie schon seit langem als überholt gelten. Man wird aber ein besseres Verständnis für Massentourismus wird organisiert. Intellektuelle könnten auf den ersten Blick als eine Ausnahme erscheinen;
überraschende, nicht prognostizierbare, nicht-lineare Kausalitäten gewinnen können, etwa für "dissipative aber was wären sie und wer kennte ihre Namen ohne Massenmedien? Auch Organisationen sind
Strukturen", für "Abweichungen verstärkende Effekte", für das Verschwinden von anfänglich bedeutsamen ausdifferenzierte Sozialsysteme, wir werden darauf zurückkommen, aber sie durchsetzen mit ihrer
Unterschieden und umgekehrt: für gewichtige Auswirkungen minimaler Differenzen, darunter nicht zuletzt des Eigendynamik die Funktionssysteme der Gesellschaft. Ihre Evolution folgt dem Entscheidungsbedarf und der
Zufallsfaktors regionaler "policies". Problemvorgaben für Vergleiche können natürlich auch abstrakt Notwendigkeit, Entscheidungen zu kommunizieren, um die Ausgangspunkte für weitere Entscheidungen
gewonnen werden, und die Systemtheorie ist für Anregungen dieser Art bekannt. Für die Untersuchung eines festzulegen. Sie legen sich zwischen die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme auf der einen und die
so komplexen Systems, wie die moderne Gesellschaft es ist, bietet es dagegen beträchtliche Vorteile, wenn Interaktionen unter Anwesenden auf der anderen Seite. Und sie machen in allen Sektoren der Gesellschaft
man schon auf der Ebene des Gesamtsystems mit empirisch gesättigten Problembegriffen arbeiten kann, etwa einen weltweiten Verbund unvermeidlich. Da dies aber in der Gesellschaft geschieht und nicht gegen die
mit der Frage, wie die Zentralmaschinerie des modernen Staates sich in ethnisch oder religiös oder tribal Gesellschaft, ist es kaum möglich, noch an einem regionalen Gesellschaftsbegriff festzuhalten.
gespaltene Regionen einführen läßt; oder mit der Frage, ob und wie sich unter weltwirtschaftlichen Auch wenn es unter modernen Bedingungen keine Regionalgesellschaften geben kann, könnte man
Bedingungen Arbeit in Regionen halten läßt, die mit hohen Konsum- und Lohnerwartungen rechnen müssen; immer noch daran denken, von einer regionalen Differenzierung des Weltgesellschaftssystems zu sprechen—
oder mit der Frage, welche Einrichtungen des Wissenschaftssystems eine Internationalisierung der so als ob die Gesellschaft sich in Subgesellschaften gliedern würde. Auch das hält jedoch einer genaueren
226
Forschungsthemen vorantreiben, wenn es keine globalen Forschungseinrichtungen gibt. Überlegung nicht stand. Eine primär regionale Differenzierung widerspräche dem modernen Primat
Von dieser Begrifflichkeit und dieser Vergleichsmethodik her gesehen, ist es das Merkmal eines funktionaler Differenzierung. Sie würde daran scheitern, daß es unmöglich ist, alle Funktionssysteme an
überholten Denkens, wenn man weiterhin gattungstheoretisch argumentiert und die "Ähnlichkeit" der einheitliche Raumgrenzen zu binden, die für alle gemeinsam gelten. Regional differenzierbar in der Form von
Lebensbedingungen in den einzelnen Ländern zur Voraussetzung macht für ihre Zuordnung zu einer Staaten ist nur das politische System und mit ihm das Rechtssystem der modernen Gesellschaft. Alle anderen
operieren unabhängig von Raumgrenzen. Gerade die Eindeutigkeit räumlicher Grenzen macht klar, daß sie
weder von Wahrheiten noch von Krankheiten, weder von Bildung noch vom Fernsehen, weder vom Geld
223
Dazu Francisco O. Ramirez / John Boli, Global Patterns of Educational Institutionalization, in: George W. Thomas et al. (wenn man Kreditbedarf mitberücksichtigt), noch von der Liebe respektiert werden. Anders gesagt: das
a.a.O. (1987), S. 150-172; John W. Meyer et al., School Knowledge for the Masses: World Models and National Primary Gesamtphänomen des umfassenden Systems Gesellschaft läßt sich nicht innerhalb von Raumgrenzen
Curricular Categories in the Twentieth Century, Washington 1992. Auch wenn man Lehrbücher aus Entwicklungsländern wiederholen so wie ein Mikrokosmos im Makrokosmos. Die Bedeutung der Raumgrenzen liegt in den
über Organisation und Planung des Schul-/Hochschulsystems konsultiert (z.B. Vicente Sarubbi Zaldivar, Una sistema de Interdependenzen zwischen dem politischen System und dem Rechtssystem auf der einen und den übrigen
educación para el Paraguay democrático, o.O., o.J. (Asunción) 1995 (?), findet man sich auf vertrautem Gelände. Funktionssystemen auf der anderen Seite. Sie wirken vermittelt durch Einflüsse der Währungsunterschiede
224
Siehe dazu im Blickwinkel vergleichender Erziehungsforschung Jürgen K. Schriewer, Welt-System und Interrelations- und Notenbanksysteme auf die Wirtschaft, vermittelt durch Bildungszertifikate auf Erziehung und
Gefüge: Die Internationalisierung der Pädagogik als Problem vergleichender Erziehungswissenschaft, Berlin 1994. Berufsordnungen. Solche Unterschiede lassen sich im Kontext einer Weltgesellschaft sehr wohl begreifen und
225
Siehe nur Edgar Morin, La Méthode Bd. 1, Paris 1977, S. 269 f. und passim. durch Politik verstärken oder abschwächen. Aber man würde ihre Spezifik verkennen, wollte man sie als
226
Vgl. hierzu Rudolf Stichweh, Science in the System of World Society, Social Science Information 35 (1996), S. 327-340.
227
Nach Stichwehs Ergebnissen sind es vor allem die Fachgebiete der Forschung und die von den heimischen Organisationen Ein heute viel diskutiertes Thema. Siehe nur Hans-Christoph Froehling / Andreas Martin Rauch, Die Rolle
nicht gerade begünstigten externen Kontakte einzelner Forscher, die hier wirksam werden. Multinationaler Konzerne in der Weltwirtschaft, Zeitschrift für Politik 42 (1995), S. 297-315.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 75 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 76

Unterschiede auf Regionalgesellschaften bzw. auf eine regionale Differenzierung des Gesellschaftssystems (5) Diese Differenz von Inklusion und Exklusion hat gravierende Effekte, weil sie einerseits durch die
beziehen. funktionale Differenzierung der Weltgesellschaft ausgelöst ist, andererseits die regionale Herstellung der
Nur wenn man von der Voraussetzung eines welteinheitlichen Gesellschaftssystems ausgeht, läßt sich Bedingungen funktionaler Differenzierung behindert, wenn nicht verhindert. Sie verhindert die
erklären, daß es auch und gerade heute (und viel mehr als zur Zeit archaischer Tribalgesellschaften) regionale Entwicklung hinreichend großer und differenzierter regionaler Märkte als Voraussetzung für
Unterschiede gibt, die aber nicht die Form von Systemdifferenzierung annehmen. Sie erklären sich aus marktorientierte Massenproduktion und macht die peripheren Länder damit in einer Weise
Unterschieden der Teilnahme an und der Reaktion auf die dominanten Strukturen des exportabhängig, die ihre Wirtschaften erheblichen Schwankungen aussetzt. Sie führt außerdem dazu, daß
Weltgesellschaftssystems. Dies wirkt sich von Region zu Region in sehr unterschiedlichem Maße aus, kann weite Bevölkerungskreise nicht ins Rechtssystem eingeschlossen sind, so daß der Code Recht/Unrecht des
hier im einzelnen also nicht behandelt werden. Dennoch lassen sich einige allgemeine Gesichtspunkte als Rechtssystems nicht, oder nur sehr begrenzt durchgesetzt werden kann. Entsprechend kann man sich nicht
Forschungsperspektiven wenigstens benennen: darauf verlassen, daß die Rechtsprogramme (Gesetze, eingeschlossen Verfassungsgesetze) die Zuordnung
(1) In dem Maße, als die Modernisierung im Sinne einer Diversifikation von Bedürfnissen fortschreitet, von Recht und Unrecht zu Tatbeständen tatsächlich regeln, obwohl auch dies natürlich in beträchtlichem
232
werden die Regionen abhängig vom Weltwirtschaftssystem, und zwar im Hinblick auf Produktion und Umfange geschieht, aber eben nach Maßgabe von Inklusion/Exklusion. Beides zusammen heißt, daß
Absatz, Arbeit und Kredite. Geld und Recht der Politik nur in begrenztem (und oft "korruptem") Sinne als Gestaltungsmittel zur
(2) Unter dem Regime der Funktionssysteme wirken sich gerade rationale Selektionsweisen Verfügung stehen. Entsprechend schwierig ist es, im Erziehungssystem der Schulen und Universitäten auf
abweichungsverstärkend (also nicht: egalisierend) aus. Wer schon Geld oder Einkommen hat, bekommt die Realitäten des Lebens vorzubereiten. Was man lernt, bleibt abstrakt und legitimiert sich weitgehend an
um so leichter Kredit. Kleine Leistungsdifferenzen am Beginn einer Schulerziehung verstärken sich im ausländischen Vorbildern. Das wiederum verweist die Rekrutierung für Karrieren auf andere, schicht- oder
Laufe fortschreitender Ausbildung. Wer nicht in Zentren wissenschaftlicher Forschung mit jeweils kontaktspezifische Mechanismen. Im Traditionsblick der Soziologen wird all dies immer noch durch
aktuellen Informationsmöglichkeiten arbeitet, verliert den Anschluß und kann bestenfalls mit erheblicher Schichtung erklärt; aber Schichtung wäre ja ein Prinzip sozialer Ordnung, während die Spaltung der
Verspätung zur Kenntnis nehmen, was anderswo erarbeitet worden ist. Nobelpreise zeigen in den Gesellschaft nach Inklusion/Exklusion, sofern sie mehr ist als ein bloßer entwicklungspolitischer
wissenschaftlichen Fächern eine deutlich regionale Verteilung. Die Folge ist ein Übergangszustand, Turbulenzen ganz anderer Art auslösen kann als bloße Aufstiegs-, Nivellierungs- oder
Zentrum/Peripherie-Muster, das jedoch nicht notwendig stabil bleibt, sondern sich in seinen Umverteilungsbemühungen.
228
Schwerpunkten verschieben kann. Die Erfindung bzw. Rekonstruktion einer eigenen Tradition ist (6) Die Unterschiede der Teilnahme an und der Abhängigkeit von weltgesellschaftlicher Modernisierung geben
229
ihrerseits ein weltgesellschaftliches Phänomen, das auf moderne Vergleichsmöglichkeiten reagiert. scheinbar anachronistischen Tendenzen Auftrieb, vor allem im Bereich der Religion und der innerhalb von
(3) Die scharfe Kontrastierung von traditionalen und modernen Gesellschaften hat man aufgeben müssen. Es Nationalstaaten sich entwickelnden ethnischen Bewegungen. Der Universalismus der weltgesellschaftlich
gibt unterschiedliche Bedingungen, unter denen sich traditionsbedingte Strukturen im Übergang zur operierenden Funktionssysteme schließt Partikularismen der verschiedensten Art nicht etwa aus, sondern
modernen Gesellschaft begünstigend auswirken. Die Weltgesellschaft seligiert sozusagen, was für sie an regt sie geradezu an. Die Leichtigkeit, mit der die Weltgesellschaft Strukturen ändert, wird so kompensiert
Tradition förderlich ist, etwa im Bereich von Schichtung, Organisation, Arbeitsmotivation oder durch eher bodenständige, jedenfalls abgrenzungsstarke Bindungen.
230
Religion. Deshalb findet man kaum noch autochton bedingte Lebensordnungen, wohl aber Zustände, die (7) Sicher gibt es nach wie vor auf der Interaktionsebene Probleme interkultureller Kommunikation,
sich durch differentielle Effekte erklären, die sich aus dem Aufeinandertreffen der weltgesellschaftlichen sprachliche Verständigungsschwierigkeiten und Mißverständnisse. Das hat jedoch mit dem Entstehen einer
233
Strukturvorgaben und Operationen und regionaler geographischer und kultureller Sonderbedingungen Weltgesellschaft nichts zu tun , sondern würde bei allen Kulturkontakten zu erwarten sein. Es mag
ergeben. jedoch eine bewährbare Hypothese sein, daß die Vielfalt der Kulturen mitsamt der Vielfalt ihrer
(4) Die Anpassung an den Entwicklungsstand der Weltgesellschaft durch politisch forcierte Industrialisierung Ethnozentrismen heute als bekannt gelten kann und Verständigungsprobleme daher weniger ethnozentrisch
und die damit einhergehende Verstädterung führen zur Auflösung der alten, auf Grundbesitz beruhenden auf die Fremden zugerechnet werden als früher.
Schichtungsstrukturen. Desgleichen lösen sich weltweit die kleinbetrieblichen Familienökonomien im Diese Argumente für Weltgesellschaft lassen sich empirisch gut absichern. Es fehlt bisher nur eine
landwirtschaftlichen wie im handwerklichen Sektor auf in mobiles Geld und mobile Individuen. Diese Theorie, die sie aufnehmen und verarbeiten könnte. Das viel diskutierte Konzept des kapitalistischen
234
werden (vorübergehend?) ersetzt durch eine scharfe Differenz von Inklusion/Exklusion mit entsprechender Weltsystems, das Immanuel Wallerstein ausgearbeitet hat , geht von einem Primat der kapitalistischen
Verarmung weiter Bevölkerungsteile, und der Staat wird zum Mechanismus der Erhaltung dieser Wirtschaft aus und unterschätzt damit den Beitrag anderer Funktionssysteme, vor allem der Wissenschaft
Differenz, besonders bei einer sich national gegen die Weltwirtschaft abschließenden sowie der Kommunikation durch Massenmedien. Das wird nicht ausreichend korrigiert, wenn man, eine
231
Entwicklungspolitik. Unterscheidung des 19. Jahrhunderts aufgreifend, die damals aber schichtbezogen gemeint war, Kultur gegen
235
Wirtschaft ausspielt. Erst wenn man die sehr verschiedenen Globalisierungstendenzen in den einzelnen

232
Siehe z.B. Volkmar Gessner Recht und Konflikt: Eine soziologische Untersuchung privatrechtlicher Konflikte in
Mexico, Tübingen 1976; Marcelo Da Costa Pinto Neves, Verfassung und positives Recht in der peripheren Moderne: Eine
theoretische Betrachtung und eine Darstellung des Falles Brasiliens, Berlin 1992; ders., A Constitucionalização Symbólica,
São Paulo 1994.

228
Speziell hierzu Edward Tiryakian, The Changing Centers of Modernity, in: Erik Cohen et al. (Hrsg.), Comparative 233
Anders wohl Horst Reimann (Hrsg.), Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft: Theorie und Pragmatik
Social Dynamics: Essays in Honor of S.N. Eisenstadt, Boulder Col. 1985, S. 121-147.
globaler Interaktion, Opladen 1992. Den Beiträgen zu diesem Band fehlt ein Gesellschaftsbegriff und daher auch die
229
Vgl. Eric Hobsbawm / Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. Möglichkeit, zu prüfen, was sich durch die Globalisierung von Kommunikation geändert haben könnte.
230 234
Umfangreiche Diskussionen hierzu beginnen in den 60er Jahren, und Japan ist eines der beliebtesten Beispiele. Siehe Siehe: The Modern World-System: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the
etwa Reinhard Bendix, Tradition and Modernity Reconsidered, Comparative Studies in Society and History 9 (1967), S. Sixteenth Century, New York 1974; The Capitalist World-Economy, Cambridge Engl. 1979; The Politics of the
292-346; Joseph R. Gusfield, Tradition and Modernity: Misplaced Polarities in the Study of Social Change, The American World-Economy, Cambridge Engl. 1984.
Journal of Sociology 72 (1967), S. 351-362; S.N. Eisenstadt, Tradition, Change and Modernity, New York 1973. 235
Vgl. Mike Featherstone (Hrsg.), Global Culture, Nationalism, Globalization and Modernity, London 1991; Roland
231
Ausführlicher dazu unten ... Robertson, Globalization, Social Theory and Global Culture, London 1992. Für einen Überblick über diese Diskussion
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 77 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 78

Funktionssystemen zusammenfassend vor Augen führt, wird das Ausmaß der Veränderung gegenüber allen Diese Welt ist in ihren strukturellen Bedingungen (Adelsgesellschaft) und in ihrer Semantik
traditionalen Gesellschaften erkennbar. Angesichts so heterogener Quellen der "Globalisierung" fehlt ein untergegangen. Das haben wir bei aller Bewunderung für das Vergangene zu akzeptieren; denn wir leben
einheitlicher Gesellschaftsbegriff. Das systemtheoretische Konzept der Gesellschaft als eines operativ heute. Wenn es aber so ist: können wir dann einen normativen Begriff von vernünftiger Rationalität festhalten,
geschlossenen autopoietischen Sozialsystems, das alle anderen Sozialsysteme, also alle Kommunikation in wie Jürgen Habermas vorschlägt? Und wenn wir das können: mit Hilfe welcher Unterscheidungen könnte
sich einschließt, versucht, diese Lücke zu füllen. dieser Begriff von Rationalität reformuliert werden?
Bei noch ungebrochenen Rationalitätsvertrauen werden erste Auflöseerscheinungen im 17. Jahrhundert
sichtbar. Das alte Rationalitätskontinuum der Natur (der wohlgeordneten Schöpfung) wird gespalten.
Rationalitätsansprüche werden, und Descartes ist der dafür maßgebende Autor, auf mentale Zustände, also
XI. Ansprüche an Rationalität auf Subjekte, reduziert. Das macht es möglich, Zwecke als Steuerungsvorstellungen, als Korrekturen am
Weltlauf, also als Devianzen aufzufassen und nicht mehr als Perfektionszustände der Natur selbst. Damit
Die humanistische Tradition Europas hatte dem Begriff, und damit den Erwartungen, von Rationalität wird erstmals das Problem der Wahl der Zwecke (und nicht mehr nur der Mittel für offenkundige Zwecke)
eine sehr spezifische Form gegeben und zugleich die Spezifik dieser Form durch die Selbstverständlichkeit akut. Alsbald unterscheidet man Motive und Zwecke, hält Motive für undurchschaubar (im Unterschied zu
einer Tradition verdeckt, die keine anderen Denkmöglichkeiten zuließ. Nach der Vorstellung dieser Tradition Interessen) und reflektiert die entsprechenden Probleme der Kommunikation von Aufrichtigkeit und der
gehörte ratio zur Natur des Menschen. Der Mensch wurde als Naturwesen durch Unterscheidung vom Tier Kriterien für Authentizität. Nicht nur das Rationalitätskontinuum der Natur, auch das Rationalitätskontinuum
bestimmt. Im Begriff der Natur wurde dabei, anders als heute, eine normative Komponente mitgedacht. Ein des Subjekts wird damit durch eine Unterscheidung, eben die von Motiv und Zweck, gespalten, so daß die
normativer Begriff von Rationalität gründete sich damit auf ein normatives Verständnis von Natur. Im weitere Reflexion sich nur noch mit Unterscheidungen befaßt, die das Rationalitätskontinuum verletzen. Diese
aristotelischen Kontext wurde Natur als eine auf ein Ende (télos) gerichtete Bewegung verstanden, die aber Auflösung der Zweckrationalität hat zunächst zur Konzeption anderer, besserer (rationalerer?) Arten von
nicht ohne weiteres sicherstellte, daß dies Ende auch erreicht werde. Vor allem unter "Geschichte" — im Rationalität geführt — etwa Wertrationalität (diszipliniert durch Folgenabwägungen) oder
Unterschied zu "Poesie" — verstand man bis in die Neuzeit hinein eine Sammlung von Tatsachen und Verständigungsrationalität (diszipliniert durch vernünftige Gründe). Sie hat heute den Punkt erreicht, an dem
Erfahrungen, die darüber belehren, was alles schiefgehen kann. In unsere Begriffssprache übersetzt galt télos man zugeben muß, daß über Zweckmäßigkeit nur zeitpunktabhängige Urteile möglich sind.
mithin als eine Zwei-Seiten-Form, nämlich als ein Zustand der Ruhe, der Befriedigung, der Perfektion, der Das 18. Jahrhundert beeindruckt noch heute durch Versuche, Rationalität wiederzugewinnen und als
erreicht oder auch verfehlt werden konnte. Der Gegenbegriff zu Perfektion war Korruption. Dem positiven Prinzip der Lebensführung zu festigen. Gegen Widerstand, und das verrät viel! Die Brüche im
Wert des natürlichen Zustandes stand ein Negativwert (stéresis, privatio) gegenüber, der ein Fehlen, ein Rationalitätskontinuum bleiben. Es ist das Jahrhundert der Aufklärung — und des Sentiments. Das
Scheitern anzeigte. Jahrhundert Newtons — und Münchhausens. Das Jahrhundert der Vernunft — und der Geschichte. Und es
Soziologisch gesehen ist es kein Zufall, daß dieses Konzept in den Adelstheorien jener Zeit und vor allem endet mit Hegels Problem der Entzweiung. Überall ist Rationalität jetzt die markierte Seite einer Form, die
237
in den Theorien über Adelserziehung eine genaue Entsprechung fand. Adelig war man durch Geburt in einer auch eine andere Seite hat. Deutlicher als zuvor wird das Insistieren auf Rationalität zur paradoxen
seit langem reichen Familie, und man mußte auf alle Fälle vermeiden, den Adel durch Schande zu verlieren. Kommunikation, aber nach wie vor versiegelt diese Kommunikation sich selber, denn es gibt keine guten
Aber das allein war nur imperfekter Adel. Die Perfektion, das télos des Adels erreichte man nur durch Gründe gegen Rationalität. Das Kreuzen der Grenze zur anderen Seite der Form wird als "Zynismus"
besondere Verdienste, durch jenes bene e virtuose vivere, das durch den Geburtsadel ermöglicht, aber noch behandelt.
236
nicht garantiert war. Erziehung sowie moralische Anleitung zur Lebensführung hatten die Aufgabe, den Schon im 18. Jahrhundert melden sich weitere Bruchstellen, zum Beispiel in Versuchen zu einer Theorie
238
Adeligen auf der Bahn seiner rationalen Perfektion zu stützen und ihn vor den Versuchungen der Korruption des Humors. Seit dem 19. Jahrhundert führen weitere Reduktionen den Rationalitätsbegriff auf Teilsysteme
zu bewahren. Auf seine Vorfahren sollte man sich erst berufen, wenn man sich durch eigene Leistungen der Gesellschaft zurück, und zwar entweder auf die wirtschaftliche Kalkulation der Nutzenverhältnisse von
hervorgetan hatte. Zwecken und Mitteln (Optimierung) oder auf die Anwendung wissenschaftlich gesicherten Wissens. Gegen
Mit all diesen, dann vielfältig verfeinerten, für Lehre und Erziehung, für Ethik und Rhetorik elaborierten Ende des 19. Jahrhunderts beginnt schließlich eine Auflösung des Rationalitätsbegriffs selbst, die dann eine
Aspekten bot das Konzept der Naturrationalität eine stabile Spannung an. Entsprechend wurde ein generelle Rationalitätsskepsis (Max Weber) erlauben wird. Auch das geschieht durch eine
Rationalitätskontinuum unterstellt, das alle Unterschiede übergreifen konnte — selbst den von Handeln und Unterscheidungstechnik. Der Rationalitätsbegriff selbst wird gespalten, etwa nach der alten Unterscheidung
Geschehen, selbst den von Denken und Sein. Im Rückblick kann man erkennen, daß die Spannung zwischen von poiesis und praxis in Zweckrationalität und Wertrationalität oder, wie mit einem späten Echo, bei Jürgen
Realität und Rationalität in der teleologischen Form und in der Unterscheidung von der Perfektion/Korruption Habermas in die Rationalität strategischen bzw. kommunikativen Handelns (monologische bzw. dialogische
239
aufgefangen und stabilisiert wurde. Den Sonderproblemen des Adels mit seinem Doppelkriterium Rationalität). Dank der Abscheidung anderer Rationalitätsbegriffe kann Habermas auch gegen Ende dieses
Geburt/Verdienst kam man durch die Unterscheidung der Unterscheidungen Perfektion/Korruption mit Jahrhunderts noch an der These festhalten, daß Gesellschaftstheorie und Rationalitätstheorie einander
Perfektion/Imperfektion entgegen. Die Gesänge der Ethik begleiteten die gefundene Lösung. Sie wußten, was bedingen — "daß sich für jede Soziologie mit gesellschaftstheoretischem Anspruch, wenn sie nur radikal
zu loben und was zu tadeln war, während es der Rhetorik vorbehalten blieb, die damit verlorene Möglichkeit genug verfährt, das Problem der Rationalität gleichzeitig auf metatheoretischer, auf methodologischer und
240
der Disposition über Werte dennoch zu praktizieren. Man konnte auf diese Weise, wie wir heute sagen auf empirischer Ebene stellt." Rationalität ist also nicht nur ein Problem der historischen Semantik, sondern
würden, paradox kommunizieren, die eigenen Absichten und Einstellungen auf der guten Seite der Welt
etablieren — und eben dadurch mitsignalisieren, daß nicht alles so gut ist, wie es zu sein scheint. Aber wie 237
Selbst bei Kant, wie man vermutet hat. Vgl. Hartmut Böhme / Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft: Zur
immer bei paradoxer Kommunikation wurde die Paradoxie selbst der Kommunikation entzogen bzw. in der
Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt 1983.
Rhetorik als bloßes Geistestraining behandelt. Die Ambivalenz und Inkonsistenz der Kommunikation wurde
238
konsistent als inkommunikabel behandelt bzw. auf das Feld der Religion abgeschoben, wo man es als Problem Dies jedoch verbunden mit einer Individualisierung dieser Kommunikationsweise und daraus folgend: mit
der Erbsünde und des vermutlichen Verfalls dieser Welt behandeln konnte. Unverbindlichkeit und Unvorschreibbarkeit dieser Lösung des Paradoxieproblems. Auch wird lange Zeit noch am Merkmal
der Extravaganz und der Eigensinnigkeit humorvoller Äußerungen festgehalten und englisch "humour" im Deutschen
zunächst mit "Laune" übersetzt. Dazu Johann Gottfried Herder, Viertes Kritisches Wäldchen, zit. nach Sämmtliche Werke
(Hrsg. Suphan) Bd. 4, Berlin 1878, S. 182 ff.
siehe auch Gianfranco Bottazzi, Prospettive della globalizzazione: sistema-mondo e cultura globale, Rassegna Italiana di
239
Sociologica 35 (1994), S. 425-440. So zusammenfassend Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt 1981.
236 240
Siehe nur Annibale Romei, Discorsi, Ferrara 1586, S. 58 ff. A.a.O. Bd. I, S. 23 (Hervorhebung im Original).
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 79 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 80

enthält, auch heute, eine Zumutung an den Begriff der Gesellschaft. Dabei unterbleibt, wie für die der Einheit der jeweils benutzten Unterscheidung liegen. Die Optimierung des Verhältnisses von Zwecken und
Unterscheidungstechnik des 19. Jahrhunderts (Ausnahme Hegel) typisch, die Frage nach der Einheit der Mitteln oder der Konsens von Ego und Alter, die Verständigungsrationalität im Sinne von Habermas, wären
Differenz, also eine Klärung dessen, was mit Rationalität per se gemeint ist. Statt dessen unterscheidet man dann nur Sonderfälle eines allgemeineren Prinzips, und auch die Systemtheorie könnte mit ihrer Form, mit
nun Rationalität und Irrationalität, Bewußtsein und Unterbewußtsein, manifeste und latente Funktionen, und ihrer Unterscheidung von System und Umwelt, einen Anspruch auf Rationalität anmelden.
wieder: ohne zu merken, daß man jetzt die Frage nach der Einheit jeweils dieser Differenzen stellen müßte. In dem Maße, als die Kongruenz von Sozialstruktur und Semantik der traditionalen Gesellschaft sich
Eine andere, heute verbreitete Unterscheidung ist die von substantieller und verfahrensmäßiger auflöst und die damit gegebenen Plausibilitäten nicht mehr verpflichten, wird eine freiere Begriffsbildung
241
Rationalität. Man müsse, so liest man, bei zunehmender Komplexität und Kriterienungewißheit von möglich. Das Problem der Rationalität kann abstrakter formuliert werden. Es läßt sich heute nicht mehr als
substantieller auf prozedurale Rationalität umstellen. Das wird nicht viel helfen, wenn man sich unter Ausrichtung an den Lebensformen eines Zentrums oder einer Spitze begreifen, also auch nicht mehr als
Verfahren eine Kette von Zwecken und Mitteln vorstellt. Der Vorteil festgelegter Verfahren ist jedoch, daß Annäherung an eine Idee oder mit Bezug auf ein normatives Gebot als Erfüllung oder Abweichung. Die
man trotz einer ungewissen Zukunft beginnen und sich im weiteren Verlauf retrospektiv an den bereits Erosion einer solchen Idealbegrifflichkeit tangiert schließlich auch die Gegenbegrifflichkeit einer wie immer
erreichten Resultaten orientieren kann. imperfekten, korrupten, devianten, widerständigen Realität. Die traditionelle Form der Rationalität, das heißt
Wir lassen uns auf eine Diskussion dieser unterschiedlichen Brechungen des alteuropäischen die Unterscheidung, deren eine Seite sie markiert, löst sich auf. Statt dessen wird das Problem des
Rationalitätskontinuums nicht ein, sondern nehmen die grob skizzierte Entwicklung der Rationalitätssemantik Verhältnisses von Realität und Rationalität letztlich dadurch akut, daß jede kognitive und jede
als einen Indikator dafür, daß im Übergang zur Neuzeit das Gesellschaftssystem sich so radikal gewandelt hat, handlungsmäßige Operation als Beobachtung eine Unterscheidung erfordert, um die eine (und nicht die
daß auch das Verständnis des Verhältnisses von Realität und Rationalität davon betroffen wird. Und so wie andere) Seite der Unterscheidung bezeichnen zu können. Sie muß ihre beobachtungsleitende Unterscheidung
der moderne Weltbegriff weder positiv noch negativ qualifiziert werden kann, weil jede Qualifizierung eine als Differenz (und nicht als Einheit, nicht in der Ununterschiedenheit des Unterschiedenen, nicht in dem, was
beobachtbare Operation in der Welt ist, so mag eben dies auch für die moderne Gesellschaft gelten. Genau beiden Seiten gemeinsam ist), verwenden. Sie darf gerade nicht, im Sinne Hegels, dialektisch verfahren,
dies wird schließlich für Zwecke der Wissenschaft mit dem Begriff des autopoietischen sondern sie muß sich selbst als Beobachtung aus dem, was sie beobachtet, ausschließen. Dabei wird der
Kommunikationssystems fixiert. Denn dieser Begriff besagt, in Anwendung auf Gesellschaft, daß alle Beobachter, gleichgültig welche Unterscheidung er verwendet, zum ausgeschlossenen Dritten. Aber gerade er,
Kommunikationen — rationale, irrationale, arationale, und nach welchen Kriterien immer — die Autopoiesis er allein, garantiert doch mit seiner Autopoiesis die Realität seiner eigenen Operationen und damit die Realität
der Gesellschaft fortsetzen. Das muß nicht heißen, daß Rationalitätserwartungen aufgegeben werden müßten all dessen, was dabei im Modus der Gleichzeitigkeit als Welt vorausgesetzt sein muß! Die Praxis des
und man der Realität kriterienlos gegenüberzutreten hätte. Das Zerbrechen des alteuropäischen Begriffs muß bezeichnenden Unterscheidens kommt in der Unterscheidung nicht vor. Sie kann nicht bezeichnet werden, es
nicht bedeuten, daß mit ihm auch das Problem verschwunden ist, und die Unzulänglichkeit der bisherigen sei denn durch eine andere Unterscheidung. Sie ist der blinde Fleck des Beobachtens - und eben deshalb der
Rekonstruktionen mag auf eine transitorische Lage und auf das Fehlen einer ausreichenden Ort seiner Rationalität.
Gesellschaftstheorie zurückzuführen sein. Selbst die Naturwissenschaften, selbst die Physik sehen heute keine Ein so gestelltes Problem kennt keine befriedigende Lösung. Es hilft auch nicht, erneut die
Möglichkeit mehr, der Gesellschaft Grundlagen für Rationalitätsurteile in der Form von sicherem Wissen zur Unterscheidung von Denken und Sein oder von Subjekt und Objekt zu bemühen. Die Theorie kann sich nicht
242
Verfügung zu stellen. selbst purgieren, indem sie nur ihr Objekt, hier also nur die Gesellschaft, für paradox hält und so die
Wenn die Kriterien für Rationalität auf diese Weise verunsichert sind und dies auf den Begriff der Paradoxie gleichsam ausscheidet, um sich selbst davon zu befreien. Denn alle Begriffe, mit denen sie ihr
Rationalität zurückschlägt, drängen sich "pluralistische" Lösungen auf. Die Aufstellung von Kriterien (und Objekt analysiert (System, Beobachtung, blinder Fleck, Sinn, Kommunikation usw.) treffen auch auf sie
nicht nur die Festlegung von Präferenzen, wie die Theorie des rational choice meint) hängt dann von dem selber zu. Das Analyseniveau, auf das wir uns mit den vorstehenden Überlegungen eingelassen haben, zwingt
jeweiligen Beobachter ab, der Verhalten als rational oder als nichtrational beschreibt. Aber das bietet keine zu autologischen Schlüssen. Aber gerade weil das Problem der Rationalität als Paradox formuliert und weil
stabile Lösung, sondern nur eine Auflösung des Problems. Die Wiederherstellung einer Einheit in der Kommunikation von Rationalität nur als paradoxe Kommunikation möglich ist, kann man Auswege, kann
Mehrheit von Beobachtern würde erfordern, daß man von allen verlangt, bei der Festlegung ihrer man Abhilfen erkennen, die in dieser Perspektive als funktional rational gelten können. Das Problem der
Rationalitätskriterien ihrerseits nach den eigenen Kriterien rational zu verfahren (also im Utilitarismus zum Rationalität wird durch Bezug auf eine fundierende Paradoxie gespalten. Eben daraus, daß die Paradoxie zu
Beispiel den Utilitarismus selbst als nützlich nachzuweisen). Für solche reflexiven Schleifen fehlen heute nichts führt außer zu sich selbst, folgt, daß mit Bezug auf dieses im Beobachten nicht zu überbietende
jedoch die logischen und theoretischen Mittel — ganz zu schweigen von der Frage, wie sie im Alltag Problem etwas geschehen muß, und zwar operativ geschehen muß. Und immer schon geschehen ist! Denn
gehandhabt werden sollen. Jedenfalls reicht für einen darauf reagierenden, anspruchsvolleren Begriff der jede Paradoxie ist nur paradox für einen Beobachter, der seine Beobachtungen bereits systematisiert hat. Die
243
Rationalität die klassische zweiwertige Logik nicht aus. Er müßte den Beobachter, der über Rationalität Paradoxie kann sich, anders gesagt, nicht selber "entfalten"; sie findet sich im Beobachten, aber immer nur auf
urteilt, einbeziehen können, also die Problematik auf einer Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung neu Grund einer Unterscheidung, die (unter Verzicht auf die Frage nach ihrer eigenen Einheit) sie immer schon
formulieren können. entfaltet hat. Zum Beispiel mit Hilfe der Unterscheidung von System und Umwelt. Der Lauf der Welt kann
Wie immer, wir können in dieser Lage nur mit scharfen Abstraktionen reagieren. Folgt man dem hier nur operativ in Gang gesetzt werden. Oder mit dem Theorem Heinz von Foersters: "Nur die Fragen, die
244
vorgeschlagenen differenztheoretischen Ansatz, dann dürfte das Problem der Rationalität in der Frage nach prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden."
Ein als Auflösung einer Paradoxie angelegter Ausweg läßt sich mit dem Begriff des Wiedereintritts der
245
241
Form in die Form oder der Unterscheidung in das Unterschiedene bezeichnen. Da die Form in der Form die
Vgl. nur Herbert A. Simon, From Substantive to Procedural Rationality, in: Spiro J. Latsis (Hrsg.), Method and Form ist und zugleich nicht ist, handelt es sich um ein Paradox, aber zugleich um ein entfaltetes Paradox;
Appraisal in Economics, Cambridge Engl. 1976, S. 129-148.
denn man kann nun Unterscheidungen wählen (nicht alle eignen sich), deren Wiedereintritt interpretiert werden
242
Zum Zerfall klassischer Rationalitätskonzepte angesichts der Universalisierung von Risiken siehe Klaus Peter Japp, kann. Ein Beobachter dieses Wiedereintritts hat dann die doppelte Möglichkeit, ein System sowohl von innen
Soziologische Risikotheorie: Funktionale Differenzierung, Politisierung und Reflexion, Weinheim 1996, insb. S. 67 ff. Zur (seine Selbstbeschreibung "verstehend") als auch von außen zu beschreiben, also sowohl einen internen als
Konsequenz von Gewißheitsverlusten für Rationalitätsansprüche vgl. auch Ilya Prigogine, A New Rationality?, in: Ilya
Prigogine / Michèle Sanglier (Hrsg.), Laws of Nature and Human Conduct, Brüssel 1987, S. 19-39. Der Ausweg, statt
dessen von Wahrscheinlichkeiten auszugehen, ist wenig hilfreich; denn für deren Berechnung fehlen im gesellschaftlichen
Alltag die Möglichkeiten. Man kann zwar zur Kenntnis nehmen, daß die bekannten Dinge und Prozesse mikrophysikalisch
244
wahrscheinlich stabil gehalten werden, aber daraus ergibt sich kein kritischer Begriff von Rationalität. So Heinz von Foerster, Wahrnehmung, in: Ars Electronica (Hrsg.), Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989, S.
243 27-40 (30).
Vgl. Elena Esposito, Die Orientierung an Differenzen: Systemrationalität und kybernetische Rationalität,
245
Selbstorganisation 6 (1995), S. 161-176. "re-entry" im Sinne von Spencer Brown a.a.O. S. 56 ff., 69 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 81 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 82
246
auch einen externen Standpunkt einzunehmen. Es versteht sich: er kann nicht beides zugleich, da er hierbei von System und Umwelt. Es erzeugt sie, indem es operiert. Es beobachtet sie, indem dies Operieren im
die Unterscheidung innen/außen verwenden muß. Aber diese Unmöglichkeit läßt sich kompensieren durch die Kontext der eigenen Autopoiesis eine Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz erfordert, die
Möglichkeit, das eigene Beobachten aus der jeweils anderen Position heraus zu beobachten. dann zur Unterscheidung von System und Umwelt "objektiviert" werden kann. Das System kann die eigenen
Rückblickend kann man jetzt erkennen, daß diese Figur des re-entry der Form in die Form schon immer Operationen nach wie vor immer nur an die eigenen Operationen anschließen, aber es kann die dafür
247
als heimliche Struktur dem Rationalitätsbegriff zu Grunde lag, ohne Argument werden zu können. So richtungweisenden Informationen entweder sich selbst oder seiner Umwelt entnehmen. Kein Zweifel, daß dies
wurde zwischen Sein und Denken unterschieden und vom Denken als Bedingung der Rationalität real möglich ist, auch und gerade für operativ geschlossene Systeme. Es geht dabei um ein operatives
Übereinstimmung mit dem Sein verlangt. Die Rationalität war, in dieser offiziellen Version, die Ausprobieren von Unterscheidungen — und Ausprobieren in dem Sinne, daß ihre Verwendung Differenzen
Übereinstimmung selbst; und mit Bezug darauf hatten wir oben vom alteuropäischen Rationalitätskontinuum erzeugt, die in der Form von Systemen entweder kontinuieren oder nicht kontinuieren.
gesprochen. Aber das Denken mußte ja — vor der Erfindung eines extramundanen Subjekts, das die Ganz ähnliche Überlegungen lassen sich in der Begrifflichkeit der neueren Semiotik formulieren. Hier ist
alteuropäische Tradition sprengte — selber sein. Also lag der Unterscheidung von Sein und Denken ein die primäre Differenz zunächst mit Zeichen gesetzt. Als rational gilt das Bemühen, die Welt lesbarzu machen
re-entry der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene, in das Denken zu Grunde. Und war dann nicht mit Hilfe relativ weniger Zeichen, die aber für praktisch unendlich viele Kombinationen zur Verfügung stehen.
vielleicht immer schon diese Figur der heimliche Grund der Rationalitätsprätention? Gleiches gilt für die Die Tradition hatte Zeichen als Referenz als Hinweis auf etwas Vorhandenes, etwas "Anwesendes" gedacht.
Unterscheidung von Natur und Handlung, die ihre Konvergenz ja auch nur unter der Voraussetzung erreichen Die Kritik dieser Tradition, etwa bei Jacques Derrida, hält nur noch das operative Faktum des take off, des
konnte, daß das Handeln als rational galt, wenn es seiner eigenen rationalen Natur entsprach. In der Ablösens, der Erzeugung von différence durch différance fest. Das Zeichen verdankt sich seiner anderen Seite,
Darstellung von Rationalität als Konvergenz konnte diese Struktur aber nicht reflektiert werden. Deshalb die für Bezeichnungen nicht zur Verfügung steht — dem "unmarked space" Spencer Browns, der "Weiße" des
251
erzeugt die alteuropäische Tradition nur eine Parallelontologie des Seins und des Denkens, der Natur und des Papiers, der Stille, in die Laute sich einzeichnen. Das Stillhalten der Stille ist und bleibt Voraussetzung für
Handelns. Sie kann deren Zusammenhang nur voraussetzen und Gott dafür danken. das Kombinationsspiel der Zeichen, das sich eigener Unterscheidungen bedient. Man sieht: es geht um das
248
Was gegenüber der Tradition distanziert, ist also nur die Entdeckung dieses re-entry. Sie setzt Erzeugen von Differenz durch Indifferenz. Die einzig funktionsfähigen Unterscheidungen sind nicht die letzte
abstraktere Begriffsmittel voraus, die dann ihrerseits Anlaß geben, sich von der anthropologischen, über Unterscheidung und dies auch dann nicht, wenn sie sich zu der Unterscheidung von System und Umwelt
Denken und Handeln artikulierten Version von Rationalität zu distanzieren und zu einer formaleren aufsummieren. Oder mit Glanville: "When the final distinction is drawn (i.e. the ultimate) there has already
systemtheoretischen Darstellung überzugehen. been drawn another, in either intension or extension, namely the distinction that the final distinction is NOT
Wenn zunächst die Zweckrationalität als Form in sich selbst hineincopiert wird, so heißt dies, daß die the final distinction since it requires in both cases (identical in form) that there is another distinction drawn; i.e.
252
Rationalität selbst als Mittel gedacht wird. Aber dann: zu welchem Zweck? Offenbar muß der Zweck selbst there is a formal identity that adds up to re-entry."
jetzt externalisiert werden, damit die Rationalität ihm dienen kann. Das war schon vorbereitet durch die Systemrationalität setzt, wenn man dem oben gegebenen Begriffsvorschlag folgt, einen solchen
Unterscheidung Zweck/Motiv. Weitergehend könnte man auch sagen, die Rationalität diene der Wiedereintritt der Form in die Form voraus. Damit allein ist sie jedoch noch nicht erreicht. Wir müssen
Selbstdarstellung als rational. Oder der Legitimation. Oder der Begründung des Handelns. In all diesen zusätzlich beachten, daß Rationalität im Kontext einer Unterscheidung von Realität definiert und angestrebt
Varianten wird die Rationalität gleichsam gödelisiert. Sie stützt sich auf einen extern vorgegebenen Sinn, um werden muß. Sie verdankt sich also ihrerseits einer Unterscheidung, die nicht die letzte Unterscheidung ist.
249
sich intern als geschlossen, als vollständige Unterscheidung darstellen zu können. Die Einbeziehung dieser Unter der Bedingung von Realität muß die Autopoiesis fortgesetzt werden. Wenn nicht, entfällt die
externen Vorgabe in den Kalkül kann dies Problem nur wiederholen. (Es führt daher nicht weiter, das Problem entsprechende Realität. Indem das System autopoietisch operiert, tut es, was es tut, und nichts anderes. Es
mit Russell und Tarski durch die Unterscheidung (!) von Ebenen lösen zu wollen.) Rationalität mit Vollzug zieht also eine Grenze, bildet eine Form und läßt alles andere beiseite. Daraufhin kann es das Ausgeschlossene
ihres re-entry ist daher von vornherein "Ideologie". Sie bleibt angewiesen auf Operationen, die sie selbst nicht als Umwelt und sich selbst als System beobachten. Es kann die Welt anhand der Unterscheidung von
leisten, nicht begründen kann. Denn jedes re-entry bringt das System in einen Zustand des "unresolvable Selbstreferenz und Fremdreferenz beobachten und dadurch, daß es das tut, die eigene Autopoiesis fortsetzen.
250
indeterminacy". Die Selbstbeobachtung kann nie rückgängig machen, was geschehen ist, da sie selbst es im Kontext von
Diese Auslegung des Schicksals moderner Rationalität läßt sich durch eine systemtheoretische Analyse Autopoiesis benutzt und fortsetzt. Sie kann auch nie einholen, was sie autopoietisch als Differenz produziert
ergänzen und präzisieren. Angewandt auf die Unterscheidung von System und Umwelt fordert diese Regel des hat. Im realen Operieren zerteilt sie die Welt, den unmarkierten Raum, in System und Umwelt, und das
Wiedereintritts, daß die Unterscheidung von System und Umwelt im System wiedervorkommt. Im System! Es Ergebnis entzieht sich der beobachtenden Erfassung — so wie in traditioneller Terminologie kein Auge in der
bedarf also keines Ausgriffs auf ein umfassendes System, keiner letzten Weltgarantie von Rationalität, also Lage ist, die plenitudo entis zu sehen. Nach diesen Umformulierungen des Problems erscheint Rationalität
auch keiner "Herrschaft" als Form ihrer Realisierung. Das System selbst erzeugt und beobachtet die Differenz nicht mehr als paradox, sie erscheint als unmöglich.
Das hat jedoch den Vorteil, daß man sich Annäherungsmöglichkeiten überlegen kann. Ein System kann
246
Vgl. zu einem solchen Oszillieren Stein Bråten, The Third Position: Beyond Artifical and Autopoietic Reduction, in:
Eigenkomplexität und damit Irritabilität aufbauen. Es kann die Unterscheidung System/Umwelt auf beiden
Felix Geyer / Johannes van der Zouwen, Sociocybernetic Paradoxes: Observation, Control and Evolution of Self-steering Seiten durch weitere Unterscheidungen ergänzen und damit seine Beobachtungsmöglichkeiten erweitern. Es
Systems, London 1986, S. 193-205; François Ost / Michel van de Kerchove, Jalons pour une théorie critique du droit, kann Bezeichnungen wiederverwenden und damit Referenzen kondensieren oder sie nicht wiederverwenden
Bruxelles 1987, insb. S. 30 ff.; Michael Hutter, Die Produktion von Recht: Eine selbstreferentielle Theorie der Wirtschaft, und damit löschen. Es kann erinnern und vergessen und damit auf Irritationshäufigkeiten reagieren. Mit all
angewandt auf den Fall des Arzneimittelpatentrechts, Tübingen 1989, insb. S. 37 ff. dem kann der Wiedereintritt der Unterscheidung in das Unterschiedene angereichert und mit komplexeren
247
Ausführlicher Niklas Luhmann, Observing Re-entries, Graduate Faculty Philosophy Journal 16 (1993), S. 485-498; auch Anschlußfähigkeiten ausgestattet werden. Im Unterschied zu Traditionskonzepten geht es dabei nicht um
in Protosoziologie 6 (1994), S. 4-13. Annäherung an ein Ideal, nicht um mehr Gerechtigkeit, nicht um mehr Bildung, nicht um
248
In der durch Spencer Brown vorgeschlagenen Version bewegt sich der Formenkalkül zwischen einem verdeckten Selbstverwirklichung eines subjektiven oder objektiven Geistes. Es geht nicht um Erreichen von Einheit (denn
re-entry am Anfang und einem offenen re-entry am Ende, die sich beide, gleichsam als Randbedingungen, der das wäre, wie gesagt, Rückkehr in die Paradoxie oder in ihr Substitut: die Unmöglichkeit). Systemrationalität
Kalkülisierbarkeit entziehen. Am Anfang wird der Operator eingeführt als Einheit von indication und distinction (also als
Unterscheidung, in der im Sinne einer "perfect continence" auch die Unterscheidung als zu Unterscheidendes vorkommt.
Und am Ende wird dies durch Offenlegen der Figur des re-entry begründet, so daß man den Kalkül als Modell eines sich 251
Siehe hierzu im Anschluß an Saussure Ranulph Glanville, Distinguished and Exact Lies (Lies im Doppelsinne von Lüge
selbst schließenden Systems auffassen kann, das nichts repräsentiert, sondern nur sich selber prozessiert.
und Lage, N.L.), in: Robert Trappl (Hrsg.), Cybernetics and Systems Research 2, Amsterdam 1984, S. 655-662; dt. Übers.
249
Oder mit Spencer Browns Definition von Unterscheidung: als "perfect continence" (a.a.O. S. 1). in Glanville, Objekte, Berlin 1988, S. 175-194 und 195.
250 252
Spencer Brown a.a.O. S. 57. A.a.O. S. 657.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 83 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 84

heißt: eine Unterscheidung, nämlich die von System und Umwelt, der Realität auszusetzen und an ihr zu Änderungen kommt. Das sieht man heute überall — bei der Produktionsplanung in Betrieben und in der
testen. ökologischen Politik, beim Entwurf von Kunstwerken und beim Entwurf von Theorien, die vom bisher
253
Man kann sich dies am Beispiel der ökologischen Probleme der modernen Gesellschaft verdeutlichen. Üblichen abweichen. Immer sind Routinen vorausgesetzt, die einen Änderungsbedarf erkennen lassen und
Zunächst ist davon auszugehen, daß zum Beispiel die Marktwirtschaft als operativ geschlossenes System damit steuern, wo Eingriffe angesetzt werden können. Daraus ergibt sich jedoch kein Hinweis auf die
funktioniert und deshalb nicht zugleich das "ökologische System" (wenn es denn ein System ist) optimieren Rationalität von Änderungen, geschweige denn ein Konzept für die rationale Anpassung an Änderungen. Eine
254
kann. Es wäre gewiss nicht rational, diese Bedingungen zu ignorieren. Das hieße sich blindstellen. Die Kritik der Routinen würde vielmehr die kognitiven Grundlagen für die Wahrnehmung eines Änderungsbedarfs
Probleme können auch nicht dadurch gelöst werden, daß man Umwelteingriffe unterläßt oder gar die auflösen. Dies dürfte einer der Gründe sein, weshalb Evolutionstheorien immer dort faszinieren, wo
Differenz von System und Umwelt löscht, also den Betrieb von Gesellschaft einstellt. Das würde heißen: Rationalitätsansprüche nicht durchgehalten werden können.
Rationalität als Endkatastrophe anzustreben. (Es ist nicht schwierig, sich kleiner Formate desselben Prinzips Auch kann man Vernunft nicht begreifen als einen Satz von Kriterien (oder eine Instanz für deren
vorzustellen, etwa den Vorschlag, Energieerzeugung, chemische Produktion etc. einzustellen). Ein rationaler Festlegung), nach denen vor und nach der Kommunikation erkennbar festgestellt werden kann, ob sie zu
Umgang mit den Problemen kann nur in der Gesellschaft und nur unter der Bedingung der Fortsetzung ihrer akzeptieren ist oder nicht. Annehmen oder Ablehnen ist stets eine neue, eine selbständige Kommunikation.
Autopoiesis angestrebt werden, und das impliziert immer: Erhaltung der Differenz. Dasselbe Problem Vernunft kann deshalb allenfalls retrospektiv zitiert werden zur Symbolisierung einer gelungenen
wiederholt sich innerhalb der Gesellschaft auf der Ebene ihrer einzelnen Funktionssysteme. Auch hier liegen Verständigung; und sie wird vor allem dann gebraucht, wenn man von Interessenlagen absehen will.
die Rationalitätschancen in der Erhaltung und in der Ausnutzung von Differenzen, nicht in ihrer Eliminierung. Zieht man die Grundparadoxie des Beobachtens und des Wiedereintritts von Unterscheidungen in sich
Die Irritabilität der Systeme muß verstärkt werden, was nur im Kontext ihres selbstreferentiell geschlossenen selbst in Betracht, bleibt zwar das Problem des blinden Flecks, bleibt also die Notwendigkeit, die Paradoxie zu
Operierens geschehen kann. Genau darauf zielt aber die Systemtheorie, wenn sie die Unterscheidung von invisibilisieren. Jede Beobachtung muß ihre eigene Paradoxie entfalten, das heißt, durch eine hinreichend
System und Umwelt als die Form des Systems behandelt. Mehr als durch irgendeine andere Theorie der funktionierende Unterscheidung ersetzen. Jede Theorie, die den Anspruch erhebt, die Welt zu beschreiben und
Gesellschaft rücken dadurch ökologische Probleme und im genau gleichen Sinne Humanprobleme in den in diesem Sinne universelle Geltung anstrebt, muß diese Notwendigkeit der Invisibilisierung mit in Rechnung
Mittelpunkt der theoretischen Konzeption. Diese Zentrierung auf Differenz schärft den Blick auf die stellen. Sie muß sie zumindest bei anderen (als deren "Ideologie", als deren "Unbewußtes", als deren
genannten Probleme in einer Weise, die jede Hoffnung nimmt, daß sie gelöst werden könnten und damit "Latenzbedarf") berücksichtigen. Sie muß also auf einer Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung formuliert
verschwinden würden. Nur wenn man dies akzeptiert, kann man Probleme wie Arbeitsprogramme behandeln werden. Dann läßt sich aber der "autologische" Rückschluß auf das eigene Beobachten nicht vermeiden.
und versuchen, die Position des Gesellschaftssystems in Bezug auf seine humane und seine nichthumane Rückblickend kann man jetzt auch besser verstehen, weshalb das Rationalitätskontinuum der
Umwelt nach Kriterien zu verbessern, die in der Gesellschaft selbst konstruiert und variiert werden müssen. alteuropäischen Tradition aufgegeben werden mußte. Jede Beobachtung (Erkennen und Handeln
Diese Überlegungen machen zugleich einsichtig, wie sehr das Rationalitätsproblem der Moderne mit der eingeschlossen) ist und bleibt an die Selektion einer Unterscheidung gebunden, und Selektion heißt
Differenzierungsform des Gesellschaftssystems zusammenhängt. Wenn die moderne Gesellschaft im zwangsläufig: etwas unberücksichtigt lassen. Die Titel des 20. Jahrhunderts dafür lauten: Pragmatismus,
Übergang zu einer vorherrschend funktionalen Differenzierung auf ein Leitsystem, auf eine Spitze oder ein Historismus, Relativismus, Pluralismus. Sie waren jedoch als Einschränkungen universalistischer
Zentrum verzichten muß, kann sie auch keine einheitliche Rationalitätsprätention für sich selbst mehr Rationalitätsansprüche formuliert worden. Wenn aber jedes Beobachten genötigt ist, die eigene Paradoxie
erzeugen. Das schließt es nicht aus, daß die Funktionssysteme je für sich die Einheit der Differenz von System aufzulösen und dafür keine vernünftigen (unschuldigen) Gründe angeben kann, verlieren
und Umwelt zu reflektieren suchen. Dabei kann auch die Naturumwelt und die Humanumwelt des Unvollständigkeitstheoreme jeder Art den Beiklang des Zurückbleibens hinter dem, was an sich erstrebenswert
Gesellschaftssystems mit in Betracht gezogen werden, und ökologische ebenso wie humanistische wäre. Man wird jetzt von der Universalität des Selektionszwangs, von der Universalität des Unterscheidens
Empfindlichkeiten zeigen diese Möglichkeiten und ihre Grenzen an. Auch in dieser Frage muß man jedoch und des Grenzen-Ziehens ausgehen müssen, und eine Vernunft, die dies nicht wahrhaben will, gerät damit in
Systemreferenzen auseinanderhalten: Kein Funktionssystem kann in sich die Gesellschaft reflektieren, weil die Nähe einer totalitären, wenn nicht terroristischen Logik. Und auch sie hat ihr (gut verstecktes)
dies die Mitberücksichtigung der Operationsbeschränkungen aller anderen Funktionssysteme in jedem Invisibilitätstheorem. Denn sie kann nicht angeben, was mit denen zu geschehen hat, die partout nicht einsehen
255
einzelnen erfordern würde. Die gesellschaftliche Rationalität wird unter modernen Bedingungen im können, was die Vernunft ihnen vorschlägt.
wortgenauen Sinne eine Utopie. Für sie gibt es keinen Standort in der Gesellschaft mehr. Aber das wenigstens Rationalität scheint der Fluchtpunkt gewesen zu sein, auf den hin man auch bei zunehmender
kann man noch wissen, und selbstverständlich spricht nichts dagegen — ja gerade dieses Argument spricht Komplexität der Gesellschaft immer noch an eine letzte Harmonie glauben konnte (und die Wirtschaft
dafür, in den gesellschaftlichen Funktionssystemen eine stärkere Berücksichtigung der profitiert noch heute davon, wenn sie ihre Selbstbeschreibung an Annahmen über die Rationalität ihrer
gesamtgesellschaftlichen Umwelt zu initiieren. Denn niemand sonst kann es tun. Entscheidungspraxis legitimiert). Davon ausgehend sieht man aber auch, daß die Perspektive der Rationalität
Systemrationalität in diesem auf die Paradoxie des Beobachtens gegründeten Sinne erhebt keinen zugleich die Auflösung dieser letzten Harmonievorstellung registriert — zunächst durch Annahme einer gute
Anspruch auf den Titel "Vernunft". Für einen Kompetenzbegriff dieser Art fehlt das Subjekt. "Vernunft" war Ergebnisse garantierenden "invisible hand", dann über Evolutionstheorie bis hin zu einer Relativierung auf
ein Titel gewesen, mit dem die Ahnungslosigkeit in bezug auf Widersprüche zwischen Zwecken und Mitteln subjektive Präferenzen, die zwar als sozial interdependent, aber, wenn so, nicht als stabil vorausgesetzt
ausgezeichnet wurde. In diesem Sinne galt die Vernunft als unschuldig. Sie rühmt sich, "kritisch" zu sein. Mit werden können. Schließlich muß man sogar zweifeln, ob der Bezug des Problems der Rationalität auf das
dem Pathoswort "Kritik" wird jedoch eine Schwäche verdeckt, die man heute nicht länger ignorieren kann. Die Individuum haltbar ist — sei es im Sinne des rational choice, sei es im Sinne der kommunikativen
Vernunft ist darauf angewiesen, daß ihr Weltzustände, praktisch also Texte, zur Beurteilung vorgelegt Verständigung. Denn vielleicht ist auch dies nur ein Traditionselement; würden wir doch Rationalität von
werden. Das Problem ist jedoch, daß man von einer Kritik der Zustände nicht zu einem rationalen Konzept für Mitgliedern einer Organisation oder einer Profession erwarten, aber wohl kaum von Personen in ihrem
Privatleben. Auf dieser absteigenden Linie kann die Soziologie keinen Halt bieten, schon gar nicht über
Begriffe wie Ethik, Kultur oder Institution. Die Systemtheorie kann immerhin sich die Relativierung auf
253
Dazu oben Abschnitt ....... Systemreferenzen zunutzemachen und die Frage stellen, mit Bezug auf welches System denn die Frage der
254 Rationalität ihr größtes Gewicht erhält. Und dann dürfte die Antwort eindeutig sein: mit Bezug auf das
Siehe das Heft 4-5 (1994) der Revue internationale de systémique, ferner z.B. Richard N. Norgaard, Environmental
Economics: An Evolutionary Critique and a Plea for Pluralism, Journal of Environmental Economics Management 12 umfassende Sozialsystem der Gesellschaft und deren Formen der Respezifikation von zu allgemein geratenen
(1985), S. 382-394. Das "plea for pluralism" heißt aber letzten Endes: Notwendigkeit politischer Entscheidungen, also Kriterien, nämlich Organisationen und Professionen.
Verschiebung der Systemreferenz. Damit ist freilich nicht behauptet, daß die Gesellschaft über Normen, Regeln oder Direktiven
255
Dies zu Georg Kneer, Bestandserhaltung und Reflexion: Zur kritischen Reformulierung gesellschaftlicher Rationalität, Rahmenrichtlinien für das geben könne, was für Teilsysteme der Gesellschaft das Prädikat rational verdient.
in: Michael Welker / Werner Krawietz (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme, Frankfurt 1992, S. 86-112. Die Gesellschaft steuert sich, wie wir noch mehrfach sehen werden, allenfalls über Fluktuationen, die
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 85 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 86

funktionale oder regionale Systeme zur Verarbeitung von dissipativen Strukturen und damit zur
Selbstorganisation zwingen. Hier mögen ganz andere Paradoxien und ganz andere Unterscheidungen,
jedenfalls andere Unterscheidungen von Selbstreferenz und Fremdreferenz eine Rolle spielen. Das muß Kapitel 2 Kommunikationsmedien
konkreteren Untersuchungen überlassen bleiben. Das ändert aber nichts daran, daß man den Begriff der
Rationalität in erster Linie auf das System der Weltgesellschaft beziehen muß, wenn man begreifen will, wie
der Kontext für andere Systemrationalitäten reproduziert wird. Wie immer man aber über den Begriff der
Rationalität und seine Bedingungen entscheiden wird: die Berufung auf Rationalität dient in der laufenden
Kommunikation dazu, die Unverhandelbarkeit einer Position zu markieren. Dafür besteht ein Bedarf. Und I. Medium und Form
zugleich spekuliert man bei solchem Vorgehen mit der Trägheit des Kommunikationsprozesses. Er wird nicht
von seinem Thema ablassen und sich den Bedingungen von Rationalität zuwenden, nur weil jemand Sieht man einmal davon ab, daß ein Gesellschaftssystem faktisch bereits existiert und Kommunikation
behauptet, etwas sei rational oder nicht rational. Selbst wenn die begriffliche Klärung zu keinem Ende führt, durch Kommunikation reproduziert, ist ein solcher Sachverhalt extrem unwahrscheinlich. Die Kommunikation
muß daß die Einschaltung der Berufung auf Rationalität in die laufende Kommunikation nicht entmutigen. Sie macht sich nur selber wahrscheinlich. Als Einzelereignis kann sie nicht vorkommen. Jede Kommunikation
ist gleichsam der Boden, der dem Bedürfnis der Klärung der Bedingungen von Rationalität immer neue setzt andere Operationen gleichen Typs voraus, auf die sie reagieren und die sie stimulieren kann. Ohne
Nahrung gibt. rekursive Bezugnahmen dieser Art fände sie überhaupt keinen Anlaß, sich zu ereignen.
Das heißt vor allem: daß der Anschluß von Kommunikation an Kommunikationen nicht willkürlich,
nicht zufällig geschehen kann, denn sonst wäre Kommunikation für Kommunikation nicht als Kommunikation
erkennbar. Es muß erwartungsleitende Wahrscheinlichkeiten geben, anders ist die Autopoiesis der
Kommunikation nicht möglich. Aber das verschiebt nur unser Problem in die Frage, wie denn die
Kommunikation selbst ihre eigene Unwahrscheinlichkeit des Sichereignens überwinden kann.
Die Unwahrscheinlichkeit einer kommunikativen Operation kann man an den Anforderungen
256
verdeutlichen, die erfüllt sein müssen, damit sie zustandekommt. Kommunikation ist, wie oben ausgeführt ,
eine Synthese aus drei Selektionen. Sie besteht aus Information, Mitteilung und Verstehen. Jede dieser
Komponenten ist in sich selbst ein kontingentes Vorkommnis. Information ist eine Differenz, die den Zustand
eines Systems ändert, also eine andere Differenz erzeugt. Warum soll aber gerade eine bestimmte Information
und keine andere ein System beeindrucken? Weil sie mitgeteilt wird? Aber unwahrscheinlich ist auch die
Auswahl einer bestimmten Information für Mitteilung. Warum soll jemand sich überhaupt und warum gerade
mit dieser bestimmten Mitteilung an bestimmte andere wenden angesichts vieler Möglichkeiten sinnvoller
Beschäftigung? Schließlich: warum soll jemand seine Aufmerksamkeit auf die Mitteilung eines anderen
konzentrieren, sie zu verstehen versuchen und sein Verhalten auf die mitgeteilte Information einstellen, wo er
doch frei ist, all dies auch zu unterlassen? Schließlich werden all diese Unwahrscheinlichkeiten in der
Zeitdimension nochmals multipliziert. Wie kann es sein, daß Kommunikation schnell genug zum Ziele führt,
und vor allem: wie kann es sein, daß auf eine Kommunikation mit erwartbarer Regelmäßigkeit eine andere
(nicht: dieselbe!) folgt?
Wenn schon die einzelnen Komponenten der Kommunikation für sich genommen unwahrscheinlich sind,
ist es ihre Synthese erst recht. Wie soll jemand auf die Idee kommen, einen anderen, dessen Verhalten ja
gefährlich sein kann oder auch komisch, nicht nur schlicht wahrzunehmen, sondern es im Hinblick auf die
Unterscheidung von Mitteilung und Information zu beobachten? Wie soll der andere erwarten und sich darauf
einstellen können, daß er so beobachtet wird? Und wie soll jemand sich ermutigt fühlen, eine Mitteilung (und
welche?) zu wagen, wenn gerade das Verstehen des Sinnes der Mitteilung den Verstehenden befähigt, sie
abzulehnen? Geht man von dem aus, was für die beteiligten psychischen Systeme wahrscheinlich ist, ist also
kaum verständlich zu machen, daß es überhaupt zu Kommunikation kommt.
Fragen dieser Art sind im Prinzip an die Evolutionstheorie und an die Systemtheorie zu richten. Wir
kommen im nächsten und im übernächsten Kapitel darauf zurück. Aber auch die Kommunikation selbst hat
an ihrer immanenten Unwahrscheinlichkeit zu tragen. Wie Kommunikation möglich ist, und was sich zur
Kommunikation eignet, ist durch die Lösung, oder genauer: durch die Transformation, dieses Problems
bedingt.
Das Problem wird kaum je mit dieser Schärfe gestellt. Üblicherweise begnügt man sich damit, das
Vorkommen von Kommunikation durch ihre Funktion zu erklären und die Funktion in der Entlastung und
Erweiterung der kognitiven Fähigkeiten von Lebewesen zu sehen. Lebewesen leben aus zwingenden
biologischen Gründen als Einzelwesen. Sie leben aber nicht unabhängig voneinander. Sie sind in den höher
entwickelten Arten mit Eigenbeweglichkeit und mit Möglichkeiten der Fernwahrnehmung ausgestattet. Wenn

256
Vgl. Kap. 1,.....
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 87 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 88

dies gegeben ist, kann es evolutionär erfolgreich sein, nicht nur die Reichweite der Eigenwahrnehmung zu Systems eine eigene Operationsweise (hier: Kommunikation), eine eigene Autopoiesis, eine
257
vergrößern , sondern zusätzlich Informationen auszutauschen, statt sich jede Information selber zu selbst-gewährleistete Fortsetzbarkeit der Operationen geben; sonst hätte die Evolution von Möglichkeiten des
258
beschaffen. Die Literatur kennt mehrere Bezeichnungen für diesen Sachverhalt, etwa "vicarious learning" vicarious learning nie erfolgreich ablaufen können.
259
oder "economy of cognition". Der Gesichtspunkt ist jeweils: daß man sich mit Hilfe anderer sehr viel mehr Damit ist auch gesagt, daß eine "Übertragung" von Information von einem Lebewesen auf ein anderes
262
und vor allem schneller Informationen beschaffen kann, als es mit Hilfe der eigenen Sinnesorgane möglich (bzw. von einem Bewußtseinssystem auf ein anderes) unmöglich ist. Kommunikation kann deshalb nicht als
wäre. Entsprechend wird in neueren Theorien über "Hominisation" betont, daß die Absonderung eines Übertragungsprozeß begriffen werden. Informationen sind stets systemintern konstituierte Zeitunterschiede,
besonderen Evolutionszweigs "Mensch" nicht direkt auf überlegene Fähigkeiten im Umgang mit der äußeren nämlich Unterschiede in Systemzuständen, die aus einem Zusammenspiel von selbstreferentiellen und
Natur zurückzuführen ist, sondern auf die besonderen kognitiven Anforderungen des sozialen Feldes, in dem fremdreferentiellen, aber stets systemintern prozessierten Bezeichnungen resultieren. Das gilt schon für die
260
diese in Richtung Mensch evoluierenden Primaten existieren. Der Ausweg aus der damit angezeigten neurophysiologischen Systembildungen und erst recht dann für Kommunikationssysteme.
Herausforderung liegt in der gleichzeitigen Entwicklung von extremer Sozialabhängigkeit und hochgradiger Kommunikationssysteme konstituieren sich selbst mit Hilfe einer Unterscheidung von Medium und
263
Individualisierung, und das wird erreicht durch Aufbau einer komplexen Ordnung sinnhafter Form. Die Unterscheidung von Medium und Form soll uns dazu dienen, den systemtheoretisch
264
Kommunikation, die dann die weitere Evolution des Menschen bestimmt. unplausiblen Begriff der Übertragung zu ersetzen. Sie erspart uns außerdem die Suche nach "letzten
Das Argument ist hilfreich, reicht aber als Erklärung nicht aus. Man kann ihm Angaben über die Elementen", die es nach den Erkenntnissen der Nuklearmetaphysik à la Heisenberg ohnehin nicht gibt. An die
Umwelt des Kommunikationssystems Gesellschaft (oder entsprechender Systeme tierischer Kommunikation) Stelle der ontologischen Fixpunkte, über die in den Debatten zwischen Reduktionismus und Holismus
entnehmen. Wenn Lebewesen nicht einzeln leben müßten, wenn es keine Vorteile von Information auf Distanz gestritten worden war, tritt eine beobachterabhängige Unterscheidung. Wenn wir von
gäbe und wenn es nicht hilfreich wäre, die Grenzen des eigenen Sinnesapparates, mag er auch für "Kommunikationsmedien" sprechen, meinen wir immer die operative Verwendung der Differenz von
265
Distanzwahrnehmung geeignet sein, durch Distanzwahrnehmung der Distanzwahrnehmung anderer medialem Substrat und Form. Kommunikation ist nur, und das ist unsere Antwort auf das
Lebewesen zu erweitern, könnten sich keine Kommunikationssysteme bilden. Die dies ermöglichende Umwelt Unwahrscheinlichkeitsproblem, als Prozessieren dieser Differenz möglich.
erklärt viel. Sie erklärt aber gerade nicht, daß es zur Autopoiesis von Kommunikation, zur operativen Ähnlich wie der Informationsbegriff ist auch die (eng mit ihm zusammenhängende) Unterscheidung von
Schließung kommunikativer Systeme kommt; so wenig wie eine chemische Erklärung der Autopoiesis des Medium und Form stets ein systeminterner Sachverhalt. Ebenso wie für Information gibt es auch für die
Lebens gelingen kann. Schon generell gilt, daß durch Angabe der Funktion nicht erklärt werden kann, daß Medium/Form-Differenz keine Umweltkorrespondenz (obwohl natürlich in der Umwelt gegebene
etwas existiert und durch welche Strukturen es sich selbst ermöglicht. Und erst recht reicht eine funktionale Bedingungen der Möglichkeit und entsprechende strukturelle Kopplungen). Kommunikation setzt also
Erklärung, die auf Bedürfnisse oder Vorteile in der Umwelt verweist, nicht aus, um zu erklären, wie das keinerlei letzte Identitäten (Atome, Partikel) voraus, die sie nicht selbst durch eigene Unterscheidungen bildete.
System funktioniert. Sobald man sieht, wie extrem unwahrscheinlich ein solches Zustandekommen und Vor allem "repräsentieren" weder "Information" noch "Medium/Form" physikalische Sachverhalte der
Funktionieren ist, muß man, bei aller Voraussetzung einer konduzierenden Umwelt, die Erklärung im System Umwelt im System. Das gilt bereits für die Wahrnehmungsmedien ("Licht" ist kein physikalischer Begriff)
selbst suchen. und erst recht für alle Kommunikationsmedien, die wir im folgenden behandeln werden. Das bedeutet auch,
Stellt man etwas höhere Ansprüche an begriffliche Genauigkeit, dann sieht man rasch, daß die Vorteile daß die Komplexitätsadäquität sich stets nach der Art und Weise richten muß, in der das
der sozialen Erweiterung kognitiver Fähigkeiten von Lebewesen gerade nicht dadurch gewonnen werden informationserarbeitende System seine eigene Autopoiesis strukturiert.
können, daß man sie voneinander abhängig macht. Die traditionsreiche Rede von den "Beziehungen" zwischen Die Unterscheidung von medialem Substrat und Form dekomponiert das allgemeine Problem der
Lebewesen (unter anderen: Menschen) verschleiert diesen Sachverhalt. Lebewesen leben einzeln, leben als strukturierten Komplexität mit Hilfe der weiteren Unterscheidung von lose und strikt gekoppelten
strukturdeterminierte Systeme. So gesehen ist es ein konstellationsbedingter Zufall, wenn das eine, obwohl es
tut, was es tut, dem anderen nützen kann. Abhängigmachen hieße also: Unwahrscheinlichkeiten miteinander
zu multiplizieren. Vorteile können deshalb nur dadurch gewonnen werden, daß Lebewesen von einem System
höherer Ordnung abhängig werden, unter dessen Bedingungen sie Kontakte miteinander wählen können, also
Problemstellung. Aber sie führen uns nicht zu einer Gesellschaftstheorie oder wenn, dann zu einer Theorie, die die
gerade nicht voneinander abhängig werden. Für Menschen ist dies System höherer Ordnung, das selber nicht Gesellschaft durch einen Primat der Politik oder durch einen Primat der Wirtschaft definiert.
261
lebt, das Kommunikationssystem Gesellschaft. Es muß, mit anderen Worten, auf der Ebene des emergenten 262
Siehe für diese noch recht ungeläufige Einsicht auch Benny Shanon, Metaphors for Language and Communication,
Revue internationale de systémique 3 (1989), S. 43-59. Vgl. auch Humberto R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und
257 Verkörperung von Wirklichkeit: Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig 1982, S. 57 f. Oder
Eine darauf abstellende Evolutionstheorie liegt den langjährigen Forschungen von Donald T. Campbell zu Grunde.
Klaus Kornwachs / Walter von Lucadou, Komplexe Systeme, in: Klaus Kornwachs (Hrsg.), Offenheit — Zeitlichkeit —
Siehe etwa, mit Rückgriff auf die Psychologie Egon Brunswiks, Pattern Matching as an Essential in Distal Knowing, in:
Komplexität: Zur Theorie offener Systeme, Frankfurt 1984, S. 110-165 (120) "So stellt sich Information als ein Prozeß dar,
Kenneth R. Hammond (Hrsg.), The Psychology of Egon Brunswik, New York 1966, S. 81-106; ferner ders., Natural
dessen Wirksamkeit durch thermodynamische Randbedingungen und bereits vorhandene Information bedingt festgelegt ist.
Selection as an Epistemological Model, in: Raoul Naroll / Ronald Cohen (Hrsg.), A Handbook of Method in Cultural
Der Unterschied zwischen Sender und Empfänger, wie er streng in der Shannonschen Informationstheorie formuliert wird,
Anthropology, Garden City N.Y. 1970, S. 51-85; ders., On the Conflicts Between Biological and Social Evolution and
ist aufgehoben".
Between Psychological and Moral Tradition, American Psychologist 30 (1975), S. 1103-1126.
263
258 Für weitere Erörterungen dieser Unterscheidung, bezogen auf Funktionssysteme, vgl. auch Niklas Luhmann, Die
Siehe Alfred A. Lindesmith / Anselm L. Strauss, Social Psychology, 3. Aufl. New York 1968, S. 284ff.; Albert Bandura,
Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990, S. 53 ff., 181 ff.; ders., Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1995, S. 165
Vicarious Processes: No Trial Learning, in: Leonard Berkowitz (Hrsg.), Advances in Experimental Social Psychology, New
ff.
York 1968, S. 76ff.; Justin Aronfreed, Conduct and Conscience: The Socialization of Internalized Control over Behavior,
264
New York 1968, S. 76ff. Ältere Forschung findet man auch unter dem Stichwort Imitation. Sie ersetzt auch, oder ergänzt jedenfalls, Saussures Unterscheidung von "langue" und "parole". Man kann diese
259 Unterscheidung verallgemeinern zur Unterscheidung von Struktur und Ereignis. Aber dann sieht man auch, daß ihr all das
So Donald T. Campbell, Ethnocentric and Other Altruistic Motives, in: Nebraska Symposium on Motivation 1965, S.
fehlt, was die Systemtheorie leistet, nämlich eine Erklärung dafür zu bieten, wie Ereignisse Strukturen produzieren und
283-311 (298f.).
Strukturen Ereignisse dirigieren. Die Unterscheidung Medium/Form ist in diesem Zwischenreich angesiedelt. Sie setzt
260
Siehe dazu Eve-Marie Engels, Erkenntnis als Anpassung? Eine Studie zur evolutionären Erkenntnistheorie, Frankfurt kopplungsfähige Elementarereignisse (paroles) ebenso voraus wie die Notwendigkeit einer strukturierten Sprache, um
1989, S. 183 ff. mit weiteren Literaturhinweisen. diese Kopplung durchzuführen und sie von Moment zu Moment zu variieren.
261 265
Es ist also nicht nur ein System konzentrierter Abhängigkeit von politischer Herrschaft im Sinne von Hobbes. Es ist Wir folgen mit dieser Verwendung des Ausdrucks "Kommunikationsmedien" dem eingeführten Sprachgebrauch. Wo es
auch nicht nur ein System aufgelöster und wählbarer Abhängigkeiten, wie es sich mit dem Übergang von Tauschwirtschaft auf größere Genauigkeit ankommt und nur die eine Seite der Unterscheidung im Unterschied zu (und nicht in Einheit mit)
zur Geldwirtschaft ergeben hat. Dies sind Beispiele für erfolgreiche evolutionäre Errungenschaften im Bereich unserer der anderen bezeichnet werden soll, werden wir, wie oben im Text, von "medialem Substrat" sprechen.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 89 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 90
266
Elementen. Diese Unterscheidung geht davon aus, daß nicht jedes Element mit jedem anderen verknüpft Um so wichtiger ist es, die Form der Unterscheidung von Medium und Form möglichst genau zu
werden kann; aber sie reformuliert das damit gestellte Selektionsproblem, bevor sie es behandelt, noch einmal beschreiben, damit man jeweils feststellen kann, welche Unterscheidung eine Operation verwendet und wo
durch eine weitere, vorgeschaltete Unterscheidung, um dann Formen (in diesem engeren Sinne strikter damit jeweils ihr blinder Fleck liegt, den sie selbst nicht beobachten kann. Wir tun dies mit Hilfe der
Kopplung) als Selektion im Bereich eines Mediums darstellen zu können. Unterscheidung von loser und strikter Kopplung der Elemente. Ein Medium besteht in lose gekoppelten
267
Schon den Wahrnehmungsprozessen der Organismen liegt eine solche Unterscheidung zu Grunde. Sie Elementen, eine Form fügt dieselben Elemente dagegen zu strikter Kopplung zusammen. Nehmen wir als
setzen spezifische Wahrnehmungsmedien wie Licht oder Luft oder elektromagnetische Felder voraus, die Beispiel das Medium Handlung und stellen wir uns die Gesellschaft als Gesamtheit ihrer Handlungen vor.
durch den wahrnehmenden Organismus zu bestimmten Formen gebunden werden können, die dann auf Grund Dann beruht Freiheit auf der strikten Kopplung von Handlungen in der Zurechnung auf einzelne Personen, die
komplexer neurophysiologischer Prozesse als bestimmte Dinge, bestimmte Geräusche, spezifische Signale an der Form ihrer Handlungen erkennbar sind; und lose Kopplung gäbe dann die Möglichkeit, Handlungen für
usw. erscheinen und verwertet werden können. Und schon hier kann das Medium Form werden: Licht wird in jeweils auftauchende Zwecke zu rekrutieren, weil sie nicht an Personen gebunden sind. Gesellschaften, die ein
270
den Kathedralen zugelassen, wird Form, um mit den Säulen und Bögen spielen zu können. Die physikalische hohes Maß an Freiheit gewährleisten, enden in der Unverfügbarkeit des Handelns für kollektive Zwecke
Struktur der Welt muß das ermöglichen, aber die Differenz von Medium und Form ist eine Eigenleistung des und, das ist nur scheinbar paradox, in einem Riesenstaat, der viel Geld braucht, um seine Programme trotz
wahrnehmenden Organismus. Freiheit zu realisieren.
Auf ganz anderen Grundlagen findet man dieselbe Unterscheidung als Operationsgrundlage Kopplung ist ein Begriff, der Zeit impliziert. Man müßte von Koppeln und Entkoppeln sprechen, — von
kommunikativer Systeme. Auch hier gibt es, wir hatten in der Klärung des Sinnbegriffs und in der Analyse einer nur momentanen Integration, die Form gibt, sich aber wieder auflösen läßt. Das Medium wird gebunden
268
von Sprache darauf schon vorgegriffen , ein systemspezifisches Medium und darauf bezogen, in das — und wieder freigegeben. Ohne Medium keine Form und ohne Form kein Medium, und in der Zeit ist es
Medium sich einprägende Formen. Die lose gekoppelten Worte werden zu Sätzen verbunden und gewinnen möglich, diese Differenz ständig zu reproduzieren. Die Differenz von loser und strikter Kopplung ermöglicht,
dadurch eine in der Kommunikation temporäre, das Wortmaterial nicht verbrauchenden, sondern in welcher sachlichen Ausprägung, auf welcher Wahrnehmungsbasis auch immer, ein zeitliches Prozessieren
269
reproduzierende Form. Die Unterscheidung Medium/Form übersetzt die Unwahrscheinlichkeit der von Operationen in dynamisch stabilisierten Systemen und ermöglicht damit autopoietische Systeme dieses
operativen Kontinuität des Systems in eine systemintern handhabbare Differenz und transformiert sie damit Typs. Im Hinblick auf dies laufende Binden und Lösen des Mediums kann man auch sagen, daß das Medium
in eine Rahmenbedingung für die Autopoiesis des Systems. Das System operiert in der Weise, daß es das im System "zirkuliere". Es hat seine Einheit in der Bewegung.
eigene Medium zu eigenen Formen bindet, ohne das Medium dabei zu verbrauchen (so wenig wie das Licht Dieser zeitliche Vorgang des laufenden Koppelns und Entkoppelns dient sowohl der Fortsetzung der
durch das Sehen von Dingen verbraucht wird). Die jeweils aktualisierten Formen, die gesehenen Dinge, die Autopoiesis als auch der Bildung und Änderung der dafür nötigen Strukturen — wie bei einer von Neumann
gesprochenen Sätze koppeln die Elemente des Systems für momentane Verwendung, aber sie vernichten sie Maschine. Er unterläuft also die klassische Unterscheidung von Struktur und Prozeß. Das heißt nicht zuletzt,
nicht. Die Differenz von Medium und Form bleibt in der operativen Verwendung erhalten und wird durch sie daß die Einheit des Systems nicht mehr durch (relative) strukturelle Stabilität definiert sein kann, obwohl es
reproduziert. Es kommt dabei auf die Differenz selbst an, und nicht nur auf die jeweils in der Operation nach wie vor um Systemerhaltung geht, sondern durch die Spezifik, in der ein Medium Formbildungen
verdichtete Form. Denn die Möglichkeit, Farbeindrücke wahrzunehmen oder Worte auszusprechen, setzt ermöglicht.
gerade voraus, daß diese Einheiten in der Operation nicht konsumiert, sondern in ihrer Verwendbarkeit im Derselbe Zeitbezug zeigt sich auch am allgemeinen Medium Sinn, das sowohl psychischer als auch
Kontext anderer Formen reproduziert werden. sozialer Formenbildung dient. Da Sinn immer nur ereignishaft aktualisiert werden kann und dies in Horizonten
An dieser Stelle sei daran erinnert, daß wir unter "Form" die Markierung einer Unterscheidung geschieht, die eine Vielzahl weiterer Aktualisierungsmöglichkeiten appräsentieren, ist jeder im Moment erlebte
verstehen. Also ist auch die Unterscheidung von Medium und Form eine Form. Die Unterscheidung impliziert bzw. kommunizierte Sinn eine Form, das heißt: die Markierung eines Unterschieds und insofern determinierte
sich selbst, sie macht jede Theorie, die mit ihr arbeitet, autologisch. Um zu explizieren, waswir unter Medium Festlegung. Aber zugleich bilden hier anknüpfende Verweisungen auf ein "Und-so-weiter" weiterer
und Form verstehen, müssen wir Sprache verwenden, benutzen wir also die Unterscheidung von Medium und Möglichkeiten ein Verhältnis loser Kopplung ab, das nur durch weitere Aktualisierungen gebunden werden
Form. Unter den Perspektiven der herkömmlichen Erkenntnistheorie wäre das ein Fehler, der alles, was daraus kann. Die feste Kopplung ist das, was gegenwärtig (und sei es: als konkrete Erinnerung oder als Antezipation)
folgt, unbrauchbar macht. Wir werden aber auf dasselbe Problem stoßen, wenn wir in den nächsten Kapiteln realisiert ist. Die lose Kopplung liegt in den dadurch nicht festgelegten Möglichkeiten des Übergangs vom
mit den Unterscheidungen Variation/Selektion (Evolutionstheorie) und System/Umwelt (Theorie der einen zum anderen.
Systemdifferenzierung) arbeiten. Für universalistisch ansetzende Theorien sind Autologien dieser Art Die Zirkulation kommt dadurch zustande, daß die Form stärker ist als das mediale Substrat. Sie setzt
unvermeidlich, und wenn man sie antrifft, ist das kein Einwand, sondern im Gegenteil: ein Beleg für den sich im Bereich der lose gekoppelten Elemente durch — und dies ohne jede Rücksicht auf Selektionskriterien,
theoretischen Rang der Begrifflichkeit. Rationalitätsgesichtspunkte, normative Direktiven oder andere Wertpräferenzen — vielmehr einfach als strikte
Kopplung. Anders als die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas es postuliert,
271
vermeiden wir den Einbau von Rationalitätsprätentionen in den Begriff der Kommunikation und behaupten
266
Wir finden uns hier ganz in der Nähe der naturwissenschaftlichen Unterscheidung von Gleichgewicht und nur einen Zusammenhang von Durchsetzungsstärke und zeitlicher Flüchtigkeit der Form.
Ungleichgewichtszuständen, wie sie insbesondere von Ilya Prigogine benutzt und mit der Unterscheidung von Entropie und Kommunikationsmedien präjudizieren nicht — ebensowenig wie der Begriff des Systems oder der Begriff der
Negentropie oder von Unordnung und Ordnung gleichgesetzt wird. Diese Formulierungen hinterlassen den Eindruck, als ob
es sich um verschiedene, miteinander inkompatible Zustände handele. Die naturwissenschaftliche Entwicklung selbst führt
Evolution — in Richtung Rationalität. Auf dieser elementaren Ebene gilt nur: es geschieht, was geschieht.
jedoch bereits darüber hinaus, wenn man etwa an die Chaos-Forschung denkt. Das Problem verschiebt sich damit in die Andererseits sind Formen weniger beständig als das mediale Substrat. Sie erhalten sich nur über besondere
Theorie der Zeit und insbesondere in die Frage, wie "Gleichzeitigkeit" im Verhältnis zu "Zeit" zu verstehen ist. Jedenfalls Vorkehrungen wie Gedächtnis, Schrift, Buchdruck. Aber selbst dann, wenn eine Form als wichtig bewahrt
geht die Unterscheidung Medium/Form davon aus, daß die Zustände der losen bzw. festen Kopplung gleichzeitig gegeben wird, und hierfür setzen wir den Begriff der Semantik ein, bleibt die freie Kapazität des medialen Substrats zu
sind und sachlich unterschieden werden müssen. Es handelt sich nicht um eine Theorie der Entstehung von Ordnung als immer neuen Kopplungen erhalten. Die ungebundenen (oder kaum gebundenen) Elemente sind massenhaft
Entwicklung von Medium zu Form.
267
Am Falle von Wahrnehmungsmedien ist denn auch die im Text benutzte Unterscheidung zuerst entwickelt worden.
Siehe Fritz Heider, Ding und Medium, Symposion 1 (1926), S. 109-157. 270
Die Raison dafür liefert Mancur Olson, The Logic of Collective Action, Cambridge Mass. 1965.
268
Vgl. Kapitel 1,.... 271
Bei Habermas führt dies dazu, daß Formen der Kommunikation, die sich dem nicht fügen, trotzdem zugelassen, aber —
269
Oder in einer älteren Fassung: "Dos cosas hacen perfecto un estilo, lo material de las palabras y lo forma de las anders weiß die Theorie sich dann nicht mehr zu helfen — abgewertet werden müssen, zum Beispiel als nur "strategisches"
pensamientos, que de ambas eminencias se adequa su perfección". (Baltasar Gracián, Agudeza y arte de ingenio, Huesca Handeln. Siehe für die volle Exposition: Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981, und
1649, Discurso LX, zit. nach der Ausgabe Madrid 1969, Bd. II, S. 228. viel Sekundärliteratur.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 91 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 92

vorhanden, Wörter zum Beispiel beliebig oft verwendbar, ohne daß damit eine knappe Menge von aber bald nicht mehr wissen, wer welche Texte gelesen hat und ihren Inhalt erinnert. Erst recht wird durch die
Verwendungsmöglichkeiten abnähme. Allerdings "kondensieren" häufige Verwendungen oft auch den Erfindung der Druckpresse und dann nochmals im System der modernen Massenmedien die soziale
Wortsinn, so daß die Kombinationsfähigkeit, die Art und Reichweite der Verwendungsmöglichkeiten, im Redundanz anonymisiert. Man muß im Zweifel mit Bekanntsein einer verbreiteten Information rechnen und
Laufe des Prozessierens der Differenz von medialem Substrat und Form, hier also im Laufe der kann sie nicht nochmals kommunizieren. Jetzt entsteht ein Bedarf für laufend neue Information, den das
Sprachgeschichte, Variationen unterliegt. System der Massenmedien befriedigt, das seine eigene Autopoiesis diesem selbsterzeugten Verlust von
276
Schließlich ist zu beachten, daß nicht das mediale Substrat, sondern nur die Formen im System operativ Informationen verdankt.
anschlußfähig sind. Mit den formlosen, lose gekoppelten Elementen kann das System nichts anfangen. Das gilt In dem Maße als die Verbreitungsmedien soziale Redundanz erzeugen, läuft nicht nur die Zeit schneller;
bereits für die Wahrnehmungsmedien. Man sieht nicht das Licht, sondern die Dinge, und wenn man Licht es wird auch ungewiß und schließlich unklärbar, ob mitgeteilte Informationen als Prämissen für weiteres
272
sieht, dann an der Form der Dinge. Man hört nicht die Luft, sondern Geräusche; und die Luft selbst muß Verhalten angenommen oder abgelehnt werden. Es sind zu viele, unübersehbar viele beteiligt, und man kann
schon ein Geräusch machen, wenn sie hörbar werden will. Dasselbe gilt für die Kommunikationsmedien. nicht mehr feststellen, ob und wozu eine Kommunikation motiviert hatte. Kontroversdiskussionen darüber
Auch hier bilden, wenn man auf Sprache abstellt, nicht schon Worte, sondern erst Sätze einen Sinn, der in der finden teilweise in den Massenmedien statt, und deren System liebt Konflikte. Aber damit kann nicht geklärt,
273
Kommunikation prozessiert werden kann. Neben der zeitlichen gibt es also auch eine sachliche Asymmetrie sondern allenfalls simuliert werden, welche Kommunikationen gesellschaftsweit angenommen und welche
in der Unterscheidung loser und strikter Kopplung; und auch diese Asymmetrie ist eine der Bedingungen der abgelehnt oder schließlich schlichtweg vergessen werden.
Autopoiesis des Kommunikationssystems Gesellschaft. Angesichts dieser Lage kann die Evolution stagnieren oder sie kann Lösungen für die neuen Probleme
Auf Grund dieser in sich asymmetrischen Form der Unterscheidung von medialem Substrat und Form entdecken. Zunächst scheint es nahegelegen zu haben, als Folge der Erfindung von Schrift Religion zu straffen
prozessieren Kommunikationssysteme Kommunikationen. Sie lenken damit die Focussierung von Sinn auf und verstärkt als homogenisiertes Motivationsmittel einzusetzen. Damit wird jedoch die Einheitlichkeit, die
das, was jeweils geschieht und Anschluß sucht. So kommt es zur Emergenz von Gesellschaft, und so Kosmologie dieses Motivationsmittels überspannt. Eine ganz andersartige, mit Religionen nur noch
reproduziert sich die Gesellschaft im Medium ihrer Kommunikation. Mit diesem komplexer gebauten Begriff oberflächlich integrierbare Lösung findet die Gesellschaft schließlich in der Entwicklung eines neuen Typs von
ersetzen wir die übliche Vorstellung eines Übertragungsmediums, dessen Funktion darin besteht, zwischen Medien, die wir Erfolgsmedien nennen wollen, nämlich symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien.
unabhängig lebenden Organismen zu "vermitteln". Auch der alte Sinn von "communicatio", der Sinn des Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien leisten eine neuartige Verknüpfung von
Herstellens von "Gemeinsamkeit" des Erlebens, wird damit aufgegeben oder doch auf einen Nebeneffekt Konditionierung und Motivation. Sie stellen die Kommunikation in jeweils ihrem Medienbereich, zum Beispiel
reduziert. Das folgt aus der oben dargelegten Auffassung, daß es nicht ausreicht, die Funktion der in der Geldwirtschaft oder dem Machtgebrauch in politischen Ämtern, auf bestimmte Bedingungen ein, die die
Kommunikation in der Erweiterung und Entlastung der kognitiven Fähigkeiten von Lebewesen zu sehen. Chancen der Annahme auch im Falle von "unbequemen" Kommunikationen erhöhen. So gibt man eigene
Überhaupt ist ja schwer zu sehen, wie Lebewesen, einschließlich Menschen, in der finsteren Innerlichkeit ihres Güter her oder leistet Dienste, wenn (und nur wenn) dafür bezahlt wird. So folgt man den Weisungen
274
Bewußtseins irgendetwas gemeinsam haben können. Statt dessen soll uns der Begriff der staatlicher Ämter, weil mit physischer Gewalt gedroht wird und man davon ausgehen muß, daß diese Drohung
Kommunikationsmedien erklären, daß und wie auf der Grundlage von Kommunikation das in der Gesellschaft als legitim (zum Beispiel als rechtmäßig) angesehen wird. Mit Hilfe der
Unwahrscheinliche doch möglich ist: die Autopoiesis des Kommunikationssystems Gesellschaft. Institutionalisierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien kann also die Schwelle der
Nichtakzeptanz von Kommunikation, die sehr naheliegt, wenn die Kommunikation über den Bereich der
Interaktion unter Anwesenden hinausgreift, hinausgeschoben werden. Auch in der kulturellen
Selbstbeschreibung der Gesellschaft werden sind diese Erfolgsmedien derart prominent, daß gar keine
II. Verbreitungsmedien und Erfolgsmedien Information darüber gesammelt wird, wieviel Kommunikation dann doch nicht befolgt oder wieviel
Information schlicht vergessen wird. Die Gesellschaft beschreibt sich selbst dann so, als ob mit
Die folgenden Analysen bauen auf einer Unterscheidung auf, die einführend kurz erläutert werden muß. durchgängigem, durch Prinzipien, Codes und Programme gesichertem Konsens zu rechnen sei. So als ob es
277
Die gesellschaftliche Kommunikation bildet verschiedene Medien/Formen aus je nach dem, welches Problem eine "öffentliche Meinung" gäbe. Der Rest bleibt in der Form von "pluralistic ignorance" unbeleuchtet.
zu lösen ist. Von Verbreitungsmedien wollen wir sprechen, wenn es um die Reichweite sozialer Redundanz Sprache allein legt noch nicht fest, ob auf eine Kommunikation mit Annahme oder mit Ablehnung
geht. Verbreitungsmedien bestimmen und erweitern den Empfängerkreis einer Kommunikation. In dem Maße, reagiert wird. Solange aber Sprache nur mündlich, also nur in Interaktionen unter Anwesenden ausgeübt wird,
als dieselbe Information verbreitet wird, wird Information in Redundanz verwandelt. Redundanz erübrigt gibt es genug soziale Pressionen, eher Angenehmes als Unangenehmes zu sagen und die Kommunikation von
Information. Sie kann zur Bestätigung sozialer Zusammengehörigkeit verwendet werden: Man erzählt schon Ablehnungen zu unterdrücken. Wenn es nur mündliche Kommunikation gibt, wirkt Sprache zugleich als
Bekanntes, um Solidarität zu dokumentieren. Aber damit ist kein Zugewinn an Information verbunden. Man "intrinsic persuader" (Parsons). Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien entstehen erst, wenn die
kann jeden fragen, der die Information erhalten hat. Wenn man wiederholt nachfragt, entsteht keine neue gesellschaftliche Evolution diese Schwelle überwunden hat und Komplexität in größeren räumlichen und
Information.
275 zeitlichen Dimensionen und doch in derselben Gesellschaft entstehen läßt. Dann muß Kommunikation
Die Verbreitung kann mündlich erfolgen in Interaktionen unter Anwesenden. Schrift erweitert bereits den zunehmend auf noch unbekannte Situationen eingestellt werden. Die Gesellschaft hilft sich, wenn Evolution
278
Empfängerkreis in zunächst noch kontrollierbarer Form. Mit Zunahme der Schriftbeherrschung kann man ihr hilft, einerseits mit Systemdifferenzierungen , andererseits mit der Ausbildung von Spezialmedien der
Einschränkung von Kontingenz durch Verknüpfung von Konditionierung und Motivierung, eben den
symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, wobei die Differenzierung dieser Medien zugleich die
272
Genau umgekehrt hatte die ältere Optik votiert, die Lichtpartikel als Input, als von außen eindringende sensations Systemdifferenzierung vorantreibt, nämlich den Anlaß bildet für die Ausdifferenzierung wichtiger
begriffen hatte. Heute schließt man dagegen aus, daß Stimuli wahrgenommen werden können. Siehe zu dieser gesellschaftlicher Funktionssysteme.
Theoriewendung James J. Gibson, The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979, S. 54 f.
273
Wir bestreiten natürlich nicht, daß es Ein-Wort-Sätze, Ausrufe etc. geben kann. So kann es genügen, "Vorsicht!" zu
rufen und "wieso?" zu antworten.
276
274 Ausführlicher Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 2. Aufl. Opladen 1996.
Fast ein Hegel-Zitat. Hegel spricht von der "finsteren Innerlichkeit des Gedankens", in: Vorlesungen über die Ästhetik
277
Bd. 1, Frankfurt 1970, S. 18, — ohne freilich daraus die Konsequenzen zu ziehen, die uns vorschweben. Siehe dazu Floyd H. Allport, Institutional Behavior: Essays Toward a Re-interpretation of Contemporary Social
275 Organization, Chapel Hill N.C. 1933.
Vgl. Gregory Bateson, Ökologie des Geistes: Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische
278
Untersuchungen, dt. Übers. Frankfurt 1981, S. 524 f. So Odd Ramsöy, Social Groups as System and Subsystem, New York 1963.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 93 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 94

Wir halten bei diesem knappen Überblick über die Hypothesen, die die folgenden Untersuchungen leiten damit Adaptierung des sozialen Zusammenlebens an diese Möglichkeit unterstellen kann, wird es bei diesem
werden, nur fest, daß ihre theoretische Grundlage in der Annahme liegt, daß die Gesellschaft ein auf der Basis Sozialzustand keine Metakommunikation, keine auf Kommunikation bezogene Kommunikation gegeben
von Kommunikation operativ geschlossenes Sozialsystem ist und daß deshalb ihre Evolution den Problemen haben, zum Beispiel keine Bestätigung des Empfangs einer Mitteilung, keine Wiederholung derselben
der Autopoiesis von Kommunikation folgt, die ihrerseits in ihren Bedingungen durch die Evolution selbst Mitteilung, kein Aufbau sequentieller, "punktierter" Komplexität, bei der die Kommunikation voraussetzt, daß
282
laufend verändert werden. Damit ist ein komplexes Forschungsprogramm anvisiert, das in den folgenden sie mit anderen Inhalten bereits erfolgreich operiert hatte. Wie weit man unter diesen Bedingungen schon
Abschnitten und in den anschließenden Kapiteln auf den erforderlichen Umwegen über Sachfragen der von einer autopoietischen Schließung eines gegenüber dem Lebensvollzug eigenständigen Sozialsystems
verschiedensten Art eingelöst werden soll. sprechen kann, das zum Beispiel den Tod ganzer Generationen überdauert, müssen wir offen lassen, und
ebenso die Frage, ob und wie weit man schon eine "Sprache" im Sinne Maturanas annehmen kann, also eine
283
Koordination der Koordination des Verhaltens einzeln lebender Lebewesen. In jedem Falle ist Sprache in
dem uns geläufigen Sinne mit ihrer eindeutigen Bevorzugung akustischer und, darauf aufbauend, optischer
III. Sprache Medien eine historische Sonderkonstruktion der Evolution, die auf einer scharfen Auswahl ihrer Mittel
284
beruht.
Das grundlegende Kommunikationsmedium, das die reguläre, mit Fortsetzung rechnende Autopoiesis Wir können hier jedoch keine Untersuchung über die Evolution von Sprache anstellen, sondern
der Gesellschaft garantiert, ist die Sprache. Zwar gibt es durchaus sprachlose Kommunikation — sei es mit unterstellen nur, daß wie bei jeder Evolution autopoietischer Systeme eine Art Hilfskonstruktion den take off
285
Hilfe von Gesten, sei es als ablesbar an schlichtem Verhalten, zum Beispiel am Umgang mit Dingen, mag dies ermöglicht hat. Vermutlich hat dabei die Verwendung von Gesten und Lauten als Zeichen eine Rolle
nun als Kommunikation gemeint gewesen sein oder nicht. Man kann sich aber schon fragen, ob es solche gespielt. Zeichen sind ebenfalls Formen, das heißt markierte Unterscheidungen. Sie unterscheiden, folgt man
Kommunikation geben, das heißt: ob man einen Unterschied von Mitteilungsverhalten und Information Saussure, das Bezeichnende (signifiant) vom Bezeichneten (signifié). In der Form des Zeichens, das heißt im
überhaupt beobachten könnte, wenn es keine Sprache, also keine Erfahrung mit Sprache gäbe. Außerdem ist Verhältnis von Bezeichnendem zum Bezeichneten, gibt es Referenzen: Das Bezeichnende bezeichnet das
286
interpretierbares Verhalten immer so situationsspezifisch bestimmt, daß kaum Spielraum besteht für eine Bezeichnete. Die Form selbst (und nur sie sollte man Zeichen nennen ) hat dagegen keine Referenz; sie
Differenzierung von Medium und Form; genau das leistet aber die Sprache. Jedenfalls ist die Autopoiesis fungiert nur als Unterscheidung und nur dann, wenn sie faktisch als solche benutzt wird.
eines Kommunikationssystems, die ja reguläre Aussicht auf weitere Kommunikation voraussetzt, ohne Zeichen sind mithin Strukturen für (wiederholbare) Operationen, die keinen Kontakt zur Außenwelt
Sprache unmöglich, obgleich sie, wenn ermöglicht, sprachlose Kommunikation zuläßt. erfordern. Sie dienen auch nicht, wie oft angenommen, der "Repräsentation" von Sachverhalten der Außenwelt
Wenn man nach einem vorsprachlichen Kommunikationsmedium fragt, das noch nicht im Inneren des Systems. Vielmehr ist die Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem eine interne
sinnkonstituierend gewirkt hat, so kann dies nur in der Gesamtheit der Verhaltensmöglichkeiten anwesender Unterscheidung, die nicht voraussetzt, daß es das in der Außenwelt gibt, was bezeichnet wird. Ihre
Individuen gelegen haben. Dabei wird die Bewegung-im-Raum eine erhebliche Rolle gespielt haben. Im Besonderheit liegt vielmehr in der Isolierung dieser Unterscheidung, mit der erreicht wird, daß das Verhältnis
287
Anschluß an George Herbert Mead könnte man auch von einer rekursiven Sequenz von Gebärden (gestures) von Bezeichnendem und Bezeichnetem unabhängig vom Verwendungskontext stabil bleibt. Vom Mitspielen
sprechen, wobei nicht der Einzelakt, sondern die Rekursivität (der Anschluß an Vorheriges) emergente Effekte anderer Sinnverweisungen, von der Rücksicht auf andere Zusammenhänge (vermittelt zum Beispiel durch die
279
auslöst. In solchen, in der Form von Episoden realisierten Zusammenhängen findet man auch artspezifische, Materialität des Zeichenträgers) wird abgesehen. Ähnlich wie bei der Technik ist also auch bei der kulturellen
aber nur sehr begrenzt einsetzbare Signalen. Signale sind noch nicht Zeichen, noch nicht Hinweis auf etwas Erfindung von Zeichen das Weltverhältnis der Ausdifferenzierung, der Isolation und der dadurch bedingten
280
anderes, sondern nur Auslöser für "anticipatory reactions" auf Grund typischer, sich wiederholender
Zusammenhänge gegenwärtiger und künftiger Ereignisse, die aber nicht als Zusammenhänge erkannt werden. 282
Siehe dazu Jurgen Ruesch / Gregory Bateson, Communication: The Social Matrix of Psychiatry, New York 1951, 2.
Unter solchen Bedingungen kann es bereits zur Morphogenesis relativ komplexer sozialer Ordnungen Aufl. 1968, S. 208 ff.
kommen, allein unter der Voraussetzung, daß reaktive Verhaltensmuster auf ihre eigenen Resultate 283
Im übrigen setzt Maturana bei der Beschreibung rekursiver Interaktionen zwischen Organismen als "Sprache" einen
wiederangewandt werden. Es muß nicht vorausgesetzt werden, daß die Beteiligten die dadurch entstehenden Beobachter voraus, der feststellen kann, daß das Verhalten so gewählt wird, daß es sich einer Koordination fügt. Siehe
Strukturen erkennen und auf sie reagieren können. Entsprechend beschränkt muß das Formbildungspotential etwa Humberto R. Maturana, The Biological Foundations of Self-Consciousness and the Physical Domain of Existence, in:
gewesen sein, das aber offensichtlich ausreicht, um Rangordnungen und individuelle Partnerpräferenzen Niklas Luhmann et al., Beobachter: Konvergenz der Erkenntnistheorien?, München 1990, S. 47-117 (92 ff.). Der Begriff
281
einzurichten. Im vorsprachlichen Bereich, ja selbst im Verhältnis von Menschen und Tieren, findet man die der Sprache in dieser Fassung liegt in der Nähe des sozialpsychologisch-soziologischen Begriffs der doppelten Kontingenz.
284
wohl wichtigste Vorbereitung für die Evolution von Sprache: das Wahrnehmen des Wahrnehmens und Disziplingeschichtlich würde daraus folgen, daß die Linguistik ihr Forschungsprogramm nicht nur an den
insbesondere: das Wahrnehmen des Wahrgenommenwerdens. Das sind selbst in entwickelten Gesellschaften, Sprachstrukturen ausrichten kann, sondern sich um Erweiterung ihrer Theoriegrundlagen, etwa in Richtung auf
selbst heute nach wie vor unentbehrliche Formen der Sozialität, vor allem im Geschlechterverhältnis. Bezugspunkte einer funktionalen Analyse oder in Richtung auf eine allgemeine, Sprache als Sonderfall einschließende
Semiologie bemühen müßte.
Sozialität auf dieser Ebene nutzt die Komplexität und die Fokussierfähigkeit des Wahrnehmens und erzeugt
285
eine Gegenwart — fast ohne Zukunft. Selbst wenn man dies als gleichsam präprähistorische Gegebenheit und Dazu näher in Kapitel 3,......
286
Im Deutschen ist das sprachästhetisch schwer durchzuhalten, und so kommt es in der entsprechenden Literatur zu
279 ständigen Verwechslungen von Bezeichnendem und Zeichen. Das fördert dann den Irrtum französischer Semiologen
Mead nennt das, was wir hier als Rekursivität bezeichnen, "conversation in gestures". Siehe George H. Mead, Mind,
(Roland Barthes, Julia Kristeva), sich auf eine bloße Rhetorik referenzloser Zeichen zurückzuziehen. Die Ausführungen
Self & Society From the Standpoint of a Social Behaviorist, Chicago 1934, 9. Druck 1952, S. 14 (S. 63 klarer: conversation
oben im Text sollen deutlich machen, daß die Semiotik eine komplexere Tiefenstruktur benötigt, die wir mit Hilfe des
of gestures).
Begriffs der Zwei-Seiten-Form gewinnen. Vgl. auch Niklas Luhmann, Zeichen als Form, in: Dirk Baecker (Hrsg.),
280
Siehe zu diesem keine Voraussicht voraussetzenden Begriff Robert Rosen, Anticipatory Systems: Philosophical, Probleme der Form, Frankfurt 1993, S. 45-69.
Mathematical and Methodological Formulations, Oxford 1985. Bereits vorher hatte Gerd Sommerhoff von "directive 287
In Anschluß an Saussure (l'arbitraire du signe) spricht man üblicherweise von Willkür der Zeichenfestlegung. Das ist
correlation" gesprochen. Siehe Analytical Biology, London 1950, S. 54 ff. und Logic of the Living Brain, London 1974, S.
jedoch mißverständlich. Siehe dazu die Kritik von Roman Jakobson, Zeichen und System der Sprache (1962), zit. nach dem
73 ff. Solche Vorweganpassungen an eine noch nicht sichtbare Zukunft (die Bäume werfen ihre Blätter ab, bevor es
Abdruck in ders., Semiotik: Ausgewählte Texte 1919-1982, Frankfurt 1988, S. 427-436. Willkür gibt es nur im Verhältnis
schneit) funktionieren natürlich nur auf Grund von Regelmäßigkeiten in den Abläufen der Umwelt. Sie eignen sich nicht
von Bezeichnendem und Bezeichnetem. Sie ist Bedingung der Isolation des Zeichengebrauchs. Die Zeichen selbst (als
zur vorübergehenden Anpassung an vorübergehende Lagen.
Form dieser Unterscheidung) sind jedoch abhängig von Tradition und von hoher Redundanz in ihrer Anschlußfähigkeit.
281
Vgl. Bernard Thierry, Emergence of Social Organizations in Non-Human Primates, Revue internationale de systémique Wenn sie von Moment zu Moment neu geschaffen werden müßten, wären sie weder lernbar noch benutzbar. Willkür und
8 (1994), S. 65-77 mit Hinweisen auf den Forschungsstand. Tradition schließen einander nicht aus, im Gegenteil: sie bedingen sich wechselseitig — wie Medium und Form.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 95 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 96

Wiederholbarkeit entscheidend. Das erklärt auch die Möglichkeit von Fehlern. Kleinste Abweichungen oder werden (womit sich laufend bestätigt, daß es sich "nur" um Zeichen handelt). Dem, was akustisch oder optisch
Verwechslungen können Zeichen außer Funktion setzen. (Man sagt statt Zeichen Weichen oder Zeiten oder wahrgenommen und so unterschieden werden kann, wird eine zweite Selektionsweise aufgepfropft. Schon das
Ziehen — und schon ist nicht mehr zu verstehen, was gemeint ist). Die Erzeugung von Redundanzen, von "Material" der Sprache ist geformt und nur so wahrnehmbar; aber es wird zusätzlich mit Verweisungen
Beschränkungen des Überraschungseffektes in der Zeichenverwendung hängt also an der Genauigkeit des besetzt, die umgebungsunabhängig fungieren und deshalb wiederholten Gebrauch ermöglichen. Sprachzeichen
Copierens bekannter Muster. Das aber ist, ebenso wie die Isolation selbst, nur durch willkürliche Festlegung sind und bleiben daher stets auch anders möglich. Sie gewinnen aber zugleich eine Form, die Rückfragen und,
der Zeichen erreichbar. wenn Schrift benutzt wird, Textinterpretationen ermöglicht. Der Abschluß kommunikativer Episoden kann
290
Die Evolution einer stereotypisierten Zeichenverwendung ist jedoch nur eine Vorbedingung der damit aufgeschoben, die Sequenz von elementaren Aussagefolgen auf sich selbst zurückgeleitet werden. Der
Evolution von Sprache. Sie läßt wichtige Eigenarten der Sprache unerklärt, und zwar vor allem das Sprachprozeß wird dadurch in seiner Selbstdetermination unabhängig von den Wahrnehmungen der
Entscheidende: die operative Schließung des Sprache verwendenden Kommunikationssystems. Die nur Beteiligten, die er voraussetzt. Das System schirmt sich gegen das Rauschen der Wahrnehmungen durch
episodenhaft realisierbare Rekursivität von Gebärdenabfolgen wird zur rekursiven Zeichenverwendung eigene Rekursionen ab und läßt nur Irritationen zu, mit denen es eigensprachlich umgehen kann. In
fortentwickelt, womit eine Welt entsteht, auf die man sich immer wieder und auch nach längeren sprachlicher Fassung reproduziert die Kommunikation das, was sie für ihre Autokatalyse braucht, selber,
Unterbrechungen erneut beziehen kann. Die Vorbedingungen und Anlässe, die in der Evolution der Form nämlich doppelte Kontingenz; und sie erneuert damit, was immer das Anfangen ermöglicht hatte, ständig ihre
"Zeichen" liegen, müssen deshalb von dem Zustandekommen der operativen Schließung eines über Sprache eigenen Voraussetzungen. Weder der Sprecher noch der Hörer kann den Tatbestand der Kommunikation als
288
verfügenden Kommunikationssystems sorgfältig unterschieden werden. Durch Sprache wird die solchen leugnen. Man kann allenfalls mißverstehen oder schwer verstehen oder interpretieren oder sonstwie
Selbstreferenz von Sinn generalisiert, und dies mit Hilfe von Zeichen, die selbst diese Generalisierung sind, nachträglich über die Kommunikation kommunizieren. Die Probleme der Kommunikation werden in die
also nicht im Hinweis auf etwas anderes bestehen. Kommunikation zurückgeleitet. Das System schließt sich. Eine normalerweise entropische Entwicklung von
Zeichengeben in einzelnen Situationen, die dies verständlich sein ließen, mag also der Anlaß gewesen Kommunikationsansätzen in Richtung Nichtkommunikation wird durch Sprache umgedreht und in die
sein und die Möglichkeit häufiger Wiederholung geboten haben, aber im Ergebnis ist etwas ganz anderes Richtung des Aufbaus komplizierter, interpretationsfähiger, sich auf bereits Gesagtes stützender
entstanden. Die Unwahrscheinlichkeitsschwelle sehen wir in der Frage, wie jemand überhaupt dazu kommt, Kommunikationsweisen gelenkt. Die an sich unwahrscheinliche Autopoiesis eines Kommunikationssystems
einen anderen unter dem Gesichtspunkt einer Differenz von Information und Mitteilungsverhalten zu wird auf diese Weise wahrscheinlich. Aber sie bewahrt zugleich ihre Unwahrscheinlichkeit in der Weise, daß
289
beobachten. Wir gehen also nicht von der Sprechhandlung aus, die ja nur vorkommt, wenn man erwarten jede bestimmte Aussage angesichts der Unzahl anderer Möglichkeiten extrem unwahrscheinlich wird. Die
kann, daß sie erwartet und verstanden wird, sondern von der Situation des Mitteilungsempfängers, also deutliche Außenabgrenzung des Systems führt zum Aufbau strukturierter Komplexität, die nun jedes
dessen, der den Mitteilenden beobachtet und ihm die Mitteilung, aber nicht die Information, zurechnet. Der bestimmte Einzelereignis im System unwahrscheinlich macht. Aber genau darin kann das System sich selber
Mitteilungsempfänger muß die Mitteilung als Bezeichnung einer Information, also beides zusammen als helfen, indem es rekursiv prozessiert und für eine Einschränkung der konkret gegebenen Wahlmöglichkeiten
Zeichen (als Form der Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem) beobachten (obwohl ihm auch sorgt.
andere, zum Beispiel rein wahrnehmungsmäßige, Möglichkeiten der Beobachtung zur Verfügung stehen). Sprache ist an den Hörsinn gebunden, und das erzwingt, anders als das Sehen, zeitliche Sequenzierung
Dies setzt nicht unbedingt Sprache voraus. So sieht man, daß die Hausfrau tapfer vom Angebrannten ißt, um der Kommunikation, also Herstellung einer Ordnung im Nacheinander. Die jeweils anklingenden
mitzuteilen (oder so vermutet man), daß man es sehr wohl noch essen könne. Dabei bleibt der Tatbestand der Unterscheidungen müssen einander im Nacheinander Sinn geben; ihre Rekursionen benötigen Zeit und können
Kommunikation jedoch unscharf und mehrdeutig, und der Mitteilende kann, zur Rede gestellt, leugnen, eine sich nicht aus der gleichzeitig gesehenen Welt ergeben — und dies auch dann nicht, wenn man jemanden
Mitteilung beabsichtigt zu haben; und eben deshalb wählt er nonverbale Kommunikation. Das heißt aber sprechen sieht. Entsprechend erfordert Sprache eine zeitlich flexible Organisation, die mögliche Sequenzen
auch, daß es schwierig ist, an seine Mitteilung eine andere anzuschließen, also ein Kommunikationssystem zu nicht schon strukturell festlegt; das heißt: eine Grammatik. Auch eine Taubstummensprache wird in diesen
bilden. zeitlichen Duktus eingepaßt, und selbstverständlich auch der Umgang mit Schrift. Das Medium der Akustik
Dies wird durch Sprache anders. Während vor der Entwicklung von Sprache Lebewesen strukturell erfordert deshalb von vornherein höhere Abstraktionen und deswegen auch entschiedenere
gekoppelt lebten und dadurch einer Co-Evolution ausgesetzt waren, ermöglicht Sprache zusätzlich operative Bedeutungsfestlegungen der einzelnen Komponenten. Nur auf diese Weise wird Wiederholbarkeit möglich,
Kopplungen, die von den Teilnehmern reflexiv kontrolliert werden können. Das vermehrt die Möglichkeiten, und nur so kann trotz Ungleichzeitigkeit und trotz einer Ungleichzeitigkeit, die eine andere ist als die der
sich bestimmten Umwelten auszusetzen oder sich ihnen zu entziehen und bietet der Selbstorganisation der Bewegungen in der Welt draußen, ein Sinnzusammenhang produziert, eine zweite Welt der Kommunikation
Teilnehmer die Chance, sich selbst von dem, was kommuniziert wird, zu distanzieren. Man bleibt der ersten Welt des Gesehenen überlagert werden.
wahrnehmbar, aber fassbar nur in dem, was man überlegt zur sprachlichen Kommunikation beiträgt. Das hat Die Sprache hat mithin eine ganz eigentümliche Form. Als Form mit zwei Seiten besteht sie in der
zur Folge, daß sich mit der Normalisierung und rekursiven Festigung dieser Kopplungsoperationen ein eigenes Unterscheidung von Laut und Sinn. Wer diese Unterscheidung nicht handhaben kann, kann nicht sprechen.
autopoietisches System sprachlicher Kommunikation bildet, das selbstdeterminierend operiert und zugleich Dabei besteht, wie immer bei Formen in unserem Verständnis, ein kondensierter Verweisungszusammenhang
mit reflektierter Teilnahme von Individuen voll kompatibel ist. Es kommt jetzt zu einer Co-Evolution von der beiden Seiten, so daß der Laut nicht der Sinn ist, aber gleichwohl mit diesem Nichtsein bestimmt, über
Individuen und Gesellschaft, die etwaige co-evolutive Verhältnisse zwischen Individuen (zum Beispiel welchen Sinn jeweils gesprochen wird; so wie umgekehrt der Sinn nicht der Laut ist, aber bestimmt, welcher
Mutter/Kind-Beziehungen) überdeterminiert. Laut jeweils zu wählen ist, wenn über genau diesen Sinn gesprochen werden soll. Sprache ist, hegelisch
Auch auf der Ebene der Wahrnehmungsmedien kommt es zu schwerwiegenden Änderungen. Sprechen gesprochen, durch eine Unterscheidung-in-sich bestimmt und, wie wir sagen können, durch die Spezifik genau
ist ein auf Kommunikation spezialisiertes, für diese Funktion ausdifferenziertes und dadurch für die dieser Unterscheidung ausdifferenziert.
Wahrnehmung sehr auffälliges Verhalten. Im akustischen (und bei Schrift: im optischen) Sprachliche Kommunikation ist also zunächst: Prozessieren von Sinn im Medium der Lautlichkeit. Von
Wahrnehmungsmedium ist die Sprache so formprägnant ausdifferenziert, daß, wenn sie benutzt wird, darüber Medium ist hier nicht deshalb die Rede, weil Laute Formen im Wahrnehmungsmedium des Bewußtseins sind,
kein Zweifel bestehen kann und die entsprechenden Wahrnehmungen anderer unterstellt werden können. Jeder sondern deshalb, weil sie zu wiederholt verwendbaren Wörtern kondensiert sind und als solche dann lose
Teilnehmer weiß von sich selbst und vom anderen, daß sprachliche Sinnfixierungen kontingent gewählt gekoppelt zur Verfügung stehen. Das wiederum setzt Grammatik und vielleicht die Chomskyschen

290
288 Damit ist zugleich gesagt, daß Sinnklärungen und Interpretationen keine andere "Qualität" oder "Sinnebene" des
So auch Kenneth E. Boulding, Ecodynamics: A New Theory of Societal Evolution, Beverly Hills Cal. 1978, S. 128f.
Systems in Anspruch nehmen, sondern ebenso prozessiert werden wie alles, was überhaupt kommuniziert wird, nämlich als
289
In der Semiotik von Charles S. Peirce steht an dieser Stelle der formalere, schwer zu interpretierende Begriff Sequenz kommunikativer Operationen. Daß psychische Systeme sich dabei zeitweilig unkommunikativ und nachdenkend
"interpretant". verhalten können, ist damit natürlich nicht bestritten.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 97 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 98
291
Tiefenstrukturen voraus , die sicherstellen, daß genügend Spielraum für die Bildung von Sätzen besteht und entlastet das soziale Gedächtnis und dient insofern dem ständigen Freimachen von Kapazität für neue
es gleichwohl nicht beliebig zugehen kann, sondern genügend Redundanzen für Rekursionen, für rasches Kommunikationen.
Verstehen und vor allem für rasches Sprachlernen vorhanden sind. Selbstverständlich ist diese Kapazität für neuen, noch nie benutzten Sinn nicht schrankenlos zu haben.
Um selber eine spracheigene Differenz von Medium und Form einrichten zu können, muß das mediale Sie erzeugt ihrerseits Kontexte, von denen sie sich abhängig macht. Aber: wie wenig auch immer die
292
Substrat der Sprache, die Differenz von Laut und Sinn, unterspezifiziert sein. Ohne Unterspezifikation Möglichkeit, nie Gehörtes zu sagen, in den Frühphasen der Evolution genutzt worden sein mag: sie stellt ein
wäre nichts mehr zu sagen, weil alles immer schon gesagt ist. Dies Problem wird durch die Differenzierung evolutionäres Potential zur Verfügung, das mehr und mehr ausgenutzt werden kann, wenn die Komplexität
von Worten und Sätzen gelöst. Auch Worte sind zwar Lautkonstellationen mit Sinn; aber sie legen noch nicht und die Differenzierung der Gesellschaft zunehmen und damit Sonderbedingungen für Erkennen und
fest, zu welchen Sätzen sie kombiniert werden. Erst über diese Differenz vermittelt die Sprache der Verstehen von Neuheit schaffen.
Kommunikation die Fähigkeit zu vorübergehender Anpassung an vorübergehende Lagen; und dann auch die Das alles findet man bereits unter der Bedingung einer nur lautlichen (oralen) Verwendung von Sprache
Fähigkeit zu vorübergehenden Sinnkonstruktionen, die man später bestätigen oder widerrufen kann. Und erst voll entwickelt. Unter den Bedingungen heutiger Schriftkulturen kann man sich nur schwer in Situationen
so kann man damit rechnen, daß Kommunikation an Kommunikation anschließen kann und immer etwas zu einfühlen, in denen Sprache nur das war. Laute sind ja extrem instabile Elemente. Sie reichen außerdem
sagen bleibt. räumlich nicht sehr weit, setzen also Anwesenheit der Sprecher und Hörer voraus. Raum und Zeit müssen in
Bloße Wahrnehmungsmedien sind an die Gleichzeitigkeit des Wahrnehmens und des Wahrgenommenen kompakten, situativen Formen präsent sein, um gesprochene Sprache zu ermöglichen. Geformte Sätze lösen
gebunden. Das gilt auch, wenn man das Wahrnehmen anderer wahrnimmt; und es gilt wohl auch für die sich, sobald sie ausgesprochen sind, ins nicht-mehr-Hörbare auf. Systembildung auf der Basis von
einfachen Formen der Wahrnehmung von Zeigezeichen. Die operativ bedingte Gleichzeitigkeit der Kommunikation setzt deshalb Vorsorge für Wiederverwendbarkeit, setzt mit anderen Worten Gedächtnis
Beobachtung mit der Welt, die beobachtet wird, kann nicht durchbrochen werden, und das gilt auch, wenn der voraus.
Sinn (wie beim Hören) sich erst aus einer Sequenzierung ergibt. Der Zukunftsbezug des Wahrnehmens hängt Es liegt nahe, und in gewisser Weise trifft es auch zu, daß Gesellschaften, die auf lautliche
davon ab, daß die Umwelt durch ihre Konstanten hinreichend garantiert, daß eine Jetzt-Reaktion adäquat auf Kommunikation angewiesen sind, damit auch von rein psychischen Gedächtnisleistungen abhängig bleiben.
Zukunft vorbereitet. Erst Sprache ermöglicht eine Durchbrechung dieser Gleichzeitigkeitsprämisse und eine Aber das erklärt nicht genug und gilt im übrigen ja in noch viel stärkerem Maße für Schriftkulturen, die nur
vorbereitende Synchronisation von zeitdistanten Ereignissen — und dies zunächst unabhängig davon, ob die funktionieren, wenn alle Teilnehmer sich laufend daran erinnern können, wie geschrieben und gelesen wird.
Sprache über Formen verfügt, mit denen man den Unterschied von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Ein soziales Gedächtnis muß sich außerhalb von (was nicht heißt: unabhängig von) psychischen
(zum Beispiel durch Flexion von Verben) zum Ausdruck bringen kann. Sprache ermöglicht es ja, Gedächtnisleistungen bilden. Es besteht denn auch allein in der Verzögerung von Wiederverwendungen der
294
vorauszusehen oder doch einzuschränken, was später gesagt werden kann. Zunächst geht es einfach um eine Worte und des mit ihrer Hilfe gebildeten Aussagesinns. Psychische Systeme werden gleichsam nur als
zeitliche Abkopplung des rekursiv operierenden Sprachverlaufs von den Zeitsequenzen der Umwelt, also um Zwischenspeicher benutzt. Entscheidend für das soziale Gedächtnis ist das Abrufen von Gedächtnisleistungen
die Ausdifferenzierung einer Eigenzeit des Kommunikationssystems, die es ermöglicht, den im System in späteren sozialen Situationen, wobei das psychische Substrat über längere Zeiträume hinweg durchaus
295
ablaufenden Kommunikationsprozeß von Ereignissequenzen der Umwelt zu unterscheiden. Erst wenn dies wechseln kann. Wer die Vorteile verstehen will, die in der Erfindung von Schrift liegen, muß sich zunächst
garantiert ist, können Sprachformen entstehen, die Zeitverhältnisse zum Ausdruck bringen, zum Beispiel in den vorausliegenden Mechanismus klar machen, der alle Gedächtnisleistungen über die Zeitform der
der einfachen Form einer wenn/dann-Konditionalisierung. Die Sprache kann, in mehr oder weniger Verzögerung erbringen muß.
elaborierter Form, auch etwas bezeichnen, was nicht mehr oder noch nicht wahrgenommen werden kann. Und Daß für distinkte lautliche Wahrnehmungsmöglichkeiten und deren Reaktivierbarkeit im Prozeß späterer
erst das erlaubt eine Problematisierung von Synchronisation, die dann ein Lernen über trial and error Kommunikation gesorgt ist, erklärt aber noch nicht, wie die Sprache ihre rekursive Anwendung organisieren,
ermöglicht. wie sie Kommunikation ermöglichen kann. Die alteuropäische Zeichen-Theorie hatte hier mit
Erst diese Ausdifferenzierung einer Eigenzeit sprachlicher Kommunikation führt zu der Errungenschaft, Außenbeziehungen argumentiert. Sie hatte mit einer die Sprachgemeinschaft der Menschen haltenden Welt
die man für den wichtigsten evolutionären Zugewinn sprachlicher Kommunikation halten muß. Mit Hilfe von gerechnet und der Sprache repräsentationale Funktion zugesprochen. Namen erkennen und Namen geben
296
Sprache kann etwas gesagt werden, was noch nie gesagt worden ist. "Elvira ist ein Engel". Anders als bei setzte danach eine Kenntnis der Natur voraus. Wenn dies aufgegeben wird — und die neuere Linguistik hat
Gesten und anders als bei einfachem Verhalten oder beim Gebrauch von Dingen versteht man den Satz, auch es aufgegeben: was garantiert, wenn nicht die Welt, die Haltbarkeit der Sprache?
293
wenn man ihn noch nie gehört hat. Genau genommen kommt es nicht einmal darauf an, ob der Satz ein Für eine Auflösung dieses Rätsels könnte sich der aus der mathematischen Logik stammende Begriff des
297
weltgeschichtliches Original und noch nie gesagt worden ist. Entscheidend ist, daß es nicht nötig ist, sich an "Eigenverhaltens" eignen. Er bezeichnet eine im rekursiven Verfahren der Anwendung des Verfahrens auf
298
Sinn und Kontext früheren Gebrauchs zu erinnern. Die Sprache erleichtert, anders gesagt, das Vergessen. Sie die Resultate des Verfahrens sich einstellende Stabilität.

294
Siehe hierzu Klaus Krippendorff, Some Principles of Information Storage and Retrieval in Society, General Systems 20
(1975), S. 15-35.
291
Hiermit wollen wir uns freilich nicht auf die weitere These Chomskys einlassen, daß es sich um angeborene Strukturen 295
In welchem Sinne es ein darüber hinausgehendes "kollektives Gedächtnis" geben kann, wird seit einiger Zeit gefragt —
handeln müsse, weil anders das Tempo des Spracherwerbs nicht zu erklären sei. Siehe Noam Chomsky, Aspekte der
und bezweifelt. Vgl. Rosalind Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, Cambridge Engl. 1989, S. 4
Syntax-Theorie, dt. Übers. Frankfurt 1969, insb. S. 68 ff. Was Chomsky durch Angeborensein zu erklären versucht, soll
ff. Dabei spielt auch die Frage eine Rolle, ob Gedächtnis für wahlfreien Zugriff zur Verfügung steht (wie im Falle von
hier vielmehr durch strukturelle Kopplung erklärt werden und durch die dadurch bewirkte Intensivierung von
Schrift) oder nur in der Form von festgelegten Sequenzen individuelle Reproduktionen ermöglicht (wie im Falle der
(herkunftsbestimmten) Irritationen und Irritationsverarbeitungen.
Erzähler und Sänger).
292
Zu Unterspezifikation der Sprache als Bedingung der Möglichkeit von Konversation siehe Gordon Pask, The Meaning 296
Siehe die Diskussion in Platons Kratylos 292 - 297.
of Cybernetics in the Behavioural Sciences (The Cybernetics of Behaviour and Cognition; Extending the Meaning of
297
"Goal"), in: John Rose (Hrsg.), Progress in Cybernetics, London 1970, Bd. I, S. 15-44 (31). Siehe (im Anschluß an David Hilbert) Heinz von Foerster, Objects: Token for (Eigen-) Behaviors, in ders., Observing
293 Systems, Seaside Cal. 1981, S. 274-285. Hier geht es allerdings nicht um Sprache, sondern um Errechnen der Identität von
Man kann sich das an den Schwierigkeiten verdeutlichen, die die Künste überwinden mußten, um die Möglichkeit zu
Objekten unter Wiederverwendung der Resultate bereits erfolgter Rechnungen. Eine Anwendung auf Sprache, die sich
gewinnen, "neue" Kunstwerke zu schaffen und in ihrer Originalität verständlich zu machen. Daß nur originale Kunstwerke
geradezu aufdrängt, ist mir nicht bekannt.
als Kunstwerke zählen und daß man, um sie schätzen zu können, erkennen muß, worin sie von der Vorgängerkunst, aber
298
auch von der wahrnehmbaren Natur abweichen, stellt extrem hohe Anforderungen an ein daraufhin geschultes Beobachten. Bei der Übernahme des Begriffs in die Theorie empirischer Systeme ist allerdings zu beachten, daß Rekursivität dann
Dazu gehört dann auch ein Unterbinden des Vergessens, weil erst das Kennen der Vorgängerkunst ein Erkennen des nicht mehr streng exklusiv verstanden werden kann. Man muß statt dessen mit der operativen Geschlossenheit des Systems
Neuheitswertes ermöglicht. Bei sprachlicher Kommunikation ist diese Möglichkeit von vornherein eingebaut. argumentieren.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 99 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 100

Sprache entsteht durch Wiederverwendung von Lauten bzw. Lautgruppen. Oder genauer gesagt: sie Erst für diese Funktion werden die eigentümlichen Sprachstrukturen geschaffen, mit denen sich die
erzeugt im Duktus der Wiederverwendung einerseits die Identität von Wörtern, sie kondensiert spracheigene Fachleute für Sprache im Detail beschäftigen, die aber als latente Strukturen fungieren und selbst nicht
Identitäten: und andererseits konfirmiert sie im gleichen Zuge diese Kondensate in immer neuen Situationen, Gegenstand der Kommunikation sind. Fragt man nach diesen Strukturen der Sprache, wird normalerweise auf
302
sie generalisiert. Dieser Prozeß der Sprachbildung führt mithin zur Ausdifferenzierung eines Eigenverhaltens Beschränkungen der Verwendung von Worten, auf Syntax, Grammatik und dergleichen verwiesen. Auch
des Kommunikationssystems und sekundär dann auch zu einer sprachabhängigen Ordnung der die entsprechenden Tiefenstrukturen ergeben sich aus dem Zeitdruck der Verwendung von Sprache,
303
Wahrnehmungsleistungen des Einzelbewußtseins. einschließlich dem Zeitdruck des sozialen Lernens des Sprechens der nachwachsenden Generationen. Es ist
Dabei gelingt diese Wiederverwendung nur, wenn die Wörter nicht mit den Dingen verwechselt werden leicht zu sehen, daß diese kondensierte Komplexität dazu dient, unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeiten zu
— so sehr man zunächst immer mit der Hilfsannahme einer geheimen Verwandtschaft von Wörtern und erzeugen. Sie macht ja jeden bestimmten Satz extrem unwahrscheinlich, zugleich aber auch ganz normal, daß
Dingen und eines entsprechenden Einflußes der Sprache auf die Dinge gearbeitet hat. Es fällt ja auf, daß das bei jeder Kommunikation so ist. Aber erst im Kommunizieren läßt sich diese Paradoxie entfalten, und
Sprache nur funktioniert, wenn durchschaut wird und durchschaut wird, daß durchschaut wird, daß die Worte zwar durch die Autopoiesis des Kommunikationssystems, also dadurch, daß durch rekursive Rückgriffe auf
nicht die Gegenstände der Sachwelt sind, sondern sie nur bezeichnen. Dadurch entsteht eine neue, eine vorherige Kommunikation und Aussicht auf spätere jeweils eingeschränkt wird, was sinnvoll gesagt werden
299
emergente Differenz, nämlich die von realer Realität und semiotischer Realität. Erst dann kann es kann.
überhaupt eine reale Welt geben, weil es erst dann eine Position geben kann, von der aus die Realität als Geht man davon aus, daß die Sprache die Autopoiesis der Kommunikation strukturiert, kommt eine
304
Realität bezeichnet, das heißt unterschieden werden kann. Das bedeutet keineswegs, daß die Realität eine radikale und viel einfachere Struktur in den Blick. Wir wollen sie den (binären) Code der Sprache nennen.
bloße Fiktion ist und daß sie, wie man gemeint hatte, "in Wirklichkeit gar nicht existiert". Aber es bedeutet, Er besteht darin, daß die Sprache für alles, was gesagt wird, eine positive und eine negative Fassung zur
daß man diese Unterscheidung von realer Realität und semiotischer Realität in die Welt einführen muß, damit Verfügung stellt.
überhaupt etwas — und sei es die semiotische Realität — als real bezeichnet werden kann. Diese Duplikation dient als eine Struktur, die sich ausschließlich auf sprachliche Kommunikation bezieht
305
Aber diese Unterscheidung, die der Welt erst ihre Härte, ihre Schicksalhaftigkeit, auch ihre und psychisch nur durch Teilnahme an Kommunikation gelernt werden kann. Außerdem setzt die
Unzulänglichkeit verleiht, muß ihrerseits erzeugt werden. Sie ist nicht allein dadurch gegeben, daß sie als Codierung voraus, daß die Sprache bereits Identitäten konstituiert hat, also über Möglichkeiten des
transzendentale Bedingung der Möglichkeit in Anspruch genommen wird. Insofern folgen wir dem "linguistic Unterscheidens und Bezeichnens verfügt, so daß man feststellen kann, worauf sich Bejahungen und
300
turn", der das transzendentale Subjekt durch Sprache, aber das heißt jetzt: durch Gesellschaft ersetzt. Im Verneinungen beziehen. Die Codierung ändert und erweitert den Bedarf für Identitäten, sie muß negationsfeste
Eigenverhalten des Kommunikationssystems Gesellschaft wird jener imaginäre Raum von Bedeutungen Identitäten voraussetzen können. Es geht jetzt nicht mehr nur darum, für die Wahrnehmung und ihr
stabilisiert, der im rekursiven Anwenden von Kommunikation auf Kommunikation nicht zerstört, sondern Gedächtnis Wiedererkennbarkeit (einschließlich: Wiedererkennbarkeit von Worten) zu ermöglichen. Von
etabliert wird; und dies gerade dank seines Eigenwertes, also durch die Erfahrung, daß gerade das Identitäten muß jetzt außerdem verlangt werden, daß sie dieselben bleiben, wenn die Kommunikation von
Durchschauen des Durchschauens die Ergebnisse liefert, die eine Fortsetzung des rekursiven Bejahung zu Verneinung oder von Verneinung zu Bejahung übergeht. So kann sich schließlich das Repertoire
Kommunizierens, also die Autopoiesis der Gesellschaft ermöglichen. Das muß nicht gelingen. Aber Systeme möglicher Kommunikation vom Wahrnehmbaren, auf das man zeigen kann, ablösen, und nur so kann
dieser Art entstehen und evoluieren nur, wenn es gelingt. Man könnte daher auch sagen, daß Sprache in einer Kommunikation Streit (und damit soziokulturelle Evolution) erzeugen. Anders als die klassische Logik und
Art self-fulfilling prophecy entsteht, — der Begriff hier allerdings nicht im klassischen Sinne von Merton die ihr entsprechende Ontologie es vorgesehen hatten, gibt es also keinen primordialen Unterschied von Sein
gemeint, also nicht als bloßes Methodenproblem der empirischen Sozialforschung, sondern als konstitutiv für und Nichtsein oder positiv bzw. negativ bezeichnenden Operationen. Vielmehr ist die Welt selbst in bezug auf
301
Gesellschaft schlechthin. positiv und negativ unqualifizierbar. Eben deshalb kann und muß man unterscheiden, wenn man etwas
Mit Hilfe dessen, was schon Form ist, nämlich mit Hilfe der Wörter, kann ein neues mediales Substrat bezeichnen will; oder anders gesagt: eine Unterscheidung negiert nicht etwa das, was sie nicht bezeichnet,
306
gebildet werden — eine sehr große, nur lose gekoppelte Menge solcher Wörter, die dann ihrerseits zu strikt sondern setzt es als "unmarked space" gerade voraus.
gekoppelten Formen, nämlich Sätzen, verknüpft werden, wobei in der jeweiligen Kopplung das mediale
Substrat nicht verbraucht, sondern durch Gebrauch jeweils erneuert wird. Jeder Satz besteht mithin aus 302
Daß diese Strukturen sich ihrerseits evolutionär verändern (zum Beispiel die Einschmelzung des griechischen Aorist in
beliebig wiederverwendbaren Komponenten, wobei die laufende Satzbildung den Wortbestand einer Sprache eine der Formen lateinischer Perfektbildung mit Erhaltung des akustisch auffälligen "s"), kann hier nicht näher behandelt
regeneriert, Wortsinn kondensiert und konfirmiert, also anreichert, aber auch nie wiedergebrauchte Worte dem werden.
Vergessen überläßt. Nur Sätze sind im rekursiven Netzwerk sprachlicher Kommunikation bezugsfähig, sie 303
Chomsky hatte bekanntlich die Theorie solcher Tiefenstrukturen im Hinblick auf angeborene Anlagen zum Sprachlernen
können mit vage vorgestellter Wortgestalt antezipiert und als fixierter Sinn erinnert werden. Sie können zitiert, entwickelt und damit das Tempo des Sprachlernens zu erklären versucht. Die Kurzcharakterisierung im Text geht von der
sinngemäß kolportiert, bestätigt oder auch widerrufen werden; und sie transportieren in diesem Sinne die umgekehrten Annahme aus: daß das Erfordernis, im Generationsaustausch rasch lernbar zu sein, ein "constraint" in der
Autopoiesis des Systems durch Kopplung/Entkopplung des Wortbestandes. Sie bilden eine emergente Ebene Evolution von Sprache gewesen sein muß und daß sich deshalb nur solche Strukturen halten, die dies ermöglichen — was
der kommunikativen Konstitution von Sinn, und diese Emergenz ist nichts anderes als die Autopoiesis der immer an neurophysiologischen Gegebenheiten vorliegt. Anders gesagt: es kann nur Sprachen geben, deren
sprachlichen Kommunikation, die sich ihr eigenes mediales Substrat schafft. Selbstorganisation genügend Redundanz aufweist, um rasche Kommunikation und rasches Sprachlernen zu ermöglichen.
304
Soziologen tendieren eher dazu, den linguistischen Begriff des Code zu übernehmen, der letztlich wohl auf Vicos
Analysen historischer Symbolstrukturen zurückgeht und im heutigen Gebrauch durch Roman Jakobson / Morris Halle,
Fundamentals of Language, Den Haag 1956, geprägt ist. Siehe zum Beispiel Bernhard Giesen, Die Entdinglichung des
299
Statt von semiotischer Realität könnten wir auch von imaginärer, imaginierender, konstruierender, konstituierender usw. Sozialen: Eine evolutionstheoretische Perspektive auf die Postmoderne, Frankfurt 1991, und ders., Code und Situation: Das
Realität sprechen. selektionstheoretische Programm einer Analyse sozialen Wandels — illustriert an der Genese des deutschen
300 Nationalbewußtseins, in: Hans-Peter Müller / Michael Schmid (Hrsg.), Sozialer Wandel: Modellbildung und theoretische
Vorgezeichnet findet man ein solches Programm bereits bei Max Adler, aber ohne zureichend ausgearbeitete
Ansätze, Frankfurt 1995, S. 228-226. Um den allgemeinen Verwendungszusammenhang von Zeichen bzw. Symbolen zu
Gesellschaftstheorie. Siehe Max Adler, Das Soziologische in Kants Erkenntnistheorie: Ein Beitrag zur Auseinandersetzung
bezeichnen, sprechen wir im Folgenden von Semantik und reservieren den Begriff des Code für strikt binäre Strukturen.
zwischen Naturalismus und Kritizismus, Wien 1924; ders., Kant und der Marxismus: Gesammelte Aufsätze zur
Damit soll zugleich klargestellt sein, daß wir nicht den linguistischen, sondern den kybernetischen Begriff des Code
Erkenntniskritik und Theorie des Sozialen, Berlin 1925; ders., Das Rätsel der Gesellschaft: Zur erkenntnis-kritischen
verwenden. Siehe z.B. Georg Klaus / Heinz Liebscher (Hrsg.), Wörterbuch der Kybernetik, 4. Aufl. Berlin 1976, s.v. Kode.
Grundlegung der Sozialwissenschaften, Wien 1925. Und, wenn es schon um Genealogie geht, wird man auch Wittgensteins
305
Tractatus nennen müssen. Damit soll nicht bestritten sein, daß es bei psychischen Systemen, ja selbst bei Tieren vorsprachliche Irritationen gibt,
301 wenn Erwartungen enttäuscht werden, also Konsistenzprüfungen versagen.
Siehe dazu den zu wenig beachteten Aufsatz von Daya Krishna, "The Self-fulfilling Prophecy" and the Nature of
306
Society, American Sociological Review 36 (1971), S. 1104-1107. im Sinne des Formenkalküls von George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck New York 1979.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 101 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 102

Ferner ist für das Verständnis dieser Errungenschaft die Einsicht wichtig, daß der Gebrauch von wissen, ob von einer Ja-Fassung oder einer Nein-Fassung der Kommunikation auszugehen ist und was dies im
307
Negationen noch nicht zu einem logischen Widerspruch führt. Er öffnet vielmehr nur einen laufenden Zusammenhang besagt. Und andererseits steht damit nicht fest, ob der kommunizierte Sinn
Kontingenzraum, für den in der Kommunikation zu unterstellen ist, daß alles, was bejaht wird, auch verneint anschließend angenommen oder abgelehnt werden wird. Auch wenn man im großen und ganzen von einem
werden kann und umgekehrt. Nur wenn man dies voraussetzt, kann man positive und negative Aussagen einer Fortbestand der Welt, wie sie ist, auszugehen hat, kann die Zukunft der Kommunikation selbst nur über eine
Wahrheitsprüfung unterziehen, und nur dafür kann dann neben anderen Instrumenten eine "Logik" entwickelt Oszillatorfunktion präsentiert werden, die unterschiedlich besetzt ist je nach dem, um was es sich gerade
werden. Dies setzt, als hinzugesetzte Erfindung, das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) handelt. Das sind mit der Codierung der Sprache gegebene geschichtliche Universalien, die aber je nach den
311
voraus. Gesellschaftsstrukturen, die realisiert sind, sehr unterschiedliche semantische Formen annehmen können.
Man weiß nicht, ob das eine evolutionäre Bedingung für das Entstehen von Negation gewesen ist oder Wir übertreiben nicht, wenn wir festhalten: Die Sprachcodierung ist die Muse der Gesellschaft. Ohne
nur ein erfolgreich benutzter Nebeneffekt: jedenfalls ermöglicht die Negation eine erfolgreiche Domestikation ihre Doppelung aller Zeichen, die Identitäten fixieren, hätte die Evolution keine Gesellschaft bilden können,
des Schemas bestimmt/unbestimmt, einer der fundierenden Unterscheidungen, die einen Umgang mit Sinn und wir finden deshalb auch keine einzige, der dieses Erfordernis fehlt.
308
ermöglichen. Durch Negation kann etwas so bezeichnet werden, daß unbestimmt bleibt, was tatsächlich Mit der Ausdifferenzierung einer Gesellschaft, die Sprache benutzt und Zeichen verwendet, entsteht das
vorliegt. "Kein Mensch in der Wüste" — das läßt offen, was sonst in der Wüste vorkommt und sogar, wo die Problem des Irrtums und der Täuschung, des unabsichtlichen und des absichtlichen Mißbrauchs der
Menschen sich tatsächlich aufhalten und schließlich auch: welcher Mensch überhaupt gemeint ist. Und Zeichen. Dabei geht es nicht nur um die Möglichkeit, daß die Kommunikation gelegentlich mißglückt, in die
trotzdem ist die Kommunikation sofort verständlich und weiterbehandelbar — zum Beispiel als Warnung. Irre geht oder auf einen Irrweg geführt wird. Vielmehr ist dieses Problem, da dies jederzeit passieren kann,
312
Schon einfachste Gesellschaften haben es offenbar ganz wesentlich mit der Normalisierung des jederzeit präsent — eine Art Universalproblem des von Hobbes am Falle der Gewalt entdeckten Typs. Mit
Ungewöhnlichen zu tun und mit der Stabilisierung eigener Pathologien durch Wiederholung. Dafür bilden Bezug auf dieses Problem kann man verstehen, daß die Gesellschaft Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und
313
Negativbezeichnungen die Brücke zur Normalität. dergleichen moralisch prämiiert und im Kommunikationsprozeß auf Vertrauen angewiesen ist. Aber damit
All dies bleibt jedoch ein internes Problem des Kommunikationssystems Gesellschaft. Da in der ist nur bestätigt, daß nicht vorkommen sollte, was doch möglich bleibt. Fragt man nochmals nach, wie der
Außenwelt nichts Negatives, also auch nichts Unbestimmtes existiert, läuft die Codierung der Sprache auf Kommunikationsprozeß selbst auf dieses Problem reagiert, dann sieht man den Vorteil der Codierung, denn
eine Verdoppelung der Aussagemöglichkeiten hinaus. Die erste Frage wäre daher: was soll das? wozu leistet sie ermöglicht es, etwas Mitgeteiltes zu bezweifeln, es nicht anzunehmen, es explizit abzulehnen und diese
die Sprache sich diesen Luxus? Reaktion verständlich auszudrücken, sie also in den Kommunikationsprozeß selbst wiedereinzubringen. Die
Wir sehen in dieser Struktur eine Kompensation für Probleme, die sich aus der Ausdifferenzierung des Bezugnahme auf psychische und moralische Qualitäten wie Aufrichtigkeit und Vertrauen behält ihren Sinn,
Kommunikationssystems der Gesellschaft ergeben, eine Bedingung und Folgeeinrichtung also der aber da kein Kommunikationsprozeß psychische Prämissen dieser Art prüfen kann (die Prüfung selbst würde
autopoietischen Autonomie. das, was sie sucht, zerstören), müssen die Bedingungen psychologisch dekonditioniert werden und als Themen
Ein autopoietisches, selbstreferentielles System benötigt einen solchen Code, um die eigene der Kommunikation selbst behandelt werden. Das setzt die Ja/Nein-Codierung der Sprache voraus.
Selbstreferenz zu symbolisieren und zugleich für die Unterbrechung der konstitutiven Zirkularität zu sorgen. Da das Problem allgemein ist und den gesamten Sprachgebrauch durchzieht, muß auch die
Die beiden Werte sind ineinander übersetzbar, denn das Negieren erfordert eine positive Operation des Problemlösung durch Codierung allgemein sein. Die gesamte Sprache wird codiert, das heißt: jeder Satz kann
Systems und die Position ist logisch gleichwertig mit der Negation ihrer Negation. Zugleich impliziert diese negiert werden. Die allgemeine Unsicherheit im Hinblick auf den Fehlgebrauch von sprachlichen Zeichen wird
tautologische Struktur aber eine latente Unterbrechungsbereitschaft. Sie macht das System empfindlich, durch die Codierung in eine Bifurkation von Anschlußmöglichkeiten transformiert. Die weitere
zunächst für Zufälle, dann für Selbstorganisation, die Anhaltspunkte dafür bieten, ob Jas oder Neins Kommunikation kann dann entweder auf Annahme oder auf Ablehnung gegründet werden. Es gibt nur diese
angebracht sind. Gesellschaft entsteht also überhaupt erst durch diesen in der Sprache angelegten beiden Möglichkeiten; aber eben deshalb kann man auch Unentschiedenheit zum Ausdruck bringen oder die
Symmetriebruch, an den dann Konditionierungen anschließen können. Die bloße Relation der Werte allein Entscheidung aufschieben und der weiteren Kommunikation überlassen. Ohne binäre Codierung wäre nicht
wäre noch kein System, aber sie wird nur erzeugt im Hinblick auf ihre Kapazität, Systembildungen einmal ein solcher Aufschub möglich, denn man könnte gar nicht erkennen, was aufgeschoben wird.
309
auszulösen. Die Codierung der sprachlichen Kommunikation hat so weitreichende Folgen, daß es sich lohnt, auf
Dieser in sich schon komplexe, aber offensichtlich evolutionsfähige Sachverhalt reguliert auch die einige ihrer Merkmale kurz einzugehen. Vor allem ist zu beachten, daß sie das gesamte System der
310
Entstehung von Zeit. Schon für das Kreuzen der Grenze zwischen den beiden Werten (also für das Negieren sprachlichen Kommunikation vollständig erfaßt. Was immer dazu beigetragen wird, läuft auf die Alternative
314
von etwas, was dabei identisch bleibt) benötigt das System Zeit. Und das gilt erst recht für die Entfaltung der der Annahme oder der Ablehnung zu. "Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn". Will man dieses
Tautologie, für das asymmetrisierende Konditionieren, denn dabei muß die gegebene Ausgangslage im Auge Risiko vermeiden, muß man auf Kommunikation verzichten.
behalten werden und zugleich die Bistabilität des Systems in die Zukunft projiziert werden. Um seine Diese Allgemeinheit und Zwangsläufigkeit der Codierung besagt auch, daß sie nicht dazu dient, gute und
Autopoiesis fortsetzen zu können, benötigt ein solches System (in der Ausdrucksweise von Spencer Brown) schlechte Nachrichten zu sortieren. Man kann schlimme Nachrichten ("Der Wasserhahn tropft") sehr wohl
"memory" and "oscillation", und zur Unterscheidung (Beobachtung) dieser beiden Bedingungen bildet es die positiv formulieren und damit als Kommunikation in die Alternative von Annahme oder Ablehnung laufen
Differenz der Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft, die von der jeweils operativ aktuellen Gegenwart aus lassen. Voraussetzung ist, daß das, was eventuell anzunehmen oder abzulehnen ist, identisch gehalten wird.
als ihre Vergangenheit bzw. ihre Zukunft gleichzeitig beobachtet werden können. Einerseits muß es jeweils (Daran wird erneut erkennbar, daß der Code eine Duplikationsregel ist). Man kann beim Annehmen oder
Ablehnen selbstverständlich Modifikationen vornehmen, vor allem wenn man die Härte einer Ablehnung
abschwächen will. ("Der Wasserhahn tropft nicht, er war nur nicht fest zugedreht"). Aber immer läuft die
307
Als Ausnahme — und der Status einer Ausnahme ist hier entscheidend! — hat man den Gottesbegriff diskutiert. Hier
soll, wie in der Lehre von den Gottesbeweisen behauptet worden ist, die Existenz Gottes ein notwendiges Prädikat der Idee
311
sein. Vgl. unten Kap. 5 ....
308 312
Siehe dazu Philip G. Herbst, Alternatives to Hierarchies, Leiden 1976, S. 88, der ein grundlegendes Roy A. Rappaport, Ecology, Meaning, and Religion, Richmond Cal. 1979, S. 229, formuliert wie folgt: "The Problem of
Implikationsverhältnis der nicht weiter zurückführbaren Unterscheidungen Sein/Nichtsein, innen/außen und falsehood is not merely that of falsehood itself, nor even of its direct effects, as devasting as they may be, but of the
bestimmt/unbestimmt vermutet. corrosive distrust bred by falsehood's mere possibility".
309 313
Zu "if conditionality" als Erfordernis von Selbstorganisation vgl. W. Ross Ashby, Principles of the Self-Organizing So z.B. Campbell a.a.O. (1965), S. 298 f.
System, in: Heinz von Foerster / George W. Zopf (Hrsg.), Principles of Self-Organization, New York 1962, S. 255-278. 314
aus Ottiliens Tagebuch, in: Die Wahlverwandtschaften, zit. nach: Goethes Werke (Hrsg. Ludwig Geiger) 6. Aufl. Berlin
310
Vgl. dazu George Spencer Brown, Selfreference, Distinctions and Time, Teoria Sociologica 1/2 (1993), S. 47-53. 1893, Bd. 5, S. 500.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 103 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 104
320
Kommunikation an thematischen Identitäten entlang, und auch das ist ein Effekt der Codierung. Sie wirkt unverständlich zu sprechen oder nicht verstehen zu können. Erst die Ja/Nein-Bifurkation bietet also
315
thematisch disziplinierend, weil sie dazu auffordert, darauf zu achten, daß über Dasselbe geredet wird. Gelegenheit für das Einbringen von Interessen in den Kommunikationsprozeß, und das gemeinsame Interesse
Die Codierung enthält als solche keine Präferenz für Ja-Fassungen bzw. für Nein-Fassungen, so wie die an Verständlichkeit ist nur deshalb akzeptabel, weil es gleich darauf diese Bifurkation gibt.
Sprache als solche ja auch nicht dazu da ist, ein Annehmen der Kommunikation gegenüber einem Ablehnen zu Die sprachliche Kommunikation hat, sagen wir zusammenfassend, ihre Einheit in der
begünstigen. Im Prinzip müssen deshalb auch Jasund Neins gleich gut verständlich sein. Es mag sein, daß das Ja/Nein-Codierung. Das schließt es, ernst genommen, aus, aus der Sprache selbst eine Idealnorm des
321
Anfertigen und Verstehen von negationshaltigen Sätzen etwas mehr Zeit für Informationsverarbeitung und Bemühens um Verständigung abzuleiten. Notwendig ist nur die Autopoiesis der Kommunikation, und diese
316
etwas mehr psychischen Aufwand erfordert , aber das dürfte praktisch kaum ins Gewicht fallen, wenn Autopoiesis wird nicht durch ein télos der Verständigung, sondern durch den binären Code garantiert. Denn
Gründe für eine negative Stellungnahme vorliegen. Wichtiger sind die sozialen Konditionierungen des für eine codierte Kommunikation gibt es kein Ende, sondern nur die in allem Verstehen reproduzierte Option,
Negationsgebrauchs; und etwaige Schwierigkeiten psychischer Systeme sind nur ein Indikator mehr dafür, über Annahme oder über Ablehnung weiterzumachen. Anders gesagt: die Codierung schließt jede Metaregel
daß es sich bei ihnen um Operationen von Systemen in der Umwelt der Gesellschaft handelt. aus, da man zur Kommunikation einer solchen Regel ja wieder bejahend oder verneinend Stellung nehmen
322
Daß die Codierung sich auf die Kommunikation bezieht und nicht auf die Ansichten und Einstellungen könnte. Die Codierung der Sprache überwindet die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit eines sich operativ
der Teilnehmer, kann man auch als Vorbehalt der Selbstberichtigung des Kommunikationsprozesses abschließenden Kommunikationssystems. Sie garantiert, soweit das im System selbst möglich ist, die
formulieren. Die Berichtigung (die Negierung vorheriger Kommunikation) obliegt nicht notwendigerweise Autopoiesis der gesellschaftlichen Kommunikation, indem sie sie transformiert in die Freiheit, zu allen
dem Mitteilungsempfänger. Auch der Mitteilende kann in der weiteren Kommunikation korrigieren, was er erreichten Bestimmtheiten folgenreich ja oder nein zu sagen. Deshalb evoluieren in komplexen Gesellschaften
selbst gesagt hatte. Ferner braucht die Korrektur sich nicht auf explizit und im Detail erinnerte frühere nicht Konsenspflichten, sondern, wie wir ausführlich zeigen wollen, symbolisch generalisierte
Kommunikationen zu beziehen. Sie mag sich auch auf Erwartungen beziehen, die als Resultat früherer Kommunikationsmedien.
Kommunikation vorliegen, so daß die Negation schon in der Initiative zu einer Kommunikation zum Ausdruck
kommt und als Negation eines externen Sachverhalts erscheint ("Der Wasserhahn war nicht fest zugedreht").
Wir vermuten, daß alle direkt auf Weltsachverhalte bezogene Negationen ihren Anlaß in früherer
Kommunikation haben und in der Vermutung, daß der Kommunikationsprozeß unter dem Einfluß erinnerter
Kommunikation abläuft und deshalb mit Negation korrigiert werden muß. IV. Geheimnisse der Religion und die Moral
Zwei weitere Eigentümlichkeiten sprachlicher Kommunikation folgen aus ihrer Codierung. Die eine
besteht darin, daß aller Negationsgebrauch mindestens implizit Unterscheidungen voraussetzt, so daß Die Codierung schließt das System. Alles andere läßt sie offen. Die Entscheidung zwischen dem
festgestellt werden kann, welche Optionen offen sind, wenn etwas negiert wird. Wenn etwas als nicht rot Annehmen und dem Ablehnen kommunizierter Sinnofferten kann aber nicht offen bleiben. Die durch den
bezeichnet wird, kommen andere Farben in Betracht; und auch umgekehrt halten positive Formulierungen wie: Code erzwungene Bifurkation führt vielmehr dazu, daß das System Bedingungen entwickelt, die
das Auto fuhr langsam, für den Fall ihrer Negation bestimmte Alternativen bereit. (Man kann nicht negieren, Anhaltspunkte dafür liefern, wann Annehmen und wann Ablehnen angebracht ist. Wie die Systemtheorie
317
um zu sagen: es fuhr auf vier Rädern.) 323
weiß , gehören Konditionierungen zu den allgemeinsten Erfordernissen jeder Systembildung. Sie legen
318
Ferner kann man die Aussicht auf Ja/Nein-Bifurkation durch Markierung dirigieren. Man markiert nicht-beliebige Zusammenhänge fest in dem Sinne, daß die Festlegung bestimmter Merkmale beschränkten
diejenigen Komponenten einer Kommunikation, bei denen man Informationswert und Spielraum läßt für die Festlegung anderer. In anderer Terminologie, die von der Frage ausgeht, wie man sich
Widerspruchsmöglichkeit voraussetzt, und läßt andere unmarkiert. Vor allem Werteinstellungen, von denen über ein System informieren kann, spricht man auch von Redundanzen, die die Varietät des Systems
319
man selbstverständlich voraussetzt, daß sie geteilt werden, werden im Regelfall unmarkiert kommuniziert. einschränken: Ein Merkmal macht das Vorliegen anderer mehr oder weniger wahrscheinlich.
Fehlmarkierungen zeichnen typisch Sprecher aus, die mit dem kulturellen oder situativen Kontext der Diesen Theorierahmen zugrundelegend, können wir auch sagen, daß der Sprachcode die Form ist, durch
Kommunikation nicht hinreichend vertraut sind und deshalb die Wahrscheinlichkeiten nicht richtig einschätzen die ein System sich der Selbstkonditionierung aussetzt. Die Codierung der Sprache bedeutet mithin, daß die
können. Aber das Problem dieser Zuspitzung entsteht nur, weil die Kommunikation codiert ist und deshalb zu Selbstkonditionierung der Gesellschaft Strukturen entwickelt, die es ermöglichen, Erwartungen im Hinblick
steuern versucht, in welchen Hinsichten sie Annahme bzw. Ablehnung, Überraschung und Widerstand zu auf Annehmbarkeit bzw. Ablehnbarkeit von Kommunikationen zu bilden. Erst über solche Strukturen wird
gewärtigen hat. die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation in Wahrscheinlichkeit transformiert. Erst durch solche
Der wohl wichtigste Effekt der Codierung aber ist, daß die elementare Operation einer Kommunikation Strukturen wird das geschlossene System für Umwelteinflüsse geöffnet. Nach wie vor gibt es zwar weder für
mit dem Verstehen abgeschlossen ist und daß zur Mitteilung von Annahme, Ablehung oder Unschlüssigkeit die Operation sprachlicher Kommunikation noch für den binären Code des Systems Entsprechungen in der
eine weitere Kommunikation erforderlich ist. Denn gerade das Verstehen einer Kommunikation ist ja Umwelt des Systems; aber über die Selbstkonditionierung durch Bildung von strukturierenden Erwartungen
Voraussetzung dafür, daß sie angenommen oder abgelehnt werden kann; und welchen Pfad die kann das System Erfolgen und Mißerfolgen der Kommunikation Rechnung tragen und in diesem Sinne auf
Kommunikation an dieser Stelle wählt, kann nur durch eine weitere Kommunikation verdeutlicht werden. Im Irritationen durch die Umwelt reagieren.
Verstehen konvergieren die Interessen, denn man hat normalerweise kein besonderes Interesse daran,

320
Zugestanden sei, daß es expressive Interessen an unverständlicher Ausdrucksweise geben kann, zum Beispiel in der
religiös inspirierten Kommunikation; oder daß es, zum Beispiel unter kritischen Rationalisten, die Manie gibt, zu sagen,
315 daß man nicht verstehen könne, was der andere sagt, was für diese Sekte dann gleichbedeutend ist mit dem
Daß diese Disziplin oft nicht eingehalten wird, lehrt die Alltagserfahrung. Aber zugleich zeigt die dann eintretende
Vorwurfsbegriff "Metaphysik". Aber dann will man wenigstens darin verstanden werden, daß man nicht verstanden werden
Irritation, daß Erfordernisse geordneter Kommunikation verletzt sind und daß es wenig Sinn hat, so weiterzureden.
will oder nicht verstehen kann und dafür Gründe zu haben meint.
316
Siehe dazu G.A. Miller, Language and Psychology, in: Eric H. Lenneberg (Hrsg.), New Directions in the Study of 321
So bekanntlich, um nochmals darauf hinzuweisen, Jürgen Habermas — bei aller Betonung der Ja/Nein-Stellung des
Language, Cambridge Mass. 1964, S. 89-107 (102 ff.).
Adressaten. Siehe z.B.: Nachmetaphysisches Denken: Philosophische Aufsätze, Frankfurt 1988, S. 146: "Ohne die
317
Vgl. zu dieser Bedingung der Abarbeitung von Unbestimmtheit (ohne Durchgriff nach draußen) Bernard Harrison, An Möglichkeit zur Ja/Nein-Stellungnahme bleibt der Kommunikationsvorgang unvollständig."
Introduction to the Philosophy of Language, New York 1979, S. 113 ff. 322
Gegenüber Habermas und Apel finden wir uns daher in der gegenwärtig laufenden Kontroverse auf der Seite von
318
Zu "markedness" in diesem Sinne siehe John Lyons, Semantics Bd. 1, Cambridge England 1977, S. 305 ff. Lyotard, wenngleich mit anderer Begründung.
319 323
Wir kommen darauf unter ....... zurück. Vgl. vor allem W. Ross Ashby, Principles of the Self-Organizing System a.a.O.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 105 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 106

Es scheint, daß es bereits in den einfachsten Gesellschaften hierfür Vorkehrungen gibt, die den Unterdrückung von Kommunikation gelöst, oder zumindest strukturiert. Das wesentliche, bewahrenswerte
329
Sprachcode in zwei verschiedene Richtungen entwickeln. Die eine besteht in einer Anwendung des Code auf Wissen der Gesellschaft, die Kenntnis der sakralen Dinge, wird nur den Männern zugänglich gemacht und
die Kommunikation selbst, also in Kommunikationsverboten, die als Notwendigkeit der Geheimhaltung diesen nur nach Durchlaufen eines siebenstufigen Initiationsritus, so daß bei hoher Sterblichkeit nur ein kleiner
324
erscheinen und von uns der Religion zugerechnet werden. Die andere Seite der Kommunikation wird mit Teil der Bevölkerung, der sich im Männerhaus interaktionell separieren und kontrollieren kann, in den Besitz
einem Tabu belegt, das dann wieder für Kommunikation zugänglich ist. Tabuisierung ermöglicht den dieses Wissens kommt. Nur in dem so geschützten Bereich kommt es zu sozial strukturierter Komplexität.
Einschluß des Ausschließens. Das schließt die Kommunikation mit Göttern keineswegs aus, aber sie nimmt Andere Bereiche, und dazu zählen Krankheiten, aber auch Möglichkeiten der Einfühlung in den Mitmenschen,
325
typisch die Form der Gaben und Opfer an, die durch Gebete erläutert werden. Eine andere, zunächst kaum bleiben semantisch unentwickelt. Das Resultat ist organisiertes Mißtrauen entlang dieser Hauptlinie von
unterscheidbare, dann sich mehr und mehr ablösende und verselbständigende Lösung desselben Problems Wissenden und Unwissenden, die die Gesellschaft differenziert. Das Zusammenleben muß sich gegen diese
besteht in einer weiteren Codierung, nämlich in einem Moralcode, der verdeutlicht, was anzunehmen und was Struktur durchsetzen, es gibt keine Familienbildung, keine segmentäre Strukturierung und für
abzulehnen ist. Das Tabu wird durch eine Unterscheidung ersetzt, die reichere gesellschaftliche Gemeinsamkeiten kaum Ausdrucksmöglichkeiten. "The striking fact of Baktaman life is the absence of such
330
Anschlußmöglichkeiten eröffnet. common premises and shared knowledge between persons in intimate interaction".
Religion hat es unmittelbar mit Eigentümlichkeiten des Beobachtens zu tun. Alles Beobachten muß Das Sakrale findet sich nicht in der Natur, es wird als Geheimnis konstituiert. (Später wird man dann
331
unterscheiden, um etwas bezeichnen zu können, und sondert dabei einen "unmarked space" ab, in den der sagen, es sei mit Worten nicht ausreichend zu beschreiben ). Durch Geheimhaltung wird die Beliebigkeit und
Letzthorizont der Welt sich zurückzieht. Die damit alles Erfassbare begleitende Transzendenz verschiebt sich mögliche Leichtfertigkeit im Umgang mit nichtempirischem Wissen - eine Variante des Täuschungsrisikos —
bei jedem Versuch, die Grenze mit neuen Unterscheidungen und Bezeichnungen zu überschreiten. Sie ist eingeschränkt. Auf diese Weise entsteht das geheimzuhaltende Wissen. Das Wissen muß, mit anderen
immer präsent als Gegenseite zu allem Bestimmten, ohne je erreichbar zu sein. Und eben diese Worten, gegen Kommunikation geschützt werden, weil es durch diesen Schutz überhaupt erst erzeugt wird.
Unerreichbarkeit "bindet" den Beobachter, der sich selbst ebenfalls der Beobachtung entzieht, an das, was er Andernfalls würde man natürlich rasch herausbekommen, daß die heiligen Knochen bloß Knochen sind. (In
bezeichnen kann. Die Rückbindung des Unbezeichenbaren an das Bezeichenbare — das ist, in welcher den Hochreligionen wird dieser Zirkel die Fassung erhalten, daß eine profanierende Enthüllung des
kulturellen Ausformung immer, im weitesten Sinne "religio". Mysteriums gar nicht möglich ist, weil die Neugierigen in diesem Falle nur Trivialitäten vor Augen haben,
In ihren Ursprüngen ist Religion am besten zu begreifen, wenn man sie als eine Semantik und Praktik und gerade nicht das Mysterium selbst.)
versteht, die es mit der Unterscheidung von Vertrautem und Unvertrautem zu tun hat. Die Unterscheidung Man kann wohl mit Recht vermuten, daß dies eine evolutionäre Sackgasse gewesen ist, die kaum weitere
wird als Einteilung der Welt begriffen, ohne daß mitreflektiert würde, daß sie für jeden Beobachter, jede Entwicklungsmöglichkeiten bieten konnte. Das Paket von Unwahrscheinlichkeit, Vorteilhaftigkeit und Risiko
Siedlung, jeden Stamm eine andere ist. Indem die Religion das Unvertraute im Vertrauten erscheinen läßt, es von Kommunikation wird allzu direkt behandelt. Das Problem wird durch Limitierung der Potenz und durch
als Unzulängliches zugänglich macht, formuliert und praktiziert sie die Weltlage eines Gesellschaftssystems, Exklusion — zumindest abgeschwächt. Zugleich sieht man jedoch bestimmte Entwicklungslinien, die in
das sich in Raum und Zeit von Unbekanntem umgeben weiß. Sie kann auf diese Weise, über den Alltag verfeinerter Form hier abzweigen. Eine sehr verbreitete Reaktion, ja geradezu eine Komplementärinstitution
hinausgreifend, in der Gesellschaft für die Gesellschaft Selbstreferenz und Fremdreferenz prozessieren. Sie ist zur Anerkennung von unerforschlichen Geheimnissen findet man in den weit verbreiteten Techniken der
damit "maßgebend" für die Art und Weise, in der das operativ geschlossene, auf Kommunikation angewiesene Weissagung. Sie halten sich typisch an die Oberfläche der Erscheinungen, an Lineaturen im Raum oder in der
326
Gesellschaftssystem sich weltoffen einrichtet. Zeit, und versuchen, von da aus auf Tiefe zu schließen, auf Vergangenes oder Künftiges, auf Entferntes, auf
Noch bevor dafür die Vermittlungsfigur des "Symbols" erfunden war, konnte die Figur des "Geheimen" den Sinnen Unzugängliches. Divinationstechniken setzen die Differenz von Oberfläche und Tiefe, von
das Unvertraute im Vertrauten repräsentieren. Hierzu dient vor allem die leicht plausibel zu machende Sichtbarem und Unsichtbarem voraus, sabotieren sie aber zugleich durch ein Wissen davon, wie man diese
327
semantische Form des "In-etwas-Seins": Die Gottheit ist nicht die Erscheinung als solche, sie ist in ihr. Grenze kreuzt. Erst dieser Normalhintergrund älterer Religiosität macht im übrigen verständlich, wie
Diese rätselhafte Figur wurde durch Kommunikationsverbote und entsprechende Riten und Sanktionen dramatisch Religion durch die Lehre von der Selbstoffenbarung Gottes umgestaltet worden ist. Man versteht
geschützt. Für eine fast ausschließlich vom Kommunikationsverbot her strukturierte Gesellschaft bieten die dies Dogma der Offenbarung nur, wenn man mitsieht, wogegen es gerichtet war.
Baktaman ein gutes Beispiel — übrigens einer der seltenen Fälle, in denen eine von Zivilisationskontakten Eine andere Lösung desselben Grundproblems, ein funktionales Äquivalent zu den durch Scheu und
328
noch unberührte Gesellschaft im Hinblick auf ihre eigenen Kommunikationsweisen untersucht worden ist. Furcht abgesicherten Kommunikationsverboten, liegt in der Erfindung symbolischer Präsentation der Einheit
Das Ergebnis ist einfach und mit einem Satz zu formulieren: Die Probleme der Kommunikation werden durch des Sichtbaren und des Unsichtbaren, des Anwesenden und des Abwesenden. Ein Symbol ist nicht nur ein
332
Zeichen (wie zum Beispiel ein Wort). Es bezeichnet nicht nur, es bewirkt die Einheit. Die zugrundeliegende
324
Paradoxie wird stellengenau verdeckt. Daher lassen sich Symbole auch nicht durch Begriffe ersetzen, weil das
Zu Geheimhaltung als Sicherungsverhalten in einem sehr breiten Sinne vgl. Klaus E. Müller, Das magische Universum auf einen Widerspruch im Begriff hinauslaufen würde. Aber gerade deshalb ist die Form des Symbols (und
der Identität: Elementarformen sozialen Verhaltens: ein ethnologischer Grundriß, Frankfurt 1987, S. 310 ff.; ders., Die
Apokryphen der Öffentlichkeit geschlossener Gesellschaften, Sociologia Internationalis 29 (1991), S. 189-205.
nicht die Form des Begriffs) angebracht, wenn es um einen rationalen Umgang mit dem Unsagbaren geht.
325
Oder, in Mesopotamien, die Form des Einbringens von Statuen in Tempel, die die Götter daran erinnern sollen, den
Namen nicht zu vergessen. Siehe Gerdien Jonker, The Topography of Remembrance: The Dead, Tradition and Collective
329
Memory in Mesopotamia, Leiden 1995, insb. S. 71 ff. Daß schwieriges, wichtiges Wissen vor Frauen geheimgehalten werden müsse, betonen aber auch sehr viel weiter
326 entwickelte Gesellschaften. "He keeps her in wholesome ignorance of unnecessary secrets" heißt es bei Thomas Fuller, The
Zur Überführung dieser Bedingung in die Codierung immanent/transzendent eines funktional ausdifferenzierten
Holy State and The Profane State, Cambridge 1642, S. 9, denn "the knowledge of weighty Counsels" sei "to heavy for the
Religionssystems siehe Niklas Luhmann, Die Ausdifferenzierung der Religion, in ders., Gesellschaftsstruktur und
weaker sex to bear".
Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 259-357.
330
327 Barth a.a.O. S. 264 f.
Siehe etwa John S. Mbiti, Concepts of God in Africa, London 1970, S. 8: "He may be in the thunder, but he is not the
331
thunder". So für das Mittelalter M.-M. Davy, Essai sur la symbolique romane, Paris 1955, S. 39: "Le sacré est par excellence ce
328 qui ne saurait être circonscrit par des mots. D'où le rapport constamment évoqué entre le sacré et le secret". Das kehrt die
Vgl. Fredrik Barth, Ritual and Knowledge Among the Baktaman of New Guinea, Oslo 1975. Größe des Stammes: 183
Konstitutionsverhältnisse um, liest sie gleichsam vom Ergebnis her.
Personen, von denen jede jede kennt. Untersuchungszeitraum 1967/68. Erster flüchtiger Kontakt mit durchziehenden
332
Europäern 1927. Erste Patrouille im Ort 1964. Seitdem dreimal wiederholt. Gerüchte über "Pazifikation" und seit einigen Im Mittelalter wird zwar üblicherweise Symbol als Zeichen (signum) definiert, aber dann ist immer gemeint, daß dies
Jahren etwas mehr und etwas sicherer Kontakt mit Nachbarstämmen — das ist alles. Methodisch hat man versucht, jede Zeichen den Zugang zum andernfalls Unerreichbaren selber bewirkt. Heute werden umgekehrt Zeichen oft als "Symbole"
Beeinflußung durch Fragen zu vermeiden und die Kommunikationsweisen als solche zu beobachten. Das macht die bezeichnet; aber das macht nur deutlich, daß man vergessen (oder irrationalisiert) hat, was "Symbol" ursprünglich
Ergebnisse für uns besonders wertvoll. bedeutete.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 107 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 108
339
Den gleichen Ursprung hat die Kultform des Rituals. Rituale ermöglichen eine könnte auch von einem in sich selbst lernfähigen Zufallsmechanismus sprechen. Im Ergebnis entstand auf
333
Kommunikationsvermeidungskommunikation. Die einschlägige Literatur hebt hervor, daß Formen diese Weise ein durchrationalisiertes System des Verhaltens zum Unbekannten, der "Weissagung", mit
stereotypisiert und andere Möglichkeiten ausgeschlossen, also Kontingenz auf Notwendigkeit reduziert wird. mehrfachen Formen der Selbstabsicherung gegen die Wahrscheinlichkeit von Täuschung und Irrtum — so
An die Stelle der Öffnung für ein Ja oder Nein zu angebotenem Sinn tritt das Gebot, Fehler mit etwa die riesige Zahl von konkreten Konditionalprogrammen (wenn/dann), die Auswahl und
schwerwiegenden Folgen zu vermeiden. Wichtiger noch ist, daß das Ritual überhaupt nicht als Kombinationsmöglichkeiten offenließ (Mesopotamien); die allmähliche Tendenz zur Abstraktion der
334
Kommunikation vollzogen wird. Es wirkt als Objekt — als Quasi-Objekt im Sinne von Michel Serres. Es Weissagung, zur Beschränkung auf die Beurteilung der Zeichen als günstig bzw. ungünstig; der Einbau von
differenziert nicht zwischen Mitteilung und Information, sondern informiert nur über sich selbst und die self-fulfilling prophecies, die das Vorausgesagte gerade dadurch eintreten ließ, daß man der Weissagung nicht
Richtigkeit des Vollzugs. Es bietet sich in ausgesuchter, auffälliger Form (wie die Sprache) der Wahrnehmung glaubte oder ihr ausweichen versuchte (Ödipus); oder der Einbau von Mißverständlichkeiten (Griechenland),
dar. Aber genau dies geschieht nicht an beliebigen Stellen, sondern nur dort, wo man glaubt, eine der ein Falschverstehen geradezu normal ließ und das Orakel erst post factum bestätigte. Immer aber war die
Kommunikation nicht riskieren zu können. Leitschematik Oberfläche/Tiefe (offen/geheim, vertraut/unvertraut, klar/unklar) dupliziert, wurde in den
340
Auch die Praxis des Geheimhaltens und der Beschränkung der Kommunikation auf die Mitteilung, daß Zeichen für Sachverhalte wiederholt, und immer ging es um ein gedoppeltes Objektverhältnis — und nicht
dies oder jenes ein Geheimnis sei, findet reiche Nachfolge. Der Name Gottes wird geheimgehalten, wenn auch um eine Beobachtung von Beobachtungen.
nur noch zur Monopolisierung des Zugangs. Auch die Formeln, mit denen man sein Recht durchsetzen kann, Was am Textcorpus der Weisheitslehren auffällt und was die dadurch ausgelösten Erwartungshaltungen,
unterliegen aus gleichem Grunde zunächst der Geheimhaltung, solange die Offenlegung zum offenen Streit um Weise betreffend, bestimmt hat, ist vor allem: daß Wissen jetzt selbstreferentiell aufgefaßt wird, aber
341
das Recht führen würde. Die Freigabe wichtiger Kommunikation ist allemal ein Risiko. Die verdichteten, gleichwohl noch auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung in der unmittelbaren Weltsicht verbleibt.
"politischen" Kommunikationsverhältnisse in den Städten des antiken Mittelmeerraums scheinen jedoch eine Auch gibt es, trotz Schriftverwendung, noch keine "Heiligen Schriften", die die weitere Evolution auf die
Zunahme des Bereichs öffentlicher Kommunikation und dessen Trennung von der Mysterienpflege der Interpretation kanonisierter Texte festlegen. Die Götterwelt wird durch ein Hineincopieren gesellschaftlicher
335 342
anerkannten Kulte nahezulegen. Das Nebeneinander erspart die Vorstellung eines radikalen Bruchs, einer Strukturen diszipliniert — vor allem in der Form der Familie, der politischen Herrschaft eines Hauptgottes
343
Substitution von Politik und Recht für Religion. Die Evolution des römischen Zivilrechts beginnt mit der und der Vorstellung himmlischer Buchführungen ; und diese gesellschaftsstrukturellen Analogien, nicht aber
Publikation der zwölf Tafeln und der Bekanntmachung der erfolgversprechenden "actiones". Selbst in der ein spezifischer Textsinn, ermöglichen die Tradierung eines religiösen Wissens. Der Weise kann, das ist seine
Frühmoderne bedient man sich zum Schutze des soeben geborenen souveränen Staates noch dieser Technik Kunst, Fragen stellen und Antworten interpretieren; er wird nicht durch einen spontan-aktiven Gott ver-rückt.
des Geheimnisses. Aber jetzt gibt es schon Buchdruck. Das Geheimhalten muß nun selber geheimgehalten Weisheit ist, da trotz des Vorhandenseins von Texten noch oral erzogen wird und die Texte nur mit Hilfe
336
werden und kann gerade nicht mehr dazu dienen, die großen Dinge zu markieren. Nur als Religion hat das der Weisen verständlich sind, nicht allgemein zugänglich, aber auch nicht strikt geheim. Sie beruht auf
Geheimnis seinen ursprünglichen Sinn bewahrt; denn Religion setzt voraus, daß eine Entlarvung das besonderen Qualitäten des Weisen, auf der Art, wie er weiß, daß er weiß, und wie er Leben und Lehre daran
Geheimnis nicht zerstört, sondern die Neugierigen mit Verständnislosigkeit bestraft. ausrichtet. Sie präsentiert Wissen auf dem Hintergrund des Nichtwissens und insofern selbstreferentiell. Ihr
Noch unter der Dominanz des Schemas vertraut/unvertraut (verborgen, geheim) sind im Übergang von Bezug auf die Welt ist, bei aller Allgemeinheit, nur situativ zu handhaben, insofern ähnlich wie bei der
archaischen zu hochkultivierten Gesellschaften, die bereits erwähnten Weisheitslehren entstanden, die sich mit Volksweisheit in Sprichworten. Die vielen Aussagen werden nicht aufeinander bezogen, nicht in ihren
Hilfe von Schrift zu hochkomplexen Gebilden entwickelt haben — so vor allem in Mesopotamien und in Differenzen kontrolliert, nicht systematisiert. Die Weisheit ist nicht das Resultat einer logischen Analyse, einer
337
China. Ihnen lag eine Divinationspraxis zu Grunde, die teils für politische, aber auch für (davon kaum zu Inkonsistenzvermeidungsmethodologie. Inkonsistenzen im Weisheitsgebrauch werden entweder nicht bemerkt
trennende) rituelle und teils für Alltagssituationen der normalen Lebensführung genutzt wurde. Der enge oder nicht als störend empfunden, da man ohnehin weiß, daß man nicht weiß, und mit Wissen nur etwas aus
Zusammenhang von Divination und Schrift war dadurch bedingt, daß man zwischen dem Wesen der Sache dem Bereich des Unbekannten ins Bekannte herüberziehen kann. Genau diese eingestandene Insuffizienz wird
344
und den Schriftzeichen nicht unterschied, sondern diese für die Form des Wesens hielt — und halten konnte, dadurch kompensiert, daß man die Weisheit lebt, sie durch Reinheit garantiert und als Lebensführungsregel
338
solange es keine rein phonetische Schrift war. Bei Divinationszeichen wie bei Schrift und übrigens auch bei des Weisen darstellt und in Situationen beglaubigt — mit der Differenz, daß man sich ohne Weisheit anders
ornamentalen Frühformen der Kunst ging es darum, sichtbare Lineaturen als Zeichen für etwas Unsichtbares verhalten würde. Mit diesem Rückbezug auf Lebensführung ist zugleich gesichert, daß der Weise in einer
zu nehmen. In China wurden offen zutage liegende "Objekte" (Knochen oder Eingeweide von Opfertieren, gewissen Distanz zum Normalverhalten der Oberschicht, ja in gewisser Weise außerhalb der
345
Vogelflug, Träume) von hinreichender Komplexität als Zeichen für andere, verborgene Sachverhalte genutzt. Schichtenordnung lebt, etwa als Prophet oder als Mönch, als Mahner und als Warner ; und natürlich muß
Die latente Funktion der Divination lag in einer Neutralisierung anderer Einflüsse auf den
Entscheidungsprozeß, etwa der Zufälle persönlicher Erinnerungen oder der Pression sozialer Einflüsse. Man 339
Siehe auch Omar K. Moore, Divination — A New Perspective, American Anthropologist 59 (1957), S. 69-74; Vilhelm
Aubert, Change in Social Affairs (1959), zit. nach ders., The Hidden Society, Totowa N.J. 1965.
340
"elle voit des choses à travers d'autres choses", heißt es bei Jean Bottéro, Symptômes, signes, écritures en Mésopotamie
ancienne, in Vernant et al. a.a.O. S. 70-197 (157).
333
Vgl. etwa Anthony F.C. Wallace, Religion: An Anthropological View, New York 1966, S. 233 ff.; Mary Douglas, 341
Die erste Hälfte dieser Aussage und eine eindringende Ausarbeitung ihrer Implikationen findet sich auch bei Alois
Natural Symbols: Explorations in Cosmology, London 1970, insb., S. 50 ff.; Roy A. Rappaport, Ecology, Meaning,
Hahn, Zur Soziologie der Weisheit, in: Aleida Assmann (Hrsg.), Weisheit: Archäologie der literarischen Kommunikation
Religion, Richmond Cal. 1979, insb. S. 173 ff.
III, München 1991, S. 47-57.
334
Siehe Michel Serres, Genèse, Paris 1982, S. 146 ff. 342
Siehe z.B. Madeleine David, Les dieux et le destin en Babylonie, Paris 1949; Bottéro a.a.O. (1987), S. 241 ff.
335
Vgl. Jean-Pierre Vernant, Les origines de la pensée grecque, Paris 1962. 343
Speziell hierzu und zu den Unterschiedenen orientalischer und christlicher Versionen Leo Koep, Das himmlische Buch
336
Die "hermetische" Bewegung der Frühmoderne läßt sich begreifen als ein Versuch, dies trotzdem zu tun und die sich in Antike und Christentum: Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zur altchristlichen Bildersprache, Bonn 1952.
schon abzeichnenden strukturellen Verunsicherungen auf diese Weise zu beheben. Sie war aber, eben wegen dieses 344
Das Kennen der Zeichen (Namen) erfordert ein "kathairein". Siehe Platon, Kratylos 396 E - 397.
Anachronismus, darauf angewiesen, als "alte Weisheit" aufzutreten und löste sich auf, sobald Quellenforschung ihre
345
Herkunft berührte. Zum Entstehen kultureller "Eliten", die sich nicht auf die askriptiven Einheiten des vorherrschenden
337 Gesellschaftsaufbaus stützen und deshalb die Differenz weltlich/transzendent verschärfen können, vgl. (im Anschluß an
Siehe Jean-Pierre Vernant et al., Divination et rationalité, Paris 1974; Jean Bottéro, Mésopotamie: L'écriture, la raison et
Max Weber) Talcott Parsons, Societies: Evolutionary and Comparative Perspectives, Englewood Cliffs N.J. 1966, S. 98 f.;
les dieux, Paris 1987, insb. S. 133 ff., 157 ff.
ferner Shmuel N. Eisenstadt, Social Division of Labor, Construction of Centers and Institutional Dynamics: A
338
Auch dies ein guter Beleg dafür, wie sehr Evolution von vorübergehenden Konstellationen abhängt. Reassessment of the Structural-Evolutionary Perspective, Protosoziologie 7 (1995), S. 11-22 (16 f.). Weber selbst hatte dies
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 109 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 110

vorausgesetzt sein, daß die Authentizität seiner Äußerungen nicht in Frage gestellt wird, sondern sich aus werden kann, eine Ja-Fassung und eine Nein-Fassung zur Verfügung stellt. Deshalb kann es keine der
seiner Weisheit selbst ergibt. Eine Beobachtung zweiter Ordnung ist ausgeschlossen, und zwar sowohl eine Verneinbarkeit entzogenen Begründungen geben und deshalb muß die Moral ihre Grundlagen in die
Abstimmung mit anderen Ansichten anderer als auch eine Vorschaltkontrolle im Hinblick auf mögliche eigene inkommunikablen Geheimnisse der Religion verlegen (und wer diese Notwendigkeit mißachtet wie Kant oder
andere Ansichten. Weisheit ist eine Kultform der Naivität. Die Sprüche sprudeln unvermittelt und machen Bentham oder die Wertethiker unserer Tage, wird mit Unergiebigkeit seiner Maximen bestraft).
346
eben dadurch, wie die Schriftkultur des 18. Jahrhunderts dann sagen wird , einen "sublimen" (erhabenen) Moral ist immer symmetrisierter Sinn. Sie operiert unter dem Verbot der Selbstexemption. Wer Moral
Eindruck. einfordert, muß sie auch für sein eigenes Verhalten gelten lassen. Die Ausnahme ist wie immer: Gott. Die
Zu den wichtigsten evolutionären Effekten der Divinationspraxis gehört ihr zirkuläres Verhältnis zur religiöse Begründung moralischer Gebote kennt diese konstitutive Regel nicht. Sie wahrt ihr Geheimnis, indem
Schrift. Teils ist die Schrift überhaupt dadurch entstanden, daß man divinatorische Zeichen bereits "lesen" sie sich selbst nicht ebenfalls der Moral unterstellt. Sie geht von Asymmetrie aus. Die Abwandlung des
konnte und sie dann als Ideogramme nur noch von ihren Objekten (erhitzte Knochen, Schildkrötenpanzer) Gesetzes, Ehebrecherinnen seien zu steinigen, vollzieht Jesus durch eine für andere unsichtbare Schrift; und
347 350
ablösen mußte ; teils fand die zunächst für Registrierzwecke erfundene Schrift in der Divinationspraxis und durch die neue Regel: "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie." Die Regel stellt
deren Aufzeichnungsnotwendigkeiten ein so komplexes Anwendungsfeld, daß ihre Phonetisierung eingeleitet, sich — und entzieht sich der Kommunikation. Sie lautet nicht: Wer unter uns ...". Denn sonst hätte Jesus
aber auch blockiert wurde — so in Mesopotamien. In jedem Falle gehört die Symbiose von Divination und selbst den ersten Stein werfen müssen.
Schrift zu den Merkmalen, die die Hochkulturen deutlich von spätarchaischen Gesellschaften abheben, die Das Problem aller Geheimnisse ist, daß sie nicht konstruiert, sondern nur dekonstruiert werden können.
aber die Vorherrschaft oraler Kommunikation für lange Zeit noch intakt lassen. Sie können nicht in die Kommunikation eingehen, ohne die Verlockung zu erzeugen, das Verschlossene zu
Man kann sich fragen, wie die in dieser Form entwickelte Weisheitskultur zu den öffnen und nachzusehen. Das mag mit Verboten belegt werden, die aber auch als Hinweis auf die Möglichkeit
Unterscheidungstechniken jeder sinnhaften Kommunikation steht. Einerseits ist sie ohne die Unterscheidung einer Übertretung aufgefaßt werden können. Diese Asymmetrie von Konstruktion und Dekonstruktion setzt
des Verborgenen undenkbar und tendiert auch selbst zur Entwicklung eines Code günstige/ungünstige die Großgeheimnisse der Gesellschaft einer runinösen Evolution aus, die zu immer neuen Ersatzleistungen
Zeichen. Andererseits hat sie offensichtlich nicht dasjenige Verhältnis zu binären Schematismen, das die zwingt. Zu den wohl bedeutendsten Auffangerrungenschaften gehört die Figur des Paradoxes, die insofern
"Prudentien" der griechisch-römischen Tradition auszeichnet, die ihrerseits die alteuropäische Semantik bis in noch geheim und nicht mehr geheim ist, als sie blockiert und nicht verrät, was man mit ihr anfangen kann.
die Neuzeit hinein bestimmt haben. Denn bei diesen Prudentien ging es in einem ganz anderen Sinne um Der geschichtlich wohl wichtigste Ausweg ist die Verschiebung des Geheimnisses der Religion in das
351
Rationalität, nämlich um Rat für Verhaltensweisen, die sich mit einer Differenz konfrontiert sahen — sei es (nicht eingestehbare) Paradox der Moral. Die Moral selbst kann, ja muß weitgehend auf Geheimnisse (und
mit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft, sei es mit der moralischen Differenz, also mit der damit auf Religion) verzichten. Sie muß, soll sie ihre eigene Funktion erfüllen, nicht geheim sein, sondern
Möglichkeit, daß andere sowohl gut als auch schlecht handeln können. Prudentien können sich denn auch in bekannt. Nur für ihre eigene Paradoxie, für das Verdrängen der Frage, warum denn die Moral selbst gut sei,
einem ganz anderen Sinne zur Zeitdimension und zur Sozialdimension ins Verhältnis setzen als Weisheiten obwohl sie doch gutes und schlechtes Verhalten vorsehe, bedarf sie zunächst noch einer religiösen Fundierung
352
und können deshalb in einem evolutionären Sinne als "preadaptive advances" für neuartige Rationalitäten im Willen Gottes, der dann seinerseits unter die Beschränkung gerät, ausschließlich gut handeln zu müssen.
gelten. Die Religion selbst wird moralisiert, damit sie die Moral begründen kann; und warum es überhaupt
Nicht zur Esoterik verurteilt und im ganzen erfolgreicher hat sich eine andersartige, weniger direkt Schlechtigkeit gibt, obwohl Gott doch mit einem Wort die ganze Welt gut machen könnte, bleibt das letzte
ansetzende Reaktion auf die Sprachcodierung erwiesen: die Erfindung der Moral. Gegen alles Geheimnis der Religion. Zugleich hat dieses Bündnis von Moral und Religion den Vorteil, mit Schrift und mit
353
Alltagsverständnis, wie wir es aus der Kirche mit nach Hause bringen, muß die Symbiose von Religion und der dadurch bedingten Versachlichung der Welt kompatibel zu sein. So gelingt es, in erheblichem Umfange
Moral als kulturelles Artefakt begriffen werden, das prekär und kontingent ist und bleibt. Wenn es zur Mystifikationen durch strukturierte Komplexität zu ersetzen, zumindest auf den konkreteren Sinnebenen der
Vorstellung eines Hochgottes kommt wie zum Beispiel in dem durch monotheistische Religionen beeinflußten Kommunikation.
afrikanischen Religionskreis, wird die moralische Ambivalenz des Heiligen bewahrt, und man vermeidet es, Vor allem geht es um einen im Verhältnis zur Sprache neuartigen Code, nämlich um die Unterscheidung
348
dem Hochgott bösen Willen zu unterstellen, obwohl er Schlimmes geschehen läßt. Die Spannung von von gutem und schlechtem Verhalten. Wie der Sprachcode selbst enthält auch dieser Code nur zwei Werte,
religiöser und moralischer Codierung wird in Hochreligionen unterdrückt. An deren Rändern kommt jedoch und ebenfalls einen positiven und einen negativen Wert. Der Moralcode steht aber quer zum Sprachcode mit
die Unabhängigkeit beider Semantiken immer wieder zum Vorschein — so wenn zum Beispiel die in Mittel- der Folge, daß sowohl das Annehmen als auch das Ablehnen einer Kommunikation sowohl gut als auch
und Südamerika verbreiteten Kultformen, die mit Trance-Zuständen arbeiten, nicht zwischen schwarzer und schlecht sein kann. Darin liegt, verglichen mit der zuvor behandelten Restriktion der Kommunikation, die
weißer Magie unterscheiden, Besessenheit als einen moralisch ambivalenten Zustand erzeugen und ganz auf Unwahrscheinlichkeit der Moral und speziell die Unwahrscheinlichkeit, daß die durch die Sprache
349
Prozedur und Effekt abstellen. Die uns geläufige Kongruenz von Religion und Moral hat vermutlich nur freigesetzten Risiken auf diese Weise kontrolliert werden können.
den Sinn, ein Kommunikationsproblem zu lösen, das sich daraus ergibt, daß die Sprache für alles, was gesagt
350
Evangelium des Johannes Kap. 8
Ausdifferenzierungsproblem vor allem im (theoretisch unergiebigen) Begriff des "Charisma" zusammengefaßt, der die
351
spontane, nicht durch Herkunft, Schicht oder sozialem Status bedingte Entstehung von Autorität bezeichnet. Zur Gut erkennbar ist dieser Vorgang am Mythos vom Paradies und vom Sündenfall. Es bleibt ein Geheimnis Gottes,
(weitgehend exegetisch-kritisch verfahrenden) Folgediskussion siehe Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Studie weshalb er die Fähigkeit zum moralischen Unterscheiden verbieten wollte. Aber das Verbot war offenbar, doch dies bleibt
über das antike Judentum: Interpretation und Kritik, Frankfurt 1981. die nicht eingestehbare Paradoxie der Moral, nur dazu da, übertreten zu werden.
346 352
Siehe unvermeidlich Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into our Ideas of the Sublime and the Beautiful (1756), Statistisch gesehen sind Götter, die sich um die moralischen Affären der Menschen kümmern und sich dabei selbst für
Neuausgabe London 1958. Vgl. auch Samuel H. Monk, The Sublime: A Study of Critical Theories in XVIIIth-Century das Gute und gegen das Schlechte engagieren, eindeutig in der Minderheit. Nur 25 % der von George P. Murdock,
England (1935), 2. Aufl. Ann Arbor 1960. Die Stoßrichtung ging damals gegen die Regel-Ästhetik und gegen den Ethnographic Atlas, Pittsburgh 1967, erfaßten Gesellschaftssysteme kennen einen Hochgott, der die Menschen moralisch
pompösen Stil der bloßen Verherrlichung gesellschaftlicher Ordnungsmächte (die es nicht länger waren), und die Wehmut beurteilt. Das Interesse an einem moralisch qualifizierenden Hochgott mag mit der wirtschaftlichen Entwicklung und mit
über die verlorene Authentizität klang nur mit. Heute ist das jedoch das primäre Motiv, wenn die Postmoderne sich mit der dem Vertrauensbedarf bei Eigentums- und Handelsverhältnissen zusammenhängen. Siehe dazu Ralph Underhill, Economic
Geste, die zum Erhabenen greift, selbst zu korrigieren versucht. and Political Antecedents of Monotheism: A Cross-cultural Study, American Journal of Sociology 80 (1975), S. 841-861.
347 353
So erklärt Léon Vandermeersch, De la tortue à l'achillée: Chine, in Vernant a.a.O. S. 29-51, die Plötzlichkeit der Wenn man den ursprünglichen Sinn von "res" im Auge behält, könnte man hier auch von "Reifikation" sprechen. Es
Entstehung einer ausreichend komplexen Schrift in China durch Mutation divinatorischer Zeichen. geht um die Konstitution externer Referenzen, die von der Art, wie man über sie spricht, unabhängig sind. Daß auch das
348 "Ding" in sich geheimnisvoll ist, hat Martin Heidegger wieder bewußt gemacht. Siehe direkt zum Thema: Das Ding, in:
Vgl. Mbiti a.a.O. (1970), S. 16 f. u.ö.
Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 163-181. Der Vorteil der Dinghaftigkeit ist jedoch, daß man dieses Geheimnis
349
Es sei die Anmerkung gestattet, daß es sich hier um Entwicklungen des 20. Jahrhunderts handelt. weder kommunikativ noch sonstwie respektieren muß.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 111 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 112

Von Moral wollen wir sprechen, wo immer Individuen einander als Individuen, also als unterscheidbare Auszeichnung, die einem Normalmenschen nur noch Bewunderung entlocken, ihn aber nicht mehr binden. Die
Personen behandeln und ihre Reaktionen aufeinander von einem Urteil über die Person statt über die Situation Moral nimmt dann meritorische Züge an. Oder sie sondert in Anpassung an gesellschaftliche Arbeitsteilung
abhängig machen. In diesem Sinne ist Moral ein gesellschaftliches Universale, da es keine Gesellschaft gibt, in mit Hilfe einer Unterscheidung von Achtung und Respekt einen Bereich ab, in dem Leistungen anerkannt und
354
der Individuen einander nicht als Individuen unterscheiden. Variabel ist natürlich, wie Personalität aufgefaßt beurteilt werden, die man nur noch Spezialisten zumutet. Man braucht in Mathematik nicht so gut zu sein wie
und was dem Einzelnen zugerechnet bzw. nichtzugerechnet wird, und in dieser Hinsicht gibt es mit der ein Mathematiker. Schließlich gerät im Mittelalter (und dies wohl unter der Einwirkung der regelmäßigen
gesellschaftlichen Evolution auch eine Evolution von Moral. Wie immer, Moral ist nicht ein Normtypus Beichte) die Moral unter Bewußtseinskontrolle. Sie behandelt schließlich nur noch die "innere" Seite des
besonderer Art, ja nicht einmal durchweg auf Normierungen angewiesen (es gibt primär meritorische Verhaltens, setzt also voraus, daß man die Regeln kennt und, selbst bei eigenem Verhalten (man beachte diese
Moralen), sondern eine Codierung, die auf dem Unterschied von Achtung und Mißachtung aufbaut und die Extravaganz!) noch innerlich kontrollieren muß, ob man die Beachtung bzw. den Verstoß gegen die Moral
entsprechenden Praktiken reguliert. will oder nicht will. Das macht es schließlich sogar möglich, unter vereintem Druck von Theologie und Moral,
Eine voll entwickelte Moral ist ein bereits recht komplizierter Mechanismus sozialer Koordination und in Bezug auf eigenes Verhalten die Inkonsistenz des Bereuens (contritio) zu verlangen und eine priesterliche
keineswegs nur, wie die heutige Ethik uns glauben machen will, eine Anwendung vernünftig begründbarer Beratungsmaschinerie zu entwickeln einzig zu dem Zweck, dies zu erreichen.
Regeln. Ähnlich wie die Codierung der Sprache erzeugt auch der Moralcode von gut und schlecht, wenn in Seit dem Hochmittelalter und entschieden dann in der Neuzeit bemüht man sich schließlich um eine
kommunikativer Praxis verwendet, ein recht komplexes Gefüge von Konditionierungen, eben spezifisch Spezifikation der Zurechnung als Bedingung der moralischen Qualifizierung des Handelns. Es muß, sagt
355 359
moralische Komplexität. Hierbei müssen mehrere Unterscheidungen zugleich und mit Bezug aufeinander man, von innerer Zustimmung getragen sein. Darin liegt eine erhebliche Einschränkung des
praktiziert werden. Zunächst geht es um die Sozialdimension, das heißt um die Unterscheidung von Ego und Anwendungsbereichs der Moral und ihre Abkopplung von sozialem Status. Die Heroen der alten Welt waren
Alter. Auf beide Seiten dieser Form wird eine andere Zwei-Seiten-Form angewandt, nämlich die von Achtung für ihr gesamtes Verhalten verantwortlich gewesen — und dies allein deshalb, weil ihr sozialer Status ihnen
und Mißachtung. Darin kommt die eigentlich moralische Qualität der Kommunikation zum Ausdruck. Sowohl die Unabhängigkeit des Verhaltens gewährleistete. Seit dem Mittelalter wird diese Bindung an soziale
Ego als auch Alter können wegen ihres Verhaltens sowohl geachtet als auch mißachtet werden. Auf diese Inklusion mehr und mehr aufgegeben und ersetzt durch eine neuartige Kombination von Universalität und
356
Weise entsteht ein artifizieller Spielraum kombinatorischer Möglichkeiten , der dringend der Einschränkung Spezifikation — ein typisch modernes Syndrom.
bedarf. Moral (im üblichen Sinne des Wortes) entsteht demnach durch Reduktion der Komplexität von Moral. Seit der Einführung des Buchdrucks lockert sich auch der Zusammenhang von Religion und Moral. Die
Als Reduktionen werden Bedingungen für Achtung bzw. Mißachtung formuliert — sei es in der Form religiösen Bürgerkriege, die auf beiden Seiten mit moralischem Eifer ausgefochten werden, führen das aller
von Verhaltensbeschreibungen, sei es in der Form von Tugenden und Lastern, sei es in der Form von Zwecken Welt vor Augen. Im 17. Jahrhundert folgt die psychologische, im 18. Jahrhundert die begründungstheoretische
357
oder von Regeln. Außerdem gilt, gleichsam als Prinzip der Moral, die Regel, daß solche Bedingungen Problematisierung der Moral. Parallel dazu wird Religion nicht mehr als Einteilung der Welt vorgestellt, die es
jeweils rückbezüglich auch für den gelten, der sie aufstellt. Sobald man also anderen mitteilt, unter welchen kommunikativ auf angemessene Weise nachzuvollziehen gilt, sondern als Kommunikation besonderer Art mit
Bedingungen man sie achten bzw. mißachten wird, ist man selber gebunden. Deshalb genügt für den Code der besonderen Sinngehalten und besonderen Funktionen. Die Leitperspektive wechselt von Beobachtung erster zu
Moral zunächst die symbolisch generalisierte Form gut/schlecht ohne Bezugnahme auf die inneren Beobachtung zweiter Ordnung. Religion erscheint jetzt als eine reduktive Struktur besonderer Art, also als
358
Einstellungen der Person, deren Verhalten beurteilt wird . Die moralischen Verfehlungen der antiken Helden kontingent. Man ist nicht durch sie gebunden, weil man anderenfalls in Irrtum und Sünde leben würde. Man
(Muttermord, Vatermord usw.) werden als Schicksal, nicht als Schuld vorgeführt. Sie beweisen die Macht, kann an sie glauben — oder auch nicht.
nicht die Moral, jenseitiger Mächte. Interpersonale Rückbezüglichkeit und symbolische Generalisierung des Im Ergebnis haben wir heute einen Gesellschaftszustand erreicht, in dem Moralisieren nach wie vor weit
Moralcodes haben dramatische Auswirkungen — einerseits auf die Disziplinierung moralischer Forderungen, verbreitet, ja die "vornehme" Zurückhaltung, die man in den Oberschichten mühsam gelernt hatte, wieder
andererseits aber auch auf die Insistenz und Penetranz, mit der sie vertreten werden, wenn sie einmal aufgegeben ist. Aber dies Moralisieren leistet keine gesellschaftliche Integration mehr, ebensowenig wie die
aufgestellt sind, und auf die Unvermeidlichkeit ihrer Konflikte. Religion selbst. Der Code gut/schlecht wird benutzt, aber er läuft gleichsam leer. Es fehlt Konsens über die
Weitere Verfeinerungen sind deutlich kulturabhängig und dienen der Anpassung des moralischen Kriterien, nach denen die Werte gut bzw. schlecht zuzuteilen sind. Die Bistabilität des Code mit
Regelwerks an den jeweils erreichten Stand gesellschaftlicher Entwicklung. So kann die moralische Symmetrie Ausschließung aller weiteren Werte garantiert Abstraktheit, Abrufbarkeit, Invarianz. Aber die eben deshalb
von Ego und Alter in Anpassung an die gesellschaftliche Schichtung re-asymmetrisiert werden. Was für den notwendigen Programme, die regeln, welches Verhalten positiv bzw. negativ zu beurteilen ist, sind nicht mehr
Adel gilt, gilt nicht für das Volk. Die Helden und Asketen, die Ritter und die Mönche haben Möglichkeiten der durch Religion vorgeschrieben; und dafür hat es auch kein Substitut gegeben. Die moralische Kommunikation
tritt noch unter dem Anspruch auf, für die Gesellschaft zu sprechen; aber in einer polykontexturalen Welt
354
kann das nicht mehr einstimmig geschehen. Es ist nicht etwa so, daß die Unmoral auf Kosten der Moral
Anders, jedoch ohne zureichende empirische Belege, Sighard Neckel / Jürgen Wolf, The Faszination of Amorality; zunimmt. Vielmehr gibt es immer wieder gute moralische Gründe, die Formen abzulehnen, auf die die Moral
Luhmann's Theory of Morality and its Resonances among German Intellectuals, Theory, Culture & Society 11 (1994), S.
69-99. Der Irrtum hängt anscheinend mit dem Verhältnis von Moral und gesellschaftlicher Differenzierung zusammen.
sich festgelegt hatte.
Aber selbst wenn es zwischen den indischen Kasten oder den Stämmen segmentärer Gesellschaften keinen Raum für den Dieser prekären Lage der Moral in der heutigen Gesellschaft entspricht, auf semantischer Ebene, die
Ausdruck persönlicher Achtung und Mißachtung geben sollte, folgt daraus noch nicht, daß es dies nicht innerhalb der Individualisierung der moralischen Referenz, ihr Insistieren auf innerem Überzeugtsein (im Unterschied zu
entsprechenden Teilsysteme gibt. Das Gegenteil ist so wahrscheinlich, daß man es unterstellen kann. äußerem Gezwungensein), also auf Selbstmotivation. Diese Individualethik wird von Religion abgekoppelt
355
Ob die Resultate dann in der Abstraktion von Prinzipien oder in einer Moralkasuistik formuliert werden, ist eine zweite und von Recht unterschieden. Das läßt die Frage offen, wie es dann überhaupt zu einer sozialen Koordination
Frage und setzt in jedem Fall eine entsprechende Morphogenese von moralischer Komplexität voraus. moralischer Perspektiven kommen kann. Wenn heute überall — in der Wirtschaft, in der Politik, in
356
Dieser Spielraum erweitert sich ins Riesige, wenn zusätzlich erwartet wird, daß moralgemäß erwartet wird, denn dann
ökologischen Fragen für Ärzte, für Journalisten — nach "Ethik" verlangt wird, vermißt man die
können sowohl Ego als auch Alter sich schon dadurch Achtung bzw. Mißachtung zuziehen, daß sie auf andere oder auf sich Durchpräzisierung der Frage im Hinblick auf die sozialen Mechanismen, die eine solche dann unmoralische
selbst Moral richtig oder falsch anwenden. Koordination der Moral bewirken könnten. Und eben deshalb müssen Einrichtungen, die dies zu leisten
357 scheinen, etwa das Fernsehen, ihre Funktion latent halten.
Die avancierten Formen dieser Liste sind natürlich erst erreichbar, wenn Schrift zur Verfügung steht.
358
Semantisch kann man dies erkennen an den Veränderungen des Begriffs der Person (persona im Unterschied zu anima),
der erst im Mittelalter selbstreferentielle Komponenten (Konsens mit sich selbst im Unterschied zu Reue) aufnimmt und
359
dann dazu tendiert, mit dem Begriff des Individuums zu verschmelzen. Siehe insb. Hans Rheinfelder, Das Wort "Persona": Explizit zum Beispiel in der Ethik Abelards, zit. nach Peter Abelard, Ethics, Oxford 1971, siehe insb. S. 4. Die
Geschichte seiner Bedeutungen mit besonderer Berücksichtigung des französischen und italienischen Mittelalters, Halle theologische Begründung hierfür lautet, daß man Gott nicht schaden könne, wohl aber durch die innere Zustimmung zur
1928. Sünde ihn verachten.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 113 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 114

Aber hier greifen wir bereits auf sehr späte Verhältnisse vor. Moral scheint ein gesellschaftliches Außerdem widerspricht die Stimme, wenn man so extrem formulieren darf, der Wiedererkennbarkeit von
Universale zu sein, mit dem man auf das Unwahrscheinlichwerden der Annahme von kommunikativ Sinn. Sie kann nur im Moment des Sprechens gehört werden und verhallt. Die mündliche Kommunikation
zugemutetem Sinn reagiert. Mit sehr einfachen Formen der Moralisierung von Kommunikation wird man bezieht die benötigten Redundanzen daher aus der personalen Identität von Sprecher und Hörer, aus
schon in einfachen Gesellschaften zu rechnen haben, die noch keine Regel-Orientierung, geschweige denn Konsistenzzumutungen, die an Personen abgelesen und im Schema von Konformität und Abweichung
"interne" Zurechnungen kennen, sondern sich mit einer konkreten Qualifizierung von Menschen und weiterbehandelt werden. Erst schriftliche Kommunikation gerät unter den Druck, selbst für die nötigen
Verhaltensweisen bei geringer Konsistenz von Situation zu Situation begnügen. Auch dann wird ein Urteil Redundanzen zu sorgen, und das erfordert eine ganz andere Zeichen- und Wortkultur. Das aber entlastet
über ein Verhalten den Überschußeffekt gehabt haben, sowohl die Person des Handelnden als auch den zugleich die Individuen in beträchtlichem Maße von der Funktion, für Wiedererkennbarkeiten einzustehen,
Sprecher selbst auf bestimmte Erwartungen festzulegen. Die gesellschaftliche Funktion solcher Moral mag und ermöglicht andererseits die Ausdifferenzierung von speziellen Kommunikationskontexten für ganz
gering gewesen sein (oder jedenfalls muß man nicht der Einschätzung Durkheims folgen), aber dennoch wird persönliche Kommunikation.
man mit einem generativen Mechanismus rechnen können, der, angeschlossen an die Ja/Nein-Codierung der Auch die Möglichkeiten des Aufbewahrens und Erinnerns sind durch das Angewiesensein auf mündliche
Sprache, dafür sorgt, daß sich Konditionierungen entwickeln, die Anhaltspunkte dafür liefern, welche Kommunikation beschränkt und damit auch das, was die Erzähltradition solcher Gesellschaften an Semantik
Kommunikationen anzunehmen und zu befolgen sind und welche nicht. aufbauen kann. Wichtige Konsequenzen hängen mit der Raumgebundenheit und der Gegenwartsabhängigkeit
Erst im historischen Rückblick bezeichnen wir den über Kommunikationssperren laufenden der Kommunikation zusammen. Was im Hinblick auf mögliche (nützliche oder gefährliche) Interaktion zählt,
Funktionskreis als Religion und den der Codierung von gutem und schlechtem Verhalten als Moral. Die hier ist die Nachbarschaft. Größere Distanz bedeutet abnehmende Nützlichkeit und zunehmende Gefährlichkeit
vorgeschlagene theoretische Rekonstruktion sollte uns aber davor bewahren, zu viel heutigen Sinn über diese und schließlich eine Grenze zum Unvertrauten. Man weiß oder ahnt, daß hinter den Bergen andere Menschen
Bezeichnungen in Gesellschaften zurückzuprojizieren, deren Kommunikationsweise ganz anders als die wohnen, aber sie gehören nicht zur eigenen Gesellschaft und sind in ihrer Sprache oft kaum oder gar nicht
360
unsrige geordnet war. verständlich. Ihnen gegenüber gibt es keine Bindungen, keine "religio", keine Moral.
Unter diesen Bedingungen sind Raumvorstellungen und Zeitvorstellungen schwer zu trennen und gehen
letztlich ineinander über. Die Welt ist räumlich-zeitlich um eine bewohnte Mitte "konzentriert". Die Zeit wird
an konkreten Ereignissen erfahrbar, so wie der Raum an konkreten Plätzen, und ist ebenfalls nach Nähe/Ferne
361
V. Schrift geordnet. Es gibt, wie im Raum, eine abzählbare, konditionierbare Nahzeit und eine unerreichbare, dunkle
Fernzeit, in der Vergangenheit und Zukunft sich nicht unterscheiden lassen. Die Nahvergangenheit reicht
Sprache entsteht zum Sprechen, sie entsteht als Medium mündlicher Kommunikation. So ist die soweit wie das individuelle Gedächtnis (das heißt: das Gedächtnis, das man in der Kommunikation bei
Kommunikation an Systeme der Interaktion unter Anwesenden gebunden, aber in dem Maße, als eine anderen voraussetzen und aktivieren kann), und die Nahzukunft reicht so weit, wie gegenwärtiges Verhalten
362
Gesellschaft größer wird, nimmt die soziale Relevanz von Anwesenheit ab. Die Angewiesenheit auf mündliche künftige Sachlagen erkennbar konditioniert.
Kommunikation hat mithin weitreichende Konsequenzen für Sozialstrukturen und Differenzierungsformen, die Mündlich kommunizierende Gesellschaften können ihre Religion über Ekstase, über Trance-Zustände
363
unter diesen Bedingungen erreichbar sind. Wir kommen im vierten Kapitel in den Abschnitten über vergegenwärtigen, deren Außeralltäglichkeit die Anwesenden beeindruckt. Sie schicken Shamanen auf
segmentäre Differenzierung und über Interaktionssysteme in der Gesellschaft darauf zurück.
Bei mündlicher Kommunikation ist Sozialität gleichsam automatisch gesichert. Redende und Hörende
hören dasselbe, und im Hören, was er sagt, schließt der Redende sich in die Hörgemeinschaft ein. Das gilt
auch und besonders für die inszenierte und stilisierte Kommunikation: für den Vortrag von Erzählungen
(Formulierungen wie "orale Texte", "orale Literatur" sind unangemessen und nur im Rückblick verständlich.)
360
und für den Vortrag von Texten, die bereits schriftlich fixiert sind. Die Kommunikation zieht gleichsam die Zu Unterschieden in der Raumform Nähe/Ferne, die Formen der Reziprozität differenzieren, siehe Marshall D. Sahlins,
Erzählung aus dem Vortragenden heraus, das erkennt man an den dafür notwendigen Formen wie Rhythmik, On the Sociology of Primitive Exchange, in: The Relevanz of Models for Social Anthropology, London 1965, S. 139-236.
Zu Konsequenzen für die Moral vgl. auch F.G. Bailey, The Peasant View of Bad Life, Advancement of Science 23 (1966),
Musik, Floskeln und vor allem an einer Zuhörerschaft, ohne die auch ein persönliches Gedächtnis der Sänger S. 399-409.
nicht funktionieren würde. Auch der normalen Kommunikation scheint ein sehr begrenzter und 361
standardisierter Sprachschatz zu genügen. Siehe etwa Werner Müller, Raum und Zeit in Sprachen und Kalendern Nordamerikas und Alteuropas, Anthropos 57
(1963), S. 568-590; John Mbiti, Les Africains et la notion du temps, Africa 8, 2 (1967), S. 33-41; Robert J. Thornton,
Zu den weiteren Merkmalen mündlicher Kommunikation gehört, daß Metakommunikation zwangsläufig
Space, Time and Culture among the Iraqw of Tanzania, New York 1980. Auch für Hochkulturen, vor allem für China und
mitläuft. Wir hatten bereits die Vermutung geäußert, daß Metakommunikation bei einem vorsprachlichen Indien, gilt Entsprechendes.
Signalaustausch noch nicht möglich ist. Mit der Evolution von Sprache rückt sie dann aber sogleich ins 362
Vgl. Rüdiger Schott, Das Geschichtsbewußtsein schriftloser Völker, Archiv für Begriffsgeschichte 12 (1968), S.
Zentrum der Kommunikation, jedenfalls der Kommunikation unter Anwesenden. Man kann nicht reden, ohne
166-205. Man darf aber annehmen, daß schon vor der Erfindung der Schrift mit der Ausdifferenzierung
zugleich mitzuteilen, daß man redet und gehört und verstanden werden möchte. Jetzt kann auch für Störfälle, politisch-ökonomischer Großhaushalte ein Interesse an einer besseren Elaboration und Tiefenschärfe von Zeitverhältnissen
für Unterbrechungen, für Wiederholungen, für besondere Akzentuierungen gesorgt werden. Immer wenn entsteht, und darin mag dann auch ein Grund für die Einführung einer Technik schriftlicher Aufzeichnungen gelegen
kommuniziert wird, liegt also die Betonung darauf, daß kommuniziert wird. Nichtkommunikation wäre haben. Vgl. z.B. Burr C. Brundage, The Birth of Clio: A Résumé and Interpretation of Ancient Near Eastern
paradoxe Kommunikation, nämlich Kommunikation der Nichtkommunikation, und das Paradox würde Historiography, in: H. Stuart Hughes (Hrsg.), Teachers of History: Essays in Honor of Laurence Bradford Packard, Ithaca
typisch als Verweigerung interpretiert und dadurch in die Form absichtlicher Kommunikation gebracht N.Y. 1954, S. 199-230; François Châtelet, La naissance de l'histoire: La formation de la pensée historienne en Grèce, Paris
1962. Dasselbe kann man am Aufkommen archäologischer Interessen im späteren Mesopotamien ablesen. Siehe dazu
werden — mit gravierenden Folgen für den, der eigentlich nur in Ruhe gelassen werden wollte. In unsere
Gerdien Jonker, The Topography of Remembrance: The Dead, Tradition and Collective Memory in Mesopotamia, Leiden
Begrifflichkeit übersetzt: die Autopoiesis der Kommunikation, nämlich daß sie überhaupt stattfindet, ist 1995, insb. S. 153 ff.
zugleich Thema der Metakommunikation und zumeist auch eine kommunale Norm, der man sich schwer 363
Bemerkenswert die evolutionäre Ursprünglichkeit dieses (letztlich neurophysiologischen) Phänomens und sein Auftreten
entziehen kann — es sei denn auf ganz einfache Weise durch Abwesenheit. Wer aber anwesend ist, hat sich
in allen Weltteilen und zu allen Zeiten. Dazu gehört auch das vielfältige Neuauftreten von trance-basierten Kulten in
an Kommunikation zu beteiligen, auch wenn er nichts zu sagen weiß. Dann kann es auch nicht so sehr auf unserem Jahrhundert. Lediglich Buchreligionen scheinen damit Probleme zu haben und die kultförmige Wiederholung
Information ankommen, sondern vielmehr darauf, daß die Kommunikation überhaupt in Gang gehalten wird. ersetzen zu können, aber auch ersetzen zu müssen durch Berichte über solche Ereignisse. Man denke an die Propheten-
stories des Alten Testaments oder das Pfingstwunder des Neuen Testaments. Wiederholung wird jetzt zur Sache der
Lektüre der Schrift.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 115 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 116
364
Reisen in unbekannte Welten. Auch sind sie mit Sakralisierungen schnell bei der Hand. Damit ist zunächst als System möglich, das alle möglichen oder jedenfalls die gebräuchlichen Lautunterschiede wiedergeben
nur gemeint, daß es Grenzen der verständlichen Alltagswelt gibt, an der weiteres Fragen eingestellt oder durch kann. Nur so, und nicht in der Form der eins-zu-eins Repräsentation, kann der Unterschied der
eine Art Schutzsinn abgefunden wird. Man hat solche Sinngebungen hinzunehmen und kann nicht auf die Wahrnehmungsmedien für Hören und Sehen genutzt werden. Und zudem erfordern Schriften, wie
Vermutung ausweichen, daß es Texte (oder Textkenner) und damit Autoritäten geben könnte, die erläutern wohlbekannt, eine eigenständige Analyse der Phonetik des Sprechens, die dem Umstande Rechnung trägt, daß
können, was es damit auf sich hat. In weiterer mündlicher Kommunikation würde man nur auf Widerstand auch Unterschiede bei der Umsetzung in ein anderes Medium nicht genau copiert werden können.
gegen ein aussichtsloses Unterfangen stoßen (was soll man sagen?) oder auf mehr oder weniger zirkuläre Nur wenn man dies berücksichtigt, kann man erfassen, daß und wie die Differenz von Laut und Sinn,
Konfirmierung akzeptierten Sinnes. Das ist auch und gerade dann der Fall, wenn noch keine elaborierte auf die es letztlich ankommt, in ein anderes Medium übersetzt werden kann. Während die Sprache ganz
Religion zur Verfügung steht, die mit Mythen, Symbolen und Erklärungen das sacrum deckt. Ein sehr allgemein ihre Form als Differenz von Laut und Sinn findet, ermöglicht die Schrift eineSymbolisierung genau
pragmatischer Umgang mit Sakralem, wenn es nicht mehr paßt, ist dadurch keineswegs ausgeschlossen, dieser Differenz in einem anderen Wahrnehmungsmedium, im Medium der Optik. Unter "Symbol" wollen wir
sondern gehört mit in dies Bild. Mündlichkeit zeichnet sich durch die Fähigkeit des Vergessens, der hier nicht ein Zeichen verstehen und auch nicht die Repräsentation von etwas anderem auf Grund einer
Entwertung, der Neuanpassung aus. Im Sakralen liegt daher zunächst keine Garantie für Dauer, für naturgegebenen Ähnlichkeit. Symbole markieren eine Form. Ein l ist kein r — was man im Mündlichen oft
Verehrung, für Tradition, und wenn es zur Tradition wird, ist dies schon der erste Schritt zur Auflösung seiner nicht hören und daher auch nicht wissen kann. Das heißt: Schriftzeichen bringen die Einheit einer
Sakralität. Unterscheidung zum Ausdruck, und zwar so, daß mit der Einheit weiter operiert werden kann, also andere
Außerdem ist für mündlich kommunizierende Gesellschaft charakteristisch, daß sehr viel Unterscheidungen getroffen werden können. Mit Schrift kann man ganz neuartige Operationen durchführen,
Kommunikation gleichzeitig abläuft (vorkommt und vergeht) und deshalb nicht zu koordinieren ist. "One must nämlich lesen und schreiben, und dies genau deshalb, weil in diesen Operationen nicht zwischen Laut und
365
think of many different informants passing on information simultaneously". Die Verständlichkeit der Sinn, sondern nur zwischen Buchstabenkombinationen und Sinn unterschieden werden muß. Vor Erfindung
Kommunikation beruht auf der jeweiligen Situation. Daher kann es nur wenige Konsistenzzwänge geben und der Schrift kann die Form der Sprache denn auch nicht symbolisiert werden. Man muß sich mit Einsicht in die
daher auch kaum Postulate der Konsistenzprüfung und Konsistenzsicherung. Ohnehin ist der Rahmen der Nichtidentität von Laut und Sinn begnügen; und das heißt auch, daß die Unterscheidung selbst schwer fällt
Weltkenntnis eng gezogen, so daß Übereinstimmung von der Sache her ungeprüft vermutet werden kann; es und man immer wieder dazu neigen wird, das Wort selbst für den Sinn zu nehmen, Namen für glück- oder
gibt wenig Anlässe und Möglichkeiten, sich darum eigens zu bemühen. Selbst esoterisches Wissen, selbst unglückbringend zu halten und die Dinge selbst durch Sprechen zu beeinflußen. Nach Erfindung der Schrift
367
Mythologien, selbst Divinationskunde, selbst Genealogien werden tradiert, ohne daß Inkonsistenzen ein kann nur noch der Götter Wort die Dinge unmittelbar ändern : Gott sprach, es werde Licht, und es ward
368
Problem bilden würden. Daher dürfte auch die Vorstellung eines einheitlichen Kollektivgedächtnisses der Licht.
Realität solcher Gesellschaften kaum entsprechen, sondern eher auf die Annahme zurückzuführen sein, Die Umsetzung der Sprache in ein optisches Medium verstärkt ein Moment, das man rückblickend mit
schriftlose Gesellschaften müßten anstelle von Schrift irgendwelche funktionalen Äquivalente gehabt haben. Saussure dann auch der gesprochenen Sprache zuschreiben wird: daß nämlich die Sprache von der Differenz
Dieser Sachstand ändert sich allmählich, dann aber grundlegend durch die Erfindung und Verbreitung ihrer Zeichen lebt und nicht von einer Übereinstimmung mit der außersprachlichen Realität. Orale Kulturen
von Schrift. Schrift vergrößert zunächst einmal die Zahl der Unterscheidungen, die eine Gesellschaft benutzen, konnten, ja mußten das ignorieren, weil sie ihr Medium nicht reflektieren konnten. Mit der Einführung von
aufbewahren, erinnern kann. Daraus ergibt sich auch eine Vermehrung der bezeichnungsfähigen Dinge oder Schrift wird die Zeichenhaftigkeit, die Worthaftigkeit, der Abstand der Worte, ihre Kombinatorik
Aspekte der Welt. Es handelt sich gleichwohl nicht nur um eine quantitative Zunahme. Die Veränderung greift (Grammatik), kurz: die Distanz zur Welt zum Problem , das in der Kommunikation reflektiert wird —
so tief, daß es nicht möglich ist, mündliche Kommunikation in die Form eines schriftlichen Textes zu bringen zunächst als Kritik der Neuerung, schließlich aber als Formbeschränkung, die aller Steigerung der
366
(so wie es möglich ist, Texte aus einer Sprache in eine andere zu übersetzen). Selbstverständlich kann man Leistungsfähigkeit des Kommunikationssystems zugrundeliegt.
den Sinn einer mündlichen Kommunikation schriftlich fixieren und heute sogarelektronisch aufzeichnen. Aber Mit Schrift beginnt die Telekommunikation, die kommunikative Erreichbarkeit der in Raum und Zeit
nicht die Kommunikation des Sinnes. Unerläßliche Momente der mündlichen Präsentation, vor allem das Abwesenden. Jetzt bekommt die Unterscheidung von Worten und Dingen eine zusätzliche Dimension.
gleichzeitige Involviertsein von Redner und Hörer, die gleichzeitige Inanspruchnahme mehrerer Telekommunikation ermöglicht den Transport von Zeichen, statt von Dingen. Sie arbeitet schneller und
Wahrnehmungsmedien, vor allem Hören und Sehen, und die Benutzung von Veränderungen der Stimmlage, weniger energieaufwenig, und die Produktion der für die Transmission nötigen Energie, zunächst nur die Kraft
Gestik, Pausen sowie die ständige Möglichkeit einer Intervention der Zuhörer oder eines "turn-taking", lassen mal Zeit, die man zum Schreibenlernen und zum Schreiben benötigt, muß nicht dort stattfinden, wo die
sich nicht in die Form eines schriftlichen Textes überführen. Wesentlich ist, daß die Gleichzeitigkeit des Transmission stattfindet. Diese Vorteile stellt bereits die Schrift zur Verfügung, aber sie werden mit der
Redens und Hörens nicht einfach in einem chronometrisch gemessenen Ablauf, im gleichmäßigen Druckpresse und der modernen elektronischen Kommunikation nochmals immens gesteigert — allerdings mit
Fortschreiten von Sekunde zu Sekunde, von Minute zu Minute besteht, sondern daß es sich um eine der bedenklichen Folge, daß die gesellschaftliche Kommunikation jetzt in weiten Bereichen von industrieller
strukturierten Ablauf handelt mit Beschleunigungen und Verlangsamungen, mit akustisch besetzten Energieproduktion abhängig wird.
Zeitstrecken und mit Pausen, mit Wartezeiten und mit Zeitpunkten, mit denen Spannung sich aufbaut oder Schrift leistet also sehr viel mehr, als man auf Anhieb meinen wird. Sie leistet vor allem mehr, als durch
wiederauflöst. Es ist dies gemeinsame Erleben einer strukturierten Abfolge, das Sprechern und Hörern den Schrift mitgeteilt wird. Zunächst und vor allem wird bei schriftlicher Kommunikation Metakommunikation
Eindruck vermittelt, Dasselbe zu erleben. Auch das Lesen erfolgt zwar nicht gleichmäßig, sondern mit optional. Sie läuft nicht mehr zwangsläufig mit (es sei denn in der blassen Form, daß man auch einem
minutiös variiertem Tempo, aber das sind dann Differenzen ohne soziale Relevanz. schriftlichen Text entnehmen kann, daß er geschrieben ist, um gelesen zu werden). Textverweise und
Auch gibt es keine Punkt-für-Punkt Äquivalenzen zwischen mündlicher und schriftlicher Kontextverweise (zum Beispiel Verfasser, Absender, Adressaten) müssen explizit eingeführt werden; und es
Kommunikation. Selbst im Falle phonetischer Schriften können die Lauteinheiten nicht als optische Einheiten gibt keine soziale Erwartung des unmittelbaren Übergangs zu aktiver Teilnahme, zu Gegenäußerungen oder
repräsentiert werden. Es geht nicht um eine Repräsentation von Einheiten, sondern um eine Neukonstruktion auch nur zur Mitteilung des Verstandenhabens. Deshalb wird die Unterstellung aufgegeben, daß der
von Differenzen. Nicht die Laute, die Unterschiede der Laute werden schriftlich fixiert. Schrift ist daher nur eigentliche Sinn der Kommunikation in der Metakommunikation nämlich in der Teilnahme an der

364
Das gilt auch für Kulturen, die schon über Schrift verfügen, deren Kommunikation selbst in wichtigen Angelegenheiten 367
Für Griechenland siehe Hinweise bei Marcel Detienne, Les maîtres de vérité dans la grèce archaïque, 3. Aufl. Paris
aber noch mündlich verläuft. Siehe dazu Werner Glinga, Mündlichkeit in Afrika und Schriftlichkeit in Europa: Zur Theorie
1979, S. 53 ff.
eines gesellschaftlichen Organisationsmodus, Zeitschrift für Soziologie 18 (1989), S. 89-99.
368
365 Die Annahme, Gott habe dabei einen Text vor Augen gehabt, nämlich die Torah, nach dem er sich richtet, ist eine
So Rosalind Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, Cambridge Engl. 1989, S. 197.
Spezialität der jüdischen Überlieferung, eine Art (selbstverständlich nachträglicher) Hypostasierung der Schrift. Es gibt
366
Dazu ausführlicher Dennis Tedlock, The Spoken Word and the Work of Interpretation, Philadelphia 1983. schriftförmig fixierte Unterschiede (eine Art Urtext), bevor es zur Schöpfung kommt.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 117 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 118
370
Kommunikation liege. Statt dessen erwartet man Information und liest nicht weiter, wenn diese Erwartung und verfügbar halten als Voraussetzung für weiteres Schreiben. Mit all dem wird die Kommunikation von
allzu unbefriedigt bleibt. räumlicher Integration (Beisammensein) unabhängig, handelt sich dafür aber um so mehr Zeitprobleme ein.
Der Leser findet den Mitteilungsvorgang in reduzierter Form vor: als Text. Die Abfassung des Textes Nicht nur das Medium Schrift ist stabil, auch die in diesem Medium gebildeten Formen, nämlich Texte, sind
liegt oft in weiter räumlicher und zeitlicher Ferne. Damit verlieren de konkreten Mitteilungsmotive an Interesse noch relativ stabil. Texte dienen mithin als sekundäres Medium für die eigentliche Formenbildung, die erst
(wer würde fragen, warum Thomas von Aquino seine Summen geschrieben hat, und was würde es nützen, durch Interpretation zustandekommt.
wenn man es wüßte?), und statt dessen eröffnen sich Spielräume für Interpretation, die sehr verschieden Der Gebrauch von Schrift setzt mithin einen doppelten Einsatz der Unterscheidung von Medium und
ausgefüllt werden können. Wenn Fragen der Mitteilungsmotivation und ihres Kontextes eine Rolle spielen Form voraus. Im Anschluß an Sprache zunächst eine Menge von Schriftzeichen für noch unbestimmte,
(zum Beispiel in Form der Frage, gegen wen oder gegen was der Text eigentlich geschrieben wurde), dienen wenngleich regulierte Möglichkeiten der Kopplung, die als Medium für die Bildung von Texten dienen. Auf
sie der Interpretation des Textes. dieser ersten Stufe muß die Schrift physikalisch funktionieren und bleibt der Destruktion ausgesetzt; und dies
Demnach ermöglicht es die Ausdifferenzierung der Texte und die Unterbindung von Sofortreaktionen, um so mehr, als die Wiedererkennbarkeit der Zeichen von der Genauigkeit ihrer Reproduktion abhängt. Auf
daß man über identische Texte verschiedene Meinungen bilden kann. Denn Schrift läßt zwar den der zweiten Stufe müssen sinnhaft verständliche Texte gebildet werden, die unterschiedliche Lesarten,
Zusammenhang der beiden Selektionen Information und Mitteilung intakt und eignet sich deshalb für unterschiedliche Möglichkeiten der Interpretation eröffnen. Auch hier kann es Reproduktionsfehler geben, die
Kommunikation. Aber sie ermöglicht eine Vertagung des Verstehens und dessen interaktionsfreie Realisation durch Interpretation korrigiert oder auch nicht mehr korrigiert werden können. Und die Interpretation kann
irgendwann, irgendwo, durch irgendwen. Sie vergrößert als Verbreitungsmedium die Reichweite sozialer neue Texte erzeugen, die dann wiederum eine interpretationsbedürftige Tradition ergeben. Die letzte
Redundanz; sie dehnt den Empfängerkreis aus und schränkt damit zugleich das ein, worüber noch informativ Formbildung im individuellen Verstehen geschieht dann aber ebenso flüchtig wie die Kommunikation selbst;
(das heißt: überraschend) geredet werden kann. Im Gebrauch von Schrift verzichtet die Gesellschaft mithin und sie erst regeneriert durch laufende Verwendung das Medium Schrift.
auf die zeitliche und interaktionelle Garantie der Einheit der kommunikativen Operation, und dieser Schrift ist natürlich nicht als Kommunikationsmittel entstanden, denn das hätte ja Leser vorausgesetzt.
Verzicht erfordert Kompensationen für das, was aufgegeben wird. Dadurch kommt es zu einer immensen, Wie so oft springt auch hier eine vorläufige Funktion ein und trägt die Innovation, bis sie so weit entwickelt
371
unabsehbaren Erweiterung von Anschlußfähigkeiten. Es kommt zu höheren Anforderungen an die Vertextung ist, daß sie ihre endgültige Funktion übernehmen kann.
von Mitteilungen, die auch unter kaum voraussehbaren Bedingungen noch verständlich sein sollten, sich aber Die älteste heute bekannte, wenn auch umstrittene "Schrift" einer Balkankultur des späten 6.
trotzdem nicht eignen, die Reaktionen des Lesers zu kontrollieren. Und es kommt schließlich, wenn Schrift Jahrtausends (fast zweitausend Jahre vor dem Entstehen der ersten Schriften in Mesopotamien) scheint rein
372
nicht mehr nur für Aufzeichnungs- sondern auch für Kommunikationszwecke benutzt wird, zu Problemen der sakralen Zwecken gedient zu haben, also dem Verkehr von Priestern und Göttern. Es mag sich hier um eine
369
Selbstautorisation des Geschriebenen in Vertretung eines abwesenden Ursprungs. Variante religiöser Geheimnispflege gehandelt haben. Für eine Einbeziehung in Kommunikationsprobleme des
Bei mündlicher Kommunikation konnte man davon ausgehen, daß Information, Mitteilung und täglichen Lebens gibt es keine Anhaltspunkte — insofern ein Beleg für Evolution von neuen
Verstehen operativ gleichzeitig erzeugt werden, und dies auch dann, wenn die Information sich auf ein schon Errungenschaften, die erst später durch Funktionswechsel in ihre endgültige Funktion einrücken. Der wohl
nicht mehr aktuelles, vielleicht längst vergangenes Geschehen bezog. Auch die Mythen, die in unvordenklichen bekannteste, nun schon auf gesellschaftliche Kommunikation bezogene Entstehungsanlaß liegt in den
Zeiten sich ereignet haben, waren als Erzählung Gegenwart, und deshalb schadete es auch nicht, wenn die Aufzeichnungsbedürfnissen komplexer ökonomischer Großhaushalte; und im Anschluß daran in sonstigen
Erzählung voraussetzen konnte, ja voraussetzen mußte, daß sie bekannt sind. Der Sinn ihrer Kommunikation Bedürfnissen nach Erinnerungstützen — zum Beispiel bei Botschaften, die ihre Mitteilungen an sich noch
373
lag nicht in der Überraschung, sondern in der Teilnahme. Dies wird bei schriftlicher Kommunikation anders, mündlich auszurichten hatten. Das setzt in den Anfängen keinen direkten Bezug auf Sprache, sondern nur
374
und zwar deshalb, weil jetzt Zeitdistanzen zwischen Mitteilung und Verstehen eintreten und reflektiert werden Objektmarkierungen voraus. In China scheint der Ausgangspunkt in der Divinationspraxis gelegen zu
müssen. Die Mitteilung muß sich darauf einstellen, daß sie nicht jetzt, sondern später,nicht gleichlaufend mit haben, die zu einem hochkomplexen Zeichenlesen (auf entsprechend präparierten Knochen,
ihrem eigenen Duktus, sondern nach Maßgabe eines späteren Leseinteresses verstanden werden soll. Und auch Schildkrötenpanzern etc.) entwickelt war. Man konnte also schon lesen, bevor man schreiben konnte, und die
für das Verstehen kann die Gegenreflexion wichtig werden: daß der Mitteilende eine Zukunft vor Augen hatte, Divinationspraxis hatte einen sehr konkreten und differenzierten Bezug auf Probleme des täglichen Lebens,
die für den Verstehenden bereits Vergangenheit ist. Diese Doppelreflexion diszipliniert nicht nur die also einen entsprechenden Bedarf für Reichtum an Zeichen. Zunehmende Artifizialität mag sich im
Textfassung der Kommunikation (Sie muß trotzdem verständlich sein, zum Beispiel von Zeit abstrahieren.). Herausarbeiten des Sinnes der Lineaturen, dann auch in der Darstellung von Frage und Antwort auf dem
Sie stärkt auch die Überraschungsqualität der Information. Sie abstrahiert vor allem aber die Vorstellung der magischen corpus entwickelt haben. Die Zeichen mußten dann nur noch von ihrem Substrat gelöst und für
Welt als dasjenige, was als gleichzeitig mit der Kommunikation anzunehmen ist, zum Beispiel als Sein, als artifiziellen Gebrauch adaptiert werden, eine evolutionäre Mutation, die sich dann offenbar in ganz kurzer
Natur, als Allgegenwart eines Beobachtergottes.
Es muß deshalb schwer gefallen sein und fällt noch heute schwer, schriftliche Kommunikation als
Kommunikation zu begreifen. Theoretisch ist man jetzt, da die Welt immer nur zeitpunktweise aktuell ist, 370
Don Quijote ist der hierfür paradigmatische Text. Er behandelt im zweiten Teil sich selbst als gedrucktes, allen
genötigt, zu entscheiden, wann eigentlich die schriftliche Kommunikation stattfindet. Man könnte meinen: bekanntes Buch. Die heutige literaturwissenschaftliche Reflexion spricht von einer beim Schriftgebrauch unvermeidbaren,
immer dann wenn geschrieben und wenn gelesen wird. Aber dies kann ja nicht mehr gleichzeitig erfolgen. in ihrem Raffinement aber steigerbaren "Intertextualität".
Kommunikation kommt tatsächlich erst mit ihrem Abschluß im Verstehen zustande. Von da aus mag es 371
Siehe zu solchen preadaptive advances und zu evolutionärem Funktionswechsel Kap. 3.....
wichtig oder unwichtig sein, zu rekonstruieren, wann (von wem, wozu usw.) die Mitteilung geschrieben 372
worden ist. In jedem Falle funktioniert schriftliche Kommunikation nur im Rückblick auf sich selbst. Sie muß Vgl. Harald Haarmann, Universalgeschichte der Schrift, Frankfurt 1990, S. 70 ff. Auch für Mesopotamien gilt im
übrigen, daß Inschriften auf Statuen in Tempeln zunächst als Mitteilung an die Götter, als Einkerbung in deren Gedächtnis
sich daher auf eine unvermeidbare Nachträglichkeit einlassen. Sie bekommt es mit nicht mehr verstanden werden und erst später als Mitteilung an künftige Generationen. Siehe Jonker a.a.O. S. 178 f. Für die
selbstverständlichen Rekursionen zu tun. Sie muß Redundanzen konstruieren, Vor-geschriebenes beachten Vorgeschichte von Gravierungen vgl. Alexander Marshack, The Roots of Civilization: The Cognitive Beginnings of Man's
First Art, Symbol and Notation, London 1972. Für frühe Formen der Registrierung von Transaktionen Jahrtausende vor der
Erfindung von Schrift im eigentlichen Sinne siehe auch Denise Schmandt-Besserat, An Archaic Recording System and the
Origin of Writing, Syro-Mesopotamian Studies 1/2 (1977), S. 1-32.
369
Marcel Detienne spricht aus Anlaß des Übergangs zu monumentalen Inschriften politisch-rechtlicher Texte in den 373
Vgl. als Überblick und mit weiteren Hinweisen Jack Goody, Die Logik der Schrift und die Organisation von
griechischen Städten von "autoréférence. L'écrit renvoie à sa propre lettre; il évoque des lois contemporaines ou plus
Gesellschaft, dt. Übers. Frankfurt 1990, insb. S. 89 ff.
anciennes; il recommande d'obéir à ce qui est écrit, de se conformer à ce que dit la stèle" in: Marcel Detienne (Hrsg.), Les
374
savoirs de l'écriture. En Grèce ancienne, Lille 1988, Introduction S. 18. Siehe auch ders., L'espace de la publicité: Ses Vgl. für die sumerischen Anfänge Jean Bottéro, De l'aide-mémoire à l'écriture, in ders., Mésopotamie: L'écriture, la
opérateurs intellectuels dans la cité, a.a.O. S. 29-81 (49 ff.) zu autocitation, autodéfense. raison et les dieux, Paris 1987, S. 89-112.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 119 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 120
375
Frist durchführen ließ. Auch in Mesopotamien hat im übrigen der Gebrauch von Schrift zur Aufzeichnung Tragweite dieses geschichtlichen Einschnitts ist in den letzten Jahrzehnten unter vielen Gesichtspunkten
380
von Divinationsprogrammen (Weisheitslehren) wesentlich zur Entwicklung der Schrift beigetragen, und zwar erörtert worden. Ihre theoretische Tragweite wird jedoch erst deutlich, wenn man die Gesellschaft als
hier zu ihrer beginnenden Phonetisierung und dann zur Blockierung des Übergangs zu einer voll phonetischen Kommunikationssystem auffaßt.
376
Schrift. All das war möglich, ohne daß an einem kommunikativen Gebrauch von Schrift gedacht werden Die Bedeutung der Schrift liegt in einer ganz neuartigen Zeitlichkeit der kommunikativen Operation. Nur
mußte. sehr vordergründig kann das, was erreicht wird, mit Begriffen wie Permanenz, Stabilität, Gedächtnis
Ein kommunikativer Gebrauch von Schrift setzt Leser, also verbreitete Literalität voraus. Lange bevor umschrieben werden. (Wir bestreiten natürlich nicht, daß dies die Perspektive war, in der orale Kulturen den
es dazu kommen kann, muß man deshalb mit einem politisch und religiös expressiven Schriftgebrauch Vorteil der Schrift erleben mußten.) Die Schrift ändert nichts daran, daß alles, was geschieht, gegenwärtig
rechnen, wobei die Schrift, sicher in der Nähe zu magischen Vorstellungen, eine nicht lesende Bevölkerung geschieht und gleichzeitig geschieht. Kein System kann außerhalb seiner Gegenwart und in einer
beeindruckt. Das gilt für das Ägypten des Alten Reiches, aber auch für viele andere Fälle, vor allem bei einer ungleichzeitigen Welt tätig sein. Aber gerade diese Fessel der Gegenwart gibt der Schrift ihre Bedeutung.
377
Diffusion von Schrift in bisher nicht oder wenig zivilisierte Gebiete. Schrift ist dann auf einer Denn über Schrift ist nun in jeder Gegenwart (und nur so!) eine Kombination verschiedener Gegenwarten
Funktionsebene angesiedelt, auf der auch Prunk, Bilder und Gebäude zu wirken bestimmt sind. möglich, die jeweils füreinander Zukunft bzw. Vergangenheit sind. Was beim Schreiben des Textes Zukunft
Ebensowenig verdankt die Umformung der phönizischen Silbenschrift zum Alphabet, wie man heute war oder auch in der Erzählung des Textes Zukunft ist, kann beim Lesen schon Vergangenheit sein; und man
381
annimmt, ihre Anregung der Absicht, Literatur zu produzieren, und auch nicht den Gedächtnisnöten der kann wissen, daß der Schreiber bzw. sein Held noch nicht wissen konnte, was inzwischen eingetreten ist.
378
Sänger, sondern den ökonomischen Verhältnissen, die sich im 9/8. Jahrhundert rasch entwickeln. Trotzdem führt dies nicht dazu, daß die Einheit der Zeit bezweifelt wird. Die Schrift erzeugt aber eine
Vermutlich wurde der Wunsch, mündlich vorgetragene Epen in Schriftfassung verfügbar zu haben, denn auch neuartige Präsenz von Zeit, nämlich die Illusion der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die bloß virtuelle
379
von außen an die Sänger herangetragen. Er lag ja nicht in deren professionellem Interesse, und Vorlesen Zeit der Vergangenheit und der Zukunft ist in jeder Gegenwart präsent, obwohl für sie etwas ganz anderes
kam ohnehin nicht in Betracht. Auch hier findet dann aber ein Kontextwechsel statt, und die gleichzeitig ist als für die Gegenwart. Und genau diese Illusion der Schriftkultur, an die wir gewöhnt sind,
Literaturproduktion, nicht die ökonomischen Erleichterungen, bildet den historisch bedeutsamen Effekt des macht es schwer, zu der Grundeinsicht zurückzufinden, daß alles, was geschieht, gegenwärtig geschieht und
Alphabets. Auf die rhythmisch gebundene Form, auf die Bindung an den Zusammenhang von Musik, gleichzeitig geschieht.
Gedächtnis und Kommunikation kann jetzt verzichtet werden. Die Schrift erzwingt eine Fixierung der Zeit, die trotzdem vergeht, in Texten, die den Zeitfluß
Spätestens seit dem zweiten Jahrtausend vor Christus gibt es aber auch einen kommunikativen Gebrauch überdauern; die also dieselben bleiben in einem Zeitpunkt, in dem etwas vergangen ist, was vorher Zukunft
von Schrift, zum Beispiel in der Form von Briefen (die aber zunächst wohl einen Boten voraussetzen und ihm war. Deshalb muß eine Schriftkultur das unmittelbare Mit-der-Zeit-Leben brechen. Sie muß Beschreibungen
als Gedächtnishilfe dienen) und in der Form von Texten, die sich explizit an Leser wenden, um ihnen etwas der Zeit anbieten, die jenes Paradox der konstant bleibenden Referenz auf Vergängliches auflösen. Sie muß
mitzuteilen. Kommunikativer Gebrauch entsteht parasitär, profitiert von einer bereits ausgearbeiteten auf Zeit referieren können, so als ob man sie wie ein Ding oder eine Bewegung vor sich hätte. Sie muß einen
Universalschrift und fügt ihr eine neue Funktion und vor allem neue Anlässe zum Schreiben und Lesen hinzu. Standpunkt einnehmen und in ihre Zeitsemantik hineinformulieren, der zugleich innerhalb und außerhalb der
Auch die Entstehung und Ausbreitung von Schrift zeigt mithin typische Merkmale evolutionären Zeit liegt. Das erfordert unter anderem eine Auflösung der ursprünglichen Kongruenz von Raum und Zeit.
Geschehens, in dessen Verlauf Funktionen ergänzt, substituiert oder gar ausgewechselt werden. Anders als Der Beobachter findet sich, wenn er sich durch Texte leiten läßt, zwar immer noch in der Welt, das heißt: an
Sprache ist Schrift aber auf keine Co-evolution des menschlichen Organismus angewiesen, sie kann sich also einer bestimmten Stelle im Raum und in der Zeit, irgendwo "hier" und "jetzt". Aber er bezieht sich auf den
382
relativ rasch in nur wenigen Jahrtausenden durchsetzen. Sie führt im Laufe dieser Zeit zu einertiefgreifenden Raum und auf die Zeit in ganz verschiedenem Sinne und in verschiedenen Formen eigenen Betroffenseins.
Transformation der Kommunikationsmöglichkeiten und damit zu einer grundlegenden Neustrukturierung des Das betrifft den beobachtenden, nicht den operativen Aspekt von Kommunikation. Kommunikation ist
Gesellschaftssystems, das jetzt auf mündliche und auf schriftliche Kommunikation eingerichtet sein muß. Die und bleibt ein zeitpunktgebundenes Ereignis, daran ändert sich nichts. Ein Kommunikationssystem kann nur
dynamische Stabilität erreichen, das heißt: nur Stabilität dank der Fortsetzung durch immer andere
375
Siehe Léon Vandermeersch, De la tortue à l'achillée: Chine, in: Jean-Pierre Vernant et al., Divination et Rationalité,
380
Paris 1974, S. 29-51. Vgl. auch Haarmann, a.a.O. S. 126 ff. Für wichtige Anregungen vgl. Alfred B. Lord, The Singer of Tales, Cambridge Mass. 1960, Eric A. Havelock, Preface to
376 Plato, Cambridge Mass. 1963; Walter J. Ong, The Presence of the World: Some Prolegomena for Cultural and Religious
Siehe Jean Bottéro, Symptômes, signes, écritures en Mesopotamie ancienne, in Vernant et al. a.a.O. S. 70-197.
History, New Haven Conn. 1967. Als Beispiel für die heutige Diskussion unter Experten siehe Walther Heissig (Hrsg.),
377
Vgl. etwa Margaret R. Nieke, Literacy and Power: The Introduction and Use of Writing in Early Historic Scotland, in: Formen und Funktionen mündlicher Tradition, Opladen 1995.
John Gledhill / Barbara Bender / Mogens Trolle Larsen (Hrsg.), State and Society: The Emergence and Development of 381
Solche Zeitverschiebungen sind vor allem in der Odyssee evident und viel diskutiert worden. Man kann jedoch nicht
Social Hierarchy and Political Centralization, London 1988, S. 237-252.
wirklich wissen, wie weit sie auf die schriftliche Fassung des Epos zurückgehen oder auch schon in den retardierenden
378
Vgl. Alfred Heubeck, Schrift, Göttingen 1979; ders., Zum Erwachen der Schriftlichkeit im archaischen Griechentum, in Einschiebungen mündlicher Fassungen vorlagen, wenngleich dann wohl weniger auf die Einheit einer historischen Zeit hin
ders., Kleine Schriften zur griechischen Sprache und Literatur, Erlangen 1984, S. 537-554; Walter Burkert, Die organisiert.
orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur, Heidelberg 1984; Joachim Latacz, Homer: Der erste 382
Anmerkungsweise soll diese Deformierung durch Schrift an einem bestimmten Text nochmals illustriert werden,
Dichter des Abendlandes, 2. Auf. München-Zürich 1989, S. 24 ff., 70 f. Siehe zu Unsicherheiten der Quellenlage auch
nämlich an der Zeitabhandlung in der Physikvorlesung des Aristoteles (Buch IV, Kap. 10). Der Text stellt die Frage nach
William V. Harris, Ancient Literacy, Cambridge Mass. 1989, S. 45 ff. Überhaupt ist die Überlegenheit der alphabetischen
dem Sein bzw. Nichtsein der Zeit, ohne zu fragen, weshalb gerade diese (ontologische) und keine andere Unterscheidung,
Schrift gegenüber anderen Schriften, die ebenfalls ihre Zeichenzahl erheblich reduzieren konnten, in der Konkurrenzlage
die ihrerseits sicher schriftabhängig ist, die Beschreibung informieren soll. (Ebenso noch Hegel in der Encyclopädie der
ihrer Entstehungszeit nicht unmittelbar einsichtig. Auf Zypern z.B. konnte sich das Alphabet nicht durchsetzen. Vgl. hierzu
philosophischen Wissenschaften § 258). Ferner erlaubt die Schrift es, das Adverb n_n (jetzt) zu substantivieren (tò dè n_n
Anna Morpurgo Davies, Forms of Writing in the Ancient Mediterrenian World, in: Gerd Baumann (Hrsg.), The Written
in 218a 6 und öfter). Die Übersetzungen geben nicht das adverbiale "jetzt", sondern Formulierungen wie "Jetztpunkt". Das
World: Literacy in Transition, Oxford 1986, S. 51-77.
wiederum ermöglicht die Frage, ob ein Jetztpunkt Teil (méros) der Zeit sei oder nicht. Das wiederum ermöglicht
379
Vgl. Martin L. West, Archaische Heldendichtung: Singen und Schreiben, in: Wolfgang Kullmann / Michael Reichel Kontroversen sowie die Paradoxie, daß ein Jetztpunkt (ob nun Teil der Zeit oder nicht) aus Noch-nicht-sein und Nicht-
(Hrsg.), Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen, Tübingen 1990, S. 33-50 (38 f., 47 f.). Auch mehr-sein besteht, so daß die Zeit selbst als Einheit von Sein und Nichtsein, im Ontologieschema also als Paradoxie
Walther Heissig, Oralität und Schriftlichkeit mongolischer Spielmanns-Dichtung, Vorträge der Rheinisch-Westfälischen erscheinen muß. Diese Paradoxie kann dann in der Tradition von Aristoteles bis Hegel durch den Begriff der Bewegung
Akademie der Wissenschaften G 317, Opladen 1992, berichtet, daß die schriftliche Aufzeichnung nicht von den Sängern entfaltet werden. Aber: warum das statische Beobachtungsschema Sein/Nichtsein sowie dann Teil/Ganzes? Und vor allem:
selbst angeregt wird, sondern von mongolischen Adeligen, die damit ein eher archivalisches Interesse an Sammlung, Wieso wird ein Adverb, das mündlich als "indexical expression" gebraucht wird, also einen Beobachter des in der Situation
Aufbewahrung und Erhaltung verfolgen (20. Jahrhundert!). Andererseits wird jetzt auch Schriftkenntnis als Garantie für stehenden Beobachters vorausgesetzt, wenn man den Sinn objektivieren will, nominalisiert? Beide Deformierungen sind
Überlieferungstreue und Wahrheitsgehalt erwähnt. Das gilt vor allem für Bezug auf chinesische Quellen, also für eine Folge von Schrift und beide verhindern, zunächst jedenfalls, eine Reflexion der Beobachtung zweiter Ordnung
Übernahmen aus einer anderen Kultur. zugunsten einer ontologischen Metaphysik.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 121 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 122

Kommunikationen. Auch daran ändert sich nichts. Anders als eine bloße Aufzeichnung vollendet unterscheidungswirksam. Darauf beruht ihre semantische Effektivität. Darauf beruht die begriffliche
Kommunikation sich erst im Verstehen. Auch dies bleibt, und deshalb muß es zunächst gar nicht Typisierung einzelner Worte, ferner eine Tradition, die Sinn über Abgrenzungen, Einteilungen, Kategorien,
selbstverständlich gewesen sein, Schrift nicht nur zur Aufzeichnung, sondern auch zum Kommunizieren zu Arten und Gattungen reduziert — also die Tradition der ontologischen Metaphysik; und darauf beruht die
verwenden. Der Effekt der Schrift liegt in der räumlichen und zeitlichen Entkopplung von Mitteilung und Tradierbarkeit auch des Ausgeschlossenen, der Kontroverse, des Dissenses als Ressource für das
Verstehen und in der gewaltigen Explosion von Anschlußmöglichkeiten, die dadurch eintritt. Neuaufgreifen von Problemstellungen.
Die unmittelbaren Folgen sind: (1) ein Verzicht auf das segensreiche Sofort-wieder-Verschwinden des In sozialer Hinsicht können auf diese Weise sehr viel mehr Personen mit einer Kommunikation erreicht
gesprochenen Wortes, also ein Verzicht auf die Leichtigkeit des Vergessens; und (2) der Gewinn von werden, als dies bei Beschränkung auf Anwesenheit möglich wäre. Um dies hervorzuheben, haben wir Schrift
Spielraum für die Neuordnung von Sequenzen. Denn alle Kommunikation ist sehr schmalspurig gebaut und (und im Anschluß daran Buchdruck) als Verbreitungsmedium bezeichnet. Das sollte aber nicht zurückführen
strikt sequentiell. Einer spricht nach dem anderen, sonst läßt sich kein Kommunikationsprozeß ordnen. Im in die Vorstellung, daß der mediale Aspekt in der Übertragung einer Information von einer Person auf andere
Prinzip gilt das auch für Schrift. Aber Schrift bewahrt das Mitgeteilte für im Moment noch nicht absehbare liegt. Die Effekte der Schrift lassen sich nicht aus der bloßen Vermehrung der Adressaten erklären, so wichtig
Sequenzen, für gleichzeitig nebeneinanderherlaufende Fortsetzungen und vor allem: für indirekte Anschlüsse. dieser Aspekt ist. Sie liegen in einer Neuordnung von Zeit und Kultur. Vor allem steigert Schrift die
386
Das sich auf diese Weise reproduzierende System operiert dann eher "konnexionistisch" (wie man heute sagt) Unsicherheit in bezug auf das Verständnis des gemeinten Sinnes. "Whenever one has the potential to read
387
als sequentiell. Die Voraussetzungen dafür liegen, wie bereits angedeutet, in einer Neuordnung der Differenz one has the potential to be uncertain" , und das gilt nicht nur für den Leser, sondern erst recht für die
von medialem Substrat und Form. Antezipation des Verstehens durch den Verfasser des Textes. Die durch Schrift induzierte Semantik hat es
Wir hatten den Begriff des Kommunikationsmediums definiert durch die Differenz von medialem dann mit der Reduktion dieser Unsicherheit zu tun.
Substrat und Form, durch die Differenz von loser und strikter Kopplung. Bei mündlicher Kommunikation Will man schließlich die semantischen Auswirkungen der Schrift einschätzen und auf Schrift zurechnen,
kann diese Differenz sich nur auf einzelne kommunikative Ereignisse beziehen — auf dies oder das, was man muß man die Eigenart schriftlicher Kommunikation sehr viel genauer analysieren. Wir müssen uns auf wenige
sagt. Die Schrift dagegen entkoppelt das kommunikative Ereignis selbst. Dadurch entsteht ein neuartiges Gesichtspunkte beschränken.
mediales Substrat, das seinerseits dann ganz neue Ansprüche an die strikte Kopplung durch Satzformen stellt. Da Schrift immer auch ein mnemotechnisches Hilfsmittel ist, verändert sie die Bedeutung des
388
Die Elementareinheit der Kommunikation wird aufgelöst und kann nur durch Rekombination wieder Gedächtnisses. Um dies verstehen zu können, muß man zunächst sehen, daß das Gedächtnis psychischer
Kommunikation werden. Oder einfacher gesagt: geschriebene Sätze können (soweit das materielle Substrat wie auch sozialer Systeme nicht einfach als Speicherung und Verfügbarhalten vergangener Zustände oder
389
dafür ausreicht) jederzeit später von unbekannten Vielen gelesen werden; aber sie müssen nun den dafür Ereignisse begriffen werden kann. Vergangenes ist und bleibt operativ unverfügbar. Auch das Gedächtnis
notwendigen Kontext des Verstehens selbst beschaffen, sie müssen aus sich heraus verständlich sein. Sie kann nur in jeweils aktuellen Operationen, also nur in der Gegenwart benutzt werden. Die eigentliche Funktion
müssen den Leser über viele Dinge "ins Bild setzen", die man bei mündlicher Kommunikation voraussetzen des Gedächtnisses liegt denn auch nicht in der Bewahrung des Vergangenen, sondern in der Regulierung des
kann, ja voraussetzen muß, weil ja eine Mitteilung des für alle Sichtbaren und Bekannten gar keinen Verhältnisses von Erinnern und Vergessen; oder mit einer Formulierung von Heinz von Foerster: in einer
390
Informationswert hätte. (Es hätte zum Beispiel gar keinen Sinn, für Anwesende die Szenerie zu schildern, in ständigen selektiven Re-Imprägnierung der eigenen Zustände.
der sie sich sowieso befinden, während für schriftliche Formen, auch wenn sie mündliche Kommunikation Das Gedächtnis ermöglicht überhaupt erst die Ereignishaftigkeit der Kommunikation — bei mündlicher,
simulieren, etwa Dialogform wählen, immer noch mindestens mitangegeben werden muß, wer gerade spricht.) wie bei schriftlicher Kommunikation. Denn als Ereignis bezieht die Kommunikation sich auf sich selbst, kann
Bei mündlicher Kommunikation, und zwar auch beim Vortrag langer Darstellungen aus rituellen oder dies aber nur, indem sie die Gegenwart als Differenz von Vergangenheit und Zukunft begreift und in diese
391
festlichen Anlässen, wird man davon ausgegangen sein, daß die Welt, in der kommuniziert wird, und die jeweils inaktuellen Zeithorizonte ausgreift, also zurück- und vorausgreift. Dies wiederum ist nur möglich,
Welt, über die kommuniziert wird, sich nicht prinzipiell unterscheiden, sondern ein Realitätskontinuum bilden. wenn es dafür materielle Grundlagen in der Neurophysiologie oder in den Substraten von Schrift gibt, die als
Noch lange nach der Einführung von Schrift (und selbst: von Buchdruck) erschien es ja als eine Zumutung,
sich mit rein fiktionalen Texten zu beschäftigen. Wie unwahrscheinlich die Erzählungen immer sein mochten,
sie befaßten sich mit der allen vor Augen liegenden Welt, mit der kommunikativ erweiterten Situation, die im Unterscheidung des Wortes von der Fülle des Seins (der Welt); Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart;
Erzählen vorausgesetzt und gestaltet wird. Erst wenn den Themen Schriftform gegeben wird, treten rein Unterscheidung von Logik und Rhetorik; Unterscheidung von strengem Wissen und Können (Weisheit, sophía);
383
textlich Kompositionsprobleme auf. In der Sachdimension hat die Verschriftlichung Bemühungen um eine Unterscheidung von Sein und Zeit, etc.
Bereinigung von jetzt erst sichtbar werdenden Inkonsistenzen zur Folge. Aus situativ verwendeten 386
Man kann natürlich mit Stanley Fish darauf hinweisen, daß auch mündliche Kommunikation im Hinblick auf Sinn und
Sinngebungsformen werden Kosmologien, Götter treten zueinander in Familienbeziehungen, Genealogien Authentizität unsicher ist. Kein Beobachter zweiter Ordnung kann im Prinzip negieren, daß ein Beobachter erster Ordnung
384
werden rekonstruiert , und nochmals gerät im Hochmittelalter die gesamte Theologie unter unsicher und auf Interpretationen angewiesen sein kann. Siehe Stanley Fish, With the Compliments of the Author:
Theoriekonsistenzzwänge mit weitreichenden Folgen für Kontroversen, Schulbildungen, kirchenpolitische Reflections on Austin and Derrida, in ders., Doing What Comes Naturally: Change, Rhetoric, and the Practice of Theory in
Interventionen und schließlich Kirchenspaltungen. Die Anregungen zu abstrakteren Inhalten der Literary and Legal Studies, Oxford 1989, S. 37-67.
Kommunikation, die von hier ausgehen, dürften kaum zu überschätzen sein. 387
So Dean MacCannell / Juliet F. MacCannell, The Time of the Sign: A Semiotic Interpretation of Modern Culture,
Das wohl wichtigste Instrument der Konsistenzpflege ist (paradoxerweise) die Einführung von Bloomington Ind. 1982, S. 119.
385
Unterscheidungen. Also die Verringerung der Konsistenzzumutungen. Schrift ist in hohem Maße 388
Daß es um Veränderung geht und nicht um Schaffung eines vorher nicht möglichen sozialen Gedächtnisses, betont auch
Jan Assmann, Lesende und nichtlesende Gesellschaften, in Almanach (des Deutschen Hochschulverbandes) Bd. VII (1994),
383 S. 7-12. Vgl. auch Jonker a.a.O. (1995).
Das kann man leicht nachvollziehen, wenn man die Bemühungen um "Textualisierung" der heute sogenannten "oralen
389
Literatur" verfolgt. Siehe dazu Lauri Honko, Problems of Oral and Semiliterary Epics, in Heissig a.a.O. (1995), S. 26-40. Wir kommen darauf in Kapitel 3 ... ausführlicher zurück.
384 390
Zum "telescoping" oraler Abstammungsmythen und zu Rekonstruktionsbemühungen mit Hilfe von Schrift siehe Thomas Siehe Heinz Förster, Das Gedächtnis, Wien 1948; Heinz von Foerster, Quantum Mechanical Theory of Memory, in:
a.a.O. (1989), S. 95 ff., 155 ff. Für Mesopotamien vgl. auch Jonker a.a.O. S. 213 ff. Genealogien dienen, so darf man ders. (Hrsg.), Cybernetics: Circular Causal, and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems. Transactions of
hinzufügen, teils kultischen Zwecken innerhalb der Familien, vor allem aber belegen sie die Ausdifferenzierung the Sixth Conference 1949, New York 1950, S. 112-134. Heinz von Foerster war durch diese Umstellung auf die Differenz
prominenter Familien — teils gegenüber der Gesellschaft, teils im Verhältnis zueinander. von Erinnern und Vergessen auf die Notwendigkeit einer makromolekularen, quantenmechanischen Analyse der
385 Neurophysiologie des Gedächtnisses aufmerksam geworden.
Siehe Walter J. Ong, Writing is a Technology that Restructures Thought, in: Gerd Baumann (Hrsg.), The Written Word:
391
Literacy in Transition, Oxford 1986, S. 23-50 (36 ff.) mit Beispielen wie: Unterscheidung des Wissenden von dem, was er Hierzu Heinz von Foerster, Was ist Gedächtnis, das es Rückschau und Vorschau ermöglicht, in ders., Wissen und
weiß; Unterscheidung des Textes von Kommunikation; Unterscheidung des Wortes von seiner lautlichen Realisation; Gewissen: Versuch einer Brücke, Frankfurt 1993, S. 299-336.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 123 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 124
392 397 398
solche nicht erinnert werden. Auch die schriftliche Kommunikation erinnert ja nicht die Schrift , sondern "retour du passé". Dasselbe kann man für Mesopotamien sagen. In der alteuropäischen Tradition
nur die Texte, die als Kommunikation verwendet werden. ermöglicht die Symbolisierung des Abwesenden durch Schrift die Gegenwart des Vergangenen, die Aktualität
Von diesen Überlegungen aus versteht man besser, was die Erfindung von Schrift für die des Ursprungs (zum Beispiel des Adelsgeschlechts) und damit die legitimierende Kraft von arché, origo,
Ausdifferenzierung eines spezifisch sozialen Gedächtnisses und für die dann notwendige Neubalancierung des Grund. Die Folgen sind bekanntlich ambivalent: Man orientiert sich an Vergangenem und wird eben dadurch
Verhältnisses von Erinnern und Vergessen bedeutet. Während vorschriftliche Kulturen ihr Gedächtnis an auf das aufmerksam, was in der Gegenwart anders ist. Die Geschichte wird zum Drama der Präsenz des
Objekten und an Inszenierungen (Quasi-Objekten) aller Art fixieren mußten und nur auf diese Weise sich von Vergangenen, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Zu den Verlierern gehört unter anderem das
den absterbenden Gedächtnissen der Menschen unabhängig machen konnten, wird durch den Gebrauch von segmentäre System der Familienclans, deren Einfluß auf die Reichsbürokratie hinter schriftorientiertem und
399
Schrift das Diskriminieren von Erinnern und Vergessen zur Sache von Entscheidungen. Denn Aufschreiben ist damit prüfbarem Wissen zurücktritt.
immer auch Nichtaufschreiben von Anderem. Schrift ist selbstgemachtes Gedächtnis. Es kann jetzt mehr In der Sozialdimension befreit die Schrift von der Möglichkeit und der Notwendigkeit des laufenden
erinnert und mehr dem Vergessen überlassen werden als zuvor. Schrift unterstützt das Gedächtnis, sie belastet Rollenwechsels von Sprecher und Hörer ("turn-taking"). Das hat viele Folgen. Die Kommunikation wird
es aber auch. Sie ermöglicht eine ständige Re-Imprägnierung der Kommunikation in der Form des entreziprozisiert, wird linearisiert und erhält damit die Möglichkeit, sehr lange, aber divergierende Sequenzen
Wiederlesens der Texte oder auch der mündlichen Bezugnahme auf Texte, die als vorhanden (wenn auch oft: zu ordnen (was dann aber auch geschehen muß und vor allem: gekonnt sein muß). Es entsteht eine ganz neue
schwer zugänglich) unterstellt werden. Dabei ist die Verhinderung des Vergessens zugleich ein Vorgang, der Art von Autorität. Es kommt nicht mehr so sehr darauf an, mit lauter Stimme und Selbstbewußtsein immer
400
das Lernen beschleunigt. Das wiederum zwingt zur Entwicklung semantischer Schematismen, die mehr wieder die Sprecherrolle zu okkupieren , sondern Autorität bildet sich nun in der Form der Prätention und
Inkonsistenzen auflösen, mehr Redundanz und mehr Varietät zugleich verkraften können. So entsteht eine Unterstellung der Fähigkeit, mehr wissen und mehr sagen zu können, als in die zwangsläufig-sequentielle
401
abstraktere Begrifflichkeit, die die mündliche Kommunikation allein nie hätte produzieren können. Struktur der Kommunikation eingegeben werden kann. Autorität ist nun "capacity for reasoned elaboration"
Die Zeit zum Beispiel wird chronometrisch erfasst, um verschiedene Ereignisse an verschiedenen und begleitet auf lange Zeit wie ein Schatten die noch relativ seltene geschriebene Mitteilung. Zugleich damit
Zeitpunkten unterbringen zu können. Dabei ist entscheidend, daß alle Bewegungen unabhängig von ihren entstehen Probleme, diese Form von Autorität mit den Statuspositionen zu verbinden, die durch
Geschwindigkeiten und unabhängig auch von ihrem Anfang und ihrem Ende auf dasselbe Zeitmaß bezogen gesellschaftliche Differenzierung für die Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft vorhanden sind.
werden können, auch wenn dies selbst eine Bewegung ist, zum Beispiel der Sonne oder einer Uhr. Daraus Die Ablösung vom Rollenwechsel des Sprechens und Hörens hat ferner den Effekt, daß die
393
folgt, daß keine Bewegung die Zeit selbst bewegen kann. Das Sein der Zeit ist ein Metakonstrukt, jenseits entsprechenden Rollen des Schreibens und Lesens zu unsozialen Aktivitäten werden. Schreiben als solches
aller Bewegungen. wird zu einer Kunstfertigkeit besonderer Art und damit zum Problem, wie man zum Beispiel an den
Schon wenn man beginnt, Gedächtnisprobleme durch Aufzeichnungen zu lösen, kann Zeit nicht mehr Schwierigkeiten der Integration der Schreibweisen verschiedener Skriptorien im frühen Mittelalter ablesen
402
gut als Macht des Vergessens (léthe) begriffen werden, der man sich nur mit Hilfe der Musen entziehen kann. kann. Nur die Kommunikation selbst ist sozial. Schreiben und Lesen muß man zwangsläufig allein, und
403
Die alte (und notwendige) Verbindung von mündlichem Vortrag und Musik wird durch die Schrift ersetzt — wenn andere dabei sind und zuschauen, ist eine zu intensive Beobachtung nutzlos, indiskret und verdächtig.
394
und zerstört. An die Stelle der rhythmisch unterstützten Zeit des Erinnerns anderer Zeiten tritt die Man hat, allein und ohne soziale Pression tätig, auch mehr Zeit und mehr Gelegenheit, Sorgfalt anzuwenden,
Vorstellung einer messbaren Bewegung, die einer beschreibbaren Dimension, in der jene Gleichzeitigkeit des um als Schreiber oder als Leser der Formstrenge des Textes entsprechen zu können. Der Erweiterung des
Ungleichzeitigen gewährleistet ist. Andererseits kann beim Vorherrschen mündlicher Tradierweisen (vor allem medialen Kombinationsspielraums entspricht eine höher Selektivität der in sie einzuprägenden Formen, und
im Unterricht) nicht auf psychisches Gedächtnis verzichtet werden. Die sakrale Natur des Gedächtnisses tritt das will kontrolliert sein. Generell hat man jetzt das Problem, daß zum Vollverstehen ein Mitverstehen des
in ein kompliziertes Verhältnis zur Technik der Erinnerungskunst. Die feierliche Formelhaftigkeit der Kontextes, ein Mitverstehen des "Woraus" der Selektion erforderlich ist — und wie man weiß, werden
395
Ausdrucksweise, die für orale Kulturen typisch ist , tritt zurück oder wird für Poesie (im Unterschied zu Defizite in dieser Hinsicht nun ganz normal.
Prosa) reserviert. Die Formulierung kann sich damit Ausdrucksbedürfnissen besser anschmiegen. Schrift ermöglicht mit all dem eine Schwerpunktverschiebung der Kommunikation in Richtung auf
Andererseits kann die Hochschätzung des Gedächtnisses nicht aufgegeben werden. Die sakrale Qualität des Information. In der mündlichen Kommunikation zeichnen Talente sich dadurch aus, daß sie auch dann noch
396
Gedächtnisses formiert sich neu als Andenken an eine gründende Vergangenheit , so daß sich daneben eine reden können, wenn gar nichts zu sagen ist. Und in einfachen Gesellschaften gibt es auch gar nicht genug
artifizielle Aufzeichnungspraxis und ein hochentwickeltes Gedächtnistraining einbürgern kann.
Zugleich gewinnt die Vergangenheit als aufgeschriebene Geschichte, aber auch als vorhandener Text,
397
eine zuvor unbekannte Macht über die Gegenwart. Jacques Gernet spricht für das China des 10. bis 13. La vie quotidienne en Chine à la veille de l'invasion mongole 1250-1276, Paris 1959, Neudruck 1978, S. 247; hier als
Jahrhunderts, und der Vergleich mit der Aufzeichnung der homerischen Epen drängt sich auf, von einem Folge der Verwendung von Druckpressen.
398
Vgl. Jonker a.a.O., insb. S. 109 ff.
392 399
Anderes gilt natürlich für Registraturen, Archive usw. Siehe dazu und zur damit verbundenen Auflösung der alten Ununterscheidbarkeit von Wort und Ding David Palumbo-
393 Liu, Schrift und kulturelles Potential in China, in: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Schrift, München
Daß diese Abstraktion erst gelernt werden mußte liegt auf der Hand, so wie man ja auch lernen mußte, vom Warengeld
1993, S. 159-167.
abzukommen, also den Wert des Geldes nicht mit Wert einer bestimmten Ware (etwa Gold) zu verwechseln.
400
394 In Kulturen, die schon über Schrift verfügen und die ein solches Sichaufdrängen nicht mehr benötigen, um
Siehe dazu Martin L. West a.a.O., insb. S. 43 f.
Sozialstrukturen (vor allem: Führungsrollen) zu entwickeln, wird dann der Gegentopos entwickelt. Zurückhaltung in dieser
395
Vgl. neben der oben (Anm. ) angegebenen Literatur Benjamin A. Stolz / Richard S. Shannon (Hrsg.), Oral Literature Hinsicht gehört nun zum guten Benehmen, das turn-taking wird gepflegt, vor den "grands parleurs" wird gewarnt, — ein
and the Formula, Ann Arbor Mich. 1976; Heissig a.a.O. (1992). seit Plutarch bekanntes Pflichtthema der Erziehungsliteratur und im übrigen ein Beleg unter vielen dafür, daß das
396 Verständnis von gesellschaftlicher Kommunikation sich nach wie vor aufs Mündliche konzentriert.
Ein sich lange hinziehender Prozeß. Vgl. für verschiedene Aspekte etwa J. L. Myres, Folkmemory, Folk-Lore 37 (1926),
401
S. 12-34; James A. Notopoulos, Mnemosyne in Oral Literature, Transactions of the American Philological Association 69 Begriff und Formulierung stammen von Carl J. Friedrich, Authority, Reason, and Discretion, in ders. (Hrsg.), Authority
(1968), S. 465-493; Jean-Pierre Vernant, Mythe et pensée chez les grecs: Etude de psychologie historique, Paris 1965, S. (Nomos I.), Cambridge Mass. 1958, S. 28-48.
51 ff.; P.A.H. de Boor, Gedenken und Gedächtnis in der Welt des Alten Testaments, Stuttgart 1962; Brevard S. Childs, 402
Hierzu David Ganz, Temptabat et scribere: Vom Schreiben in der Karolingerzeit, in: Rudolf Schieffer (Hrsg.),
Memory and Tradition in Israel, London 1962; Willy Schottroff, "Gedenken" im alten Orient und im Alten Testament,
Schriftkultur und Reichsverwaltung unter den Karolingern, Opladen 1996, S. 13-33.
Neukirchen-Vluyn 1964. Frances Yates, The Art of Memory, Chicago 1966; Herwig Blum, Die antike Mnemotechnik,
403
Hildesheim 1969; Stefan Goldmann, Statt Totenklage Gedächtnis: Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Daß auch dies Kappen von Sozialität beim Spezialisieren auf Kommunikation ein Resultat von Evolution ist, kann man
Keos, Poetica 21 (1989), S. 43-66; Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne, an verbleibenden Einrichtungen des Übergangs von rituellen zu schriftlichen Kulturen erkennen — etwa am gemeinsamen
Frankfurt 1990. Lesen und Diskutieren heiliger Texte in der Synagoge.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 125 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 126
407
Information, um die laufende Kommunikation in Gang zu halten. Im wesentlichen dient die Kommunikation jedoch auf Schrift mit einer Theorie der Modalitäten reagiert. Erst auf Grund des Buchdrucks scheint man
hier der Betätigung und Bestätigung sozialer Gesinnung und wechselseitig-positiver Einstellungen. Man dazu übergegangen zu sein, auch explizite "Nirgendwos", auch Fiktionen, auch Phantastisches für
404
schwatzt, und wer beharrlich schweigt, gilt als gefährlich, weil er sich weigert, seine Absichten zu verraten. publizierbar zu halten und in ihrem Daseinsrecht als unrealisierbare bloße Möglichkeit zu rechtfertigen:
Mit Schrift tritt diese primäre Angewiesenheit auf Kommunikation zurück und zugleich entfällt die auf Thomas Moore, Giordano Bruno, der moderne Roman, die Zukunftsutopien seit dem Ende des 18.
408
Anwesende bezogene Gewißheit, daß alle schon alles wissen oder zumindest das Wesen der Dinge kennen. Jahrhunderts, die "Poesie" der Romantiker. Und dann macht es schließlich auch Sinn, die Frage nach den
Erst jetzt kommt es zur Intensivierung des Informierens und damit zu jenen künstlichen Redundanzen, die es Bedingungen der Möglichkeit als Hebel zu benutzen, der die ontologische Weltsicht und ihre metaphysische
ermöglichen, sich Informationen bei diesem oder jenem zu holen, der sie gelesen hat. Beschreibung entwurzelt.
Entsprechend gewinnt, verglichen mit der engen Verschmelzung von Reziprozität und Zeit in der Schließlich ist noch einmal darauf zurückzukommen, daß Schrift ebenso wenig wie mündlich
mündlichen Kommunikation, die Sachdimension an Bedeutung. Schriftliche Texte haben ein objektiveres gesprochen Sprache die Welt verdoppelt. Es gibt, ungeachtet aller Systemdifferenzierungen, nicht etwa eine
Verhältnis zu ihrem Thema, was es dann wieder möglich macht, die subjektive Art der Behandlung des Welt, die man psychisch wahrnimmt, und eine andere als Korrelat der Worte und eine weitere als Korrelat von
Themas zu bemerken und dem Autor zuzurechnen. Der "Gegenstand" — und jetzt erst gibt es "Gegenstände" Schrift. Vielmehr findet die Evolution neuartiger autopoietischer Operations- und Beobachtungsweisen in ein
— hält still und läßt sich von allen Seiten behandeln. Deshalb steigen auch die Ansprüche an die und derselben Welt statt. Die neuen Errungenschaften werden nicht als Multiplikation der Objekte registriert,
Überzeugungsmittel im Vergleich zum rhapsodischen Fluß der mündlichen Rede. Der schriftliche Text muß sondern als Differenzierung und Raffinierung des Beobachtens. Deshalb löst die Evolution von Schrift
mit kritischeren Einstellungen, mit der Kenntnis anderer Texte und mit Zeit für Kritik rechnen. Er muß mit allmählich die Evolution von Beobachtungsweisen höherer Ordnung aus; und speziell das Beobachten
Lesern rechnen, die es besser wissen. Das Wort bleibt authentisch, und dies sogar in einem neuen, gegen anderer Beobachter, die nicht so weise sind wie Sokrates und schriftlich fixieren, was sie beobachten. Schon
Fälschungen gerichteten Sinne; aber es kann sich nicht mehr selber garantieren. Es muß in der Schrift auf früh bildet sich vor allem im medizinischen Schrifttum der Antike ein Bewußtsein für den Sinn und die
andere Quellen der Verbindlichkeit verweisen. Die Schrift erzeugt Begriffe für Kognition und für richtiges Notwendigkeit schriftlicher Fixierung der eigenen Beobachtungen heraus — eben weil es hier mehr als
405 409
Denken. anderswo darum geht, die eigenen Beobachtungen anderen Beobachtern verfügbar zu machen. Im
Im Vergleich zu mündlicher Kommunikation, die mit raumfüllender Stimme gesprochen wird, nimmt die Langzeiteffekt entstehen so auf Grund von Schrift Systeme, die ihre eigene Autopoiesis ganz auf die
Schrift nur einen winzigen Ausschnitt der sichtbaren Realität in Anspruch. Sie ist schon im Medium ihrer Beobachtung zweiter Ordnung umstellen: die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft.
Wahrnehmung als Form deutlicher ausdifferenziert und kann deshalb auch leichter beiseitegelassen oder Diese vielseitigen Merkmale schriftlicher Kommunikation werden natürlich nicht mit einem Schlage
momentan für unwichtig gehalten und als Kommunikation zurückgestellt werden. Das gesprochene Wort realisiert. Schon der Übergang von Aufzeichnungsschrift zu Kommunikationsschrift muß ein Problem
drängt sich auf, setzt sich durch, verlangt und erhält Vorrang. Es ist mit der Situation in weit höherem Maße gewesen sein und seine Zeit gebraucht haben. Zu-
identisch als der geschriebene Text, kann aber eben deshalb die Situation auch nicht überdauern. Für nächst war Schreiben- und Lesenkönnen nur eine Art Handwerk, eine Angelegenheit von Spezialrollen, und es
geschriebene Mitteilungen ist es nicht einmal nötig, daß der Schreiber noch lebt, und eine der frühesten, konnte bei weitem nicht alles, was man sagen konnte, auch geschrieben werden, weil der Bedarf für
spezifisch kommunikativen Verwendungen von Schrift lag denn auch darin, daß sie Toten die Gelegenheit bot, Aufzeichnung und Kommunikationsunterstützung ebenfalls ein spezifischer Bedarf war. Erst die Entwicklung
zu Lebenden zu sprechen. Vor allem die Ägypter haben in ihren Grabinschriften diese Möglichkeit der von phonetischen Schriften stellt eine genaue und ausnahmslose Parallele von mündlicher und schriftlicher
Selbstkontinuierung über den Tod hinaus intensiv genutzt. Kommunikation her. Erst sie duplizieren nicht die Welt der Objekte, über die gesprochen wird, sondern die
Einen weiteren, sich langfristig einstellenden Effekt von Schrift können wir mit einem Begriff von Yves Kommunikation selbst, so daß man von einer Zweitcodierung der Sprache nach mündlich/ schriftlich sprechen
406 410
Barel als "Potentialisierung" bezeichnen. Die textliche Fixierung von Sinn härtet das, was einmal formuliert kann. Nach einem Zwischenstadium von Silbenschriften, die je nach Art der Sprache noch Unklarheiten
ist, auch dann, wenn es abgelehnt oder nicht benutzt wird. Während in der mündlichen Kommunikation und Leseprobleme in Kauf nehmen müssen und oft (so im Falle der kretisch-mykenischen Linear B Schrift)
praktisch nur das überlebt, was den Kommunikationsprozeß rasch beeindruckt, kann die Schrift die noch durch Ideogramme ergänzt werden, wird in Europa mit der Buchstabenschrift des Alphabets die
411
Entscheidung über Annahme/Ablehnung herauszögern, sozial diversifizieren und auch das festhalten, was endgültige Form erreicht. Buchstaben vollziehen nicht nur die für Sprache erforderliche Unterscheidung von
nicht überzeugt. Es nimmt die Form einer bloßen Möglichkeit des Meinens an. Und es kann durchaus sein,
daß man diese Möglichkeit später wiederentdeckt, erneut aufgreift, anders beurteilt, wenn ihre Zeit gekommen
ist. In dem Maße, als Kommunikation solche Potentialisierungen hervorbringt und ablegt, wird die Semantik 407
und sei es, um zu bestreiten, daß Mögliches/Unmögliches sein könne (Diodoros Kronos).
insgesamt "modalisiert". Die Realität wird auf der Basis ihrer Möglichkeit gesehen und teils als 408
Zu den Schwierigkeiten, dies durchzusetzen und dem Realitätswert des Fiktionalen Anerkennung zu verschaffen, siehe
Notwendigkeit, teils als kontingente Realisation, teils auch als bloße Möglichkeit geführt. Zunächst begnügt am Beispiel des Romans Lennard J. Davis, Factual Fictions: The Origin of the English Novel, New York 1983. Vgl. auch
man sich mit abgelehnten oder mit sehr fernliegenden ("monsterhaften") Möglichkeiten. Schon die Antike hat Niklas Luhmann, Literatur als fiktionale Realität, Ms. 1995.
409
Siehe Jackie Pigeaud, Le style d'Hippocrate ou l'écriture fondatrice de la médecine, in: Marcel Detienne (Hrsg.), Les
404
Siehe hierzu Lorna Marshall, Sharing, Talking and Giving: Relief of Social Tensions Among !Kung Bushmen, Africa 31 savoirs de l'écriture. En Grèce ancienne, Lille 1988, S. 305-329. Eine Zusammenstellung von Textstellen aus dem Corpus
(1961), S. 231-249. Vgl. auch Bronislaw Malinowski, The Problem of Meaning in Primitive Language, in: C. K. Ogden / I. Hippocraticum findet man bei Knut Usener, "Schreiben" im Corpus Hippocraticum, in: Wolfgang Kullmann / Michael
A. Richards (Hrsg.), The Meaning of Meaning, 10. Aufl., 5. Druck, London 1960, S. 296-336 (314): "...for a natural man, Reichel (Hrsg.), Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen, Tübingen 1990, S. 291-299. Zum
another's man silence is not a reassuring factor, but, on the contrary, something alarming and dangerous. The stranger who anschließenden Wissenschafts- und Methodenverständnis der hellenistischen Antike vgl. auch G.E.R. Lloyd, Magic,
cannot speak the language is to all savage tribesmen the natural enemy". Die Notwendigkeit und Gewohnheit des Redens Reason and Experience: Studies in the Origin and Development of Greek Science, Cambridge 1979.
ist das direkte Korrelat der ständigen Anwesenheit anderer, die man kennt und wiedertrifft. 410
Hierzu Niklas Luhmann, The Form of Writing, Stanford Literature Review 9 (1992), S. 25-42; dt. Übers. in: Hans
405
Zu Bewußtsein und anderen Kognitionsbegriffen als Korrelat von Schrift vgl. Havelock, The Literate Revolution in Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Schrift, München 1993, S. 349-366.
Greece and its Cultural Consequences, Princeton 1982, S. 290 f. 411
Historisch besteht über die Evolution der vorher üblichen Schriften zum Alphabet keine volle Klarheit. Man darf nur
406
Siehe: Le paradoxe et le système: Essai sur le fantastique social, 2. Aufl. Grenoble 1989, S. 71 f., 185 f., 302 f. Zu den vermuten, daß die Unterbrechung der Schriftpraxis nach dem Zusammenbruch der mykenischen Kultur und der Zwang zur
Traditionen, die dies besonders beachten, gehört die Lehre des Talmud von der für Schrift und für mündliche Tradition Wahl und Anpassung einer Schrift an eine andersartige Sprache eine Rolle gespielt haben. Daß die Bedürfnisse einer
bestimmten Offenbarung auf dem Berg Sinai. Diese Lehre führt zu dem Schluß, daß gerade auch Verschriftlichung der oralen Poesie den Ausschlag gegeben haben, wird heute bestritten. (Siehe oben Anm. ....). Zur
Meinungsverschiedenheiten und Minderheitsmeinungen tradiert werden sollten, weil sie für eine unabsehbare Zukunft Bedeutung der Alphabetisierung für eine sachlich wie sozial universelle Verwendbarkeit von Schrift vgl. Eric A. Havelock,
Bedeutung haben könnten. Siehe z.B. Jeffrey I. Roth, The Justification for Controversy Under Jewish Law, California Law Origins of Western Literacy, Toronto 1976; ders., The Literate Revolution in Greece and Its Cultural Consequences,
Review 76 (1988), S. 338-387. Vgl. auch ders., Responding to Dissent in Jewish Law: Suppression Versus Self-Restraint, Princeton N.J. 1982; Egert Pöhlmann, Zur Überlieferung griechischer Literatur vom 8. bis zum 4. Jahrhundert, in:
Rutgers Law Review 40 (1987), S. 31-99. Wolfgang Kullmann / Michael Reichel (Hrsg.), Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen,
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 127 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 128

Zeichen und Sinn. Sie sind auch noch in bezug auf die Phonetik der Sprache artifiziell, aber gerade deshalb und verglichen werden können. Zum Beispiel müssen Genealogien — ein probates Mittel der Symbolisierung
415 416
ermöglichen sie eine vollständige Standardisierung der phonetischen Schrift. Die Vorteile stellen sich von Einheit und Differenz in einer Struktur — von Widersprüchen gereinigt werden.
unmittelbar ein: leichte Lernbarkeit, also Verbreitung des Schreiben- und Lesenkönnens ohne Voraussetzung Aber Schrift eignet sich nicht nur selbst zur Kommunikation, sie bietet auch die Möglichkeit, mündliche
einer rollenspezifischen Kunstfertigkeit, und vor allem die Möglichkeit, neue Worte zu bilden (zum Beispiel Kommunikation in schriftlich fixierten Texten abzubilden. Das ist sehr früh erkannt und benutzt worden, zum
Adjektive und Verben zu substantivieren, Worte zu neuen Composita zusammenzusetzen). Auf diese Weise Beispiel in den altägyptischen Grabinschriften, durch die der Tote zu den Lebenden "spricht"; und dann vor
kann sich die Sprache allen in der Kulturentwicklung auf sie zukommenden Ausdrucksbedürfnissen sofort allem in der philosophischen und literarischen Form des Dialogs, der in schriftlicher Fassung so dargestellt
anpassen und behindert weniger als je zu vor das, was man mitteilen will. wird, als ob er mündlich ablaufe, mit all den Vorteilen einer Vielheit von Perspektiven ohne Einigungszwang.
Die Sonderleistung des Alphabets als perfekt-phonetischer Schrift wird im Rückblick vielleicht Schließlich entsteht die besondere literarische Form des Romans, in dem die handelnden Personen selbst
überschätzt. Man sieht hier eine weltweit untypische Evolution abzweigen, die dann Geschichte gemacht hat. kommunikativ agieren. Kommunikation in der Kommunikation also, reale Kommunikation als Copie fiktiver
Aber woran genau könnte das gelegen haben angesichts der Tatsache, daß so viele Kulturen für sie Kommunikation und fiktive Kommunikation in der realen Kommunikation, die zugleich vergessen läßt, daß
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brauchbare Schriften hervorgebracht haben? Es ist schwierig, eine befriedigende Antwort zu finden. Es fällt die fiktive Kommunikation durch die reale Kommunikation fingiert wird. Das ermöglicht es, nicht nur die
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aber auf, daß die alphabetisierte Schrift die engen Funktionskontexte des Fernhandels, der Tempel und der Vorteile, sondern gerade auch das Scheitern mündlicher Kommunikation — zu kommunizieren.
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Palastverwaltung politischer Herrschaftszentren rasch sprengt und eine öffentlich benutzte Schrift wird. Die gesellschaftsweite Vorherrschaft mündlicher Kommunikation wird durch all das zunächst nicht in
Dazu mag neben dem Alphabet selbst auch die Begrenzung auf sichtbare Städte und ihre spezifischen Frage gestellt. Die orale Rezitation schriftlich vorliegender Texte ist schon deshalb üblich, weil man bei
Lebensordnungen (nómoi) beigetragen haben. Jedenfalls entsteht eine an Schrift gewöhnte Gesellschaft, die Publikum die Fähigkeit des routinierten, anstrengungslosen Lesens nicht voraussetzen kann. Aber die
dann das allgemeine Medium Schrift benutzen kann, um Sonderbereiche auszudifferenzieren— vor allem eine mündliche Kommunikation wird in den sogenannten literaten Kulturen dadurch angereichert, daß sie sich auf
Stadtverwaltung, die auf Ämter mit wechselnder Besetzung eingestellt ist und ihre Kontinuität in ihrem Ort schriftlich abgefaßte Texte beziehen kann, und dies auch dann, wenn die Texte gar nicht zur Hand sind. Die
und in ihren geschriebenen Gesetzen findet. Aber Schrift bedeutet dann schon nicht mehr eine Grenze des Kommunikationssystems zur Umwelt wird dadurch schärfer gezogen; denn wenn man noch
Spezialressource politischer Herrschaft, sondern kann als dieselbe Schrift auch für viele andere Zwecke annehmen konnte, daß außermenschliche Mächte miteinander kommunizieren und den Menschen ansprechen:
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benutzt werden — und so vor allem als Medium einer Debattenkultur in vielen Themenfeldern, von der daß sie Bücher verfassen oder Zettel hinterlassen, ist denn doch eher unwahrscheinlich.
Medizin und der Geometrie bis zur Poesie, zum Theater, zu Rhetorik und zur Philosophie. Formal gesehen ändern sich die schriftlichen Texte im Vergleich zu Texten des feierlichen mündlichen
Dies bedeutet natürlich nicht, daß die Gesamtbevölkerung Lesen und Schreiben lernt. Diese Verbreitung Vortrags und erst recht natürlich im Vergleich zur alltäglichen Sprechweise. Sie können auf
wird erst lange nach der Einführung des Buchdrucks, wird erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts in einigen (ausfüllungsbedürftige) Formelhaftigkeit verzichten, sie werden konziser (aber eben darum auch sorgfältiger)
Ländern des Erdballs erreicht. Aber auf Vollständigkeit kommt es ja nicht an, und schon im Athen der formuliert, sie verzichten auf Redundanzen, müssen andererseits aber auch die situativen
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klassischen Zeit war die Alphabetisierung so weit verbreitet , daß literarische Texte mit Streuwirkung für Selbstverständlichkeiten durch explizite Aussagen ersetzen. Auch in der Semantik selbst sind die
unbekannte Empfänger und unabsehbare Situationen verfaßt und daß Kontroversen, selbst auf begrenzten Auswirkungen schwerlich zu überschätzen. Alles wird anders, wenn es durch Schrift vermittelt wird. Daß die
Gebieten wie Medizin, schriftlich ausgefochten werden konnten. Zu den unmittelbaren Konsequenzen gehört Zeit zu einer Dimension wird, hatten wir schon notiert. Das ermöglicht einen Zusammenschluß heterogener
die Einübung von Kritik auf der Grundlage einer Beobachtung zweiter Ordnung, einer Beobachtung anderer Situationen im Nacheinander, also größere Komplexität der noch als Einheit darstellbaren Mythen. Überhaupt
Beobachter. wird die Rückführung auf Einheit zum Problem, wobei der Gottesbegriff nur eine der möglichen Lösungen ist.
Die Folgewirkungen waren, sowohl kurzfristig als auch langfristig gesehen, immens. Auch Schrift kann Das alles kann hier nicht einmal zureichend angedeutet werden. Die vielleicht folgenreichste Neuerung ist aber
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schließlich als Kommunikation begriffen werden — und nicht mehr nur als Form der Aufzeichnung und als wohl der Zusammenschluß von Religion und Moral.
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Stütze mündlicher Kommunikation. Kommunikation kann dann als geschriebener Text — und nicht nur als Hochkulturen sind Gesellschaften mit moralisierter (und moralisierender) Religion. Sie formulieren die
gerade ablaufende mündliche Kommunikation — Gegenstand von Kommunikation werden. Übersetzungen Einheit der Welt als ein gutes Prinzip, als einen guten Geist, als einen guten Gott— und "gut" dann immer im
werden möglich, Kontrolle wird möglich. Neuartige Konsistenzzwänge treten auf, da Texte wiederholt gelesen Unterschied zu schlecht begriffen. Daß dieser Zusammenschluß von vorher getrennten Semantiken des
Geheimen, Heiligen (im Doppelsinne des Entzückenden und Erschreckenden) und Überirdischen mit dem
Moralcode direkt auf Schrift zurückzuführen ist, wird man schwerlich beweisen können. Es liegt näher, an die
Tübingen 1990, S. 11-30 (mit Rückdatierung der Allgemeinzugänglichkeit von Schrift bis ins 8. Jahrhundert). Man darf
Legitimationsbedürfnisse von ausdifferenzierten palastwirtschaftliche und/oder militärischen
natürlich nicht übersehen, daß nichtalphabetisierte Schriften, etwa die chinesische, unter anderen sprachlichen (und auch
phonetischen) Vorbedingungen mit einer anderen Mischung von Vorteilen und Nachteilen durchaus funktionale Herrschaftssystemen zu denken. Wenn aber hier der Anstoß lag, so setzte doch die Elaboration zu
Äquivalente ausgebildet haben. religiös-moralischen Kosmologien die Anfertigung entsprechender Texte, also Schrift voraus. Auch dem
412 Himmel selbst wird eine moralische Buchführung unterstellt, so daß nichts, weder Gutes noch Böses,
Siehe dazu die Beiträge von Marcel Detienne in: ders. (Hrsg.) a.a.O. (1988), S. 7 ff., 29 ff.
413
Zu Mutmaßungen über den Umfang vgl. F. D. Harvey, Literacy in Athenian Democracy, Revue des Etudes Grecques 76
(1966), S. 585-635. Vgl. auch Havelock a.a.O. (1982), S. 27 ff., und jetzt vor allem den Überblick in Harris a.a.O. (1989)
415
mit einer eher skeptischen Einschätzung der Verbreitung von Lese- und Schreibkompetenz, auch in der griechischen und Dazu Wauthier de Mahieu, A l'intersection de temps et de l'espace du mythe et de l'histoire, les généalogies: L'example
römischen Antike. Spekulationen über den Umfang der Lese- und Schreibfähigkeit bezogen auf die Gesamtpopulation sind Komo, Cultures et Développement 11 (1979), S. 415-457.
jedoch von geringem Interesse, da es sich um eine stratifizierte Gesellschaft handelt und Literalität in den höheren 416
Siehe Rosalind Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, Cambridge England 1989, S. 175 ff.
Schichten sicher weit verbreitet war.
417
414 Vgl. materialreich Hans-Georg Pott, Literarische Bildung: Zur Geschichte der Individualität, München 1995.
Wann eine entsprechende Erweiterung des Kommunikationsbegriffs beginnt, bedürfte gründlicher Erforschung.
418
Jedenfalls ist sie bei Galilei greifbar — unter der Voraussetzung von Buchdruck, im Kontext von wissenschaftlichem Man denke an Jean Pauls 'Siebenkäs' oder die 'Flegeljahre' oder an Benjamin Constants 'Adolphe'.
Wissensgewinn und im Seitenblick auf die unerreichbare Fähigkeit Gottes, alles zugleich zu wissen und nicht auf 419
Allenfalls diktieren sie — so den Koran. Dann wird die Unwahrscheinlichkeit als Einmaligkeit des Ereignisses gefeiert.
sequentielles Erkennen angewiesen zu sein. Im Dialog sopra i due massimi sistemi del mondo heißt es am Ende des ersten
Und natürlich ist dies Kompromiss gegen die noch unwahrscheinlichere Lösung der Inkarnation gerichtet: daß nach der
Tages: "Ma sopra tutte le invenzioni stupende, qual eminenza di mente fu quella di colui che s'immaginò di trovar modo di
Erfindung von Schrift Gott selbst Fleisch werden mußte, um sich mitteilen zu können, die Unwahrscheinlichkeit hier
communicare i suoi più reconditi pensieri a qualsivolgia altra persona, benchè distante per lunghissimo intervallo di luogo
verdeckt durch den Mythos von Sünde und Erlösung.
e di tempo? parlare con quelli che son nell'Indie, parlare a quelli che non sono ancora nati nè saranno se non di qua a mille
420
e dieci mila anni? e con qual facilità?" (zit. nach Le Opere di Galileo Galilei (Edizione Nazionale) Bd. VII, Neudruck Auf eine mindest ebenso wichtige und später wichtiger werdende Entwicklung kommen wir unter ..... zurück. Sie wird
Firenze 1968, S. 130). durch die Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien initiiert.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 129 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 130
421
vergessen wird. Auf dieser Grundlage konnte die moralträchtige Religion dann auch herrschaftskritisch, Offenbarung berufen; ihr Unterschied wird durch die Offenbarung mitlegitimiert. Wo diese religiöse
"prophetisch" und überhaupt unabhängig von spezifisch politischen Interessen, von Reichsgründungen und Mystifikation der Einheit der Differenz nicht benutzt wird, zieht die Schrift viel Kritik auf sich: sie verderbe
422 427
Reichsuntergängen Bestand und Tradierbarkeit gewinnen. Sie entwickelt sich zunehmend ideenevolutiv an die Pflege des Gedächtnisses; sie nehme der Mnemosyne ihre Stellung als Mutter der Musen ; sie sei steril,
Hand eigener Probleme, darunter vor allem das später Theodizee genannte Problem: wie ein guter und sie könne der Wahrheit und Gewißheit einer Meinung nichts hinzufügen; sie bleibe stumm, denn wenn man
428
allmächtiger Gott Schlechtigkeit und Leiden der Gerechten in der Welt zulassen könne. Und genau dieses Fragen habe, könne man sich nicht an den Text wenden, er antworte nicht. Höheres Wissen bleibe
429
Problem ist es dann, das Religion und Moral zusammenschließt; denn die Antwort lautet: wir könnenes nicht notwendigerweise ungeschrieben, im Recht (nomoi agraphoi) wie in der Philosophie. Deshalb stimuliert der
430
verstehen, es ist ein Geheimnis, wir müssen es akzeptieren. Ausbau der Schriftkompetenz zunächst die Parallelentwicklung mündlicher Kommunikation.
Als erste religiöse Reaktion auf Schrift hatte sich im vorderen Orient, wie bereits erwähnt, eine Persuasivtechnik und Rhetorik werden gerade jetzt, wo man mit Textkenntnissen des Publikums rechnen muß,
ausgearbeitete Kultur der Divination entwickelt, die von einer schriftlichen Festlegung des Schicksals ausging besonders gepflegt, — wobei man dann freilich logográphoi anstellt, um die mündlich vorzutragenden Texte
und auf das Lesen der Zeichen spezialisiert war. Demgegenüber hatten Propheten ein völlig anderes Verhältnis schriftlich zu fixieren. Damit entwickelt sich die bereits erwähnte Technik, das Gedächtnis zu trainieren, und
zu ihrem Gott: Er inspirierte sie konkret mit Weisungen und Warnungen, kurz mit Willensakten, die in die damit zusammenhängende Topik, die sich "Orte" vorstellt, wo man eventuell verwendbare Worte,
423
Träumen und Visionen erfahren und mündlich berichtet wurden. Gegen die elitäre Kultur der Floskeln, Redewendungen und Argumente "finden" kann. Auch die Umstellung wichtiger Kommunikation von
divinatorischen Zeichenkunde entwickelte sich auf der spontanen Basis einer alten Vertrautheit mit Träumen rhapsodisch vorgetragener Rede auf Dialog, also auf ein Sozialmodell der Wahrheitsfindung, gehört in diesen
431
und Trancezuständen, also auf der Basis einer oralen Kultur, eine neue Form der Kommunikation mit Gott, Zusammenhang und kann als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer logischen Terminologie angesehen
bei der die Initiative nicht mehr in Fragen und Antworten lag, sondern in Willensakten der Gottheit selbst. werden, die von der sozialen Situation des Dialogs dann wieder abstrahiert. Die Sophisten konkurrieren mit
Freilich wurde dann auch diese Art Kommunikation sehr rasch durch Schrift resorbiert, indem über solche den Philosophen, die Redner mit den sachorientierten Denkern um Vorherrschaft in der Adelserziehung. Die
Ereignisse (einschließlich der Reaktion der Miterlebenden) schriftlich berichtet wurde, so daß für die, die nicht Kontroverse bezieht sich auf mündliche Lehre, und auf Anwendung in mündlicher Kommunikation, aber sie
anwesend gewesen waren, eine Glaubenstradition entstand, in der das Unglaubliche zu glauben war — nun wird textförmig dokumentiert und hat eine Semantik hinterlassen, mit der die, die sich "Philosophen" nennen,
allerdings mit einem ganz anderen, kommunikativ aktiven, fürsorgenden, eingreifenden Gott, einem sich noch heute beschäftigen. Selbst der Buchdruck macht die Rhetorik nicht entbehrlich, sondern führt ihr im
Beobachtergott. 16. und 17. Jahrhundert nochmals neue Motive zu — etwa dies: daß die Wahrheit sich nicht von selber
432
Allmählich wird es dann auch schwieriger, sich Gott als Sprecher vorzustellen, auch wenn die Texte durchsetzen könne, sondern dafür auf schönen Schein und auf Dissimulation angewiesen sei. Noch bis ins
seine Worte überliefern. Denn was würde geschehen, wenn Er selbst plötzlich etwas sagt, was der 18. Jahrhundert wird man in der Adelserziehung Eloquenz für wichtiger halten als detailliertes Sachwissen
Textüberlieferung widerspricht? Und wer wäre legitimiert, es zu hören und anderen mitzuteilen? Die und Belesenheit, und ebenso erhält sich die Auffassung (vor allem im Bereich der Religion), daß es wichtige
433
Textüberlieferung selbst muß dann als Äußerung Gottes, als Diktat oder als zugestellte Schrift legitimiert Kommunikationen gebe, die der mündlichen Übermittlung vorbehalten bleiben müßten. Schriftliche und
424
werden. Am Ende mag man sogar zweifeln, ob er überhaupt jemals wirklich gesprochen hat. mündliche Kommunikation stehen als Alternativen zu Verfügung, und gerade diese funktionale Äquivalenz
Die einschneidende Bedeutung des neuen Verbreitungsmediums Schrift darf freilich nicht zu der macht es möglich, jede dieser Kommunikationsweisen in ihren spezifischen Möglichkeiten zu entwickeln und
Vorstellung verleiten, die für die Gesellschaft wichtige Kommunikation werde alsbald von mündlich auf zu verfeinern.
schriftlich umgestellt. Das Gegenteil trifft zu. Kommunikation wird nach wie vor als mündliche Mit diesen Überlegungen über den evolutionären Zugewinn, der durch das neuartige Medium Schrift in
Kommunikation aufgefaßt, und die Entdeckung der Nutzungsmöglichkeiten von Schrift braucht selbst nach die Gesellschaft eingebaut worden ist, ist zugleich diejenige Schwelle markiert, von der ab mit Diskrepanzen
425
der Einführung des Alphabets noch Jahrhunderte. Schrift dient der Idee nach nicht der Fixierung neuer zwischen textförmig fixierten Semantiken und sozialen Gegebenheiten gerechnet werden muß. Nach
Gedanken oder neuen Wissens oder gar dessen, was einem beim Schreiben erst einfällt. Noch im Mittelalter Erfindung der Schrift kann man nicht mehr davon ausgehen, daß Gesellschaftsstruktur und Semantik sich in
denkt man, trotz ausgeprägter Schriftkultur in den Klöstern und Universitäten, nicht an einen kreativen
Gebrauch des Schreibens, sondern primär an ein Kommentieren, Analysieren, Verständlichmachen. Haggadic Studies, Leiden 1973; ders., Scripture and Tradition in Judaism: Written and Oral Torah, in: Gerd Baumann
Angesichts schriftlich fixierter Texte gewinnt auch die mündliche Kommunikation gesteigerte (Hrsg.), The Written Word: Literacy in Transition, Oxford 1986, S. 79-95; Susan A. Handelman, The Slayers of Moses:
Bedeutung. Die Offenbarung auf dem Berg Sinai wird, so die Interpretation des Talmud, als The Emergence of Rabbinic Interpretation in Modern Literary Theory, Albany N.Y. 1982, insb. S. 37 ff.; José Faur, Golden
Doves and Silver Dots: Semiotics and Textuality in Rabbinic Tradition, Bloomington Ind. 1986, insb. S. 84 ff. Allerdings
Doppeloffenbarung aufgefaßt: als Offenbarung eines Textes für schriftliche Überlieferung und für mündliche
426 bezieht sich die Unterscheidung schriftlich/mündlich hier eher auf Textsorten als auf Kommunikationsweisen. So spricht
Interpretation. Sowohl Texttreue als auch interpretative Beweglichkeit können sich auf dieselbe nichts dagegen, den schriftlichen Text wortgenau zu zitieren und seine mündliche Auslegung schriftlich festzuhalten.
427
Hierzu Hinweise bei Notopoulos a.a.O. (1938).
421 428
So besonders im mesopotamischen und dann wieder im altchristlichen Denken. Siehe materialreich Leo Koep, Das Siehe Platon, Phaedrus 274 B ff. Vgl. auch die mehr politischen Bedenken gegen schriftliche Fixierung im 7. Brief. Zur
himmlische Buch in Antike und Christentum: Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zur altchristlichen Bildersprache, hier anschließenden, umfangreichen Diskussion vgl. etwa Wolfgang Kullmann, Hintergründe und Motive der platonischen
Bonn 1952. Schriftkritik, in: ders. und Michael Reichel (Hrsg.), Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen,
422 Tübingen 1990, S. 317-334 mit weiteren Hinweisen.
Hierzu allgemein Kap. 3,.....
429
423 Selbstverständlich ist eine Kritik der Schriftlichkeit schriftliche Kritik, und nur eine Schriftkultur kann auf die Idee
Zu dieser Differenz von Divination und prophetischer Kommunikation vgl. Cristiano Grotanelli, Profezia e scrittura nel
kommen, daß es auch "ungeschriebenes" Recht geben könnte. Siehe dazu Michael Gagarin, Early Greek Law, Berkeley
Vicino Oriente, La Ricerca Folkloria: La scrittura: Funzioni e ideologie 5 (1982), S. 57-62.
Cal. 1986, insb. S. 121 ff.
424
Am Ende des 18. Jahrhunderts kann man lesen: "The Prophets Isaiah und Ezekiel dined with me, and I asked them how 430
So auch Walter J. Ong, Interface of the Word: Studies in the Evolution of Consciousness and Culture, Ithaca N.Y. 1977,
they dared so roundly to assert that God spoke to them; and whether they did not think at the time that they would be
S. 82 ff.
misunderstood, and so be the cause of imposition. Isaiah answer'd: "I saw no God, nor heard any, in a finite organical
431
perception; but my senses discover'd the infinite in every thing, and as I was then perswaded, & remain confirm'd, that the Marcel Detienne, Les maîtres de vérité dans la Grèce archaïque. 3. Aufl. Paris 1979, S. 81 ff. beschreibt dies als "procès
voice of honest indignation is the voice of God, I cared not for consequences but wrote." (William Blake, The Marriage of de laicisation".
Heaven and Hell, 1790-93, zit. nach Complete Writings, London 1969, S. 148-158, (153).) 432
So vor allem Baltasar Gracián in allen Schriften. Wie kaum jemals zuvor wird von Gracián, und darin liegt seine
425
Heute wohl allgemeine Meinung. Siehe besonders Rosalind Thomas a.a.O. (1989). Modernität, herausgearbeitet, daß die Welt nur über die Differenz von Sichtbarem und Unsichtbarem beobachtet werden
426 kann. Der Rhetorik obliegt es dann, diese Differenz ästhetisch, politisch und kognitiv zu manipulieren.
Siehe George Horowitz, The Spirit of Jewish Law (1953), Neudruck New York 1973, der die Zivilisierbarkeit roher
433
Anfänge einer Rechtsüberlieferung darauf zurückführt. Ferner Geza Vermes, Scripture and Tradition in Judaism — Siehe hierzu Walter J. Ong, Communications Media and the State of Theology, Cross Currents 19 (1969), S. 462-480.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 131 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 132
436
laufend synchronisierter Übereinstimmung befinden. Semantiken können sich, vor allem bei Stimulierung gesellschaftlicher Kommunikation besteht noch kein klares Bild. Jedenfalls handelt es sich nicht nur um eine
437
durch eigene Probleme und Inkonsistenzen, rascher ändern und eventuell Entwicklungsmöglichkeiten der rein quantitative Vermehrung der Zahl der Bücher und Leser, die bereits im Hochmittelalter begonnen hatte ,
Gesellschaft antezipieren oder doch einleiten. Sie können aber auch obsolete Traditionen bewahren und damit sondern um einen der Fälle, in denen man mit Fug und Recht von einem Umschlag von Quantität in Qualität
434
verhindern, daß historisch und sachlich angemessene Beschreibungen entstehen. Die Differenz selbst sprechen kann.
stimuliert dann in beiden Richtungen die Beobachtung und Beschreibung gesellschaftlicher Zustände. Die Zunächst erinnern wir noch einmal daran, daß wir Kommunikation nicht vom Mitteilungshandeln
Unstimmigkeit wird in der gesellschaftlichen Evolution reproduziert. Sie muß mit all dem, was wir später sondern vom Verstehen her begreifen. Entsprechend setzt Schrift, soll sie nicht nur zur Aufzeichnung, sondern
435 438
unter dem Gesichtspunkt von "Ideenevolution" ausführlicher behandeln werden , darauf zurückgeführt zur Kommunikation verwendet werden, Leser voraus. Das macht es einsichtig, daß die immense
werden, daß Schrift den alten Zeitrhythmus der Autopoiesis gesellschaftlicher Kommunikation Vermehrung dessen, was man dann lesendes Publikum nennen wird, eine Revolutionierung der
desynchronisiert. gesellschaftlichen Kommunikation mit sich bringen konnte.
Zusammenfassend können wir die Auswirkungen der Schrift unter folgenden Gesichtspunkten festhalten: Und zwar in relativ kurzer Zeit. Um die unmittelbaren Effekte des Buchdrucks zu erkennen, genügt es,
(1) Schrift stärkt die Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems durch ein nur in der Gesellschaft mögliches das erste Jahrhundert nach der Erfindung der Druckpresse zu beobachten. Der Buchdruck ermöglicht ein
Prozessieren kommunikativer Zeichen und durch die damit erreichte Erweiterung und selbstbestimmte Volumen der Reproduktion, das seinerseits eine marktmäßige Verteilung ermöglicht, also die Herstellung der
Einschränkung eines Spielraums für Selektionen. Texte an der Nachfrage orientiert und sie damit vom Eigeninteresse des Schreibers oder seines Auftraggebers
(2) Schrift verändert die Möglichkeiten, ein soziales Gedächtnis einzurichten, das von den abkoppelt. Das ist allerdings kein zwangsläufiger Effekt der Technik als solcher. Nur in Europa erfolgt die
neurophysiologischen und psychologischen Mechanismen der einzelnen Menschen unabhängig ist. Die Verbreitung dezentral über den Markt und den Preis im Unterschied zu China und Korea, wo die Druckpresse
Fixierung von Erinnerung und Wiederholbarkeit in Objekten und Inszenierungen (Riten, Festen) wird nicht in den Händen der Herrschaftsbürokratie und damit auf die Verbreitung von zentral redigierten Mitteilungen
439
sogleich aufgegeben; aber die ständige Selektion dessen, was aufgeschrieben wird, produziert jetzt beschränkt blieb. Unter diesen Bedingungen kann man die Bibel übersetzen, sie drucken lassen und Schulen
Erinnern und Vergessen in der Form von Entscheidungen, die auf Kriterien und Kontrollen angewiesen einrichten, so daß möglichst viele Leute die Bibel lesen können. Das Problem ist nur, daß die Leser, wenn sie
sind. die Bibel lesen können, auch andere Texte lesen können, so daß Rahmenentscheidungen über die bevorzugte
(3) Schrift steigert, weil sie interaktionelle Kontrollen ausschaltet, das Risiko der Selbst- und Lektüre nötig und möglich werden, die als Unterscheidungen nun nicht mehr allein religiös bestimmt sein
Fremdtäuschung und das Risiko der Ablehnung von Kommunikationen. Mehr Information heißt können. Die Verbreitungstechnologie läßt sich nicht mehr durch bevorzugte Inhalte dirigieren, und folglich
normalerweise: weniger Akzeptanz, und auch darauf kann nur in der Gesellschaft mit eigenen auch nicht mehr durch "Autorität".
Einrichtungen der Abhilfe reagiert werden. Daß in Europa die Wirtschaft seligiert, heißt: daß alles gedruckt werden kann, was sich verkaufen läßt
(4) Schrift führt zu einer stärkeren Differenzierung und Ausarbeitung der verschiedenen Sinndimensionen und daß Kontrolle gegen den Markt durch religiöse und politische Zensur durchgesetzt werden muß, was sich
mit Hilfe jeweils eigener Unterscheidungen, nämlich zur Objektivierung der Zeitdimension, zur sehr rasch als wenig erfolgreich erweist. Nicht alle Territorien haben einen entsprechenden Markt. In Rußland
440
Versachlichung der Kommunikationsthemen unabhängig davon, von wem und wann darüber gesprochen werden erst im 18. Jahrhundert gedruckte Bücher billiger als Manuskripte und damit konkurrenzfähig. Aber
wird, und zur Absonderung einer Sozialdimension, in der die Ansichten und Stellungnahmen der das bleibt eine Ausnahme. Im Ganzen beeindruckt das Tempo der Innovation, und zwar bereits die
Beteiligten in einem Kommunikationsprozeß reflektiert werden können. zeitgenössischen Beobachter, die zu ihren Lebzeiten die Veränderungen bemerken und deshalb zur
441
(5) Schrift benutzt abstrahierte Zeichen und ermöglicht damit auch die Anwendung von Zeichen auf Zeichen, Überschätzung tendieren.
also eine besondere Art von doppelter (operativer und reflexiver) Schließung der Kommunikation. Gleichwohl ist es nicht leicht, auszumachen, was denn nun eigentlich neu ist und was genau die
(6) Schrift "modalisiert" das Realitätsverständnis mit der Folge einer immensen Ausweitung und darauf Kommunikationsweise der Gesellschaft tiefreichend tangiert. Die Rationalisierung der Buchproduktion war in
bezogenen Einschränkung dessen, was in der Kommunikation als notwendig oder kontingent gegebene
Realität behandelt wird.
436
(7) Schrift symbolisiert Abwesendes, und "symbolisiert" soll hier heißen, daß Abwesendes wie Anwesendes Einen epochale Wende sehen die beiden wichtigsten Monographien zum Thema: Elisabeth L. Eisenstein, The Printing
für Operationen des Systems zugänglich wird. Darauf bauen Möglichkeiten der Beobachtung zweiter Press as an Agent of Social Change: Communications and Cultural Transformations in Early-modern Europe, 2 Bde.,
Ordnung auf, die von den Beschränkungen der sozialen Kontrolle unter Anwesenden freigestellt sind und Cambridge Engl. 1979; Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit: Eine historische Fallstudie über die
Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt 1991. Vgl. auch ders., Sinnenwandel,
Kritik in einem Umfange ermöglichen, der die Sozialstruktur und die Semantik der Gesellschaft Sprachwandel, Kulturwandel: Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft, Frankfurt 1992. Eher skeptische
tiefgreifenden Transformationen aussetzt. Auffassungen berufen sich vor allem auf die Langsamkeit, mit der Literalität sich durchsetzt, und auf die Unsicherheit in
bezug auf den Umfang, in dem von vorhandenen Fähigkeiten Gebrauch gemacht wird. Siehe z.B. Keith Thomas, The
Meaning of Literacy in Early Modern England, in: Gerd Baumann (Hrsg.), The Written Word: Literacy in Transition,
Oxford 1986, S. 97-131.
VI. Buchdruck 437
Für einen bis ins 5. Jahrhundert zurückreichenden Überblick vgl. Gugliemo Cavallo (Hrsg.), Libri e lettori nel
medioevo: Guida storica e critica, Bari 1983.
438
Zweitausend Jahre, nachdem das Alphabet in Gebrauch gekommen war, bringt die Druckpresse eine Die Kommunikationsforschung und besonders die historische Forschung tendiert aus verständlichen methodischen und
immense Ausweitung der Verbreitung von Schrift. Über die Bedeutung dieses Einschnittes in die Praxis quellenmäßigen Gründen zur umgekehrten Sicht; denn Texte kann man leichter auffinden und analysieren als das, was im
Leser vor sich geht. Vgl. zu diesem Problem und zur "priority of reading over writing" Havelock a.a.O. (1982), S. 56 ff.
439
Daß dies auch in Europa nicht ausgeschlossen war, zeigt eine entsprechende Praxis sowohl der Kirche als auch der
Territorialherrschaften, die bereits wenige Jahrzehnte nach dem Bekanntwerden der Erfindung einsetzt.
434 440
In Bezug auf die heutige Situation der Gesellschaftstheorie hatten wir in Kap. 1 im Anschluß an Bachelard von Vgl. Hans Rothe, Religion und Kultur in den Regionen des russischen Reiches im 18. Jahrhundert, Opladen 1984, S. 34
"obstacles épistémologiques" gesprochen. Ein anderes aktuelles Beispiel wäre die fortdauernde Relevanz der f. Vgl. auch Gary Marker, Publishing, Printing and the Origins of Intellectual Life in Russia 1700-1800. Princeton N.J.
"bürgerlichen" Ideen und Theorien, die, zwischen 1760 und 1820 formuliert, noch heute als Wertideologien kontinuieren 1985, insb. S. 5 f., 39 f.
mit der dann unvermeidlichen Enttäuschung, daß die Gesellschaft immer noch nicht vernünftig eingerichtet sei, es immer 441
Nachweise bei Giesecke a.a.O. (1991). Allerdings wird die Innovation von den Zeitgenossen im Technischen gesehen.
noch an Freiheit und Gleichheit fehlen lasse, von Brüderlichkeit ganz zu schweigen.
Die Erfindung des Buchdrucks wird oft im Zusammenhang mit der Erfindung der Artillerie bewundert. Siehe für viele
435
Siehe Kap. 3,.... Estienne Pasquier, Les recherches de la France, Neuauflage Paris 1665, S. 369.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 133 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 134

den großen Abschreibewerkstätten des späten Mittelalters bereits angelaufen. Nur in diesem Zusammenhang Nationalisierungsinstrument werden und mehr und mehr das Latein als Sprache der Wissenstradition
447
(und nicht als singuläres Ereignis) ist die Erfindung der Druckpresse überhaupt verständlich. Sie erspart ersetzen. Ferner läßt der Buchdruck jetzt die Fixierung von Texten als lohnend erscheinen, die Wissen
Arbeit, Kosten und vermeidet die typischen Hör- und Schreibfehler, die beim Diktieren entstehen. übermitteln, das früher mündlich tradiert wurde. Das betrifft vor allem handwerkliche Technologien. Sie
Wahrscheinlich wird sich das Verhältnis zum Text allein dadurch schon geändert haben, daß das taktile werden jetzt im Druck als augenblicklicher (aktueller!) Stand des Wissens und als Anregung zur
Moment, die Bewegung der Hand, die Mühsal und die Formgebung mittels des eigenen Körpers hinter dem Verbesserung präsentiert. Aber auch die Textmengen des handschriftlich vorliegenden Literaturgutes werden
typographischen Endprodukt zurücktritt. Allenfalls in Vorbereitungsarbeiten mag die Hand noch eine Rolle nach und nach in den Druck gegeben, und auch dies hat weitreichende Folgen. Erstmals wird die Komplexität
spielen, aber diese zielen jetzt schon auf den Druck. Dem Leser wird keine Handschrift mehr vorgelegt. Die des bereits vorliegenden Materials sichtbar, so zum Beispiel in der Jurisprudenz. Man kann sichten, sortieren,
fast körperliche Präsenz des Schreibers wird auf die Herstellung der Druckvorlage beschränkt. vergleichen, verbessern. Der typische Unterschichtenjargon kann im Druck kenntlich gemacht werden und
448
Vor allem aber haben die herstellungstechnischen Vorteile aber ökonomische Konsequenzen. Über den Schichtdifferenzen bestätigen. Regionale Rechtsgewohnheiten werden für den Druck aufgeschrieben und
geringeren Preis entsteht ein Markt, der seinerseits einen Bedarf schafft; denn angesichts zugänglicher Texte damit nach und nach dem Zugriff der lokalen (grundherrlichen) Gerichtsbarkeit entzogen. Man kann zentral
lohnt es sich erst, lesen zu lernen bzw. das Können durch Übung zu erhalten. Die Technologie der disponieren. Auch im übrigen sieht man erst jetzt, wie verworren, widerspruchsvoll und nahezu unlernbar die
Druckpresse erzeugt die Zusatztechnologie des Lesens, das heißt: einer Technologie der Minimotorik des Bestände sind, und es entsteht ein dringender Bedarf nach Überblick und Vereinfachung, nach neuen
Wahrnehmens, die nicht ständig durch Entscheidungen unterbrochen wird. Darauf kann man sich dann ohne Methoden, nach Systematisierung, nach Aussortieren des Überholten und Unbrauchbaren. Das führt zu neuen
weitere Prüfung verlassen. Man hofft jetzt (und die Bücher selbst empfehlen sich dem Leser mit dieser Ansprüchen an die geistige Beherrschung des Stoffes, aber zunächst auch zur Pedanterie. Allmählich dringt
Aussicht), ohne Hilfe durch andere lernen zu können, wann immer es einem paßt. Die Bezugnahme in auch außerhalb des Unterhaltungssektors die Überzeugung vor, daß neues Wissen besser sei als altes. Denn
Büchern auf Bücher und das Zitieren bestimmter Textstellen wird erleichtert und dadurch ermutigt, daß man während beim Abschreiben die Texte von Abschrift zu Abschrift schlechter werden, weil alte Fehler nicht
442
von der Verfügbarkeit der Bücher ausgehen kann. Den schwerfälligen Apparat der Glossen, Postglossen entdeckt werden und neue hinzukommen, kann man von neuen Editionen die Ausmerzung von Fehlern der
und Kommentare, die Seite auf Seite hinzugefügt wurden, kann man aufgeben. Überhaupt wird die intensive alten erwarten; und überdies reizt das gedruckte Wissen dazu, das vorhandene zu vermehren und zu
443
Wiederholungslektüre immer derselben Texte, die diesen wie von selbst Autorität verlieh, allmählich ersetzt verbessern. Auch in anderen Hinsichten berührt der Buchdruck die zeitliche Orientierung. Er macht es zum
durch eine eher extensive Lektüre, die immer neuen Lesestoff auf Informations- und Unterhaltungswert hin Beispiel sinnvoll, Kommunikation an viele gleichzeitig Lebende zu adressieren. Die Vorworte der in den
durchsieht. Statt Lektüre zu wiederholen, bietet es sich an, verschiedene, jetzt leicht zugängliche Texte zu Druck gegebenen Bücher vermitteln ein deutliches Bild davon, daß diese Möglichkeit als neuartig empfunden
vergleichen. Texte müssen, wie man jetzt formulieren kann, "interessant" sein. wird. Der Prozeß der Wissensvermehrung und -verbesserung macht sich unabhängig von der Anwesenheit
Da Bücher über den Markt verbreitet werden, wird die Behauptung, sie enthielten etwas Neues, zu von Personen am Ort des Erkenntnisgewinns und damit auch unabhängig vom Sozialprestige dieser
449
einem wichtigen Verkaufsargument — zunächst wohl vor allem bei kleinen, billigen Texten wie Pamphleten, Personen. Schließlich kann man vermuten, daß der Buchdruck (und vor allem: der billige Druck von
450
Balladen, Kriminalgeschichten aus Anlaß von Hinrichtungen. Der Käufer möchte offenbar nicht etwas Flugblättern) in erheblichem Umfange zur raschen Ausbreitung religiöser Häresien beigetragen hat. Er
geliefert bekommen, was er schon kennt. Und das gilt nicht nur für wissenschaftliche und technische führt zu einer öffentlichen Festlegung auf radikale Forderungen die, wenn einmal bekannt gemacht, schwer
451
Innovationen, sondern gerade auch für fiktionale Literatur auf Unterhaltungsniveau, die man nicht kauft, wenn zurückzunehmen sind. Jedenfalls werden die traditionalen, praktisch exklusiven Kanäle politischer
man Dasselbe schon einmal gelesen hat. Der Buchmarkt selbst prämiiert behauptete Neuheiten unabhängig Einflußnahme — sei es über Korporationen wie Zünfte, Gilden, Städte, sei es über die lokalen Magnaten und
davon, ob sich in den Künsten und Wissenschaften eine Positivwertung des Originalen und Neuen ihre Patron/Klient-Systeme — unterlaufen. Gedruckte Pamphlete wenden sich offensichtlich nicht mehr an
444
durchsetzt. Die Selbstwerbung der Druckerzeugnisse mit ihrem eigenen Namen dürfte nicht unerheblich zu bestimmte Adressaten, sondern an die Öffentlichkeit. Und selbst die Praxis der Petitionen, die beibehalten und
diesem "Wertewandel" beigetragen haben. Schon im 17. Jahrhundert ist es unverständlich geworden, wie man ausgebaut wird, bedient sich seit dem 17. Jahrhundert des Buchdrucks und verhindert damit tendentiell, daß
an der wiederholten Erzählung oder Aufführung schon bekannter Geschichten, also am Genuß des auf Empfehlung und im Geheimen entschieden wird.
445
Wiedererkennens, Gefallen finden konnte.
Buchdruck und Schulunterricht an Hand gedruckter Texte erfordern eine Uniformisierung der
446 Betrachtung des Sprachwandels, Deutsche Sprache 17 (1989), S. 317-340, neu gedruckt in: Giesecke a.a.O. (1992), S. 36-
Sprache. Seit dem 16. Jahrhundert entstehen Nationalsprachen, die bald darauf ein politisches
72.
447
Schon vor dem Buchdruck hatte es zwar eine Kritik des mittelalterlichen Rohlateins und Bemühungen um eine elegante
Schreibweise gegeben. Aber erst der Buchdruck profiliert Nationalsprachen und erzeugt, im Kontrast dazu, ein Bewußtsein
442
Paginierung, Seitenverweise und Registerbildung waren allerdings schon im Zuge der Rationalisierung der der Vielgestaltigkeit und Variabilität der Vulgärsprachen. Siehe zum Beispiel Francois Loryot, Les Fleurs des Secretz
handschriftlichen Buchproduktion im späten Mittelalter eingeführt worden. Vgl. Bernhard Bischoff, Paläographie des Moraux, sur les passions du coeur humain, Paris 1614, S. 70 ff.
römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters, Berlin 1979, S. 281 f. mit weiteren Hinweisen. Wie in anderen 448
Dies ist sicher auch eine Möglichkeit, die das neue Bühnentheater nutzt. Siehe dazu Jean-Christophe Agnew, Worlds
Hinsichten hat der Buchdruck auch hier für schon vorliegende Erfindungen erst den vollen Ertrag gebracht; und man muß
Apart: The Market and the Theater in Anglo-American Thought, 1550-1750, Cambridge Engl. 1986, S. 66 f.
sich trotzdem noch wundern, wie lange es braucht, bis die Zitierpraxis sich als Normalform der literarischen
449
Auseinandersetzung durchsetzt. Vgl. Mervyn James, Family, Lineage, and Civil Society: A Study of Society, Politics, and Mentality in the Durham
443 Region 1500-1640. Auch der von Peter S. Bearman, Relations into Rhetorics: Local Elite Social Structure in Norfolk,
diese freilich schon in der Antike als Methode angesichts zu vieler Lektüremöglichkeiten empfohlen und nicht als
England, 1540-1640, New Brunswick N.J. 1993, beobachtete Übergang von einer sich auf Verwandtschaft stützenden
Notlösung in Ermangelung verfügbarer Texte. Siehe Marcus Fabius Quintilianus, Institutionis Oratoriae Libri XII (X.1,20),
Politik zu einer abstrakteren (vor allem religiös orientierten) Rhetorik liegt auf dieser Linie und ist sicher auch (obwohl
zit. nach der Ausgabe Darmstadt 1975, Bd. 2, S. 438. Und so noch angesichts neuer Textfluten im 18. Jahrhundert.
diese Seite nicht behandelt wird) durch die Druckpresse ermöglicht worden. In ihren Anfängen war aber selbst die Royal
444
Dazu Nachweise, vor allem "Balladen" betreffend, bei Lennard J. Davis, Factual Fictions: a.a.O., S. 42 ff. Society of London in dieser Frage noch nicht so sicher wie dann im 18. Jahrhundert. Jedenfalls wird die Anwesenheit
445 prestigereicher Personen (zum Beispiel aus der Königsfamilie) so erwähnt als ob dies zur Qualität der Experimente und
Etwa Zuschauer bei einer Aufführung immer derselben Geschichte des Ödipus, "so that they sate with a yawning kind of
des daraus gewonnenen Wissens beitragen könnte. Vgl. Charles Bazerman, Shaping Written Knowledge: The Genre and
expectation, till he was to come with his eyes pull'd out, and speak a hundred or more Verses in a Tragick tone, in
Activity of the Experimental Article in Science, Madison Wisc. 1988, S. 73 ff., 140 ff.
complaint of his misfortune", wie John Dryden, Of Dramatick Poesie: An Essay, 2. Aufl. London 1684, Neudruck London
450
1964, S. 53 f. seinen Eindruck von der Überlegenheit neuer Texte formuliert. Vgl. dazu Robert Mandrou, La transmission de l'hérésie à l'époche moderne, in: Jacques LeGoff (Hrsg.), Hérésie et
446 société dans l'Europe pré-industrielle, 11e-18e siècles, Paris - Den Haag 1968, S. 281-287.
Siehe Michael Giesecke, Schriftspracherwerb und Erstlesedidaktik in der Zeit des "gemein teutsch" — eine
451
sprachhistorische Interpretation der Lehrbücher Valentin Ickelsamers, Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 11 (1979), Man vergleiche damit die sanfte Landung mancher Konzilskleriker im Schoße der neu erstarkten Papstkirche kurz vor
S. 48-72; ders., "Natürliche" und "künstliche" Sprachen? Grundzüge einer informations- und medientheoretischen der Erfindung des Buchdrucks.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 135 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 136

Mit all dem fördert der Buchdruck heimlich den Trend zur Individualisierung der Teilnahme an Funktionssystemen, vor allem von der Wissenschaft, aber auch von der Literatur, vom zunehmend legislativ
gesellschaftlicher Kommunikation, und dies in doppelter Weise. Wenn etwas bekannt ist, aber jemand es nicht tätigen Rechtssystem und schließlich auch über den Druck von Banknoten von der Wirtschaft nutzen lassen.
kennt, hat er sich dies selbst zuzuschreiben. Er hat nicht genug gelesen. Ihm fehlt es an Bildung. Und Gerade die technische Fundierung dieser Form des Verteilens und Bewahrens von Wissen macht es möglich,
andererseits reizt das Bekanntsein dazu, mit abweichenden Meinungen oder neuen Interpretationen sie abzukoppeln von bereits sozial strukturierten Formen gesellschaftlicher Differenzierung; und es kann
hervorzutreten, um sich als Individuum bemerkbar zu machen. Aber erst im 18. Jahrhundert werden diese damit den Funktionssystemen überlassen bleiben, ob sie sie nutzen und wie.
Folgen des Buchdrucks, Bildung und Kritik, auch positiv formuliert, führen zu einer eigenständigen Semantik Weitere Entwicklungen ergeben sich allmählich. Es werden negative Auswirkungen des Bücherlesens
der Aufklärung und des Individualismus, weil man damit die Hoffnung pflegen kann, den bereits irreversibel festgestellt, — so wenn Frauen Liebesromane lesen oder Ritter Ritterromane (Don Quijote). Man beginnt, die
452 455
laufenden strukturellen Umbau der Gesellschaft mit "natürlichen" Sicherheitsgrundlagen zu versorgen. Orientierung der Produktion am Leser zu beobachten. Aber zunächst bleibt die Vorstellung,
Ein bereits erwähnter Effekt des Buchdrucks ist die Standardisierung großräumig verwendbarer Kommunikation sei Interaktion, ungebrochen. Interaktion bleibt das Modell für soziale Rationalität, wie
Nationalsprachen. Noch im 20. Jahrhundert findet man zwar stark unterschiedliche lokale Dialekte, daß eine immer insular sich das ausnehmen mag in einer Gesellschaft, die schon kalkulierte Geldwirtschaft,
wechselseitige mündliche Verständigung schwierig, wenn nicht ausgeschlossen ist: aber man kann dieselben Staatsräson und theorieorientierte wissenschaftliche Forschung kennt. Noch die Aufklärung orientiert sich am
Bücher lesen. Jetzt erst entstehen auch Regeln (und der Sinn für Regeln) des "korrekten" Sprachgebrauchs bis Interaktionsmodell, also letztlich an mündlicher Kommunikation; aber sie ersetzt schon die wechselseitige
hin zu den Lächerlichkeiten einer vollständigen Dudenisierung der Schriftsprache, über deren Änderungen Disziplinierung der Anwesenden durch die Annahme eines Vernunftinteresses, das in die Individuen der
dann nur noch Experten und Autoritäten entscheiden können. lesenden Schicht hineinfingiert wird. Entsprechend wird der Begriff des Menschen generalisiert. Dies wird
Mehr als bei einer auf Handschriften und mündlicher Tradierung beruhenden Kultur macht der dann nochmals überboten in der Theorie des transzendentalen Bewußtseins, also in der paradoxen Annahme,
Buchdruck Inkonsistenzen in der Tradition sichtbar und führt damit indirekt zu Einrichtungen der Selbstreferenz sei generalisierbar. Erst die Romantik stellt sich, um Unendlichkeit, Inkommunikabilität und
semantischen Bereinigung von Widersprüchen. Dazu verhilft zum Beispiel die Linearisierung einer abweichende Realitätssichten in die Kommunikation einbeziehen zu können, auf Schrift und Druck um; und
durchdatierten Zeit, die es ermöglicht, Verschiedenes durch zeitliche Placierung zu trennen und damit erst damit wird das Scheitern der Kommunikation zu einem bevorzugten literarischen Thema.
"geschichtlich" kompatibel zu machen. Das wiederum zerstört, auf längere Sicht, Ursprungsmythen, die von In einem weiteren Schritt wird dies dann fortgeführt, wenn die vollständige Literalisierung der gesamten
der Gegenwart des Ursprungs und von einer gleichzeitig existierenden Vergangenheit ohne sequentielle (oder Bevölkerung vorausgesetzt werden kann — und muß. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird eine billige
mit nur kurzfristig erinnerter sequentieller) Ordnung ausgegangen waren. Das tangiert die Rechtfertigung und tägliche Massenpresse produziert mit einem planmäßigen Senken der Verständnisschwelle, was in Japan auch
die Motivierung des Adels durch den Ursprung des Geschlechts und verwandelt Tradition letztlich in eine die (nicht immer eingehaltene) Beschränkung auf diejenigen Schriftzeichen erfordert, die als allgemein bekannt
456
ideologische Option, die man gleichsam gegen den Lauf der Zeit zu begründen hat. vorausgesetzt werden können. Einige Folgen werden wir weiter unten im Abschnitt über die öffentliche
457
Diese Vielzahl offensichtlicher Auswirkungen des Buchdrucks läßt sich als Gesamtheit schwer Meinung diskutieren.
einschätzen. In vielen Hinsichten handelt es sich noch um Folgen der Verschriftlichung, die nur mangels Schließlich darf man vermuten, daß das Handlungsverständnis sich verändern muß, wenn es das
ausreichender Verbreitungsmöglichkeiten nicht zum Tragen gekommen waren und jetzt, nach Wegfall dieser Schreiben von Büchern für den Buchdruck einschließen muß. Solche Aktivitäten lassen sich nicht mehr gut
Beschränkung, wie mit einer plötzlichen Spätzündung ausgelöst werden. Das dürfte für all das gelten, was nach dem Muster der Interaktion unter Anwesenden begreifen, die auf zahllose implizite Anhaltspunkte der
man als Disziplinierung beschreibender und erklärender Texte bezeichnen kann, die alles, was zum Verständigung zurückgreifen können. Auch wird im 18. Jahrhundert zunehmend klar, daß der Verfasser in
Verständnis notwendig ist, im Text bereitstellen müssen. Bis zum Buchdruck war man noch von einem Primat seinem eigenen Text nicht nochmals vorkommen kann, weil er ja das Ende der Geschichte schon kennt bzw.
mündlicher Kommunikation ausgegangen und hatte Schrift vor allem als Mittel des Aufzeichnens und durch Rückbezug auf sich selbst den Verlauf ständig unterbrechen würde. Der Verfasser muß sich also auf
Festhaltens von dann noch zu kommunizierenden Inhalten gesehen oder zumindest zwischen die textexterne Rolle eines "Autors" beschränken (so wie ein Künstler sein Kunstwerk signieren muß). Wenn
453
Aufzeichnungsmedium und Kommunikationsmedium nicht deutlich unterschieden. "Communicatio" hieß: der Handlungsbegriff diesen Fall einschließen soll (und wie könnte er das vermeiden), muß er also
Gemeinsamkeit herstellen, bekanntmachen — und so konnte man nach der Erfindung der Druckpresse denn dekontextiert und von allen narrativen Begrenzungen befreit werden. Aber was ist dann eine
auch der Meinung sein, daß die Maschine selbst "kommuniziert". Schließlich macht es der Buchdruck aber Handlungseinheit? Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Im Effekt kann jetzt Handlung nichts anderes mehr sein
unmöglich, Schrift als bloße Aufzeichnung zu verstehen. Die Selbstempfehlung der Bücher (die zunächst noch als die Verkörperung einer subjektiven Intention — mit der Folge, daß nach der Legitimität des Handelns
wie früher in eigenem Namen "sprechen", also als Buch den Leser anreden) macht den Unterschied deutlich. gefragt werden kann.
Obwohl genauere Forschungen zu dieser Frage fehlen, nehmen wir an, daß sich daraufhin das Verständnis
von Kommunikation geändert hat, und dies könnte, wenn es zutrifft, die tiefgreifendste Auswirkung der
Druckpresse gewesen sein. Denn das Verständnis von Kommunikation ist das Verständnis von Gesellschaft.
Es braucht gut zweihundert Jahre seit der Erfindung der Druckpresse, bis die Funktion des Buchdruckes VII. Elektronische Medien
als einer technischen Infrastruktur für die Erhaltung und Fortschreibung eines Gedächtnisses der Gesellschaft
454
sichtbar wird — abgelöst von dem, was Individuen mehr oder weniger zufällig erinnern und was dann mit
ihnen stirbt. Zum Bereithalten dieses Gedächtnisses werden allgemein zugängliche, "öffentliche" Bibliotheken
eingerichtet. Die damit verbundene Stabilitätsgarantie ist, unabhängig von dem Generationswechsel der
Individuen, erneuerungsfähig und offen für eine durch sie nicht festgelegte Zukunft. Sie ersetzt die 455
In Griechenland, stellt sich Shaftesbury vor, hätten Poeten die Welt verändern können. "In our Days the Audience makes
Stabilitätsgarantien, die ältere, mündlich kommunizierende Gesellschaften an den familialen und räumlichen
the Poet; and the Bookseller the Author." (Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, Bd. 1, London 1714,
Strukturen des Zusammenlebens gefunden hatten; und sie ersetzt sie durch Formen, die sich von den einzelnen Nachdruck Farnborough 1968, S. 264). Da Shaftesbury seine eigenen Bücher drucken läßt, kann jedoch die affektierte
Ablehnung des Buchmarktes (nicht so sehr: der Druckpresse) nur bedeuten, daß er eine heimliche Konspiration mit dem
Leser sucht auf der Ebene privater, reflektierter Überzeugungen. Im übrigen reagiert Shaftesbury wohl auch auf eine
452
Hierzu nochmals Kap. 5, .... spezifisch englische Tradition, die den Dichter als eine Art Gesetzgeber gefeiert hatte und die ihrerseits auf die
453 Publizitätswirkung des Buchdrucks spekuliert. Siehe dazu David Norbrook, Poetry and Politics in the English Renaissance,
Siehe als ein treffendes Beispiel: The School of Salernum: Regimen sanitatis Salerni: The English Version of Sir John
London 1984.
Harington, Salerno, Ente Provinciale per il Turismo, o.J. Die Studienmaterialien dieser berühmten mittelalterlichen
456
Medizinschule sind ganz auf mündliches Tradieren und Memorieren eingestellt. Wir erwähnen das im Hinblick auf die Vorteile und Nachteile einer nichtphonetischen Schrift.
454 457
Vgl. für Literatur Davis a.a.O., S. 138 ff. Vgl. Kap. 5,....
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 137 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 138

Die technisch ermöglichte Nutzung von Elektrizität hat in unserem Jahrhundert zu einer Mehrzahl von räumlich begrenzt operieren. Darin kann man ein weiteres Argument für die Tatsache einer Weltgesellschaft
Erweiterungen bisheriger Kommunikationsmöglichkeiten und vor allem zu einem Abbau von Schranken finden, die Kommunikationen in einer Weise intensiviert und beschleunigt, wie es ohne diese neuen
natürlicher, auf dem Organismus von Menschen beruhender Kommunikation geführt. Die für die Verbreitungsmedien nicht möglich wäre.
Kommunikation benötigte Energie kann nun ganz unabhängig von dem operativen Vollzug der Vor allem aber ändert der Computer, verglichen mit dem, was in der Tradition über Religion und über
Kommunikation (zum Beispiel: an ganz anderen Orten) produziert und nach Bedarf zur Verfügung gestellt Kunst definiert war, das Verhältnis von (zugänglicher) Oberfläche und Tiefe. Es geht nicht mehr um die
werden. Das technische Netz des Energieflusses verhält sich völlig neutral zur Kommunikation; oder anders Lineaturen, die eine Weissagung ermöglichen, und nicht mehr um Ornamente, die Bedeutungen
gesagt: die Information wird außerhalb des technischen Netzes produziert und kann durch "Rauschen" nur unterstreichen. Die Oberfläche ist jetzt der Bildschirm mit extrem beschränkter Inanspruchnahme
gestört werden. Die kausalen Beziehungen zwischen technisch präparierter Physik und kommunizierter menschlicher Sinne, die Tiefe dagegen die unsichtbare Maschine, die heute in der Lage ist, sich selbst von
Information werden von allen Überlappungen freigestellt und in die Form einer strukturellen Kopplung Moment zu Moment umzukonstruieren, zum Beispiel in Reaktion auf Benutzung. Die Verbindung von
gebracht. Das bedeutet einerseits, daß das Kommunikationssystem Gesellschaft mehr und mehr abhängig wird Oberfläche und Tiefe kann über Befehle hergestellt werden, die die Maschine anweisen, etwas auf dem
von technologisch bedingten strukturellen Kopplungen mit Gegebenheiten seiner Umwelt. Damit nimmt die Bildschirm oder durch Ausdruck sichtbar zu machen. Sie selbst bleibt unsichtbar.
Störanfälligkeit zu und mit ihr der technische und wirtschaftliche Aufwand zu Absicherung gegen Störungen. Man kann nur vermuten, daß diese Struktur sowohl die Möglichkeiten als auch die Beschränkungen der
Es führt andererseits zu einer technisch induzierten, dann aber gebrauchsbestimmten, eigendynamischen Kommunikation erheblich beeinflußen wird. Sie erfordert einerseits ein spezifisches Können im Blick auf die
Explosion von Kommunikationsmöglichkeiten, und dies in mehreren Hinsichten nahezu gleichzeitig. Die Kopplungen von Oberfläche und Tiefe. Nur deshalb kann man die unsichtbare Maschine als "virtuelle
Konsequenzen kann man gegenwärtig noch nicht abschätzen, aber die Strukturen der Neuerungen lassen sich Realität" bezeichnen. (Nur das vorausgesetzte Können (virtus) unterscheidet Virtualität von bloßer
beschreiben. Möglichkeit.) Andererseits ist die Struktur nur nutzbar, wenn sie in psychischen oder sozialen Systemen
So läßt Telekommunikation — vom Telefon bis zum Telefax und zum elektronischen Postverkehr — Veränderungen (Informationen) auslöst. Die Vermittlung scheint eine Temporalisierung von Formen zu
die noch bestehenden räumlichen (also zeitlichen) Beschränkungen der Kommunikation gegen Null tendieren. erfordern. Man geht nicht mehr von feststehenden Gestalten aus, die nach den Codes der Funktionssystemeals
Die technisch gegebenen Möglichkeiten werden durch Aufzeichnungseinrichtungen ergänzt, die auch hier ein wahr oder unwahr, nützlich oder nicht nützlich usw. beurteilt werden können, sondern jede Festlegung
Auseinanderziehen von Mitteilungen und Empfang ermöglichen, also unterschiedliche Zeitdispositionen auf produziert einen unmarkierten Raum und in ihm eine andere Seite, die nur über weitere Operationen (mit
458
beiden Seiten erlauben und damit das Zustandekommen von Kommunikationen erleichtern. In diesem Bereich denselben Folgen) bestimmt werden kann. Es geht bei diesen "transklassischen" Maschinen nicht mehr nur
stellt die Elektronik weder mündliche noch schriftliche Kommunikation in Frage, sondern eröffnet ihnen nur um leistungsstarke Instrumente, obwohl sie in Verwendungskontexten so verstanden und eingesetzt werden
zusätzliche Anwendungsmöglichkeiten, die freilich mit einigen, durch die Technik bedingten Einschränkungen können, sondern es geht um eine Markierung von Formen, die ein reicheres Unterscheiden und Bezeichnen
bezahlt werden müssen. ermöglichen mit derzeit unabsehbaren Konsequenzen für das Kommunikationssystem Gesellschaft. Jedenfalls
Die eigentlich folgenreiche Veränderung scheint jedoch in der Erfindung und Entwicklung elektronischer scheint mit dem Können auch das (daran erkennbare) Nichtkönnen zuzunehmen. Die Möglichkeiten, im
Maschinen der Informationsverarbeitung zu liegen. Wie verzaubert durch eine lange humanistische Tradition Durchgriff auf die unsichtbare Maschine zu argumentieren, nehmen offenbar ab, und die Störanfälligkeit
hatte man das Problem zunächst in der Frage gesehen, ob die Computer und ihre "artificial intelligence" dem nimmt zu.
Bewußtsein Gleichwertiges oder Überlegenes leisten und wie sich Überlegenheiten und Unterlegenheiten auf Eine weitere technische Erfindung, das Kino und, mit Telekommunikation verbunden, das Fernsehen,
die einzelnen Leistungsgebiete verteilen. Das Fluchtziel der Geisteswissenschaft war und blieb dann das ermöglicht die Kommunikation beweglicher Bilder. Außerdem kann der dazugehörige Ton synchronisiert
menschliche Subjekt. Es fragt sich aber, ob dies die richtige Problemstellung ist und ob nicht in dieser werden, so daß die gesamte vorkommende Realität als Cliché multipliziert und für Sekundärerfahrung mit
Konkurrenzlage über kurz oder lang der Computer der Sieger bleibt, wenn ihm die Gesellschaft Garantie der Originaltreue reproduziert werden kann. Optische und akustische Wiedergabe, die durch die
"Chancengleichheit" zubilligt. Eine ganz andere Frage ist, ob und wie weit Computer die Schrift so markant getrennt waren, verschmelzen. Die Realitätsgarantie, die die Sprache aufgeben mußte, weil
gesellschaftskonstituierende Leistung der Kommunikation ersetzen oder überbieten können. Dazu müßten sie allem, was gesagt wird, widersprochen werden kann, verlagert sich damit auf die beweglichen,
459
ja Wissen als Form behandeln, also wissen können, was andere Computer nicht wissen. Bereits in den optisch/akustisch synchronisierten Bilder. Hier muß man zwar noch das replay durchschauen und
Kybernetik-Konferenzen der 50er Jahre war formuliert worden, daß man menschliches Bewußtsein als begreifen, daß es keinen Sinn hat, den Bildern zu widersprechen oder sie zu zerstören. Das Bild zeigt ganz
Maschine konstruieren könne, sofern nur präzise genug angegeben werden könne, was die Maschine leisten offensichtlich eine Alibi-Realität. Aber die Photographie garantiert zugleich die Entsprechung von
solle. Das heißt aber, daß es in dem dann "artificial intelligence" genannten Forschungsbereich nur um photographierter und im Bild erscheinender Realität. So wird die gesamte, dadurch vermittelte
Programmierung geht. Damit ist aber das Problem in die sprachliche Kommunikation verschoben, deren Kommunikation wieder realzeitabhängig. Ein Film kann nur aufgenommen werden, wenn das, was gefilmt
Vorteil eben darin liegt, daß sie auch mit schwammigen Ausdrücken funktioniert, wenn nur bei Bedarf wird, tatsächlich geschieht — weder vorher, noch nachher. Und man kann ihn nur sehen, wenn er vorgeführt
selbstkorrigierende Operationen zur Verfügung stehen. Kommunikation ist ein laufendes Prozessieren der bzw. gesendet wird. Dieser "Rückfall" in ein quasi-orales Zeitverhältnis läßt sich durch Montage- und
Differenz von Wissen und Nichtwissen, ohne daß es dazu nötig wäre, die Wissens-/Nichtwissensbestände in Aufzeichnungstechniken rasch wieder ausgleichen. Die durch Technik geschaffenen Probleme lassen sich
den beteiligten Individuen oder Maschinen zu ermitteln. Sie sind ebenso Ergebnis wie Voraussetzung von durch Technik lösen. Als Folge jener Realzeitabhängigkeit bleibt aber ein gewisser Glaubwürdigkeitsbonus
Kommunikation. Hier gibt es, zur Zeit jedenfalls, gute Argumente für Unentbehrlichkeit und Überlegenheit zurück; denn man hat weder beim Aufnehmen noch beim Sehen des Films die Zeit für komplexe
mündlicher und schriftlicher Kommunikation, die dann freilich sich des Computers bedienen kann, um die Manipulierungen oder ihre Kontrolle. Das schließt einen durchgängigen Manipulationsverdacht nicht aus,
eigene Leistungsfähigkeit zu steigern und sich auf das Wesentliche, nicht auf Technik Delegierbare zu aber er kann nur distanziert und nur abstrakt bewußt werden und gerät daher bei Kommunikation in
konzentrieren. Beweisnot.
Wahrscheinlich ist aber diese Frage des Vergleichs von Computerleistungen mit Bewußtsein oder mit
Kommunikation ein Nebenproblem. Wir wollen auch offen lassen, ob Arbeit oder Spiel mit Computern als
Kommunikation begriffen werden kann; ob zum Beispiel das Merkmal der doppelten Kontingenz auf beiden
Seiten gegeben ist. Damit bleibt auch offen, ob man den Begriff der Kommunikation ändern müßte und wie,
wollte man diesen Fall einbeziehen. Die interessantere Frage ist, wie es sich auf die gesellschaftliche 458
im Sinne von Gotthard Günther, Das Bewußtsein der Maschinen: Eine Metaphysik der Kybernetik, Krefeld 1963.
Kommunikation auswirkt, wenn sie durch computervermitteltes Wissen beeinflußt wird. Was sich tatsächlich 459
Siehe hierzu Wlad Godzich, Vom Paradox der Sprache zur Dissonanz des Bildes, in: Hans Ulrich Gumbrecht / K.
beobachten läßt, sind weltweit operierende, konnexionistische Netzwerke des Sammelns, Auswertens und Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche: Situationen offener Epistemologie, Frankfurt 1991,
Wiederzugänglichmachens von Daten, etwa im Bereich von Medizin, die themenspezifisch, aber nicht S. 747-758.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 139 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 140
460
Im Ergebnis führen diese Erfindungen dazu, daß die gesamte Welt kommunikabel wird. An die Stelle Inszenierungen und vor allem Sendezeiten und Sendedauer im Hinblick auf das, was ihm geeignet erscheint.
der Phänomenologie des Seins tritt die Phänomenologie der Kommunikation. Man sieht die Welt so, wie die Der Empfänger seligiert sich selber im Hinblick auf das, was er sehen und hören möchte. Kommunikation
Bildkommunikation es einem suggeriert — wenn auch nicht so dramatisch, nicht so kontrastscharf, nicht so kommt dann wie in einem Hyperzyklus wechselseitiger Selektion zustande, kann aber, wenn und soweit sie
lupenrein, nicht so farbig und vor allem: nicht so ausgesucht. Ein ständiger Überbietungsdruck führt zu einem zustandekommt, sich nicht mehr selber korrigieren.
Fadwerden der Wahrnehmungswelt und zwar sowohl der normal wahrgenommenen als auch der Zeigt dies schon an, wie weit man sich von mündlicher Kommunikation entfernt hat (ohne sie, das sei
461
Fernsehwelt. Außerdem tritt im Wahrnehmungsprozeß genau das zurück, was an der Sprache fasziniert immer wieder betont, damit zu ersetzen oder abzuschaffen), so geht die derzeit letzte Erfindung noch einen
hatte: nämlich die Möglichkeit und die Notwendigkeit, zwischen Information und Mitteilung zu unterscheiden. Schritt weiter. Es handelt sich um die durch Computer vermittelte Kommunikation. Sie ermöglicht es, die
Man sieht zwar auch im Fernsehen die Leute reden, ja selbst die Zuschauer treten in das Medium wieder ein, Eingabe von Daten in den Computer und das Abrufen von Informationen so weit zu trennen, daß keinerlei
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und sei es als dies lächerliche Gelächter im Hintergrund, das sie darüber belehrt, daß etwas zu lachen gewesen Identität mehr besteht. Im Zusammenhang mit Kommunikation heißt dies, daß die Einheit von Mitteilung
462
wäre. Aber das Gesamtarrangement entzieht sich denjenigen Kontrollen, die in Jahrtausenden auf der Basis und Verstehen aufgegeben wird. Wer etwas eingibt, weiß nicht (und wenn er es wüßte, brauchte er den
einer Unterscheidbarkeit von Mitteilung und Information entwickelt worden sind. Deshalb versagt auch die Computer nicht), was auf der anderen Seite entnommen wird. Die Daten sind inzwischen "verarbeitet"
Ja/Nein-Codierung der sprachlichen Kommunikation. Man kann durch Filme positiv oder negativ berührt worden. Und ebenso wenig muß der Empfänger wissen, ob etwas und was ihm mitgeteilt werden sollte. Das
sein, kann sie gut oder schlecht finden, aber es fehlt im Gesamtkomplex des Wahrgenommenen jene heißt: die Autorität der Quelle mit all den erforderlichen sozialstrukturellen Absicherungen (Schichtung,
Zuspitzung, die eine klare Distinktion von Annahme oder Ablehnung ermöglichen würde. Man weiß zwar, Reputation) wird entbehrlich, ja durch Technik annulliert und ersetzt durchUnbekanntheit der Quelle. Ebenso
daß es sich um Kommunikation handelt, aber man sieht es nicht. So kann ein Verdacht der Manipulation entfällt die Möglichkeit, die Absicht einer Mitteilung zu erkennen und daraus Verdacht zu nähren oder
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entstehen, der sich aber nicht substantiiert äußern kann. Man weiß es, man nimmt es hin. Das Fernsehen sonstige Schlüsse zu ziehen, die zur Annahme bzw. Ablehnung der Kommunikation führen könnten. Was
produziert eine produzierte Form, die alle Überzeugungsmittel des Alltagslebens an sich bindet. Und die läuft, ist eine sich selbst in begrenztem Umfange kontrollierende Unsicherheitsabsorption. Auch werden die
andere Seite der Form — das eben ist der Verdacht der Manipulation. menschlichen Körper (jedenfalls beim gegenwärtigen Stand der Technik) an die Anschlußstellen gebunden,
Da die audiovisuelle Sendung Wahrnehmung komplett übermitteln kann, entfallen Möglichkeiten und auch wenn es tragbare Geräte sind. Das könnte, ähnlich wie beim Fernsehen, dazu führen, daß die
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Notwendigkeiten individueller Imagination. Zugleich erübrigt der individuell-massenhafte Empfang Zufallskontakte frei herumlaufender Körper abnehmen. Mit all dem ist die soziale Entkopplung des
kommunikative Überzeugungsarbeit. Die Gleichsinnigkeit wird schon vor dem Bildschirm hergestellt, schließt medialen Substrats der Kommunikation ins Extrem getrieben. In unserer Begrifflichkeit muß das heißen, daß
aber ebensowenig wie die natürliche Wahrnehmungswelt Meinungsverschiedenheiten aus. Eine ein neues Medium im Entstehen ist, dessen Formen nun von den Computerprogrammen abhängig sind. Zwar
Homogenisierung der Kultur und Weltsicht zeichnet sich daher kaum ab, vielleicht jedoch ein rascherer entscheiden diese Programme noch nicht, wie das Medium die Kommunikation selbst zu Formen verdichtet,
Rhythmus im Wechsel der Voreingestimmtheiten. denn dazu gehören die Ereignisse des Eingebens und Entnehmens von Information. Aber die Programme sind,
Was aber ist dann noch Kommunikation, wenn alles kommuniziert werden kann und wenn in wichtigen, wie einst die grammatischen Regeln der Sprache, Formen, die die Möglichkeiten der strikten Kopplung
eindrucksvollen Bereichen die Kommunikation konstituierende Differenz von Information und Mitteilung ins einschränken und damit ins Unabsehbare ausweiten können.
Unerkennbare zurückweicht. Führt, wie Baudrillard meint, die Totalisierung der Kommunikation zum Während durch Schrift eine räumliche (und damit auch zeitliche) Entkopplung der
Verschwinden der Kommunikation? Oder wird nun erst recht die blinde Geschlossenheit des Systems Kommunikationskomponenten Mitteilung und Verstehen erreicht worden war, aber unter der strengen
gesellschaftlicher Kommunikation zur Realität? Ist dann Kommunikation nur noch unsichtbare Assistenz bei Voraussetzung, daß es sachlich um dieselbe Information ging (wie immer diese dann "hermeneutisch"
der Selbstbeobachtung der Welt, und ist Gesellschaft die Grenze schlechthin, über die die Welt sich selbst modifiziert werden mochte), kann der Computer auch die Sachdimension des Sinns der Kommunikation in die
beobachtet? Entkopplung einbeziehen. Was daraus werden kann, entzieht sich derzeit auch den kühnsten Spekulationen.
Lassen wir jedoch diese spekulativen Fragen beiseite und fragen wir statt dessen nach der Art und Immerhin kann man bereits neue Trends in der kognitiven Behandlung solcher Sachverhalte beobachten, die
Weise, wie sich unter diesen Bedingungen die Selektivität der Kommunikation neu ordnet. In vielen Fällen beginnen, die Form der Ordnung des Wissens zu beeinflußen. Der Ausgangspunkt ist ein prinzipiell operatives
468
(Ausnahme Telephon) erzwingt die Technik Einseitigkeit der Kommunikation. Dies ist teils eine und dann prozedurales Verständnis der Realität - mit oder ohne "Autopoiesis". Das führt in die Vorstellung
Zwangsläufigkeit der Zwischenschaltung von Apparaten, teils aber auch eine Notwendigkeit der einer nicht mehr durchschaubaren Komplexität und weiter zur Arbeit an kognitiven Strukturen, die von Zeit
464
Massenkommunikation, mit der sich bereits der Buchdruck hatte abfinden müssen. Dies verändert das abstrahieren und, zum Beispiel in der Form von Kalkülen, Wiederverwendbarkeit zu anderen Zeitpunkten
Selektionsgeschehen, und zwar auf beiden Seiten der Apparatur. Man seligiert nicht mehr in der postulieren. Solche zeitabstrakten Modelle prinzipiell zeitabhängiger (historischer) operativer Sequenzen
Kommunikation, man seligiert für die Kommunikation. Der Sender wählt Themen und Formen, sprengen den klassischen Begriff der Bewegung, die nur an der Differenz zu etwas Feststehendem zu erkennen
ist, und damit die Unterscheidung bewegt/unbewegt, Dynamik/Statik etc. Was an deren Stelle tritt, ja ob man
überhaupt den Umbau des Wissens als einen solchen Substitutionsvorgang begreifen kann, ist bei allen
460
Hierbei ist natürlich vorausgesetzt, daß der menschliche Wahrnehmungsapparat ohnehin stärker auf Bewegungen Fortschritten in Bereichen wie cognitive sciences, artificial intelligence, Komputerlinguistik und neuer
anspricht als auf Konstanten seines Wahrnehmungsfeldes.
461 465
Es bleibt dem Menschen, könnte man vermuten, dann nur noch das Denken, und das kann leicht schiefgehen. Jedenfalls Wir müssen dies betonen, denn es gibt ja auch den Eigengebrauch des Computers zur Datenverarbeitung für den
nimmt Hauptleistung des Bewußtseins, das Externalisieren und Ordnen der Wahrnehmungswelt, an Bedeutung ab — an Benutzer allein.
Bedeutung in fremdreferentiellen und selbstreferentiellen Kontexten: für die innere Plausibilität der Welterfahrung und für 466
Es drängen sich Parallelen auf mit einer über Kunstwerke laufenden Kommunikation, die ebenfalls, jedenfalls unter
die sichere Placierung des Individuums in dieser Welt.
modernen Bedingungen, so weit streuen kann, daß der Künstler die Beobachtungen des Betrachters nicht mehr voraussehen
462
Peter Klier, Im Dreieck von Demokratie, Öffentlichkeit und Massenmedien, Berlin 1990, S. 106 ff. spricht in diesem kann oder es geradezu auf Freigabe anlegt, und der Betrachter nicht mehr glauben kann, das Kunstwerk verstanden zu
Zusammenhang von Reästhetisierung; Wolfgang Welsch, Anästhetik — Focus einer erweiterten Ästhetik, in: Wolfgang haben, wenn er zu erkennen glaubt, was der Künstler "gemeint" hatte. Vgl. hierzu Umberto Eco, Opera aperta (1962), zit.
Zacharias (Hrsg.), Schöne Aussichten?: Ästhetische Bildung in einer technisch-medialen Welt, Essen 1991, S. 79-106, von nach der 6. Aufl. Milano 1988.
einem Steigerungsverhältnis von Ästhetisierung und Anästhetisierung. 467
Wohlgemerkt: Zufallskontakte. Daß geplantes Zusammentreffen, also Interaktion unter Anwesenden möglich bleibt und
463
Eine wichtige, angesichts der Qualität der Sendungen aber nur selten bedeutsame Ausnahme wäre die Wahrnehmung als nicht eingeschränkt werden muß, soll damit nicht in Frage gestellt werden. Aber: was verdankt die Gesellschaft dem
Kunstwerk und eine entsprechende Kritik der künstlerischen Mittel. Zufall?
464 468
Mit bezeichnenden Verzögerungen übrigens. Noch im 16. Jahrhundert fordern Bücher den Leser auf, seine Erfahrungen Siehe einflußreich: Herbert A. Simon, From Substantive to Procedural Rationality, in: Spiro J. Latsis (Hrsg.), Method
ebenfalls über Druck zu melden. and Appraisal in Economics, Cambridge, England 1976, S. 129-148.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 141 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 142

Mathematik des Unerwartbaren nicht sicher auszumachen — jedenfalls nicht für einen Soziologen, der nur sie doch. Die Art und Weise, wie Wissen in den Computer kommt, läßt sich zwar schwer überprüfen. Sie läßt
auf bereits erkennbare gesellschaftliche Tatsachen reagieren kann. In gesellschaftstheoretischer Perspektive sich aber jedenfalls nicht in Autorität ummünzen. Das ändert natürlich nichts daran, daß jeder, der sich in der
kann man allenfalls das Problem dieser neuen Ordnung des Wissens mit der nötigen Radikalität formulieren. einen oder anderen Weise auf Kommunikationen verläßt, auf Vertrauen angewiesen bleibt. Nur läßt dieses
Die neuen Medien dieses Jahrhunderts haben die weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten nochmals Vertrauen im Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung nicht mehr personalisieren, also auch nicht mehr
beträchtlich erweitert. Sie verschärfen damit die Diskrepanz zwischen möglicher und aktuell stattfindender in sozialen Status umsetzen; es ist nur noch Systemvertrauen.
Kommunikation. Sie verschärfen damit das Selektionsproblem, worauf die Gesellschaft auf der einen Seite Auch in der dezentrierten Ordnung einer Heterarchie fehlt es nicht an weitreichenden und vor allem:
469
mit Organisierung, auf der anderen mit Individualisierung der Selektion reagiert. Sie lösen die einsichtige folgenreichen Ereignissen. Eine einzelne Selektion kann viele andere ermöglichen oder verbauen. Es mag
Einheit der Kommunikation in einer Weise auf, die man noch vor wenigen Jahrzehnten nicht für möglich Nachrichten geben — man denke an den Abwurf der Atombombe —, die die Welt verändern. Auch hier gibt
gehalten hätte. Das gibt der Differenz von Medium und Form (also: der Form der Unterscheidung von es Beobachtungsorte, etwa die Börse, die zu beobachten sich mehr lohnt als andere. Wichtiges kann auch hier
Medium und Form) eine gesteigerte Bedeutung. Die moderne Gesellschaft scheint damit eine Grenze erreicht Prominenz gewinnen, aber nur im Kontext der Gleichzeitigkeit von Nichtwissen, also nur in
zu haben, an der nichts mehr nicht kommunizierbar ist — mit der einen alten Ausnahme: der Kommunikation unkontrollierbaren Kontexten. Es gibt sehr wohl Beständigkeiten, Wiederholungen, Verstärkungen und vor
von Aufrichtigkeit. allem gibt es, wenn man das Einzelereignis als Beobachtung charakterisieren darf, ein Verlagern der
470
Denn wenn man nicht sagen kann, daß man nicht meint, was man sagt, weil man dann nicht wissen Funktionsweise des Systems auf die Ebene der Beobachtung von Beobachtungen. Wenn man nur noch
kann, daß andere nicht wissen können, was gemeint ist, wenn man sagt, daß man nicht meint, was man sagt, Beobachter zu beobachten hat, liegt darin zunächst eine drastische Reduktion; aber zugleich eine Reduktion,
kann man auch nicht sagen, daß man meint, was man sagt, weil dies dann entweder eine überflüssige und die in jedem Falle die Option öffnet, ob man das Beobachtete dem Beobachter und seiner Unterscheidung
verdächtige Verdopplung ist oder die Negation einer ohnehin inkommunikablen Negation. Dies Paradox der zurechnen will oder dem, was er beobachtet. "Stimmt das", was gesendet wird, oder ist es durch ein
Kommunikation ist nicht zu vermeiden. Aber man kann es umgehen, auflösen, durch eine darauf abzielende besonderes Sendungsbewußtsein ausgewählt, stilisiert, verfälscht, erfunden? Auch hier kann man sich aber
Unterscheidung ersetzen. Dies leisten Einrichtungen, die wir symbolisch generalisierte nur durch Beobachtung von Beobachtungen, einschließlich eigener Beobachtungen, helfen.
Kommunikationsmedien nennen wollen. Im Ergebnis hat diese Situation die Semantik, mit der die Gesellschaft bewahrenswerten Sinn
reproduziert, tiefgreifend verunsichert. Das Vertrauen in feststehende Formen hat sich aufgelöst,
Wiederbelebungsversuche erweisen sich als vergebliche Mühe. Die Gesellschaft scheint dabei zu sein, neue
Eigenwerte auszuprobieren, die unter den Bedingungen von Heterarchie und Beobachtung zweiter Ordnung
VIII. Verbreitungsmedien: Zusammenfassung Stabilität versprechen. Und hierbei dürfte den Selektionen der Verbreitungsmedien eine ausschlaggebende
Rolle zufallen, denn sie jedenfalls sind mit einer heterarchischen Ordnung der Kommunikation kompatibel.
Wenn es in der Evolution der Verbreitungsmedien durchgehende Trends gibt, die mit der Erfindung der Eine zweite, ebenso weitreichende Folge der Evolution von Verbreitungstechnologien und entsprechender
Schrift beginnen und in den modernen elektronischen Medien ihren Abschluß finden, dann sind es, so können Medien liegt im Zurücktreten der Notwendigkeiten räumlicher Integration gesellschaftlicher Operationen. Wie
471
wir zusammenfassen, der Trend von hierarchischer zu heterarchischer Ordnung und der Verzicht auf unten näher zu erläutern sein wird , verstehen wir unter Integration die Einschränkung von Freiheitsgraden
räumliche Integration gesellschaftlicher Operationen. der Systeme. Schon die Schrift macht das Verstehen von, und die Reaktion auf, Kommunikation unabhängig
Während im Aufbau der gesellschaftlichen Differenzierung, in Reichsbildung, städtischer Vorherrschaft, von der Anwesenheit dessen, der sie mitteilt. Noch im Mittelalter war jedoch die semantische Evolution
Stratifikation auf hierarchische Ordnung gesetzt wird, arbeiten die Verbreitungsmedien bereits parallel dazu entscheidend davon abhängig, in welchen Bibliotheken welche Manuskripte aufbewahrt wurden und welche
an deren Delegitimation, oder genauer: an einem Alternativprojekt. Bei Hierarchien genügt es, die Spitze zu Zufälle Leser, die dadurch zu Ideen angeregt wurden, an die seltenen Manuskripte heranführten. Hier spielt
beobachten bzw. zu beeinflußen, weil man, mehr oder weniger mit Recht, davon ausgehen kann, daß sie sich denn in der Tat der Körper von Individuen und damit ihr Aufenthalt an bestimmten Orten eine wichtige Rolle.
durchzusetzen vermag. Heterarchien beruhen dagegen auf der Vernetzung unmittelbarer, jeweils an Ort und Das ändert sich nach und nach mit der Verbreitung gedruckter Schriften. Wenn im 18. Jahrhundert die
Stelle diskriminierender (beobachtender) Kontakte. Noch die Erfindung des Buchdrucks läßt diesen Gegensatz Integration der Gesellschaft der "öffentlichen Meinung" überlassen wird, so liegt darin letztlich ein Verzicht
von Hierarchie und Heterarchie als unentschieden erscheinen. In China und Korea dient die Druckpresse als auf räumliche Integration, wenn nicht auf Integration überhaupt. Denn "Öffentlichkeit" besagt ja nichts
Verbreitungsinstrument in Herrschaftsbürokratien. In Europa, das von Anfang an auf eine wirtschaftliche anderes als: Freigabe des Zugangs für beliebige Personen, also Verzicht auf Kontrolle des Zugangs, also
Ausnutzung und marktmäßige Verbreitung von Druckwerken gesetzt hatte, versucht man, den Konflikt über strukturelle Unbestimmtheit der räumlichen Integration.
Zensur zu lösen. Der Mißerfolg, der bei einer Vielzahl von Druckorten in unterschiedlichen Territorien und Räumliche Integration heißt: daß die Freiheitsgrade der Systeme, also die Menge der Möglichkeiten, die
auch bei rasch zunehmender inhaltlicher Komplexität gedruckter Kommunikation unvermeidlich war, zwingt sie realisieren können, abhängen von der Stelle im Raum, an der sie jeweils operieren, und damit von den
letztlich alle Hierarchien, auch die der Politik und die des Rechts, sich mit einer prinzipiell heterarchisch jeweils besonderen lokalen Bedingungen. Jede Änderung dieser Bedingungen, jede Bewegung kostet Zeit und
kommunizierenden Gesellschaft anzufreunden. Seit dem 18. Jahrhundert feiert man diesen Zustand als nimmt knappe Ressourcen in Anspruch. Man entsendet Boten, theorói im altgriechischen Sinne, um in
Oberhoheit der "öffentlichen Meinung". Was Differenzierungsformen betrifft, so entspricht dem der Übergang Erfahrung zu bringen, was an anderen Orten (zum Beispiel in Delphi) kommuniziert wird. Bis weit in die
zu funktionaler Differenzierung. Neuzeit und ihre Staatenwelt hinein dienen Raumzusammenhänge und -abgrenzungen zugleich als
Die moderne Computertechnologie führt einen wichtigen Schritt darüber hinaus. Sie greift auch die Abgrenzung von Experimentierfeldern für strukturelle Innovationen und damit der Minderung ihrer Risiken
472
Autorität der Experten an. Im Prinzip wird in nicht allzu ferner Zukunft jeder die Möglichkeit haben, die bei Ermöglichung ihrer Diffusion. Schon mit Schrift und Buchdruck und dann mit zunehmender
Aussagen von Experten wie Ärzten oder Juristen am eigenen Computer zu überprüfen. Sie mögen behaupten, Reisetätigkeit und mit auswärtigen Studien von Angehörigen der Oberschicht verlieren aber Raumdistanzen
es gäbe für die Wirksamkeit bestimmter Medizinen keine wissenschaftlichen Beweise — und man findet sie und Raumgrenzen ihren restringierenden Charakter. Landschaft wird zum Gegenstand "subjektiven"
doch. Oder es gäbe für bestimmte Rechtsfragen noch keine gerichtlichen Entscheidungen — und man findet Genusses, Heimat wird zum Thema 'nostalgischer' Klage. Mit dem Schwinden räumlicher Integration

469 470
Im Zusammenhang damit fällt auf, daß sich eine von Religion und Recht abgekoppelte, auf innere Akzeptanz Siehe für ein Teilsystem der modernen Gesellschaft Dirk Baecker, Information und Risiko in der Marktwirtschaft,
eingestellte, also voll individualisierte Moral entwickelt hat, die ihre Prinzipien oder Werte als "Ethik" deklariert, sich aber Frankfurt 1988.
zu Fragen der sozialen Koordination ethischer Perspektiven nicht mehr äußert. Vermutlich verläßt man sich hier, und der 471
Siehe Kapitel 4, ...
moralisch hochstandardisierte amerikanische Film könnte dies belegen, bereits heimlich auf eine Symbiose von Fernsehen
472
und Moral. Hierzu Alois Hahn, Identität und Nation in Europa, Berliner Journal für Sozialforschung 3 (1993), S. 193-203.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 143 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 144

entfallen auch die auf ihr beruhenden Sicherheiten. Der Aufenthalt an bestimmten Orten wird zu einem nahe, daß die Gesellschaft selbst seine Resultate mit positiven Prädikaten wie "Natur", "Vernunft", "Realität"
kontingent erfahrenen Resultat von Reisen, Umzügen, Wanderungsbewegungen, und die räumlichen auszeichnet und sich dazu dann allenfalls noch "kritisch" verhalten kann.
Sonderbedingungen, die man irgendwo und überall vorfindet, verlangen eine Anpassung des Verhaltens, der Die symbolisch generalisierten Medien sind eines der Resultate dieses Prozesses. Sie bilden, in einem
sich der Einzelmensch durch Beweglichkeit und durch Substitution anderer Bedingungen entziehen kann. sehr abstrakten Sinne, ein funktionales Äquivalent zur Moral. Sie konditionieren ihrerseits dann wieder die
Wenn dies zur gesellschaftlichen Normalbedingung geworden ist, muß auch die soziologische Theorie Annahme- bzw. Ablehnungswahrscheinlichkeiten. Während aber die Moral wegen ihrer Streitnähe und
dem angepaßt werden. Es wird dann unhaltbar, Systemgrenzen wie Ränder des Systems, wie Häute oder Gefährlichkeit präpariertes Terrain mit guten Plausibilitäten voraussetzt, werden symbolisch generalisierte
Membranen zu verstehen, mit denen das System sich gleichsam fortifiziert. Grenzen sind nicht Teile, man Medien ausdifferenziert, um gegen die Plausibilität zu motivieren. Das erklärt, daß die Moral zur
könnte fast sagen: Teilgebiete des Systems, während es außerdem noch "innere" Teile gibt, die davon Vereinheitlichung (und notfalls: zum Konflikt) tendiert, symbolische generalisierte Medien dagegen von
profitieren, daß sie keinen Kontakt mit der Umwelt haben. Vielmehr ist ein soziales System nichts anderes als vornherein in Mehrzahl und für problemspezifische Konstellationen entstehen. Für das Erreichen der
die eine Seite, die innere Seite, die operierende Seite der Form System, und mit jeder Operation des Systems Wahrscheinlichkeit von hochunwahrscheinlichen Sinnselektionen muß eine Mehrheit von darauf
wird die Distinktheit des Systems im Unterschied zur Umwelt reproduziert. Die Autopoiesis eines spezialisierten Codes ausgebildet werden. In Anlehnung an einen biologischen Sprachgebrauch könnte man
Sinnsystems ist nichts anderes als die Reproduktion dieser Differenz. auch von "adaptive polymorphism" sprechen.
Mit dem Ausdruck "symbolisch generalisiert" folgen wir einer im Anschluß an Parsons geläufigen
Formulierung, obwohl sie nicht in jeder Beziehung glücklich ist. Mit "symbolisch" zielt Parsons auf die
Differenz von Ego und Alter, also auf die Sozialdimension, mit "generalisiert" auf den Unterschied der
IX. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien I: Funktion Situationen, also auf die Sachdimension des jeweils prozessierten Sinnes. Der Gedanke ist (ähnlich wie bei
Wittgensteins Begriff der Regel), daß eine soziale Übereinstimmung nur erreicht werden kann, wenn die
Klassische Sozialtheorien haben auf die Frage, wie soziale Ordnung möglich sei, mit dem Hinweis auf zugrundegelegte Gemeinsamkeit für mehr als nur eine Situation Bestand haben soll. So viel können wir
normative Bedingungen geantwortet: auf Naturrecht, auf den Sozialkontrakt oder auf eine konsensfähige übernehmen. Im übrigen schließt jedoch die hier präsentierte Theorie der symbolisch generalisierten
Moral. Das gilt auch noch für die Soziologie, für Durkheim, für Parsons. Schon bei Parsons bahnt sich Kommunikationsmedien nicht an die Parsonssche Theorie der Interaktionsmedien (oder media of interchange)
475
allerdings eine Alternative an, die jedoch nicht freigegeben sondern dem normativen Sinn von Codes und an, die der Theoriearchitektur des AGIL-Schemas verpflichtet bleibt. Statt dessen gehen wir von der
shared symbolic values zugeordnet wird. Sie liegt in der Theorie der symbolisch generalisierten Medien. Annahme aus, daß das allgemeine Problem der Unwahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Kommunikation
Sobald man die Problemstellung reformuliert, die diesem Theoriesegment zugrundeliegt, kann man erkennen, durch die Codierung der Sprache nur strukturiert, aber nicht gelöst, sondern durch die klare Entgegensetzung
daß es um eine Alternative, um ein funktionales Äquivalent zur üblichen normativen Absicherung des von Annehmen oder Ablehnen eher noch verschärft wird. Der allgemeine Begriff des
Zusammenhalts der Gesellschaft geht (was natürlich nicht heißen kann, daß Normen durch Medien ersetzt Kommunikationsmediums ist auch auf diesen Fall anwendbar. Auch symbolisch generalisierte Medien sind
werden können). Medien insofern, als sie die Differenz von loser und strikter Kopplung voraussetzen und auf der Grundlage
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien dienen nicht (wie vor allem das Recht) primär der eines lose gekoppelten medialen Substrats Formbildungen ermöglichen. Es handelt sich jedoch weder einfach
Absicherung von Erwartungen gegen Enttäuschungen. Sie sind eigenständige Medien mit einem direkten um Sondersprachen noch um Verbreitungsmedien, sondern um einen Medientypus anderer Art: um eine
Bezug zum Problem der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. Sie setzen jedoch die Ja/Nein-Codierung andere Form, eine andere Art von Unterscheidung, um andersartige Codes. Bevor wir ins Detail gehen,
der Sprache voraus und übernehmen die Funktion, die Annahme einer Kommunikation erwartbar zu machen müssen daher diese Unterschiede geklärt werden.
in Fällen, in denen die Ablehnung wahrscheinlich ist. Sie entstehen erst, wenn es Schrift gibt und die Der Begriff "Symbol, symbolisch" wird, besonders seit dem 19. Jahrhundert, in einem sehr allgemeinen
Ablehnung von kommunizierten Sinnzumutungen damit nochmals wahrscheinlicher wird. Sie reagieren auf und diffusen Sinne gebraucht, oft nahezu gleichbedeutend mit "Zeichen". Damit würde er aber sich selbst
das Problem, daß mehr Information normalerweise weniger Akzeptanz bedeutet.
473 überflüssig machen. Um ihm einen präzisen Sinn zurückzugeben, wollen wir ihn beschränken auf den Fall,
Auch wenn der Sprachcode der Annahme und der Ablehnung eines Sinnvorschlags gleiche Chancen daß ein Zeichen die eigene Funktion mitbezeichnet, also reflexiv wird. Die eigene Funktion, das heißt: die
gibt, sich verständlich zu machen, wird man davon ausgehen können, daß ein angenommener Sinnvorschlag Darstellung der Einheit von Bezeichnendem und Bezeichnetem. Durch Symbolisierung wird also zum
größere Chancen hat, wiederholt zu werden, als ein abgelehnter. Die Kommunikation registriert einen Erfolg Ausdruck gebracht und dadurch kommunikativ behandelbar gemacht, daß in der Differenz eine Einheit liegt
und wird ihn, wenn die Wiederholung hinreichend naheliegt, erinnern.
474
Hinzu kommt, daß ein und daß das Getrennte zusammengehört, so daß man das Bezeichnende als stellvertretend für das Bezeichnete
angenommener Sinnvorschlag bessere Chancen der Generalisierung bietet, weil schon die annehmende (und nicht nur: als Hinweis auf das Bezeichnete) benutzen kann, in der Großen Tradition also: als
Kommunikation und sodann alle anschließenden Kommunikationen ihn in einen anderen Kontext übernehmen stellvertretend für das Heilige.
und ihn entsprechend adaptieren müssen. Annahme und Ablehnung lösen also unterschiedliche Rekursionen Im Kontext des Begriffs "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien" ist demnach mit
aus. Diese Überlegung erklärt, daß auf dem einen Weg, ausgelöst durch Ablehnungen, allenfalls Institutionen "symbolisch" (wie bei Parsons) gemeint, daß diese Medien eine Differenz überbrücken und Kommunikation
der Konfliktbewältigung entstehen, die auf unvorhersehbare Einzelfälle der Meinungsverschiedenheit und des mit Annahmechancen ausstatten. ausstatten. Sie begnügen sich nicht, wie die Sprache, damit, unter
Streites eingestellt sein müssen, während auf dem anderen Wege eine positive Semantik des akzeptierten
Sinnes entsteht, die in einem Prozeß der Wiederverwendung, der Verdichtung, der Abstraktion gleichsam reift. 475
Für den Bereich des sozialen Systems gibt es die von Stefan Jensen veranstaltete Ausgabe: Talcott Parsons, Zur Theorie
Damit ist durchaus nicht gesagt, daß auf diesem Entwicklungspfad "vernünftige" Ergebnisse erzielt werden, der sozialen Interaktionsmedien, Opladen 1980. Sie erfaßt jedoch nicht die Medien des Allgemeinen Handlungssystems.
denn die Evolution bleibt, wie immer, von Ausgangspositionen und Bifurkationen abhängig; aber es liegt Eine ausführliche Diskussion mit Anwendungsversuchen findet man in Teil IV der Parsons-Festschrift Explorations in
General Theory in Social Science, New York 1976. Für Fortführungen des Gedankens siehe etwa Richard Münch, Theorie
des Handelns: Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt 1982, S.
473 123 ff. und passim; Bernhard Giesen, Die Entdinglichung des Sozialen: Eine evolutionstheoretische Perspektive auf die
Als eine Spezialstudie zu diesem Problem der Undemokratie von Kommunikation vgl. Austin Sarat, Knowledge,
Postmoderne, Frankfurt 1991, S. 223 ff. Zum Vergleich siehe auch Jan Künzler, Medien und Gesellschaft: Die
Attitudes and Behavior, American Politics Quarterly 3 (1975), S. 3-24.
Medienkonzepte von Talcott Parsons, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, Stuttgart 1989. Einen vergleichbaren (aber
474
Ähnliche Überlegungen gibt es für erfolgreiche Züge in der evolutionären Spieltheorie. Vgl. D. Friedman, Evolutionary viel weniger ausgearbeiteten) Theorieanspruch verfolgt der Begriff des "capital symbolique" von Pierre Bourdieu. Siehe
Games in Economics, Econometrica 59 (1991), S. 637-666; P.H. Young, The Evolution of Conventions, Econometrica 61 z.B.: Ce que parler veut dire, Paris 1982, S. 68 ff. Hier wird jedoch, anders als bei Parsons, der wirtschaftsbezogene Begriff
(1993), s. 57-84; Gisèle Umbhauer, Evolution and Forward Induction in Game Theory, Revue internationale de systémique des Kapitals nur metaphorisch benutzt, und das gilt erst recht für die Vorstellung, das "capital symbolique" sei nach
7 (1993), S. 613-626. "Märkten" differenziert.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 145 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 146

hochkomplexen Bedingungen und einer erst ad hoc gewählten Kommunikation hinreichendes Verstehen Sprachcode als Struktur ihres Bezugsproblems voraus, sondern für das Ingangkommen ihrer
sicherzustellen. Das setzen sie voraus. Gerade das Verstehen macht es nun aber in vielen Fällen extrem Ausdifferenzierung Schrift und für ihre Vollentwicklung, wie wir zeigen wollen, auch den Buchdruck.
unwahrscheinlich, daß die Kommunikation angenommen wird — zum Beispiel bei unwahrscheinlichen Auf die Alphabetisierung der Schrift und auf die dadurch erreichte Ausbreitung der Schriftbeherrschung
Behauptungen, bei Abgabezumutungen, bei willkürlichen Verhaltensanweisungen. Wäre man hier allein auf hat man in der klassischen Epoche Griechenlands auf zwei verschiedene Weisen reagiert, ohne deren Differenz
Sprache angewiesen, wäre der Mißerfolg erwartbar und die entsprechende Kommunikation würde zu thematisieren. Die Frage war akut geworden, wie zur Annahme von Kommunikation motiviert werden
unterbleiben. Die Sprache selbst kann, mit anderen Worten, allein aus sich heraus nur einen geringen Teil des könne, wenn deren Selektivität sichtbar ist und nicht mehr bestritten werden kann. Wie bereits angedeutet, lag
linguistisch Möglichen realisieren. Alles andere würde einem Entmutigungseffekt zum Opfer fallen, gäbe es der eine Ausweg in der Verstärkung der Überredungs- oder Überzeugungsmittel mündlicher Kommunikation.
nicht Zusatzeinrichtungen anderer Art. Symbolisch generalisierte Medien transformieren auf wunderbare Auf diesem Wege kam es im Laufe der Zeit, für das Mittelalter vermittelt vor allem durch Cicero und
Weise Nein-Wahrscheinlichkeiten in Ja-Wahrscheinlichkeiten — zum Beispiel: indem sie es ermöglichen, für Quintilian, zu einer Allianz von Rhetorik, Topik und Moral. Die in der Rede zu verwendenden Gesichtspunkte
477
Güter oder Dienstleistungen, die man erhalten möchte, Bezahlung anzubieten. Sie sind symbolisch insofern, (topoi, "Gemein"-Plätze) mußten, und das war zu lehren und zu lernen, gefunden und amplifiziert werden.
als sie Kommunikation benutzen, um das an sich unwahrscheinliche Passen herzustellen. Sie sind zugleich Da diese Begriffe zunächst Leistungen des Sprechers bezeichneten, hatte sich eine artistische
aber auch diabolisch insofern, als sie, indem sie das erreichen, neue Differenzen erzeugen. Ein spezifisches Behandlungsweise aufgedrängt. Achtet man genauer auf Sinn und Funktion dieser Begriffe, dann sieht man,
Kommunikationsproblem wird durch ein Neuarrangieren von Einheit und Differenz gelöst: Wer zahlen kann, daß hier noch eine Einheit von Kognition und Motivation vor Augen stand — also eine Lösung des Problems
478
bekommt, was er begehrt; wer nicht zahlen kann, bekommt es nicht. einer Motivation durch Selektion. Für die Ausführung war dann (im Gegensatz zur sophistischen Lehre) die
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien koordinieren, um dies mit anderen Worten zu Struktur von Wahrheit und Moral ausschlaggebend. Sie konnte nur auf der guten Seite der Welt gelingen, da
wiederholen, Selektionen, die sich nicht ohne weiteres verknüpfen lassen und insofern zunächst als eine lose Wahrheiten (wie auch Tugenden) einander stützen, Irrtümer dagegen (wie auch Laster) einander bekämpfen.
gekoppelte Menge von Elementen gegeben sind - Selektionen von Informationen, Mitteilungen und Deshalb hielt man Sachkunde und eigene Tugend des Redners für wichtiger als irgendwelche Tricks. Und
Verstehensinhalten. Sie erreichen eine strikte Kopplung nur durch die für das jeweilige Medium spezifische zwar wichtiger für Amplifikation.
Form — etwa Theorien, Liebesbeweise, Rechtsgesetze, Preise. Sie müssen nicht nur symbolisch Der Buchdruck wird diesem Syndrom von Rhetorik, Topik und Moral und damit auch dem
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funktionieren, sondern (wie die eben gegebenen Beispiele zeigen) auch generalisiert sein, da die Amplifizieren ein Ende bereiten, da er zu viel Komplexität gleichzeitig sichtbar macht. Aber dies dauert
480
entsprechenden Erwartungen im Vorgriff auf weitere Autopoiesis nur gebildet werden können, wenn die Form noch gut zweihundert Jahre. Zunächst bringt das gedruckte Buch die alte Form zu neuer Blüte. Nach wie
mehrere verschiedene Situationen übergreift. Selbst ein Liebesbeweis zählt nicht nur für den nächsten Moment vor stützt die Amplifikation sich darauf, daß das Allgemeine für hochwertiger gilt als das Besondere. Nach
und keinesfalls, wenn er in immer derselben Form angeboten wird. Immer geht es letztlich darum, wie vor lenken die Topoi die Motivation in die Richtung von sachlich, zeitlich und sozial kongruenten
Kommunikation durch hinzugesetzte Annahmechancen zu ermutigen, ja zu ermöglichen, und damit ein Generalisierungen. Nach wie vor wurde die wichtige Kommunikation moralisch dichotomisiert, also in ein
Terrain für Gesellschaft zu gewinnen, das anderenfalls infolge natürlicher Unfruchtbarkeit unbeackert bliebe. mündlich leicht zu behandelndes Schema gebracht. Nach wie vor bestätigte dies Mahnen und Lehren sich
Die Leistung dieser Medien und der für sie typischen Formen kann man deshalb auch als laufende selbst in dem Anliegen, Tugenden zu loben, Laster zu tadeln und Passionen als Störung zu behandeln. Die
Ermöglichung einer hochunwahrscheinlichen Kombination von Selektion und Motivation beschreiben. Amplifikation der Kommunikation dient der Amplifikation der Moral und umgekehrt. Noch die umfangreiche
Diese Begriffe bezeichnen hier aber nicht psychische Zustände (was der Zahlende bei der Hingabe von Geld Diskussion des 16. Jahrhunderts über das Verständnis von Historik und Poetik setzt eine epideiktische,
empfindet, ist für den Kommunikationserfolg irrelevant), sondern soziale Konstruktionen, die mit der amplifizierende Funktion beider Darstellungsweisen voraus. Die "Helden" der Literatur mußten wie
476
Unterstellung entsprechender Bewußtseinszustände auskommen. Sie werden in der Kommunikation selbst Gemeinplätze funktionieren, denn ihre Individualisierung hätte ihre amplifizierende Funktion gestört.
durch Rekursion realisiert. Daß Kommunikationen akzeptiert werden, heißt also nur: daß ihre Annahme als Überhaupt war nicht vorgesehen, daß der Einzelne, mit den Platitüden der topoi konfrontiert, bockig werden
Prämisse der weiteren Kommunikation zugrunde gelegt wird, was immer im individuellen Bewußtsein dabei und ins eigene Ich zurückschnellen würde. Nach und nach werden aber auch Gegentendenzen sichtbar (etwa
vor sich gehen mag.
Das kombinatorische Problem wird durch Auflösung des zirkulären Verhältnisses von Selektion und
477
Motivation (jede bedingt die andere) gelöst, und zwar dadurch, daß die Konditionierung der Selektion zum Es mag mit einem modernen Unverständnis für das der amplificatio zugrunde liegende Problem zusammenhängen oder
Motivationsfaktor gemacht wird. Man kann eine zugemutete Kommunikation annehmen, wenn man weiß, mit Einseitigkeiten in der Behandlung durch die Philosophie - wie immer, in der modernen Wiederbelebung des Interesses
an Topik und Rhetorik wird inventio viel mehr herausgestellt als amplificatio. Siehe z.B. Lothar Bornscheuer, Topik: Zur
daß ihre Auswahl bestimmten Bedingungen gehorcht; und zugleich kann derjenige, der eine Zumutung
Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt 1976. Bereits die klassische Literatur (siehe z.B. Marcus Fabius
mitteilt, durch Beachtung dieser Bedingungen die Annahmewahrscheinlichkeit erhöhen und sich selbst damit Quintilianus, Institutionis oratoriae VIII, 4) gibt der amplificatio nicht den Rang, der ihr gebührt. Das Historische
zur Kommunikation ermutigen. Damit wird jenes Doppelproblem der Täuschung und der Akzeptanz zugleich Wörterbuch der Philosophie enthält einen ausführlichen Artikel zu inventio, aber keinen zu amplificatio, sondern nur zu
gelöst, oder doch normalisiert. Man erhöht die Sicherheit, daß jene Bedingungen beachtet werden, obwohl sie (logisch) ampliatio. Vielleicht scheut man die Wahrheitsprobleme des Amplifizierens. Achtet man dagegen auf die
ihrerseits hochselektiv sind und keineswegs jede gewünschte Konstellation abdecken, man signalisiert diese kommunikative Funktion, kommt man zu der umgekehrten Einschätzung.
Selbstfestlegung durch den Gebrauch der entsprechenden Symbole, die den Gebrauch des Mediums bezeugen, 478
Immerhin stellt die ausgearbeitete Tradition dafür schon zwei Begriffe zur Verfügung, nämlich opinio und admiratio, so
und verdient sich auf diese Weise die Aussicht auf Annahme der Kommunikation. Man beruft sich zum als ob deren Trennung schon vorprogrammiert wäre. "To amplify and to illustrate are two chiefest ornaments of eloquence,
Beispiel auf Wahrheit. Oder man manipuliert Herrschaftssymbole (heute vorzugsweise: die and gain of men's minds to the chiefest advantages, admiration and belief", heißt es bei John Hoskins, Directions for
Rechtsunterworfenheit der Macht selbst) auf eine Weise, die überlegene, durchsetzungsfähige Macht sichtbar Speech and Style (1599), zit. nach der Ausgabe Princeton N.J. 1935, S. 17. Dabei ist "admiratio" eine Art Passion (und
insofern ein Motivfaktor), die der hierarchischen Struktur der Gesellschaft entspricht und zwar, wie noch Descartes (Les
werden läßt. Gemessen an der riesigen Zahl sprachlicher Kommuniktionsmöglichkeiten haben Bedingungen, passions de l'ame, Art. 53, zit. nach: OEuvres et Lettres, éd. de la Pléiade, Paris 1952, S. 723 f.) betonen wird, eine
die Selektion und Motivation aneinanderkoppeln, Ausnahmecharakter. Sie dürfen gleichwohl nicht zu selten Passion, die im Unterschied zu allen anderen keine gegenteilige Regung in sich enthält, also vor jeder binären Codierung
vorkommen, denn sonst würde keine Erwartungsbildung, keine Sozialisation, keine auf sie bezogene aktivierbar ist. Eine admiratio erregende Kommunikation bewirkt also ein ungeschiedenes Verstehen und Akzeptieren.
Systembildung einsetzen können. Zur Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien 479
Wir wollen nicht behaupten, daß dies die einzige Ursache gewesen ist. Sicher kommen weitere Erfahrungen hinzu — so
kann es daher nur in hinreichend großen, komplexen Gesellschaften kommen. Sie setzen deshalb nicht nur den die nur noch politische Lösbarkeit des Religionskonfliktes, die entsprechende Festigung der Konfessionsspaltung, die
Kritik am Unterricht der Lateinschulen und die zunehmende Ausdifferenzierung von Funktionssystemen mit eigenen
Motivierleistungen.
480
Hierzu reichhaltig: Joan Marie Lechner, Renaissance Concepts of the Common Places, New York 1962, Nachdruck
476
Wir erinnern hier an das, was oben (Kap. 1....) über strukturelle Kopplung gesagt ist. Westport Conn. 1974.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 147 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 148

Montaignes Essais). Amplifikationen, "which are in effect nothing else but either exaggerations, or In einem ganz anderen Problemkreis führt die Semantik, die sich an das ebenfalls neu geschaffene Wort
481 489
cumulations of reasons" , rücken in ein zweideutiges Licht, und der Buchdruck beginnt seine Sabotage philía ankristallisiert. Es wird üblicherweise mit Freundschaft übersetzt, man könnte aber bei größeren
damit, daß er die einst so begehrte Menge (copia) der topoi als Überfluß und Überdruss reproduziert und Zusammenfassungen auch an Solidarität denken. Anders als in Rom ist in Athen mit den
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schließlich der Semantik von copia/copie/copy die heutige negative Färbung gibt. archaisch-segmentären Strukturen des Adels bereits früh gebrochen worden. Das archaische Ethos hatte
Aber: wenn es so nicht mehr geht, wie geht es dann? verlangt, daß man Sympathie und Engagement für das aufbringt, was einem nahesteht: Waffen, Tiere,
Die Alternative sehen wir in der Entwicklung und Differenzierung symbolisch generalisierter Frauen, Götter eingeschlossen (und philós hatte ursprünglich genau dies bedeutet), während Fernerstehende
Kommunikationsmedien. Auch sie läßt sich in ihren Anfängen auf Anstöße zurückführen, die die eher indifferent und willkürlich behandelt werden konnten. Dazu kam die stadtpolitische Regel, daß man
alphabetische Schrift gegeben hatte. Wir kehren daher zu den griechischen Quellen zurück. Freunde seiner Freunde als Freunde und Feinde seiner Freunde als Feinde zu behandeln habe — eine Regel,
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Offenbar hatte die Ausbreitung der Schriftkultur einerseits die Möglichkeit artifizieller Neubildung von die in Rom noch aktuell war, als Cicero de amicitia schrieb. Als philía wird Freundschaft aus diesen
Worten geboten und andererseits es nahegelegt, dies entsprechenden Terminologien nach unterschiedlichen archaisch-gentilizischen Strukturen ausdifferenziert und zugleich generalisiert als eine allgemeine, auf die
483 492
Problemen zu differenzieren, um damit neuartige Überzeugungsmittel beschreiben zu können. Wir wollen, Gesellschaft bezogene Idee der Zusammengehörigkeit. Der Gegenbegriff der Feindschaft tritt zurück (das
um diesen Zusammenhang herzustellen, die wichtigsten Neuerungen kurz vorstellen. heißt: es bildet sich ein Code: Freund oder nicht) und das Problem der Kriterien für die Wahl von Freunden
Was zunächst Wissen betrifft, verfügt die griechische Sprache schon in homerischer Zeit über ein tritt in den Vordergrund. Das Nahestehen ist dann nicht mehr Bedingung der Freundschaft, sondern Folge der
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Kunstwort — alétheia —, mit dem das Verdecktsein, Verborgensein, Vergessenwerden negiert wird. Es Wahl eines Freundes. Die allgemeine gesellschaftliche Sozialität bleibt vorausgesetzt, aber in sie wird
geht also nicht um einen Zustand, sondern um das Resultat einer Bemühung. In der mündlichen Tradition war Freundschaft als Intensivform eingebaut. Dann kann der Begriff auf Tiere, aber auch auf Götter nicht mehr
Wahrheit damit an Rhythmus und an dadurch erleichterte Erinnerung gebunden und konnte nur so dem angewandt werden. Der Anwendungsbereich wird eingeschränkt und durch eine darauf spezialisierte
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Vergessen entwunden werden, nur so Wahrheit sein. Bei der Übernahme in die Schriftkultur blieb diese Unterscheidung strukturiert, nämlich die seit Aristoteles traditionsbestimmende Unterscheidung von
Assoziation zu Machbarkeit (téchne, poíesis, sophía) bis ins "Könnens-Bewußtsein" (Christian Meier) der Nutzfreundschaften, Lustfreundschaften und Tugendfreundschaften. Und auch Ansprüche an rücksichtslose
klassischen Zeit erhalten. Aber wenn Wahrheit selbst schon eine Negation ist: wie soll man das dann wieder Primärorientierung dieses Code tauchen auf — etwa in der Frage, ob Freundschaft gerechter sei als
negieren können, um zu einer Codierung nach wahr/unwahr zu kommen? Gerechtigkeit; oder in der Frage, ob man vom Freunde auch Hilfe beim Rechtsbruch, bei einer
Auch die Gegenbegrifflichkeit — vor allem pseûdos — ist zunächst interaktionsbezogen und dialoghaft Tempelschändung oder ähnlichen Untaten erwarten dürfe.
gemeint. Es geht um Wahrhaftigkeit oder Lüge, um richtige oder falsche Wiedergabe von Wissen. Es gibt, Die auf Wirtschaft spezialisierte Kommunikation hatte sich immer schon auf Eigentum bezogen und
anders gesagt, ursprünglich nur diese Verhaltensorientierung, aber keine Vorstellung einer Eigentumsübertragungen in der Form des Tausches praktiziert. Eine neue Situation entsteht mit der Erfindung
verhaltensunabhängigen Beziehung von Aussage und Wirklichkeit. Die korrekte Präsentation der Wirklichkeit und Ausbreitung von Münzgeld, zunächst in Lydien, dann in Griechenland seit dem 7. Jahrhundert vor
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ist eine Verhaltenspflicht, und das entgegengesetzte Verhalten verstößt gegen diese Pflicht, ist unüberlegte Christus. Die Prägung gibt dem Geld eine leicht erkennbare Sonderform und macht es vom Sinn einer
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Äußerung, wenn nicht Lüge. relativ generell verwendbaren Ware unabhängig. Münzgeld verbindet erstmals Fernhandel und lokalen Handel
Erst mit Hilfe der Schrift lassen sich Themen so objektivieren, daß über sie kontrovers diskutiert werden und vermag in der Form von "Tyrannis" vorübergehend auch Politik und Wirtschaft in einen wirtschaftlichen
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kann. Vermutlich auf Grund solcher Dialoge gewöhnt man sich an eine Beobachtung zweiter Ordnung, die Kreislauf zu integrieren. Zwar bleibt die Rücksicherung im Metallwert noch für zweieinhalb Jahrtausende
sich vorbehält, noch zu prüfen, ob ein für wahr gehaltenes Wissen richtiger- oder fälschlicherweise als Wissen unentbehrlich. Aber die Rücknahmegarantie durch den Hersteller des Geldes kann entfallen. Aus der zunächst
487
angenommen wird. Damit ist dann auch ein Kommunikationsproblem ausdifferenziert, das eigene palastwirtschaftlichen bzw. auf Handelshäuser bezogenen Geltung kann eine marktwirtschaftliche Geltung
Unterscheidungen, zum Beispiel strenges Wissen und Meinung (epistéme/dóxa) benutzt, die in keinem entstehen, und damit wird das Geld verfügbar für das Motivieren zur Hergabe von Sachen und zum Erbringen
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anderen Sinnbereich auftauchen. von Dienstleistungen, die anderenfalls unterbleiben würden.

489
Zur Wortgeschichte Franz Dirlmeier, ΦΙΠΟΣ und ΦΙΠΙΑ im vorhellenistischen Griechentum, Diss. München 1931;
481 Manfred Landfester, Das griechische Nomen "philos" und seine Ableitungen, Hildesheim 1966. Zu lateinisch amicitia vgl.
So Thomas Wright, The Passions of the Minde in Generall, London 1630, Nachdruck Urbana I11. 1971, S. 191.
auch J. Hellegouarc'h, Le vocabulaire latin des relations et des partis politiques sous la republique, Paris 1963, insb. S. 42
482
Vgl. dazu Walter J. Ong, The Presence of the Word a.a.O. S. 79 ff. ff., 142 ff.
483 490
Ein ähnliches Argument bei Jack Goody / Ian Watt, The Consequences of Literacy, Comparative Studies in Society and Heute wird überdies angenommen, daß sie in der griechischen Stadt schon immer eine vergleichweise geringe
History 5 (1963), S. 304-345. Siehe auch Jack Goody, Literacy in Traditional Society, British Journal of Sociology 24 Bedeutung besessen hatten, so daß der Unterschied zu Rom seit langem vorbereitet gewesen war. Siehe Denis Roussel,
(1973), S. 1-12; ders., Literacy, Criticism, and the Growth of Knowledge, in: Joseph Ben-David / Terry N. Clark (Hrsg.), Tribu et Cité: Etudes sur les groupes sociaux dans les cités grecques aux époques archaïques et classiques, Paris 1976;
Culture and its Creators: Essays in Honor of Edward Shils, Chicago 1977, S. 226-243. Felix Bourriot, Recherches sur la nature du genos, Lille 1976.
484 491
Im Sprachenvergleich gesehen eine sehr ungewöhnliche Wortbildung. Vgl. dazu Jean-Pierre Levet, Le vrai et le faux Laelius galt damals in Rom als Symbolfigur der Gegenposition, die auch Freundschaft mit (politischen) Feinden seiner
dans la pensée grecque archaïque: Etude de vocabulaire, Bd. 1, Paris 1976, insb. S. 80 ff. (politischen) Freunde für möglich hielt, also Freundschaft gegen Politik differenzierte und privatisierte. Hierzu Fritz-Arthur
485 Steinmetz, Die Freundschaftslehre des Panaitios, Wiesbaden 1967. Vgl. auch Horst Hutter, Politics as Friendship: The
Siehe Berkley Peabody, The Winged Word: A Study in the Technique of Ancient Greek Oral Composition as Seen
Origins of Classical Notions of Politics in the Theory and Practice of Friendship, Waterloo, Ont., Canada 1978.
Principally through Hesiod's Works and Days, Albany N.Y. 1975.
492
486 Zu philía als Folge der Entdeckung der Freiheit und damit gegebener stadtinterner Differenzierungsmöglichkeiten
Dieser Qualitätsunterschied könnte auch erklären, weshalb die indogermanischen Sprachen für Wahrheit und für Lüge
unabhängig von den Geschlechtern vgl. auch Jean-Claude Fraisse, Philia, La notion d'amitié dans la Philosophie antique:
unterschiedliche Wortstämme benutzen. Lüge ist mehr als eine unwahre Aussage. Und nur deshalb konnte man das alpha
Essai sur un problème perdu et retrouvé, Paris 1974.
privativum benutzen, um Wahrheit zu bezeichnen.
493
487 Vgl. Fritz Heichelheim, Die Ausbreitung der Münzewirtschaft und der Wirtschaftsstil im archaischen Griechenland,
Daß damit eine für die Folgezeit maßgebende Indirektheit des "Seinsbezugs" erreicht ist, wird man Heidegger zugeben
Schmollers Jahrbuch 55 (1931), S. 229-254; Michael Hutter, Communication in Economic Evolution: The Case of Money,
können. Seine Schuldsprechung — Platon! — wird sich kaum halten lassen. Speziell hierzu Paul Friedländer, Platon, Bd.
in: Richard W. England (Hrsg.), Evolutionary Concepts in Contemporary Economics, Ann Arbor Mich. 1994, S. 111-136.
1: Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit, 3. Aufl. Berlin 1964, S. 233 ff.
494
488 Vgl. Michael Hutter, Die frühe Form der Münze, in: Dirk Baecker (Hrsg.), Probleme der Form, Frankfurt 1993, S. 159-
Zur Rückführung auf den mit Geld und Schrift vertrauten Poeten Simonides von Keos vgl. Marcel Detienne, Les maîtres
180.
de vérité dans la grèce archaïque, 3. Aufl. Paris 1979, S. 105 f. Für die weitere Geschichte der Unterscheidung wichtige
495
Passagen finden sich in Platons Republik VI, XX-XXI. Speziell hierzu Peter N. Ure, The Origin of Tyranny, Cambridge Engl. 1922.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 149 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 150
501
Etwas schwieriger ist es, die Ausdifferenzierung eines Sondermediums für politische Macht mit einer beherrschte. Auch gab es keine über die Einzelstadt hinausgehende Organisation von Priesterschaften (wie
502
darauf spezialisierten Semantik zu beurteilen, und zwar gerade wegen der überreichen Terminologie. Die Kirchen). Ob man so weit gehen kann, die Religion in Griechenland als Privatangelegenheit zu bezeichnen ,
institutionelle, rollenmäßige, rechtsförmige Ausdifferenzierung ist hier am weitesten fortgeschritten, aber der mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls war es nicht zu einer auf Schrift eingestellten Religionsbildung
damit gewonnene Aufmerksamkeitswert führt dazu, daß diese Strukturen mit der Stadt selbst identifiziert gekommen. Vielmehr hatte die Schriftkultur sich an dem, was an Religion vorlag, einfach vorbeientwickelt,
werden. Es gibt entscheidungsfähige Ämter und Versammlungen. Die Begriffe brauchen dem nur zu folgen. und erst in den hellenistischen Reichen der Spätzeit war es dann zu neuen mystischen Kultformen gekommen,
Es kommt zu ausgefeilten Überlegungen über die Leitgesichtspunkte der städtischen Ordnung, namentlich die gegen Schrift resistent zu sein versuchten, und schließlich zur Glaubensreligion des Christentums, die als
isonomía und homónoia, und über ihre Bedeutung für Rechtsbildung und Demokratie. Die Diskussion wird neue Religion sich mit Hilfe kanonisierter Texte ausbreiten konnte.
durch die Ersetzung von thémis durch nómos markiert, die ihrerseits eine (damals noch nicht hierarchisch Daß es bereits in der Antike zur Vollentwicklung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien
496
verstandene) Unterscheidung von phýsis und nómos ermöglicht. Die Ausdifferenzierung politischer gekommen ist, wird man gleichwohl nicht behaupten wollen. Um hierüber urteilen zu können, müssen wir
Rechtsprinzipien, die dann aber die Herstellung einer entsprechenden Ordnung erfordern, ist vor allem an der jedoch erst einmal die Anforderungen skizzieren, zu denen auch gehört, daß diese Medien eine Autokatalyse
Wendung gegen Einflüssse zu erkennen, die der Stratifikation und (wie man wohl hinzufügen darf) den von Funktionssystemen einleiten. Immerhin fällt auf, daß, um einen Begriff der Evolutionstheorie hier schon
497 503
Freundschaftsnetzen entstammen. Trotz Stratifikation soll Gleichheit vor dem Gesetz gelten. Das alles kann vorwegzunehmen , bedeutende Vorentwicklungen geleistet waren; und wir können auch bemerken, daß sie
nur für die Ausübung politischer Macht gelten und nicht als Maxime der Begründung von Wissen oder der die Bezugsprobleme herausgegriffen hatten, die sich später als Leitprobleme einer Medienentwicklung
Wahl von Freunden. Aber da dies mit Bezug auf die Errungenschaft des städtischen Lebens formuliert wird, erwiesen haben: Wahrheit, Liebe, Macht/Recht und Eigentum/Geld.
war die Terminologie einerseits viel differenzierter als in den anderen Fällen, andererseits aber auch stärker an Zunächst hatten die dafür gewählten Formen allerdings deutliche Beschränkungen hinzunehmen, die sich
498
die Selbstbeschreibung der Gesellschaft gebunden, an die "politische Identität" der Griechen. daraus ergaben, daß sie für eine historisch bestimmte Gesellschaft entwickelt wurden und mit deren Welt- und
Wird in der politischen Semantik zu wenig, so wird im Bereich von Eigentum und Gelderwerb zu stark Selbstbeschreibungen harmonieren mußten. Die (im Vergleich zu den strukturellen Gegebenheiten auffällige)
gegen die Selbstbeschreibung des (städtischen) Gesellschaftssystems differenziert. Teils disponiert die Überbewertung des Politischen mit der Definition der Gesellschaft als politischer Gesellschaft findet hier ihre
Unterscheidung von oíkos und pólis zu dieser Schieflage. Sie schließt es aus oder läßt es in griechischen Ohren Erklärung ebenso wie, auf der anderen Seite, die Reduktion des Ökonomischen auf Haus und Handel. Aber
499
paradox klingen, von "politischer Ökonomie" zu sprechen. Teils finden wir die für Adelsgesellschaften auch im philía-Bereich findet sich eine entsprechende Formanpassung: Die "höchste" Variante von
typische Unterbewertung des Handels, und nicht zuletzt die Möglichkeit politischer Geldbeschaffung, etwa in Freundschaft ist die Tugendfreundschaft, die sich an den Erfordernissen des städtisch-politischen
der Form von Tributen. Das entspricht keineswegs den strukturellen Differenzierungen des Zusammenlebens ausrichtet. Und das, was als Wahrheit Anerkennung finden kann, ist durch die zweiwertige
500
Gesellschaftssystems, die besonders in Athen sehr weit fortgeschritten waren , und entsprechend gibt es eine Logik und die ihr entsprechenden Ontologie bestimmt, durch ein Arrangement von relativ geringem
auf Geldwirtschaft bezogene Terminologie, die nicht in ihrer Eigenständigkeit, sondern nur in der Bewertung Strukturreichtum also, mit dem man, ohne es in dieser Logik wissen und sagen zu können, den
der entsprechenden Tätigkeiten vom vorherrschenden Gesellschaftsverständnis beeinflußt bleibt. kommunikativen Beschränkungen des Beobachtens von Beobachtungen in dieser Gesellschaft Rechnung trug.
Im Rückblick gesehen leuchten diese Differenzierungen ein. Es ist gut zu verstehen, daß zum Beispiel Wir kommen auf diese Beschränkungen und ihre Strukturabhängigkeiten im 5. Kapitel zurück.
Wahrheit und Liebe unterschieden werden müssen, denn die Liebe würde die Wahrheit ebenso stören wie die
Wahrheit die Liebe. Vor der Evolution einer entsprechenden Semantik war jedoch gerade das Gegenteil
plausibel gewesen. Mußte man nicht den Aussagen von Nahestehenden mehr vertrauen als irgendwelchen
anderen? Es bleibt daher einer Frage, die letztlich an die Evolutionstheorie zu richten wäre: wie ein solcher X. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien II: Differenzierung
Umbruch von Plausibilitäten passieren konnte. Wir können nur einige Vermutungen anbieten.
Daß eine so weitgehende, problembezogene Diversifikation von semantischen Formen überhaupt Wir unterbrechen jetzt die historische Darstellung und kehren zu einer systematischen zurück, denn noch
möglich gewesen ist, mag durch die Ausbreitung der alphabetischen Schrift veranlaßt gewesen sein, ist aber fehlt uns jede Begründung für die Verschiedenheit und Differenzierung der symbolisch generalisierten
allein dadurch nicht zu erklären. Es kommt hinzu, daß es in den griechischen Städten nicht zu jener mächtigen Kommunikationsmedien.
Allianz von Religion und Moral gekommen war, die in anderen Hochkulturen das öffentliche Leben Um die Formen der Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien analysieren
zu können, müssen wir zunächst daran erinnern, daß es um das Spezialproblem einer unwahrscheinlich
496 gewordenen Verknüpfung von Selektion und Motivation geht. Unter diesem Gesichtspunkt sind alle
Diese Umbenennung macht das politikbedingte Kontingentwerden des Rechts sichtbar, vergleichbar dem
verhaltensbezogenen Wahrheitsverständnis. Siehe für die förmlichen Gesetzesbezeichnungen (thesmós, nómos) Martin symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien funktional äquivalent. Eben diese Gesichtspunkt
Ostwald, Nomos and the Beginning of Athenian Democracy, Oxford 1969; Jaqueline de Romilly, La loi dans la pensée erfordert aber auch eine Repräsentation des Problems, die sich nicht damit begnügen kann, die Komponenten
Grecque des origines à Aristote, Paris 1971, S. 9 ff. Vgl. ferner Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den jeder Kommunikation, also Information, Mitteilung und Verstehen, erneut zu bezeichnen. Es bedarf, daran
Griechen, Frankfurt 1980, S. 305 ff. anknüpfend, anderer Formen, und es sind diese Formen, die die Spezifikation und Differenzierung der
497
Vgl. dazu de Romilly a.a.O. S. 11 f., 20 f. unter Hinweis auf Euripides, Hiketides (Die Schutzflehenden) 432. Dort heißt symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien erzeugen.
es: Hierzu werden Formen der Selbstbeobachtung des Kommunikationsprozesses benutzt. Zunächst einmal
"Doch wurden die Gesetze schriftlich festgelegt, genießt der Arme wie der Reiche gleiches Recht; die freie Rede steht muß das Unwahrscheinlichkeitsproblem in die Sozialform der "doppelten Kontingenz" gebracht werden, die
dem Armen zu wie dem vom Glück Gesegneten, wenn er beleidigt wird, und hat er recht, besiegt der wir mit den Positionsbegriffen Ego und Alter bezeichnen. Warum? Die normale Antwort lautet, daß Ego und
kleine Mann den Großen." Alter sowieso schon existieren, daß sie verschiedene Menschen sind, die hin und wieder miteinander
(Deutsche Fassung nach Dietrich Ebener, Euripides, Tragödien Bd. III, Berlin 1976, S. 219)
kommunizieren. Wer nur das meint, sollte die Terminologie Ego/Alter vermeiden, die gerade zum Ausdruck
498
Siehe dazu den Beitrag von Christian Meier zum Artikel Macht, Gewalt, in: Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches
501
Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 817-935 (820 ff.). Zum Fehlen einer systematischen Orthodoxie und zur Freiheit der Kritik üblicher magischer und religiöser
499 Vorstellungen vgl. G.E.R. Lloyd, Magic, Reason and Experience in the Origin and Development of Greek Science,
Siehe Peter Spahn, Die Anfänge der antiken Ökonomie, Chiron 14 (1984), S. 301-323.
Cambridge 1979, S. 10 ff.
500
Siehe hierzu S.C. Humphreys, Evolution and History: Approaches to the Study of Structural Differentiation, in: J. 502
So Humphreys a.a.O. S. 353.
Friedman / M.J. Rowlands (Hrsg.), The Evolution of Social Systems, Pittsburgh 1978, S. 341-371, vor allem im Hinblick
503
auf das Verhältnis von Politik, Wirtschaft und Religion. Vgl. Kap. 3,....
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 151 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 152
509
bringen will, daß jeder Mensch immer beides ist, wenn (und nur wenn) er sich an Kommunikation beteiligt. zugerechnet wird, wollen wir von Handlung sprechen, wird sie der Umwelt zugerechnet, von Erleben.
Warum aber, präziser gefragt, die Verdoppelung? Unsere Antwort lautet, daß die Selbstreferenz sozialer Entsprechend unterscheiden sich die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien danach, ob sie die
Systeme eine immanente Dualität zur Voraussetzung hat, damit ein Zirkel entstehen kann, dessen beiden sozialen Positionen Ego und Alter als erlebend oder als handelnd voraussetzen. Beide
Unterbrechung dann Strukturen entstehen läßt. Ranulph Glanville postuliert dieses Prinzip, angeregt durch Unterscheidungen präsentieren kein Alltagswissen. Es geht nicht um eine vollständige Klassifikation der
504
den Thermostaten, der nur kontrollieren kann, weil er sich kontrollieren läßt, für Objekte schlechthin. Das Phänomene. Die Festlegung der Zurechnung auf Erleben bzw. Handeln und die Markierung der Beteiligung
können wir hier unentschieden lassen. Für soziale Systeme ist es evident, daß sie eine selbstkonstituierte als Ego bzw. Alter (mit Bezug auf Personen, die immer beides sind) findet nur statt, wenn sie gebraucht wird.
505
Zweiheit brauchen, um strukturdeterminierte Systeme sein zu können ; und daß dies nicht eine von außen Sie erfolgt in Verwendungszusammenhängen, also nur dann, wenn es für die Autopoiesis des
(qua Mensch) importierte, substantiell vorgegebene Zweiheit sein kann. Für das hier anstehende Problem der Kommunikationssystems darauf ankommt. So aktiviert also die Zuspitzung von Kommunikationsproblemen
unwahrscheinlichen Annahme von Selektionen heißt dies, daß jede Selektion zu berücksichtigen hat, daß sie in Konstellationen, die für Medienbildung in Frage kommen, Unterschiede der Zurechnung als Erleben bzw.
mit anderen (konformen oder adversen) Selektionen zu rechnen hat. Anders kommt eine spezifisch soziale Handeln und der Markierung als Ego bzw. Alter, die anderenfalls nicht vorkommen würden und auch nicht
Lösung des Problems nicht zustande. aus der "Natur der Sache" begründet werden können.
Ferner muß man klarstellen, wo die Verantwortung für die Selektion liegt, deren Konditionierung dann Die sich daraus ergebenden Konstellationen lassen sich in der Form einer Tabelle zusammenstellen.
motivieren soll. Das heißt: man muß Selektion zurechnen. Zurechnungen betreffen niemals das innere
Geschehen (die Autopoiesis) der beteiligten Systeme, sondern immer nur ihr Verhalten, wie es durch einen
506
Beobachter gesehen und auf die Umwelt bezogen wird. Sie sind immer ein artifizielles Geschehen, das in Ego
den Realqualitäten zwar suggestive Bedingungen findet, durch sie aber nicht voll determiniert ist. Der Alter Erleben Handeln
Zurechnungsprozeß selbst ist also sozial konditioniert, wobei die Frage nach der Zurechnung des Zurechnens
eine jener Endlosfragen ist, die nicht zugelassen, sondern durch "Gründe" verdeckt und invisibilisiert
507
werden. Ae → Ee Ae → Eh
Schon diese komplizierte Struktur der Voraussetzungen symbolisch generalisierter Erleben Wahrheit Liebe
Kommunikationsmedien macht verständlich, daß es sich um Spätentwicklungen handeln muß und daß die Werte
theoretische Rekonstruktion nicht in die Mediensemantik selbst eingehen kann. Diese erfordert eine
unmittelbar überzeugende Symbolisierung, während wir zu beobachten versuchen, was mit der
Mediensemantik selbst nicht beobachtet werden kann.
Die Differenzierung der Medien schließt an eine Binarisierung an, die darauf beruht, daß zwei Ah → Ee Ah → Eh
508
Möglichkeiten der Zurechnung denkbar sind: internale und externale Zurechnung. Da Kommunikation sich Handeln Eigentum/Geld Macht/Recht
nur beobachten kann, wenn zwischen Information und Mitteilung unterschieden wird, kann der Akzent der Kunst
Zurechnung entweder auf Information (Erleben) oder auf Mitteilung (Handlung) gelegt werden; und dies gilt
für beide Seiten: für die, die eine Kommunikation initiiert und für die, die daraufhin über (Kommunikation
von) Annahme oder Ablehnung zu entscheiden hat. Wenn eine Selektion (von wem immer) dem System selbst Mit Hilfe von Zurechnungen kann der Kommunikationsprozeß gefaßt und das Problem der doppelten
Kontingenz asymmetrisiert und dadurch enttautologisiert werden. Die Kommunikation läuft von Alter zu
510
Ego. Erst muß Alter etwas mitteilen, nur dann kann Ego verstehen und annehmen oder ablehnen. Diese
511
basale Einheit wird herausabstrahiert, obwohl doppelte Kontingenz immer als Zirkel gebaut ist und soziale
504
Siehe Ranulph Glanville, Objekte, Berlin 1988. Vgl. dazu Dirk Baecker, Ranulph Glanville und der Thermostat: Zum
Systeme immer symmetrisch, und Kommunikation als Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen in
Verständnis von Kybernetik und Konfusion, Merkur 43 (1989), S. 513-524. rekursiver Vernetzung mit anderen Kommunikationen erzeugt wird.
505
Nur dort, wo Zurechnungen Kausalität placieren, können Konditionierungen angebracht werden.
Siehe mit verdächtig anspruchsvollen Begriffen wie Mutualität oder Dialog auch Stein Bråten, Systems Research and
Social Sciences, in: George Klir (Hrsg.), Applied General Systems Research: Recent Developments and Trends, New York
Insofern dirigiert (nicht: determiniert!) das Zurechnungsschema die Konditionierungen der Selektion und über
1978, S. 655-685; ders., Time and Dualities in Self-Reflective Dialogical Systems, in: George E. Lasker (Hrsg.), Applied diese die erwartbare Motivation. Es macht mithin einen Unterschied aus, ob Alter und Ego als handelnd oder
Systems and Cybernetics: Proceedings of the International Congress on Applied Systems Research and Cybernetics, New erlebend (sie sind beide natürlich immer beides) konditioniert wird. Im Prinzip muß man deshalb, wie unsere
York 1981, Bd. III, S. 1339-1348. Tabelle zeigt, mit vier verschiedenen Konstellationen rechnen, nämlich (1) Alter löst durch Kommunikation
506
Verhalten heißt dabei nicht nur: Veränderung des internen Zustandes, sondern Veränderung im Verhältnis von System seines Erlebens ein entsprechendes Erleben von Ego aus; (2) Alters Erleben führt zu einem entsprechenden
und Umwelt. Vgl. Humberto R. Maturana, Reflexionen, Lernen oder ontogenetische Drift, Delfin II (1983), S. 60-71: Handeln Egos; (3) Alters Handeln wird von Ego nur erlebt; und (4) Alters Handeln veranlaßt ein
"Dabei gehört das Verhalten als ein Charakteristikum aller oder einiger seiner Zustandsveränderungen nicht zum
Organismus bzw. Lebewesen. Verhalten ist vielmehr eine Beziehung zwischen einem Organismus bzw. Lebewesen und
509
einer Umwelt, in der ein Beobachter es ausgrenzt und betrachtet. In diesem Sinne erzeugt das Nervensystem als Bestandteil Im Unterschied zu den "Handlungstheorien" verwenden wir also keine "objektiven" Handlungsbegriff, setzen aber
eines Organismus bzw. Lebewesens kein Verhalten, sondern nimmt lediglich an der Dynamik der Zustandsveränderung selbstverständlich voraus, daß auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung Handlungen als Objekte erlebt bzw.
desjenigen Systems teil, das es integriert. Für eine Beobachter allerdings ist das Nervensystem an der Verhaltensgenese in behandelt werden, was nicht im Widerspruch steht zu dem sogenannten "subjektiven" Handlungsbegriff, der nur besagt,
dem Maße beteiligt, in dem es an den Zustandsveränderungen des Organismus oder des Lebewesens beteiligt ist, dessen daß Handlungen frei gewählt (wir sagen: intern zugerechnet) werden müssen, was in unserer Sprache heißen würde, daß
Form- und Lageveränderung er bezüglich einer Umwelt betrachtet und beschreibt" (62). man den Handelnden (als Beobachter seiner Situation) beobachten muß, wenn man verstehen will, wie er handelt. Wir
507 merken dies nur an, um gegen verbreitete Bedenken von Handlungstheoretikern zu zeigen, daß im Übergang von der Ebene
Für Kausalzurechnungen liegt das auf der Hand: Die Zurechnung von Wirkungen auf Ursachen ist nicht selbst eine
erster zur Ebene zweiter Ordnung nichts verloren geht, sondern alles, wenn auch in einer komplexeren, strukturreicheren
Ursache, eine Urursache der Wirkungen.
Sprache, rekonstruiert werden kann.
508
Zu beachten ist, daß wir hier nicht von Selbstzurechnung/Fremdzurechnung sprechen können, weil die Referenz auf den 510
Wir kehren die übliche Reihenfolge Ego-Alter um, um daran zu erinnern, daß wir den Kommunikationsprozeß vom
Zurechner selbst vermieden werden muß. Die Differenz von internal/external kann sowohl auf den Zurechner selbst als
Beobachter, also vom Verstehen her konstruieren, und nicht handlungstheoretisch.
auch (durch ihn) auf andere Systeme angewandt werden. Die Resultate müssen, anders gesagt, objektivierbar sein, obwohl
511
ein durch Sachgründe erzwungener Zurechnungskonsens nicht vorausgesetzt werden kann. "Wenn Du tust, was ich will, tue ich, was Du willst"
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 153 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 154

entsprechendes Handeln von Ego. Wenn wir von "Entsprechung" sprechen, ist damit keine Ähnlichkeit und dann die Aussagen durch Referenz auf das Medium modalisieren — also etwa sagen: es ist wahr, beweisbar
erst Recht keine Wiederholung gemeint, sondern nur Komplementarität. Denn eine Kommunikation hat usw., daß Asbest gesundheitsschädlich ist. Die Frage, was der Fall ist, muß dann ergänzt (nicht ersetzt!)
Erfolg, wenn ihr Sinn als Prämisse weiteren Verhaltens übernommen und in diesem Sinne Kommunikation werden durch die Angabe, wie man zuverlässig feststellen kann, was der Fall ist. Die Referenz auf das
durch andere Kommunikationen fortgesetzt wird. Medium deutet Möglichkeiten der Respezifikation durch Methoden und Theorien an. Rechnet man nicht mehr
Aus den attributionstheoretischen Grundlagen dieser Typologie ergibt sich bereits, daß es sich nicht mit Zweifeln, kann man wieder die verkürzte Aussageform benutzen (Asbest ist gesundheitsschädlich), aber
darum handelt, alle in der Wirklichkeit vorkommenden Situationen zu klassifizieren. Zurechnungsfragen treten die Rückkehr auf die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung bleibt trotzdem jederzeit möglich. Wenn es
faktisch nur selten auf und nur in rekursiven Zusammenhängen, in denen andere Entscheidungen von ihnen einmal zur Ausdifferenzierung eines Wahrheitsmediums gekommen ist, steht es für alle Aussagen zur
512
abhängig sind. In den besonderen Situationen, in denen eine unwahrscheinliche operative Kopplung von Verfügung, und es ist nur eine Frage der konkreten Veranlassung, ob es benutzt wird oder nicht. Die Wahrheit
Selektion und Motivation hergestellt werden muß, ist diese Voraussetzung der Relevanz gegeben. Aber es sind ist (wie jedes symbolisch generalisierter Medium) ein Medium der Weltkonstruktion und nicht ein nur für
dann immer spezifische Problemlagen, für die eine Konditionierung der Selektion für Motivationszwecke bestimmte Zwecke geeignetes Mittel.
wichtig ist, und von diesen Problemlagen hängt dann ab, welche Zurechnungskonstellationen jeweils Von Wahrheit spricht man nur, wenn die Selektion der Information keinem der Beteiligten zugerechnet
aktiviert werden. wird. Wahrheit setzt externe Selektion voraus (wobei daran zu erinnern ist, daß dies ungeachtet der Tatsache
Langfristig gesehen dürften die wichtigsten Konsequenzen dieser Präzisierung von gilt, daß alle autopoietischen Systeme, die operativ beteiligt sind, als operativ-geschlossene Systeme
Zurechnungskonstellationen in der Auflösung alter Multifunktionalitäten liegen. Ältere Gesellschaften funktionieren.) Die Reduktion auf externe Selektion dokumentiert, daß das Medium Wahrheit keine
516
begründen Autorität zur Durchsetzung ungewöhnlicher Anliegen mit Rollenkumulation, also mit Zugang zu unterschiedlichen Meinungen toleriert. Der Wahrheitsgehalt einer Aussage kann deshalb nicht auf den
eigenen anderen Rollen. Man ist angesehen, reich, hat viele Freunde oder solche, die es sein möchten, kann mit Willen oder das Interesse eines der Beteiligten zurückgeführt werden, denn das hieße, daß er für die anderen
Ressourcen oder Verbindungen aushelfen oder dies ablehnen. Soziale Status dieser Art werden gesprengt und nicht verbindlich ist. Auch der Rückgang auf die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung ist bedingt durch
andere Rollen abgekoppelt, wenn es für die Durchsetzung ungewöhnlicher Anliegen auf Konditionierung von Verzicht auf eine handlungsmäßige Deformierung der Tatbestände (was natürlich die Thematisierung von
Selektionen ankommt und im einzelnen darauf, ob Alter bzw. Ego in seinem Erleben bzw. in seinem Handeln Handlungen als Gegenstand des Erlebens ebensowenig ausschließt wie auf Forschung spezialisiertes
konditioniert wird. Denn dann wird die Inanspruchnahme anderer Rollen als Fremdkörper, schließlich explizit Handeln). Der immense Apparat theoretischer Generalisierungen und methodologischer Vorschriften hat den
als ein Fall von Korruption empfunden. Sinn, den Einfluß von Handlungen auf das Resultat der Forschungen zu neutralisieren; denn nur so können
Die Differenzierung der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien erfordert also ein Resultate als Wahrheit präsentiert werden. Oder anders gesagt: Ließe man zu, daß überraschendes,
513
Bezugsproblem und eine Zurechnungskonstellation. Das erklärt unter anderem die Geschichtlichkeit und ungewohntes, verblüffendes Wissen durch Handlung eingeführt und unter Annahmezwang gesetzt würde,
Gesellschaftsabhängigkeit des Kontextes, in dem symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien entstehen. wäre dem Belieben Tür und Tor geöffnet. Man müßte in diesem Falle auf eine medienspezifische
Zugleich wird damit deutlich, daß keine Medien entstehen können, wenn es nicht zu einer solchen Konvergenz Konditionierung verzichten. Die Reduktion auf Erleben bewirkt mithin, so überraschend das zunächst klingen
von Bezugsproblemen und Zurechnungskonstellationen kommt — aus welchen Gründen immer. Wir mag, eine gewichtige Einschränkung der zugelassenen Möglichkeiten und damit den Ansatzpunkt für
vermuten, daß dies die Ausbildung eines religiösen Kommunikationsmediums behindert hat — trotz aller Konditionierungen der verschiedensten Art.
Extravaganz der Anforderungen an spezifisch religiöse Kommunikation und trotz aller (zum Beispiel durch Im Falle von Werten mag man zweifeln, ob überhaupt ein symbolisch generalisiertes
514 517
Askese und "Weltablehnung" vermittelten) Ausdifferenzierung. Kommunikationsmedium vorliegt oder ob wir hier, wenn überhaupt, ein Medium im Prozeß des Entstehens
518
Vorgreifend haben wir die einzelnen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, die wir beobachten können; denn eine entsprechende Semantik gibt es erst seit etwa zweihundert Jahren. Klar ist
identifizieren können, in der Tabelle (S. ..) bereits genannt und zugeordnet. Wir wollen sie nun der Reihe nach das Bezugsproblem: Die operative Geschlossenheit psychischer Systeme und, darauf bezogen, die Erfahrung
vorstellen. Eine ausführliche Behandlung mit den notwendigen sachlichen und historischen Details würde den doppelter Kontingenz bei sozialen Begegnungen machen es extrem unwahrscheinlich, daß überhaupt eine
515
Rahmen einer Gesellschaftstheorie sprengen und muß Spezialmonographien vorbehalten bleiben. gemeinsame Basis gefunden und Kontakte fortgesetzt werden können. Dies kann auch nicht durch Aushandeln
Ein Medium für Wahrheit bildet sich nicht schon deshalb, weil jede Kommunikation Wissen ("negotiation") geschehen, wie heute manche meinen, sondern nur durch rekursive Verfestigung
voraussetzt, Wissen mitteilt, Wissen erzeugt. Man kann über Neuigkeiten kommunizieren, die in schon entsprechender Unterstellungen im Kommunikationsprozeß selbst. Dasselbe Problem taucht auf, wenn dies
bekannte Typen fallen. Dabei stellt sich allenfalls das Problem der Wahrhaftigkeit, des Irrtums und des Medium der Unterstellung gemeinsamer Werte eine eigene Wertesemantik absondert. Es muß, so meint man,
519
Täuschungsinteresses. Der besondere semantische Apparat eines Wahrheitsmediums muß nur dann entwickelt oberhalb aller Kontingenzen, unbezweifelbare Bezugspunkte geben, "inviolate levels" , die sich jeweils
und in Anspruch genommen werden, wenn es darum geht, neues, unerhörtes Wissen durchzusetzen; oder
wenn man von vorgefundenem Wissen abweichen oder es kritisieren will. Dazu geht man auf eine Ebene der
516
Beobachtung zweiter Ordnung über und sortiert das Wissen der Beobachter als wahr oder unwahr. Man muß Und wieder: daß sich in psychischen Systemen die Meinungen zwangsläufig unterscheiden, bleibt davon unberührt.
517
So mit Entschiedenheit für die media of interchange Talcott Parsons, On the Concept of Value-commitments,
512 Sociological Inquiry 38 (1968), S. 135-160. Vgl. zum Folgenden auch Niklas Luhmann, Complexity, Structural
Dies ist besonders bei der juristischen und bei der nationalökonomischen Diskussion von Zurechnungsproblemen
Contingencies and Value Conflicts, in: Paul Heelas / Scott Lash / Paul Morris (Hrsg.), Detraditionalization: Critical
(faktisch also: für die gesamte ältere Forschung) immer klar gewesen. Erst die in den 60er Jahren einsetzende
Reflections on Authority and Identity, Oxford 1996, S. 59-71.
sozialpsychologische Attributionsforschung hatte die Relevanz der Frage zunächst überschätzt. Andererseits kommt dieser
518
Forschung das Verdienst zu, sich intensiv um Zusammenhänge zwischen Kognition und Motivation gekümmert zu haben. Es gibt keine auch nur annähernd zureichende wort- und begriffsspezifische Forschung. Was man findet, versteht sich
Wir verzichten auf Literaturhinweise. Die Forschung hat eine immense Ausdehnung, hat viele spezielle Diskussionsstränge durchweg als Vorgeschichte des wirtschaftswissenschaftlichen Wertbegriffs. Siehe namentlich Rudolf Kaulla, Die
und ist kaum mehr zu überblicken. geschichtliche Entwicklung der modernen Wertheorien, Tübingen 1906; Lujo Brentano, Die Entwicklung der Wertlehre,
513 München 1908; Fritz Bamberger, Untersuchungen zur Entstehung des Wertproblems in der Philosophie des 19.
Hier liegt ein wichtiger Unterschied zur Medientheorie von Talcott Parsons, die an die Theorie der strukturellen
Jahrhunderts I: Lotze, Halle 1924. Eine frühe Begriffsgeschichte, die den Wandel von valeur (=force, vigeur, Lebenskraft
Differenzierung des allgemeinen Handlungssystems angeschlossen ist und deshalb in der Form von Kreuztabellen Anlaß
usw.) zu utilité und damit zu vergleichender Rationalität nachzeichnet, findet man beim Abbé Morellet, Prospectus d'un
und Zahl möglicher Medien abschließend definiert. Auch dies muß man jedoch nicht so verstehen, daß jede Gesellschaft
Nouveau Dictionnaire de Commerce, Paris 1769, Nachdruck München 1980, S. 98 ff. Jedenfalls ist bereits in der zweiten
die Gesamtheit aller möglichen Medien auch faktisch realisiert. Vgl. dazu Stefan Jensen, Aspekte der Medien-Theorie:
Hälfte des 18. Jahrhunderts eine ganz allgemeine Verwendung des Wertbegriffs geläufig. Man spricht zum Beispiel vom
Welche Funktion haben die Medien in Handlungssystemen? Zeitschrift für Soziologie 13 (1984), S. 145-164.
Wert von Zwecken.
514
Semantische und organisatorische Äquivalente wird man vor allem in der "Ekklesiologie" suchen müssen. 519
So die Bezeichnung von Douglas R. Hofstadter, Gödel, Escher, Bach: An Eternal Golden Braid, Hassocks, Sussex,
515
Als Beispiel dafür siehe Niklas Luhmann, Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität, Frankfurt 1982. England 1979, S. 686 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 155 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 156
526
verschieben, wenn auch hier Kontingenzen entdeckt werden. Das impliziert, daß Werte nicht als wird und die entsprechenden Werte nur in separaten Kontexten benutzt werden. Werte sind das Medium für
handlungsabhängig, sondern umgekehrt Handlungen als wertabhängig gedacht werden müssen. Unter den eine Gemeinsamkeitsunterstellung, die einschränkt, was gesagt und verlangt werden kann, ohne zu
Zurechnungskonstellationen kommt deshalb nur der Bezug auf Erleben in Betracht. Der, wie man sagen determinieren, was getan werden soll.
könnte, pragmatische Kontext der Wertlehre führt hier in die Irre. Auch bleibt die Behauptung harmlos, Werte Wie immer bei symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien kommt es auf die soziale, nicht auf
527
hätten einen normativen Sinn; sie seien nicht bloße Präferenzen, sondern gesollte Präferenzen. Es kann keine die psychische Ordnungsleistung an. Werte sind sozial stabil, weil psychisch labil. Es fehlen ihnen jedoch
Rede davon sein, daß Werte in der Lage wären, Handlungen zu seligieren. Dazu sind sie viel zu abstrakt und wichtige Eigenschaften, die andere Medien auszeichnen, etwa eine Zentralcodierung (wie wahr/unwahr) und,
520
im übrigen aus der Sicht von Handlungssituationen stets in der Form des Wertkonfliktes gegeben. Ihre was damit zusammenhängt, die Fähigkeit, medienspezifische Funktionssysteme (wie Wissenschaft) zu bilden.
Funktion liegt allein darin, in kommunikativen Situationen eine Orientierung des Handelns zu gewährleisten, Ihr Direktionswert ist gering, da kein Wert eine Handlung bestimmen oder auch nur, wie man mit Pascal
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die von niemandem in Frage gestellt wird. Werte sind also nichts anderes als eine hochmobile sagen könnte, eine Handlung entschuldigen kann. Wertbezeichnungen sind nach all dem ein gutes Beispiel
Gesichtspunktmenge. Sie gleichen nicht, wie einst die Ideen, den Fixsternen, sondern eher Ballons, deren dafür, daß selbst ein wichtiges Bezugsproblem in Kombination mit einer dazu passenden
Hüllen man aufbewahrt, um sie bei Gelegenheit aufzublasen, besonders bei Festlichkeiten. Daher kann man Zurechnungskonstellation nicht ausreicht, um ein voll funktionsfähiges Kommunikationsmedium zu
521
auch nicht von "unconditional preferences" sprechen. Sie explizieren zwar keine Anwendungsbedingungen, generieren.
aber sie stehen unter Abwägungsvorbehalt, so daß erst im Einzelfall bestimmt werden kann, was zu ihrer Während Werte zu schwach binden, bindet Liebe zu stark. Sie verlangt im modernen Verständnis, das
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Realisierung geschehen kann. sich von der philía-amicitia Tradition deutlich unterscheidet , daß Ego, wenn es liebt, sich in seinem
Nicht alles, was an Übereinstimmung benötigt wird, um Kommunikation in Gang zu halten, kann durch Handeln darauf einstellt, was Alter erlebt; und insbesondere natürlich: wie Alter Ego erlebt.
das Wahrheitsmedium gewährleistet werden. Die Differenz von Wahrheiten und Werten klärt sich aber erst im Zunächst ist es wiederum in hohem Maße selbstverständlich, daß man das eigene Handeln an dem
Laufe des 19. Jahrhunderts. Erst jetzt wird die Semantik der Geltung, parallel zu der des Seins, ausrichtet, was andere erleben; besonders wenn man sich beobachtet weiß. Der geschulte Blick nimmt die
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universalisiert , und einer der Gründe dafür dürfte die Ausdifferenzierung der Wissenschaft gewesen sein. Erwartungen des anderen vorweg. Man wartet nicht, bis sie im Handeln manifest werden, man kommt ihnen
Die Formen der Respezifikation der Wissenschaft findet man in Theorien und Methoden. Dafür gibt es im zuvor. So ist eine schnelle, Kommunikation gewißermaßen überspringende Koordination möglich, etwa bei
Bereich der Werte keine Anwendungsmöglichkeiten. Die Respezifikation läuft hier über Ideologien und über gemeinsamen Arbeiten oder im Straßenverkehr. Und auch Liebende sind zunächst daran zu erkennen, daß
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Argumentation ; wobei im Gegensatz zu Theorien und Methoden die Ideologie die großen Verbrechen genau diese kommunikationslose Abstimmung auch in nichtstandardisierten Situationen funktioniert. Kurze
begeht und die Argumentation die kleinen Mogeleien. Das zwingt zur Differenzierung der Medien und schließt Blicke genügen.
es zugleich aus, im Bereich der Werte (Ideologien, Argumentationen) die Wahrheit selbst zum Maßstab zu Das mag auf Vertrautheit beruhen. Das spezifische Bezugsproblem der Liebe geht darüber weit hinaus.
nehmen. Denn das müßte jetzt heißen, den Wert aller Werte in ihre Wahrheit zu legen. Es postuliert, daß man über die anonyme Welt der Wahrheiten und der Werte hinaus für eine eigene Weltsicht
Anders als Wahrheiten werden Werte im Kommunikationsprozeß nicht durch Behauptungen eingeführt, Zustimmung und Unterstützung finden kann. Das Problem wird akut in dem Maße, als es zu einer stärkeren
die dann bestritten und geprüft werden können, sondern durch Unterstellungen. Die Kommunikation vermeidet Individualisierung persönlicher Ansichten und Handlungsmotive kommt und dies nicht nur ein psychischer
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die "Markierung" von Werten, weil das die Möglichkeit von Widerspruch zum Ausdruck bringen würde. Sachverhalt ist (was es immer ist), sondern ein sozialer. Es wird dann verlangt, daß man allen möglichen
Niemand behauptet, daß Gesundheit, Frieden, Gerechtigkeit ein Wert sei, um damit die Ja/Nein-Bifurkation Idiosynkrasien in der Kommunikation Rechnung trägt, sie zunächst also erlebend hinnimmt. Die Liebe fordert
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von Annahme oder Ablehnung zu erzeugen. Man provoziert nicht, man geht davon aus. Wenn denn darüber hinaus, daß mindestens ein anderer (eben Ego) sich durch eigenes Handeln sichtbar entsprechend
Gesundheit ein Wert ist, kann man immer noch das regelmäßige Sich-Waschen für eher schädlich halten und bindet. In diesem Fall wird nicht das Spezifische, sondern das Besondere, das Partikulare, mit universeller
darüber diskutieren. Werte werden, mit anderen Worten, durch Anspielung aktualisiert und eben darin besteht Relevanz ausgestattet. Dies kann nur in der Form einer Zweierbeziehung geschehen. Das ist sowohl der Form
530
ihre Unbezweifelbarkeit. Wenn das nicht mehr funktioniert, müssen sie aufgegeben werden. Werteüberzeugen als auch den inhaltlichen Erwartungen nach eine höchst unwahrscheinliche Struktur , und fordert eben
also deshalb, weil in der Kommunikation die Einwände fehlen; nicht deshalb, weil man sie begründen könnte.
Sie ermöglichen einen Verzicht auf Begründungen. Sie stützen sich dabei gegebenenfalls auf "gag rules", das 526
Vgl. dazu und zum Scheitern einer solchen Verständigung im amerikanischen Sklaverei-Konflikt Stephen Holmes, Gag
heißt: auf eine stillschweigende Verständigung darüber, daß über bestimmte Wertkonflikte nicht gesprochen Rules or the Politics of Omission, in: Jon Elster / Rune Slagstadt (Hrsg.), Constitutionalism and Democracy, Cambridge
Engl. 1988, S. 19-58.
527
Vgl. namentlich Baruch Fischhoff / Paul Slovic / Sarah Lichtenstein, Labile Values: A Challenge for Risk Assessment,
in: Jobst Conrad (Hrsg.), Society, Technology, and Risk Assessment, London 1980, S. 57-66. Zu älteren Forschungen über
Stabilität auf Grund von Enttäuschungsanfälligkeit vgl. auch Ralph M. Stogdill, Individual Behavior and Group
520
Die verbreitete Darstellung des Werteproblems mit Hilfe der Unterscheidung subjektiv/objektiv verschleiert genau Achievement, New York 1959, S. 72 ff. Die alteuropäische Form der Thematisierung dieses Sachverhalts hieß: Akrasie
dieses Problem: daß es sich immer zugleich um fraglose Unterstellungen und dadurch nicht geregelte Konflikte handelt. (Machtlosigkeit gegenüber eigenen Antrieben).
521 528
So, aber im Bewußtsein des Problems, Georg Henrik von Wright, The Logic of Preference, Edinburgh 1963, S. 31 ff. So die Lettres provinciales, zit. nach OEuvres, éd. de la Pléiade, Paris 1950, S. 427-678.
522 529
Unzutreffend ist es dagegen, wenn behauptet wird, daß erst jetzt die Begriffe Werte, valeur usw. über ihren Vorläufer reichen trotzdem bis in tribale Gesellschaften zurück, und zwar in der Form von als Ausnahme tolerierten und
ökonomischen Kontext hinaus generalisiert und auf kulturelle, moralische, ästhetische Gesichtspunkte angewandt werden. deshalb ritualisierten Zweierbeziehungen, die Familienstrukturen transzendieren. So die berühmten
(So z.B. Robert, La Langue Française, Paris 1976, zu valeur). Man findet viele Belege für eine Anwendung auf Pflichten Onkel/Neffe-Beziehungen oder bestimmte Formen von Männer-Freundschaften. Vgl. Shmuel N. Eisenstadt, Ritualized
und Vergnügungen, Ehre, Leben, Gesundheit usw. bereits im 18. Jahrhundert und wahrscheinlich auch früher. Wirklich Personal Relations. Man 96 (1956), S. 90-95; Kenelm O.L. Burridge, Friendship in Tangu, Oceania 27 (1957), S. 177-189;
neu ist nur die Universalisierung der Wertreferenz. Julian Pitt-Rivers, Pseudo-Kinship, International Encyclopedia of the Social Sciences Bd. 8, New York 1968, S. 408-413.
523 Auch die altgriechische Form von akzeptierter und zugleich nichtakzeptierter Homosexualität drückt wohl weniger eine
Den Ideologiebegriff hier im Sinne des 19. Jahrhunderts genommen, den Begriff Argumentation im Sinne eines
spezifische Empfindlichkeit in Bezug auf Sexualpraktiken aus als vielmehr das hier diskutierte Problem der sozialen
neuerdings durchgesetzten Sprachgebrauchs. Vgl. insb. Chaim Perelman / L. Olbrechts-Tyteca, Traité de l'argumentation:
Akzeptanz einer Regression von Sozialität auf Zweierbeziehungen.
La nouvelle Rhetorique, Paris 1958.
530
524 Daß die Intensivierung von Sozialität in der Form von Zweierbeziehungen ein Fall von Regression ist und einer
"Markierung" im Sinne des oben S... erwähnten Sprachgebrauchs der linguistischen Semantik.
besonderen gesellschaftlichen Freigabe bedarf, ist für die moderne Kultur ein eher ungewöhnlicher Gedanke, für die
525
Das methodologische Gegenstück zu dieser Praxis der Wertkommunikation liegt in der Schwierigkeit, mit Fragen nach Soziologie dagegen ein geläufiger Sachverhalt. Siehe insb. Philip E. Slater, On Social Regression, American Sociological
Werteinstellungen (wie immer raffiniert geplant) auf festen Grund zu kommen. Man erhält nur Antworten auf die Fragen; Review 28 (1963), S. 339-364; ferner Vilhelm Aubert / Oddvar Arner, On the Social Structure of the Ship, Acta
und auf andere Fragen andere Antworten. Sociologica 3 (1959), S. 200-219; Michael Rustin, Structural and Unconscious Implications of the Dyad and Triad: An
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 157 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 158

deshalb ein starkes, extravagantes Medium. Es ist unter dem Titel "Passion" in die Kultur eingeführt worden sie, obwohl in der Übermacht, stillhalten? Daß sie sich untereinander selbst nicht einige könnten, wird eine
531 536
und wird heute als "romantisch" bezeichnet. spätere Sorge sein.
Eine darauf bezogene Semantik war zunächst für den Adel, dann für die bürgerlichen Oberschichten Für dieses Bezugsproblem hat die gesellschaftliche Evolution das Medium Eigentum geschaffen und es
532
entworfen worden. In dem Maße jedoch, als Liebe zum Erfordernis der Eheschließung wird, muß diese im weiteren Verlauf in das Medium Geld verwandelt, um es besser disponibel und koordinierbar zu machen.
Semantik allen zugänglich gemacht, das heißt: trivialisiert werden. Am Ende stehen industriell erzeugte Schon Eigentum ist mithin ein Kommunikationsmedium und nicht angemessen zu begreifen, wenn man darin
533 537
Illusionen, die in mehr oder weniger deutliche Diskrepanz zur Lebenserfahrung geraten. Die nur ein Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse des Eigentümers sieht. Das Medium Geld stellt dann sicher,
Unwahrscheinlichkeit der Liebe — daß jede Geste, körperlich wie verbal, zur Beobachtung, ja sogar zur daß der Erlebende akzeptiert, daß andere mit ihrem Geld sich das beschaffen, was sie möchten; oder auch
Beobachtung der Beobachtung von Liebe zu dienen hat — wird in der Ehe zur Pathologie. Damit tritt die einfach mit Geld Geld machen, ohne zu wissen wofür. Die antimonetären Affekte von Luther bis Marx und
Unwahrscheinlichkeit der Lösung dieses Problems, persönliche Idiosynkrasien akzeptierbar zu machen, offen ihre sozialen Erfolge lehren, wie unwahrscheinlich eine solche Zumutung des Stillhaltens ist. Aber es
zu Tage. In heutiger Formulierung könnte man sagen, es gehe darum, sich auf die Andersheit des anderen funktioniert trotzdem.
einzulassen und sie, wenn nicht zu "genießen", so doch zu bestätigen ohne Absicht auf Angleichung, Entstanden ist Geld vermutlich nicht im Hinblick auf seine Tausch vermittelnde Funktion, sondern als
Umerziehung, Besserung. Aber selbst wenn dies gelänge, verschöbe sich das Problem damit nur in eine andere Zeichen für unausgeglichene Leistungsverhältnisse, zuerst wohl in Haushaltswirtschaften. Noch im 18.
Frage: wie man mit dem umzugehen hat, der mit sich selbst unzufrieden, also unglücklich ist und dafür Jahrhundert ist Staatsverschuldung das primäre Instrument der Geldschöpfung, und auch "Bank"noten waren
Bestätigung sucht. So gesehen ist es sicher kein Zufall, daß Paradoxie zum Schlüsselproblem der Therapie zunächst als (übertragbare) Schuldscheine konzipiert. Aber dann mußte man immer wissen, wer der
geworden ist, weil die Liebe an genau diesem Problem scheitert. Schuldner ist und ob man seiner Zahlungsfähigkeit trauen kann oder nicht. Erst in jüngster Zeit ist diese
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Geklärt ist damit die Differenzierung des Mediums. Es hat nichts mit Wahrheit zu tun und erst recht Einschränkung aufgegeben worden. Schuldner ist dann, wenn man diese Bezeichnung überhaupt noch
nichts mit Geld. Wie immer die Realmotive: wenn sie abweichen, kann man sie nicht nennen, oder es handelt brauchen darf, die Wirtschaft selbst, die sich das Geld schuldet, das sie zirkulieren läßt. Zahlungsfähigkeit
sich eben nicht um Liebe. Genau diese Ausdifferenzierung macht Liebe zum Universalmedium, zum Medium kann nicht mehr anders als in der Form einer Garantie der Verwendbarkeit des Geldes, also in der Form der
einer Weltkonstruktion mit den einmaligen Augen des anderen. Autopoiesis des Wirtschaftssystems gewährleistet werden. Die Funktion des symbolisch generalisierten
Liebe ist, weil asymmetrisch gebaut, einseitige Liebe und daher oft (sollen wir sagen: im Normalfall?) Kommunikationsmediums Geld ist derart unwahrscheinlich, daß sie nie als die Evolution ermöglichender
unglückliche Liebe. Aber jeder kennt die Semantik in ihren konkreteren Anforderungen und jeder kennt das Faktor hätte dienen können, sondern erst in einer schon funktionierenden Geldwirtschaft sichtbar wird.
Wort. Insofern binden dann Liebeserklärungen die Kommunikation. Und da die Während Eigentum noch uninteressant sein kann — was soll ich mit einem Garten mit zwanzig
Aufrichtigkeit/Unaufrichtigkeit solcher Erklärungen ohnehin inkommunikabel ist, kann sich ein modus vivendi Apfelbäumen? — wird durch das Medium Geld sowohl Knappheit als auch Interesse universalisiert. Mehr
535
einspielen — allerdings angewiesen darauf, daß der Konsens nicht allzu penetrant getestet wird. Geld kann man, und das wußte schon Aristoteles, immer brauchen. Erst die Monetarisierung des Eigentums,
Der Gegenfall: daß das Handeln Alters von Ego erlebt wird, ist zunächst wieder trivial und die jedem Besitz einen Geldwert zuordnet, selbst der eigenen Arbeitskraft, läßt das Knappheitsmedium
unproblematisch. Man sieht, daß der Nachbar seinen Rasen mäht. Warum nicht? Im Unterschied zu den Eigentum/Geld in die heute gewohnte Form expandieren. Geld dient als Medium der Beobachtung von
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bisher behandelten Medien ist hier zwar nicht die Welt des anderen, sondern die Willkür des anderen im Spiel. Knappheit, und Zahlungen sind Formen, die das Medium operationalisieren. In diesem Sinne ist in der
539
Aber warum sollte man nicht zuschauen und akzeptieren können, daß andere so handeln, wie sie handeln? Es heutigen "Überflußgesellschaft" viel mehr knapp als früher , und Geld hat die Form einer Weltkonstruktion
540
wäre ja schlimm, wenn alles Handeln, das man sieht, eigene Betroffenheit erweckte. Man müßte die Augen angenommen, ist ein God-term, wie Kenneth Burke sagt.
schließen. Anders als in der üblichen wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtungweise sehen wir die soziale
Dies wird jedoch sofort anders, wenn das Handeln im Zugriff auf knappe Güter besteht, an denen der Funktion des Eigentums also nicht in der Unmittelbarkeit des Zugriffs auf materielle Güter oder
Zuschauer selbst Interesse haben könnte. Und das Problem verschärft sich in dem Maße, als beide langfristig Dienstleistungen und die soziale Funktion des Geldes nicht in der Vermittlung von Transaktionen. Als
an ihrer Zukunft interessiert sind und unter der Bedingung von Knappheit sich jetzt schon das eventuell Nötige Sachverhalt und als historisch-genetisches Motiv bleibt das natürlich unbestritten. Aber die Funktion des
sichern möchten. Wenn einer oder einige zugreifen, sind die Zuschauer immer in der Mehrzahl. Warum sollen entsprechend generalisierten symbolischen Mediums liegt woanders, sie liegt hier, wie immer, in der
Überwindung einer Unwahrscheinlichkeitsschwelle. Jedermann muß motiviert werden, extrem spezifische
Selektionen durch irgendeinen anderen — vom Einrichten des eigenen Wohnzimmers und vom Kauf einer

Essay in Theoretical Integration: Durkheim, Simmel, Freud, The Sociological Review 19 (1971), S. 179-201. Vgl. auch die 536
Man sieht aber hier bereits, daß die Regulierung dieses Problems über Eigentum zugleich eine weitere, aber
vorige Anmerkung.
andersartige Regulierung erfordern wird: die politische Regulierung von Macht. Die Trennung der Medien macht sie
531
Dies geschieht heute ohne Kenntnis der Romantik, deren Begriff der Ironie gerade diese Unwahrscheinlichkeit mit voneinander abhängig.
einem Reservat für inkommunikable Subjektivität reflektiert hatte. Vermutlich denken die meisten (und besonders die 537
Eigentlich sollte sich das von selbst verstehen, schließlich kann man Eigentum nicht essen. Anthropologische
Amerikaner) bei "romantisch" an die Verhaltensmodelle, die der Roman vorführt.
Erklärungen greifen hier wie auch sonst zu kurz und gehören in die Semantik, die als Folge der Entwicklung von Eigentum
532
Vgl. zu deren Geschichte ausführlicher Niklas Luhmann, Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität, Frankfurt kondensiert ist. Daß dies keine unbedingt neue Einsicht ist, kann mit einem etwas längeren Zitat belegt werden: "Property
1982. has not its roots in the love of possession. All human beings like and desire certain things, and if nature has armed them
533 with any weapons are prone to use them in order to get and to keep what they want. What requires explanation is not the
Siehe zu dieser Diskrepanz, die den Massenkonsum solcher Illusionen offenbar nicht beeinträchtigt, Bruno Péquignot,
want or desire of certain things on the part of individuals, but the fact that other individuals, with similar wants and
La relation amoureause: Analyse sociologique du roman sentimental moderne, Paris 1991.
desires, should leave them in undisturbed possession, allot them a share, of such things. It is the conduct of a community,
534
So Ulrich in: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952, S. 558 f.: "Liebende können sich keine not the inclination of individuals, that needs explanation." (T.E. Cliffe Leslie, Introduction to Emile de Lavelaye, Primitive
Neuigkeiten sagen; es gibt auch kein Erkennen für sie. Denn der Liebende erkennt von dem Menschen, den er liebt, nichts, Property, London 1878, S. XI, zit. nach Elman R. Service, The Hunters, Englewood Cliffs N.J. 1966, S. 21).
als daß er in einer unbeschreiblichen Weise durch ihn in einer inneren Tätigkeit versetzt wird. ... Darum gibt es auch keine 538
Vgl. Michael Hutter, Signum non olet: Grundzüge einer Zeichentheorie des Geldes, in: Waltraut Schelkle / Manfred
Wahrheit für Liebende; sie wäre eine Sackgasse, ein Ende, der Tod des Gedankens."
Nitsch (Hrsg.), Rätsel Geld: Annäherungen aus ökonomischer, soziologischer und historischer Sicht, Marburg 1995, S.
535
Vgl. Alois Hahn, Konsensfiktionen in Kleingruppen: Dargestellt am Beispiel von jungen Ehen, in: Friedhelm Neidhardt 325-352.
(Hrsg.), Gruppensoziologie: Perspektiven und Materialien, Sonderheft 25 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und 539
Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988.
Sozialpsychologie, Opladen 1983, S. 210-232; Roland Eckert / Alois Hahn / Marianne Wolf, Die ersten Jahre junger Ehen,
540
Frankfurt 1989. In: A Grammar of Motives, zit. nach der Ausgabe Cleveland 1962, S. 355 f.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 159 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 160

bestimmten Schraube bis hin zur "Übernahme" eines internationalen Konzerns durch einen anderen — Kunstbetrieb selbst, und zwar vor allem in der Literatur gängigen These zu Folgen, die "moderne" Kunst habe
541 546
erlebend hinzunehmen. Anders könnte die Wirtschaft schon in älteren Zeiten , erst recht aber unter heutigen es in spezifischer Weise mit dem Individuum in der modernen Gesellschaft zu tun.
Ansprüchen nicht funktionieren. Vielleicht hilft es, sehr viel radikaler anzusetzen und darauf zurückzugehen, daß jeder erlebte Sinn eine
Während das Eigentum als Medium noch an die natürliche Teilbarkeit der Dinge gebunden ist und Überfülle von Möglichkeiten weiteren Erlebens anbietet, aus denen nur einige wenige realisiert sind bzw.
deshalb nicht sehr weit aufgelöst werden kann, ist das mediale Substrat des Geldes die jeweils kleinste realisiert werden können. Was man wahrnimmt, ist schon so und nicht anders. Was man tut, ist durch Zwecke
monetäre Einheit, und die kann nach Bedarf arbiträr bestimmt werden. Das ermöglicht Standardisierungen, dirigiert, und warum nicht durch andere oder durch gar keine? Was die Kunst erstrebt, könnte man deshalb als
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die von individuellen Präferenzen abstrahieren. So wird dem Fungieren des Mediums eine Differenz von Reaktivierung ausgeschalteter Possibilitäten bezeichnen. Ihre Funktion ist es, Welt in der Welt erscheinen
sozialer und psychischer Bewertung zugrundegelegt: Gerade weil die soziale Bewertung des Geldes zu lassen, die Einheit in der Einheit darzustellen, sei es verbessert, sei es (wie heute vorzugsweise)
quantitativ standardisiert ist und nach eigenen Bedingungen schwankt, kann man das Geld individuell verschlimmert. Dies geschieht zwar durch jedes Ding, durch jeden erfaßten Sinn, aber doch nur so, daß eines
unterschiedlich bewerten, das heißt: auf unterschiedlich empfundene Bedarfslagen beziehen. Das Medium läßt aufs andere verweist und die Welt selbst unsichtbar bleibt. Das Kunstwerk nimmt diese erhellende und
sich daraufhin nach Maßgabe der Preise, die bei Transaktionen zu zahlen sind, zu jeweils bestimmten Formen verdeckende Funktion von Sinn in Anspruch, steigert sie aber so, daß auch Unsichtbares sichtbar und, wenn
koppeln. Dabei ist zu beachten, daß Transaktionen auf beiden Seiten monetär kalkuliert werden, auch wenn es es gelingt, die Welt in der Welt dargestellt wird. Eben deshalb müssen die Normalverweisungen des täglichen
um Tausch von Gütern gegen Geld geht. Das beweist die Universalität des Mediums bei gleichzeitig Lebens, die Zwecke und Nützlichkeiten gebrochen werden, um die Aufmerksamkeit von diesen Ablenkungen
eindeutiger Spezifikation. Und schließlich ist bemerkenswert, daß die Form, die in einer Transaktion fixiert ist, abzulenken. Die Darstellung der Welt in der Welt modifiziert die Welt selbst im Sinne des "so nicht Nötigen".
sofort danach wiederaufgelöst wird; denn das Geld ist in der Hand des Empfängers für beliebige andere Das Kunstwerk erbringt für sich selbst den Notwendigkeitsbeweis — und entzieht ihn damit der Welt.
542
Kombinationen frei. Kein anderes Medium erreicht diese Extension und dieses Tempo von Auflösung und Dies erfordert so strenge Formen, daß man mehr und anderes sieht als gewöhnlich. Kunst weist darauf
543
Rekombination, von loser und strikter Kopplung. Und insofern ist es verständlich, wenn Geld oft (und vor hin, daß der Spielraum des Möglichen nicht ausgeschöpft ist, und sie erzeugt deshalb eine befreiende Distanz
allem: bei Parsons) als Modell für ein effektives symbolisch generalisiertes Medium angesehen wird. zur Realität. Man kann dies als "Fiktionalität" bezeichnen, aber der Ausdruck sagt nicht genug. Die Kunst
Für die Konstellation, in der Alter handelt und Ego entsprechend erlebt, gibt es noch ein weiteres bleibt nicht Fiktion, sie erzeugt eine Realität mit dem Recht zu eigener Objektivität. Und wiederum handelt es
Medium, das, vielleicht wegen dieser Nähe zur Zurechnungsform des Geldes, besonderen Wert darauf legt, sich um eine Weltkonstruktion, um einen spezifischen Universalismus, der sich der Gesamtrealität
nicht als "nützlich" zu erscheinen: die Kunst. Die Konstellation ist klar: der Künstler handelt und der gegenüberstellt.
Zuschauer wird dadurch zu einem bestimmten Erleben gebracht. Aber was ist das Problem? Im Unterschied zu anderen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien verwendet die Kunst
Die alteuropäische Antwort war: Zweck des Kunstwerks sei es, Erstaunen und Bewunderung zu erregen, Wahrnehmungsmedien bzw., im Falle der erzählenden Literatur, Anschauung. Aber sie erzeugt in diesen
und dies im Sinne von Passionen, die keine Bezugnahme auf ihr Gegenteil zulassen. Das setzt jedoch voraus, Wahrnehmungsmedien durch eigene Auflösungstechniken eigene Formen, oder genauer: eigene Formen der
548
daß die Gesellschaft eine Welt einrichtet, in der es Erstaunliches und Bewundernswertes gibt, vor allem im Unterscheidung von medialem Substrat und Form. Das führt dazu, daß sich sehr verschiedene Kunstarten
Bereich von Religion und Politik. Entsprechend war noch im Mittelalter für die res artificiales zwar eine bilden, also Musik, Malerei, Lyrik, Tanz, Skulptur, Architektur usw. Aber ihnen allen liegt ein gemeinsames
besondere Art von Wahrheit vorgesehen (nämlich mit Bezug auf die Formen in der Vorstellung des Prinzip zu Grunde, nämlich der Einbau von Medien in Medien und der damit verbundene Gewinn neuer
544
Herstellers/Künstlers), nicht aber ein besonderes Medium. Seit dem 17. Jahrhundert wird diese Antwort Möglichkeiten strikter Kopplung, neuer Möglichkeiten der Form. Ob Kunst zur Annahme ihrer
545
kritisiert , ohne daß die dann einsetzende ästhetische Reflexion eine überzeugende Alternative hätte anbieten Selektionsofferte motivieren kann, hängt dann davon ab, daß das einzelne Kunstwerk einsichtig machen kann,
können. Mit einer ästhetikimmanenten Figur, etwa der Figur der Darstellung des Allgemeinen im Besonderen, daß es selbst (im Unterschied zur Welt) so sein muß, wie es ist, obwohl es hergestellt ist und obwohl es
ist die Frage noch nicht beantwortet, weshalb Kunst für Kommunikation und hier: für die Erzeugung nirgendwo sonst ein Modell dafür gibt. In diesem Sinne fordert man von einem Kunstwerk seit dem 17.
549
unwahrscheinlicher Annahmebereitschaften ausdifferenziert ist. Erst recht reicht es nicht aus, der im Jahrhundert "Originalität" , Über Originalität entscheidet nun nicht der Vergleich mit der Natur, nicht die
Qualität der Imitation, sondern der Vergleich mit anderen Kunstwerken. Die Kunst wird, in der Form einer
Forderung an das einzelne Werk, als autonom und selbstbezüglich ausdifferenziert. Und mit Bezug auf das
einzelne Werk deshalb, weil nur so die Paradoxie der Notwendigkeit des nur Möglichen entfaltet werden kann.
541
Siehe hierzu die umfangreiche, aus der Antike stammende naturrechtliche Diskussion über die Vorteile der gleichwohl Die Frage nach der Wahrheit des Kunstwerkes ist deshalb ebenso unangebracht wie die Frage nach
ungerechten Umwandlung der ursprünglichen Gütergemeinschaft in differentielles Eigentum. Zum Auslaufen dieser seinem Nutzen. Beide Fragen würden den Blick auf völlig kunstfremde Konditionierungen richten. Das
Diskussion im 17. und 18. Jahrhundert siehe Niklas Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in ders., Kunstwerk imitiert nichts, leistet nichts, beweist nichts. Es führt vor, daß und wie die Beliebigkeit des
Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 11-64. Anfangens sich selber einfängt und aufhebt, sich selber notwendig macht. Wie immer man mit dem Herstellen
542
Das schließt es selbstverständlich nicht aus, daß Kauf- und Verkaufsentscheidungen bereut werden. Die Rationalität oder dem Betrachten beginnt — wenn man beginnt, ist das darauf Folgende nicht mehr frei. Es wird zur
wirtschaftlicher Kalkulation bezieht sich auf dieses Problem. Letztlich kann aber keine Orientierung verhindern, daß man
nachträglich doch bereut, weil sich die Bedingungen und Gelegenheiten laufend ändern.
543
Wie psychische Systeme damit zurechtkommen und vor allem: wie sie die entsprechenden Kalkulationen durchführen,
bedürfte einer genaueren Klärung. Erste Forschungsresultate zeigen immerhin: besser als in der Schule. Vgl. Terzinha
Nunes Carraher / David William Carraher / Analúcia Dias Schliemann, Mathematics in the Streets and in Schools, British 546
Vgl. etwa Peter Bürger, Prosa der Moderne, Frankfurt 1988.
Journal of Developmental Psychology 3 (1985), S. 21-29; Terezinha Nunes Carraher / Analúcia Dias Schliemann,
547
Computation Routines Prescribed by Schools: Help or Hindrance? Journal for Research in Mathematical Education 16 In der Ausdrucksweise von Yves Barel, Le paradoxe et le système: Essai sur le fantastique social, 2. Aufl. Grenoble
(1985), S. 17-44; Jean Lave, The Values of Quantification, in: John Law (Hrsg.), Power, Action and Belief: A New 1989, S. 71 f., 185 f., 302 f. kann man auch sagen: Die Kunst entdecke, enthülle die Potentialisierungen einer Gesellschaft,
Sociology of Knowledge? London 1986, S. 88-111. das heißt das, was durch die Realisierung von Bestimmten in den Status von bloß Möglichem abgedrückt worden ist.
544 548
Vgl. z.B. (für hergestellte Dinge ganz allgemein) Thomas von Aquino, Summa Theologiae I, q. 16 a.1, zit. nach der Siehe Niklas Luhmann, Das Medium der Kunst, Delfin 4 (1986), S. 6-15; nachgedruckt in: Frederick D. Bunsen (Hrsg.),
Ausgabe Turin 1952, S. 93. "ohne Titel": Neue Orientierungen in der Kunst, Würzburg 1988, S. 61-71; ders., Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt
545 1995.
"Astonishment" is of all other Passions the easiest rais'd in raw and unexperienced Mankind" meint Anthony, Earl of
549
Shaftesbury, Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, 2. Aufl. London 1714, Nachdruck Farnborough, England in einer merkwürdigen Gegensinnigkeit des Wortes, das jetzt gerade nicht mehr auf einen vergangenen Ursprung (origo)
1968, Bd. 1, S. 242, — damit zugleich verratend, daß dies Kunstkonzept eine hierarchische Weltarchitektur und eine verweist, sondern "Neuheit" fordert als Bedingung der Zurechnung auf den Künstler. Siehe z.B. Lodovico A. Muratori,
entsprechende Gesellschaft voraussetzte, in der von unten nach oben kritiklose Ehrfurcht angebracht war. Della perfetta poesia italiana (1706), zit. nach der Ausgabe Milano 1971, Bd. 1, S. 104 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 161 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 162
550
necessità cercata. Eben deshalb muß ein Kunstwerk als Selbstkonditionierung von Willkür angelegt sein, wichtige Ordnungsmöglichkeiten verzichten, nämlich auf all das, was über konditionierte Willkür an langen
eben deshalb als Handeln, dessen Kommunikation Erleben bindet. Handlungsketten organisiert werden kann. Denn weder Wahrheit noch Geld können festlegen, was der
Selbstverständlich muß auch die Kunst ihr Transparentmachen mit eigenen Intransparenzen bezahlen. Empfänger mit dem Empfangenem tut — und genau dies ist die Funktion von Macht.
Auch ihre Funktion entfaltet ein Paradox. Sie macht etwas sichtbar dadurch, daß sie etwas anderes unsichtbar Ähnlich wie im Falle von Eigentum/Geld hat sich auch hier eine Zweitcodierung bewährt, nämlich die
macht — etwas anderes: das heißt: die Einheit der Unterscheidungen, die sie selbst als Form verwendet. Indem rechtliche Codierung der Macht. Zunächst geht es darum, Privaten für den Fall, daß sie im Recht sind, die
die Kunst artikuliert, was sie artikuliert, und dabei etwas von etwas anderem, Helles von Dunklem, Schicksale politisch organisierte Zwangsgewalt von Zentralinstanzen zur Verfügung zu stellen; und dies selbst dann (man
von Trivialitäten, Dissonanzen von Konsonanzen unterscheidet, zieht sich die Welt hinter das Unterschiedene beachte die Unwahrscheinlichkeit dieser Konstruktion!), wenn der Rechtsinhalt gar nicht politisch kontrolliert
in die Einheit der Differenz zurück — und bleibt unsichtbar. Auch die Kunst kann nur beobachten, kann nur worden, sondern in der Form eines Vertrages zustandegekommen ist. Weiter kann aber auch die politische
die Welt durch ihre eigenen Schnitte verletzen. Macht selbst dem Recht unterworfen werden, so daß sie ihre eigenen Zwangsmittel nur in Anspruch nehmen
Die letzte Zurechnungskonstellation, die des Mediums Macht ist ebenfalls zunächst trivial, doch auch kann, wenn sie im Recht ist, und sogar das Recht selbst nur ändern kann, wenn dies nach den Bedingungen
hier liegt ein Keim für die Entfaltung unwahrscheinlicher Möglichkeiten, die sich aber nur realisieren lassen, geschieht, die im Rechtssystem dafür aufgestellt sind. Die geläufige Bezeichnung für diese Errungenschaften
wenn ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zur Verfügung steht. Zunächst ist es ja ganz ist "rule of law" oder Rechtsstaat. Erst über diese selbstreferentielle Verrechtlichung der Macht wird auch das
normal, daß Handlungen an Handlungen anschließen, etwa wenn man einen Gegenstand übergibt, gemeinsam politische Medium der Macht zu einem sich selbst einschließenden Medium der Weltkonstruktion— und dies
arbeitet oder spielt, ißt, was auf den Tisch kommt, oder sich im Straßenverkehr danach richtet, wie andere ganz abgelöst von der liberalen Ideologie, die das Konzept zunächst als Bedingung für Freiheit lanciert und
fahren. Oft hilft das Erkennen der unmittelbar folgenden Handlungen des anderen und typisch kommt es dabei sich damit hämische Kommentare eingehandelt hatte.
zu einer rhythmischen Koordination. Man extrapoliert die in Gang befindliche Bewegung und placiert die Obwohl es hochgeneralisierte, für viele Zwecke einsetzbare Machtmittel (Drohpotentiale) gibt, zeichnen
eigene Handlung im passenden Augenblick. So ist auch das berühmte "turn taking" der mündlichen sich deutliche Grenzen der Anwendbarkeit ab. Die vielleicht wichtigste ist die Informationsabhängigkeit des
Kommunikation organisiert. Gelegentlich mag eine Zumutungsschwelle überschritten werden, aber dann sind Machthabers. Selbst wenn er bewirken kann, was er will, ist damit noch nicht ausgemacht, was er wollen
immer noch positive oder negative Anpassungen ad hoc möglich. Das Bezugsproblem von Macht stellt sich wollen kann. Alle politischen Systeme, die sich vornehmen, die Wirtschaft über Produktionspläne und
nur in dem Sonderfall, daß das Handeln Alters in einer Entscheidung über das Handeln Egos besteht, deren Preisfestsetzungen politisch zu steuern, haben zum Beispiel das Problem, daß sie sich keine von ihren eigenen
Befolgung verlangt wird: in einem Befehl, einer Weisung, eventuell in einer Suggestion, die durch möglich Entscheidungen unabhängige Information über Wirtschaftlichkeit beschaffen können und sich daher zu einem
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Sanktionen gedeckt ist. Das ändert nichts daran, daß auf beiden Seiten zurechenbar gehandelt wird; die riesigen Netzwerk interner Manipulationen entfalten, dessen wirtschaftliche Mißerfolge dann wieder zu einem
Weisung soll gerade nicht nur erlebt werden oder das Handeln des Angewiesenen ersetzen. Sie soll, obwohl politischen Problem werden. Anders gesagt: Macht ist — auf politischer Ebene, aber auch auf
als kontingente Selektion sichtbar, als Prämisse für eigenes Verhalten übernommen werden; und dies unter der Organisationsebene — auf Ausdifferenzierungen und auf machtunabhängige Informationsquellen angewiesen,
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Zusatzbedingung, daß die Willkür nicht nur in der Entscheidung Alters liegt, sondern speziell in der weil sich andernfalls alle Information in Macht verwandelt. Es genügt nicht, wenn sie sich nur
Bestimmung des Handelns von Ego. selbstreferentiell, nur auf Grund des Schemas von Erfolg/Mißerfolg ihrer eigenen Pläne bzw.
Macht erzeugt sich als Medium dadurch, daß sie die Handlungsmöglichkeiten verdoppelt. Dem von Befolgung/Nichtbefolgung ihrer Weisungen informiert. Es gibt mithin immanente Gründe des Mediums
Alter gewünschten Verlauf wird ein anderer gegenübergestellt, den weder Alter noch Ego wünschen können, Macht, sich nicht zum Universalmedium der Gesellschaftsbeherrschung aufzuschwingen, sondern auf
der aber für Alter weniger nachteilig ist als für Ego, nämlich das Verhängen von Sanktionen. Die Form der Spezifikation der eigenen Universalkompetenz zu bestehen.
Macht ist nichts anderes als diese Differenz, die Differenz zwischen der Ausführung der Weisung und der zu Bei allen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien fällt demnach auf, daß sie aus trivialen,
vermeidenden Alternative. Wenn die Sanktionsmittel hinreichend generalisiert sind (wie zum Beispiel alltäglichen Situationen entstehen, also zunächst nur relativ anspruchslose Sonderleistungen ad hoc erbringen
Anwendung physischer Gewalt oder Entlassung aus einem Arbeitsverhältnis), besteht im Medium ein und so noch nicht eigentlich Medien sind. Diese Ausgangslage ist vor allem für evolutionstheoretische
Verhältnis loser Kopplung zwischen einer Vielzahl möglicher Machtziele und den Sanktionsmitteln, und die Überlegungen wichtig. Sie integriert die Medientheorie mit der Evolutionstheorie. Sie vermag nämlich zu
Benutzung von Macht legt dann die Form fest, in der das Medium vorübergehend strikt gekoppelt wird. Die erklären, daß die Möglichkeiten zu einer unwahrscheinlicheren Kombination von Selektion und Motivation in
Grenze der Macht liegt also dort, wo Ego beginnt, die Vermeidungsalternative zu bevorzugen und selbst die der allgemeinen Redundanz sinnhafter Kommunikation gleichsam brachliegen, aber benutzt werden können,
Macht in Anspruch nimmt, Alter zum Verzicht oder zur Verhängung der Sanktionen zu zwingen. Auch hier sobald ein Bedarf auftritt, sobald die genannten Bezugsprobleme akut werden, sobald man, aus welchen
erkennen wir wieder: Lose Kopplung von Elementen, die als Drohpotential im Gebrauch nicht verbraucht, Anlässen immer, die kombinatorischen Möglichkeiten entdeckt, die sich mit einer medienspezifischen
sondern erneuert werden, auf der einen Seite und feste Kopplung temporärer Art, also Formen der Auflösung und Formgewinnung realisieren lassen. Wir meinen, aber dies sei hier nur als
Kombination von (expliziten oder erratenen) Anweisungen und deren Ausführung auf der anderen Seite. Das Forschungsprogramm noch angedeutet, daß für eine solche Entfaltung und Differenzierung der symbolisch
Unwahrscheinliche eines solchen Arrangements liegt darin, daß es normalerweise funktioniert, obwohl die generalisierten Kommunikationsmedien sowohl der Entwicklungsstand der Verbreitungsmedien Schrift und
Interessen der Beteiligten völlig verschieden sind und obwohl die Handlung des Anweisens als Entscheidung, Buchdruck als auch die jeweils vorherrschende Form der Systemdifferenzierung als Auslöser fungieren. Zu
also als kontingent auftritt; obwohl sie kein anderes Ziel verfolgt, als das Handeln Egos zu spezifizieren, und einer vollen Entfaltung der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien kommt es erst unter der
schließlich sogar: ohne daß die Ausübung der Macht zur Voraussetzung hätte, daß man im Einzelfall ermitteln Voraussetzung einer funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems; denn nur dann können die
müßte, ob angesichts der Art der Anweisung Folgebereitschaft besteht oder nicht. Medien als Katalysatoren dienen für die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen der Gesellschaft. Nur
Sowohl Wahrheit als auch Geld neutralisieren die gefährliche, konfliktnahe Machtkommunikation, dann wird das, was in der Medienverwendung als Semantik kondensiert, den Platz einnehmen, den vordem die
552
indem sie Ego nur Erleben zumuten , und Sozialutopien benutzen daher gern die Vorstellung, die Moral für die Beschreibung der Gesellschaft okkupiert hatte. Und nur dann gibt es eine moralische Kritik eben
Gesellschaft lasse sich allein durch Wahrheiten oder allein durch den Markt steuern. Das hieße jedoch auf dieses Sachverhaltes.

550
Eine Formel, gefunden für den Dienst am Fürstenhofe, von Matteo Peregrini, Difesa del Savio in Corte, Macerata 1634.
Siehe insb. S. 250 ff.
551
Vgl. Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 1975.
552 553
Vgl. dazu die Unterscheidung von market choice and political choice bei Geoffrey Vickers, The Art of Judgement: A Dazu auch Niklas Luhmann, Selbstorganisation und Information im politischen System, Selbstorganisation 2 (1991), S.
Study of Policy Making, London 1965, S. 122 ff. 11-26.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 163 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 164

XI. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien III: Strukturen Das Kreuzen der inneren Grenze des Codes wird vor allem dadurch erleichtert, daß es von moralischen
Konsequenzen entlastet wird. Es hat nicht zur Folge, daß man zugleich vom Guten zum Schlechten übergeht
556
Es gibt für die moderne Gesellschaft, für eine Gesellschaft mit voll entwickelten symbolisch oder gar böse wird. Dies zu lernen, erfordert allerdings einen langwierigen evolutionären Prozeß. Solange
generalisierten Medien kein Supermedium, das alle Kommunikationen auf eine ihnen zugrunde liegende die Gesellschaft noch stratifikatorisch differenziert ist und folglich eine Spitzenintegration voraussetzt, der
Einheit beziehen könnte. Man mag hier erneut an Moral (manche sagen: Ethik) denken. Aber der Versuch, alle moralische Qualitäten zugewiesen werden, läßt sich eine moralische Neutralisierung der Mediencodes nicht
557
moralischen Schwachstellen der Gesellschaft mit Ethik (also mit einer Reflexion der Moral) zu kurieren, erreichen , und dann fehlt es auch an jener Leichtigkeit des Übergangs zum Gegenwert, die dazu zwingt, auf
grenzt ans Lächerliche. Jedenfalls steht der Eignungsbeweis aus, und überdies denkt man dann typisch nicht systemeigenen Kriterien der Kontrolle zu bestehen.
an ein moralisch codiertes, also gutes und schlechtes Verhalten, sondern nur an das Gute, das natürlich gern Wir sehen in dieser Erleichterung des Kreuzens von einer Seite zur anderen eine Variable, die für die
gesehen ist, aber leider allein nicht vorkommt. semantische Evolution der Mediencodes entscheidende Bedeutung hat. Denn in dem Maße, als es erleichtert
Statt als Moral, statt als konkret gewordene vernünftige Sittlichkeit zeigt die Einheit der Gesellschaft wird, vom Wert zum Gegenwert überzugehen und zurückzukehren (ohne daß sich der Ausgangswert
sich, was Kommunikationsmedien betrifft, in der Nichtbeliebigkeit der strukturellen Arrangements, die die inzwischen geändert hat) wird der Code selbst zu einer invarianten Struktur. Zugleich wird es schwieriger (das
Funktion symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien in Möglichkeiten für autopoietische Systeme heißt: voraussetzungsreicher), positive Werte bzw. negative Werte verschiedener Codes untereinander zu
übersetzen. Methodologisch heißt das, daß wir Gesichtspunkte für einen Vergleich der verschiedenen Medien verleimen. Ob jemand, der schön ist, auch die Wahrheit sagt, ob jemand, der reich ist, auch mächtig ist, auch
finden und mit Hilfe dieser Gesichtspunkte die Formen testen müssen, in denen die moderne Gesellschaft sich gut ist, auch gesund ist, ist dann eine Frage, die von weiteren Bedingungen abhängt, die nicht systemisch
als Kommunikationsunternehmen realisiert. Wir setzen nicht voraus, daß aufgrund irgendwelcher logischer garantiert sind und die von Beobachtern als eine Zufälligkeit behandelt werden müssen, der man keine
oder theoretischer Zwänge alle Merkmale in allen Medien gleichermaßen realisiert sein müssen. Die Theorie Stabilität unterstellen kann. Insofern dient die Evolution der Mediencodes in Richtung auf Schematisierung
bleibt offen für evolutionäre Unterschiede. Aber sie bietet gerade damit einen Rahmen für Nachfragen, wenn des Übergangs (wir werden dies auch "Technisierung" nennen im Hinblick auf die Kontextunabhängigkeit der
man feststellt, daß (und die Frage hat: warum?) bestimmte Medien bestimmte Strukturmerkmale nicht oder Operation) zugleich dem Aufsprengen einer Prämisse, die für alle hierarchisch stratifizierten Gesellschaften
weniger erfolgreich realisiert haben. Daß es hierbei immer nur um die extravaganten Fälle extrem wichtig ist, nämlich der Annahme, daß an der Spitze (im Adel, beim Herrscher, bei Gott) alle positiven Werte
unwahrscheinlicher Kommunikation gehen kann, ist bereits mehrfach gesagt worden. Aber auf dem gegebenen zusammenfallen.
Niveau der Evolution ist die Gesamtgesellschaft davon abhängig, daß die Probleme der Transformation von In dem Maße, als der Übergang zum anderen Wert erleichtert wird, entsteht Kontextfreiheit der
Unwahrscheinlichkeiten in Wahrscheinlichkeiten auf die eine oder andere Weise gelöst werden können. Operation und damit zu viel Spielraum, der dann wieder eingeschränkt werden muß. Deshalb bildet sich im
(1) Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien benötigen einen einheitlichen Code (Zentralcode) für Zuge der Evolution von Codierungen eine Zusatzsemantik von Kriterien, die festlegen, unter welchen
554
den gesamten Medienbereich. Ein Code besteht aus zwei entgegengesetzten Werten und schließt auf dieser Bedingungen die Zuteilung des positiven bzw. negativen Wertes richtig erfolgt. Wir werden diese
558
Ebene (nicht natürlich "im Leben") dritte und weitere Werte aus. Damit wird die unbestimmte, tendentiell Konditionierungen "Programme" nennen. Sie hängen sich wie ein riesiger semantischer Apparat an die
zunehmende Möglichkeit der Ablehnung des kommunizierten Sinnvorschlags in ein hartes Entweder/Oder jeweiligen Codes; und während die Codes Einfachheit und Invarianz erreichen, wird ihr Programmbereich,
überführt, also eine "analoge" Situation in eine "digitale" transformiert; und gewonnen wird damit eine klare gleichsam als Supplement dazu, mit Komplexität und Veränderlichkeit aufgeladen. Die jeweiligen
Entscheidungsfrage, die für Alter wie für Ego dieselbe ist. Nicht deren Meinungen werden codiert, sondern die semantischen "Bestände" des Rechts zum Beispiel oder der Wissenschaft bestehen in diesem Sinne aus
Kommunikation selbst, und dies in einer Weise, die auf Lernfähigkeit angewiesen ist, nämlich auf Programmen.
Spezifikation der Kriterien für eine richtige Zuordnung des positiven bzw. negativen Wertes (während aus der Die Codes bezeichnen für ihren jeweiligen Funktionsbereich das zuständige Medium, also eine
uncodierten Ausgangssituation nur zunehmende Enttäuschung, Verhärtung, Konflikt resultieren könnten). begrenzte, aber lose Kopplung von Möglichkeiten. Sie wirken an jeder Operation mit, denn anders ließe die
Im Unterschied zu vielen anderen Codierungen handelt es sich hier um Präferenzcodes. Im Unterschied Operation sich dem Medium und eventuell dem entsprechenden Funktionssystem nicht zuordnen. Sie können
zum allgemeinen Ja/Nein-Code der Sprache wird der positive Wert als Präferenz für diesen (und nicht für den also nicht vergessen werden, während auf der Ebene der Programme sowohl Erinnern als auch Vergessen
Gegenwert) ausgedrückt. Damit kommt zum Ausdruck, daß die Kommunikation gegen die möglich ist je nach dem, wie oft die Programme aufgerufen bzw. , wenn nicht, aus dem Gedächtnis getilgt
Wahrscheinlichkeit gesteuert wird. Die Ausgangsunwahrscheinlichkeit der Annahme der Kommunikation werden. Nur die Codes werden also zwangsläufig regeneriert. Nur sie definieren die Einheit des Mediums und
wird nicht mitkommuniziert und bleibt deshalb latent. eventuell des Funktionssystems durch eine spezifische Differenz, während die Programme wechseln können.
Codes fungieren, wie andere Unterscheidungen auch, als Zwei-Seiten-Formen, die ein Beobachter Die Fixierung der Präferenz bzw. Dispräferenz, die der Code auszeichnet, kann von psychischen
benutzen oder nicht benutzen kann. Sie haben die Eigenart einer Unterscheidung auch insofern, als sie jeweils Realitäten absehen. Sie muß freilich voraussetzen, daß zum Beispiel im Falle des Geldcodes überhaupt ein
nur auf der einen und nicht zugleich auf der anderen Seite bezeichnet werden und nur so als Anschluß- und Interesse an Nützlichem, im Falle der Liebe überhaupt ein Interesse an Selbstverwirklichung besteht. Aber
Ausgangspunkt einer weiteren Operation dienen können. Mit jeder Gleichsetzung des Unterschiedenen würde solange solche Motivunterstellungen in der Kommunikation nicht unwahrscheinlich werden, funktioniert die
der Beobachter eine Paradoxie (nämlich die Paradoxie der Selbigkeit des Verschiedenen) erzeugen und sich an Medien orientierte Kommunikation. Eben wegen dieser Präferenzorientierung eignen sich symbolisch
selbst darauf hinweisen, daß es so nicht geht. Die Besonderheit der Codes, verglichen mit anderen generalisierte Medien auch als Steuerungsmedien. Sie erfüllen ihre Steuerungsfunktion, indem sie Präferenzen
Unterscheidungen, besteht darin, daß der Übergang von der einen zur anderen Seite, also das Kreuzen der fixieren und zugleich variablen Konditionierungen aussetzen. Man kann mit Hilfe der Variation der
Grenze, erleichtert wird. Wenn ein Positivwert, zum Beispiel wahr, angenommen wird, bereitet es keine Konditionierungen feststellen, ob eine Kommunikation mit Bezug auf eine spezifische Präferenz einen
Schwierigkeiten, mit einer weiteren Operation zu bestimmen, was folglich unwahr wäre, nämlich die Unterschied macht oder nicht, und kann gegebenenfalls entsprechend nachsteuern — mehr Einsatz zeigen, um
gegenteilige Aussage. Man braucht, anders gesagt, keine zusätzlichen Konditionierungen, um vom Wert zum Liebe zu erweisen, mehr Argumente, um einen Wahrheitsbeweis zu führen, mehr Geld anbieten, um etwas
Gegenwert und zurück zu kommen. Ein Hin und Zurück kann die Logik folglich wie nicht geschehen Gewünschtes zu erhalten oder den Inhalt einer Weisung bzw. die Drohmittel variieren, um sich mit Macht
555
behandeln.

556
554 Wir kommen darauf in Kürze nochmals zurück. Siehe im Folgenden unter ...
Wir hatten im vorigen Abschnitt bereits notiert, daß diese Voraussetzung beim Medium Wertbeziehungen nicht erfüllt
557
ist und daher auch eine Ausdifferenzierung dieses Mediums nicht gelingen kann. Mit Werten hat man es überall zu tun. Siehe für Probleme mit den entsprechenden Erwartungen an moralisch positiv optierende Literatur im 18. Jahrhundert
555 Niels Werber, Literatur als System: Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation, Opladen 1992.
Siehe Spencer Browns "law of crossing" (a.a.O. S. 2): "The value of a crossing made again is not the value of the
558
crossing". Wir kommen unter ... darauf zurück.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 165 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 166

durchzusetzen. Strukturell entscheidend ist für all dies die Differenz von fixiertem Präferenzcode und nämlich die Paradoxie der Einheit einer Unterscheidung, dadurch, daß sie die Form eines binären
variablenKonditionierungen (Programmen). Schematismus vorschreiben, in dem der Wert und der Gegenwert identifiziert werden können, ihre
Je abstrakter der Code formuliert ist, desto schwächer mag die Präferenz ausgebildet sein. (Man denke gleichzeitige Anwendung auf denselben Gegenstand als Widerspruch verboten werden kann und dritte Werte
563
zum Beispiel an das Falsifikationsprinzip der Wissenschaft, das nur das als Wahrheit zuläßt, was übrig bleibt, ausgeschlossen sind. Aber das setzt voraus, daß die Einheit der Unterscheidung selbst nicht reflektiert wird,
wenn man genug falsifiziert hat.) Aber immer symbolisiert der positive Wert die Anschlußfähigkeit für sondern ihr Gebrauch durch den Präferenzwert mitlegitimiert wird. Im Effekt bleibt der Beobachter, der die
medienspezifische Operationen, während der negative Wert nur die Kontingenz der Bedingungen der Unterscheidung
559
Anschlußfähigkeit symbolisiert. Wir können daher im Anschluß an Gotthard Günther auch sagen, daß die benutzt, für sich selbst unbeobachtbar; er muß sich nur für den Positivwert engagieren. Die zugrundeliegende
Präferenzcodes der Medien aus einem Designationswert und einem Reflexionswert bestehen unter Ausschluß Paradoxie wird zugleich entfaltet (binarisiert, digitalisiert) und verdeckt. Sie bildet dann aber einen der
dritter Möglichkeiten. Mit Wahrheiten, Liebe, Eigentum, Macht kann man etwas anfangen. Die Hauptanstöße für Reflexionstheorien, wie sie vor allem dann notwendig werden, wenn entsprechend
entsprechenden Negativwerte stehen nur zur Kontrolle zur Verfügung und stellen den Kontext her, durch den ausdifferenzierte Funktionssysteme darstellen müssen, wie sie ihre Kommunikationsprobleme auffassen und
die Anschlußpraxis der positiven Seite rationale Selektion werden kann. (Was hätte man vom Geld, wenn man lösen. Und dies wird in der neuzeitlichen Gesellschaft notwendig, die sich dabei nicht mehr auf
560
zu jedem Preis zahlen müßte und nicht nichtzahlen könnte? ) gesamtgesellschaftliche Vorgaben (Schichtung, Moral) stützen kann, sondern sich in ihren Funktionssystemen
Wie bei allen Codes geht es auch hier um eine Duplikationsregel, die das, was ist oder geschieht, mit Problemen der Selbstlegitimation, der Autonomie, die Anwendung des Code auf sich selber konfrontiert
564
verdoppelt in eine positive und eine negative Version. Daß es sich um eine bloße Duplikation handelt, kann findet.
freilich nicht reflektiert werden, denn der Anwender des Codes muß ihn als Zweiheit und nicht als Einheit Je strenger die Codes gebildet werden, desto schärfer unterscheiden sie sich von gesellschaftlichen
561
benutzen. Durch diese Duplikation wird, und auch diese Reflexion muß getilgt werden, die Grundlage Normalwertungen. Machen wir uns das am Code des Mediums Eigentum/Geld klar. Hier zählt wirtschaftllich
geschaffen für das Entstehen eines medialen Substrats mit lose gekoppelten Elementen (zum Beispiel nur, wer Eigentümer ist und wer nicht. Und da für jedes Eigentum alle anderen Nichteigentümer sind, bietet
Geldsummen, die gezahlt oder nichtgezahlt werden können), und dieses mediale Substrat toleriert dann nur der Code eine immense Redundanz von Veränderungsmöglichkeiten. Im gesellschaftlichen und auch im
bestimmte Formen strikter Kopplung (und andere nicht), im Falle des Geldes zum Beispiel Transaktionen zu politischen Urteil über Wirtschaft scheint dagegen vor allem der Unterschied von reich und arm — eine ganz
bestimmten Preisen. Die Einheit des Codes besteht auch hier in seiner Form, das heißt darin, daß die andere andere Form — wichtig zu sein; und man beobachtet die Wirtschaft, obwohl sie ganz anders codiert ist, seit
Seite mitgemeint ist, wenn man die eine bezeichnet; und eben dies erfordert Binarität, denn schon dem 18. Jahrhundert primär im Hinblick auf eine Verschärfung des Unterschiedes von reich und arm, der jetzt
Dreierkonstellationen werden unübersichtlich. (anders als in der stratifizierten Gesellschaft) funktionslos geworden ist. Die Marxsche Kritik der politischen
Binarität ermöglicht eine Einbeziehung des Gegenwertes in den Wert und des Wertes in den Gegenwert. Ökonomie kann daher auch als Kritik der ausdifferenzierten Wirtschaft unter gesamtgesellschaftlichen
Der Wert ist dann zugleich Identität und Differenz, nämlich er selbst und nicht der Gegenwert (und ebenso auf Perspektiven gelesen werden.
der anderen Seite). So kommt es zu einer sich in sich selbst wiederholenden selbstreferentiellen Relation und Die Endstufe dieser Ausdifferenzierung, an der nur noch wenige Medien teilnehmen, wird erreicht, wenn
565
damit zu einer Form, die die Differenz von Identität und Differenz wieder in Differenz auflöst, eben in eine zum Kreuzen der Grenze, zum Umformen des Wertes in den Gegenwert, eine Negation ausreicht. Innerhalb
bestimmte Unterscheidung von positivem und negativem Wert, die sich von anderen Unterscheidungen des Codes ist der Übergang zum Gegenteil erleichtert — aber unter Verzicht auf jede Implikation für die
derselben Art, von anderen Codes, unterscheiden läßt. Das wiederum unterscheidet sich radikal von allen Werte anderer Codes. Die Werte der Codes sind nicht ineinander konvertierbar. Geldbesitz ist nicht in Liebe
566
Versuchen, Differenz letztlich auf Einheit zurückzuführen, sei es auf eine religiöse Formel, sei es auf "Geist" umzusetzen und Macht nicht in Wahrheit oder umgekehrt. Wir wollen die Erleichterung des Übergangs von
als Formel für das, was in sich unterschieden ist. Im Ergebnis führen die (gegeneinander unterschiedenen) Wert zu Gegenwert und zurück als Technisierung eines Mediums bezeichnen — Technik verstanden als eine
Medien daher zu einer nicht mehr religiös kontrollierbaren Semantik. Entlastung der informationsverarbeitenden Prozesse von der Aufnahme und Mitberücksichtigung aller
567
Trotz dieser formalen Symmetrie von positivem und negativem Wert gibt es einen wichtigen (aber konkreten Sinnbezüge, die impliziert sind.
schwer zu entdeckenden) Unterschied zur allgemeinen Ja/Nein-Codierung der Sprache. Man bemerkt den Man mag hierbei in erster Linie an Logik als Form für wissenschaftliche Kalküle denken. Aber das ist
Unterschied zunächst als Präferenz für den positiven Wert. Wichtiger, aber dadurch verdeckt, ist eine ein Sonderfall von Technizität. Andere Methoden erreichen ein besonderes Maß an Technisierung durch eine
Konfusion zweier Ebenen, die ein Logiker auseinanderhalten müßte. Der Positivwert funktioniert als Struktur, die wir Zweitcodierung nennen wollen, und die prominenten Fälle sind die Zweitcodierung des
Präferenz, also als Symbol für Anschlußfähigkeit, und er funktioniert zugleich als Legitimation für den Eigentums durch das Geld und die Zweitcodierung der Macht durch das Recht. In beiden Fällen wird der
Gebrauch des Codes selbst. Er symbolisiert das, was vom Gegenwert unterschieden wird, und er legitimiert positive Wert nochmals dupliziert, indem man Eigentum an Geld zum Zahlen und zum Nichtzahlen
zugleich die Unterscheidung selbst. Die Präferenzcodes, und das macht ihre strikt logische Behandlung verwenden und Macht rechtmäßig und rechtswidrig brauchen kann — aber beides natürlich nicht, wenn man
562
schwierig, lassen eine logisch notwendige Typenunterscheidung kollabieren. Aber das ist eine noch zu gar kein Eigentum oder gar keine Macht hat. Mit der Zweitcodierung sind Abstraktionsleistungen verbunden.
vordergründige Charakterisierung. Radikaler formuliert, entfalten die Codes eine fundamentale Paradoxie,

563
559 Die damit eingesetzte Logik kennt zwar den Satz der Identität, das Widerspruchsverbot und den Satz vom
Siehe Strukturelle Minimalbedingungen einer Theorie des objektiven Geistes als Einheit der Geschichte, in ders.,
ausgeschlossenen Dritten. Sie kennt nicht den Satz vom Grunde. Und wenn sie diesen Satz (oder etwas an seiner Stelle)
Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik Bd. III, Hamburg 1980, S. 136-182 (140 ff.).
vermißt, kann sie sich nicht mit logischen Axiomen helfen, sondern nur mit Metaphysik.
560
Diese Überlegung erlaubt einen Vorausblick auf das unten zu behandelnde Problem der Inflation, die genau diese 564
Wir kommen darauf in Kapitel 5,...... zurück.
Bedingung (und damit die Codierung selbst) gefährdet.
565
561 Man kann sich die Künstlichkeit dieser Bedingung vor Augen führen, wenn man bedenkt, daß der psychische
In der oben (Kap. 1 ...) eingeführten Terminologie heißt dies, daß die Einheit des Code als der blinde Fleck dient, der
Schematismus von Lust und Unlust und erst recht seine neurophysiologische Grundlage sie nicht erfüllen, sondern als
ein beobachtendes Operieren überhaupt erst ermöglicht. Und es ist nur eine andere Version desselben Sachverhalts, wenn
qualitative Unterschiede gegeben sind. Das Fehlen von Unlust bereitet noch keine Lust.
man feststellt, daß jeder Rückbezug von codierten Operationen auf die Einheit ihres eigenen Code diesen als Paradoxie
566
erscheinen läßt. Daß damit Interdependenzen auf der Ebene der Operationen und der Programme nicht ausgeschlossen sind, sollte sich
562 von selbst verstehen. Natürlich kann man mit Geld besser forschen als ohne. Daß Unabhängigkeiten und Abhängigkeiten
Darin sehen manche — etwa die "double bind"-Theoretiker oder Yves Barel, Le paradoxe et le système: Essai sur le
miteinander realisiert werden können, erklärt sich durch die Unterscheidung von Codierung und Programmierung. Wir
fantastique social, 2. Aufl. Grenoble 1989, insb. S. 53 ff. — bereits eine ausreichende Begründung der paradoxen
kommen darauf zurück.
Fundierung sozialer Systeme. Indes ist die logische Notwendigkeit, Typen, Ebenen, Sprachen und Metasprachen zu
567
unterscheiden, nur eine Notwendigkeit der Logik, und wenn die Logik selbst sie nicht durchhalten kann, beweist dies noch Ähnlich, aber von einem transzendentaltheoretischen Ansatz aus, Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen
wenig für die paradoxe Fundierung der Realsysteme selbst. Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana Bd. VI, Den Haag 1954.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 167 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 168

Nach der Monetarisierung des Eigentums ist die Wirtschaft nur noch an der abstrakten Differenz von Wir interessieren uns für diese Form aber nicht nur wegen ihrer Ingeniosität. Ihre Leistung liegt,
Eigentum und Nichteigentum in Bezug auf bestimmte Dinge oder Ansprüche interessiert. Diese Differenz hält symbolisch gesehen, vor allem darin, daß sie den Code von einer strikten Anlehnung an
die Wirtschaft in Gang, weil auch der Reichste in Bezug auf das Meiste Nichteigentümer ist. Die Differenz gesellschaftsstrukturelle Asymmetrien abkoppelt. Die Differenzen von Stadt und Land, Adel und gemeinem
von Reichen und Armen wird, soweit sie nicht der Arbeitsmotivierung dient, als Problem der Politik Volk, Patron und Klient, Mann und Frau, Eltern und Kindern können nicht in dieser Weise präferenzcodiert
überlassen. Die "Kritik der politischen Ökonomie" richtet sich statt dessen gegen die Geldtechnologie des werden. Sie machen zwar ebenfalls, in Abhängigkeit von vorausgesetzten Gesellschaftsstrukturen, eine
"Kapitalismus", die es gestattet, in der Betriebsrechnung Materialkosten und Arbeitskosten zu verrechnen Asymmetrie und eine Überlegenheit der einen Seite geltend; aber sie müssen sich dabei direkt auf die
unter Absehen von der Tatsache, daß der Beitrag von Material und von Arbeit zum Produktionsprozeß sich in Gesellschaftsstrukturen oder, wie Adelstheorien des 17. Jahrhunderts sagen werden, auf Imagination stützen.
bedeutsamen Hinsichten unterscheidet. Es ist wichtig, diese Zweitcodierungen als Erweiterungen der Man kann kaum sagen, daß die Kommunikation der Dame mit ihrem Kutscher (und dann auch: des Kutschers
Technisierbarkeit mit im Blick zu haben, denn sie lassen sich nicht als Anwendungsformen von Logik mit der Dame) eine adelige Kommunikation ist. Statt dieser einfachen Selbstplacierung müssen elaborierter
begreifen, sind aber gleichwohl für die moderne Rationalität und für die Distinktheit der entsprechenden Verbalformen, Zeremoniells etc. die Statusdifferenz immer neu in die Kommunikation einführen. Das geht,
Mediencodes unentbehrlich. dafür hat man viele Beispiele. Aber diese Lösung ist von konkreter Interaktion unter Anwesenden abhängig.
Andere Medien setzen ihren Ehrgeiz darein, nicht technisierbar zu sein, und sie verstehen das nicht als Sie läßt sich nicht in Schrift übersetzen und wird durch den Buchdruck vollends in eine Randlage
ein Defizit, sondern als ihre besondere Eigenart. Das gilt für Liebe und es gilt für Kunst. Es ist denn auch kein gesellschaftlich wichtiger Kommunikation gebracht. Die präferenzcodierten Kommunikationsmedien erweisen
Zufall, daß in diesen beiden Fällen das Allgemeine am Besonderen betont wird — in der Liebe am besonderen sich nun als evolutionäre Errungenschaften mit eindeutiger Überlegenheit, und es wird von hier aus
Subjekt, in der Kunst am besonderen Objekt. Historisch gesehen verstärkt sich seit dem 18. Jahrhundert dieser verständlich, daß sie nach der Einführung des Buchdrucks mehr und mehr dazu beitragen, die
Kontrast als Reaktion auf die Entwicklung von technisierten Medien, und eine der Folgen ist, daß die Differenzierungsform der Gesellschaft auf präferenzcodierte Funktionssysteme umzustellen.
gegenstrukturell gebildeten Medien Liebe und Kunst auf einige der Merkmale der anderen Medien verzichten Aber nicht nur die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, auch die Moral hat einen
müssen, vor allem auf gesicherte Systembildungsfähigkeit. Präferenzcode entwickelt. Die Kommunikation, die etwas als gut bzw. als schlecht bezeichnet, ist eine gute
Mit all diesen Besonderheiten realisieren die Codes auch die allgemeinen Eigenschaften jeder Form: eine Kommunikation. Das ist ein wichtiges Moment der Engagiertechnik der Moral, denn der, der etwas als gut
Grenze zu ziehen, deren Kreuzen möglich ist, aber Zeit erfordert. Codierte Medien sind deshalb immer bzw. als schlecht bezeichnet, hat, wenn es eine gute Kommunikation war, Mühe, sich zu korrigieren. Seit
temporalisierte Medien. Man muß vom Wert oder vom Gegenwert ausgehen, muß zum Beispiel wissen, ob Aristoteles löst man dieses Problem über einen kognitiven Umweg: Man will immer das Gute, aber es kann
man Eigentümer einer Sache ist oder nicht; aber dann kann man mit einer weiteren Operation zum Gegenwert sein, daß man sich irrt. Auch dies ist eine elegante Lösung, und auch hier erkennt man rasch, daß damit eine
übergehen, kann verkaufen oder kaufen und findet sich danach in einer späteren Situation, die wiederum Zeit wichtige Unabhängigkeit von gesellschaftsstrukturellen Asymmetrien gewonnen ist. Adel und Volk, Städter
für weitere Operationen in Aussicht stellt. Die Diversifikation der Medien erzeugt also immer auch eine und Bauern, Reiche und Arme, Männer und Frauen sind, wie immer unterschiedlich die Erwartungen sein
Diversifikation von Zeit und damit Eigenzeiten in den verschiedenen Medienbereichen, die untereinander nicht mögen, die sie zu erfüllen haben, einer moralischen Beurteilung ausgesetzt.
koordiniert sein müssen, obwohl alles, was faktisch geschieht, gleichzeitig geschieht. Diese Gemeinsamkeit von Moral und symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien erklärt eine
(2) Eine weitere Eigenart von Präferenzcodes wollen wir gesondert behandeln, denn sie dient nicht nur dem Konkurrenzlage, die bis ins 18. Jahrhundert oder, wenn man Nachzügler ernst nimmt, bis heute anhält. Die
Vergleich symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien untereinander, sondern vermittelt auch Einblicke bereits in der klassischen griechischen Stadtkultur beginnende Mediendifferenzierung war, zumindest in den
in die Effekte ihrer Ausdifferenzierung. Wir wollen sie Selbstplacierung des Code in einem seiner Werte aristotelischen Texten, aber auch in den Voraussetzungen der Rhetorik, zusammengehalten durch eine Ethik
nennen, der um dieser Funktion willen als positiver Wert charakterisiert wird. der städtischen Lebensform. Noch die Ständekritik des 18. Jahrhunderts beruft sich, weil es um
Die Einheit des Code (wie jeder Unterscheidung) besteht in einer Form, die zwei Seiten trennt. Sie kann Gesellschaftskritik geht, primär auf Moral; und ähnliches gilt für die Protestbewegungen unserer Tage.
also, genau genommen, gar nicht auf nur einer Seite repräsentiert werden. Präferenzen leisten dies trotzdem Gleichwohl benutzt die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems eindeutig die Codes der Medien,
und blockieren eben damit die Frage nach der Einheit des Codes sowie das Problem der Anwendung der nicht den Code der Moral; und der Grund ist offensichtlich, daß es hier nicht auf Einheit ankommt, sondern
568
codierten Operationen auf den Code selbst. Sie postulieren statt dessen: Die Kommunikation einer auf Differenz. Die Medien sind, anders gesagt, auf Neutralisierung moralischer Zumutungen angewiesen,
Wahrheit ist eine wahre Kommunikation. Wer liebt, kann und darf nicht vermeiden, seine Liebe zu erklären. weil es anderenfalls zu Verschmelzungen kommen und die Motivationslast auf die (in dieser Hinsicht ziemlich
570
Die Behauptung von Recht ist berechtigt. Die Vertauschbarkeit (Disponibilität) ist ein Merkmal des unzuverlässige) Moral übergehen würde. Wenn es gleichwohl zu einer Kommunikation kommt, die
Eigentums, so daß auch die Weggabe von Eigentum noch durch Eigentum gedeckt ist. Der gleiche Trick wird moralisch für oder gegen die Werte der Kommunikationsmedien optiert, erfährt man dadurch nichts über diese
für die Gegenwerte gespielt: Der Nachweis einer Unwahrheit ist selber eine wahre Operation; usw.. Der Code Werte, wohl aber etwas über die moralischen Überzeugungen dessen, der so kommuniziert. So scheint sich ein
gibt sich damit gleichsam selber die Operationserlaubnis, ohne dafür auf höhere Werte rekurrieren zu nicht unbedenkliches Syndrom einzuspielen, in dem die Gesellschaft für ihre Reproduktion auf
müssen. anspruchsvollem Niveau die Codes der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien benutzt und für
Die Selbstplacierung wird nicht thematisiert, sie bleibt latent. Sie entzieht sich eben damit dem Risiko, eine Kritik genau dieses Sachverhaltes (zum Beispiel für eine Kritik der Orientierung am Geld) Moral
571
als Mitteilung ein Ja oder ein Nein auszulösen. In genau diesem Sinne sind die positiven und die negativen aktiviert. Wir kommen darauf noch mehrfach zurück.
Seiten der Codes "Werte". Die Selbstplacierung benutzt und verstärkt die Asymmetrie des Codes, die (3) Schon durch die Codierung sind symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien selbstreferentiell
569
Differenz von positivem und negativem Wert. Eine kleine Mogelei — und der Code kann sich als autonom strukturiert und als geschlossene Operationszusammenhänge ausdifferenziert. Davon zu unterscheiden ist die
behaupten, kann den Rückblick auf seine Paradoxie vermeiden und kann sich mit all dem auf hohe prozessuale Reflexivität, die sich bei allen voll entwickelten Medien nachweisen läßt. Schon die normale
Plausibilität stützen. Denn wo käme man hin, wenn man bestreiten würde, daß man nicht das Recht hat, Kommunikation ist reflexiv, indem sie jederzeit auf sich selbst und ihre eigenen Resultate angewandt werden
zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden!

568
Die damit verbundenen logischen Probleme hatten wir bereits unter 1) notiert.
570
569 Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Wirtschaftsethik — als Ethik?, in: Josef Wieland (Hrsg.), Wirtschaftsethik und
Eine tiefgreifende Analyse könnte hier ein Phänomen der Überlagerung entdecken, eine "superposition" im Sinne von
Theorie der Gesellschaft, Frankfurt 1993, S. 134-147; ders., Die Ehrlichkeit der Politiker und die höhere Amoralität der
Yves Barel, a.a.O., S. 103 ff. Die ohnehin gegebene Präferenz für Anschlußfähigkeit wird ein zweites mal benutzt, um die
Politik, in: Peter Kemper (Hrsg.), Opfer der Macht: Müssen Politiker ehrlich sein?, Frankfurt 1993, S. 27-41.
Paradoxie zu invisibilisieren, die sich einstellen würde, wenn man die Differenz des positiven und des negativen Wertes
571
als Einheit, als dasselbe bezeichnen müßte. Vgl. unten Abschnitt .... und Kap. 4,....
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 169 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 170
572
kann. Sie orientiert sich, anders gesagt, im selbst produzierten Netzwerk ihrer eigenen Reproduktion. Im (4) Eine der wichtigsten Paradoxieauflösungen liegt in der Differenzierung von Beobachtung erster und
575
Bereich der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien gelten dafür Sonderbedingungen, die dieser Beobachtung zweiter Ordnung. Zu den auffälligen Merkmalen symbolisch generalisierter Medien gehört,
Möglichkeit durch Begrenzung auf einzelne Medien eine größere Tragweite geben. Auch Prozesse im daß sie eine solche Differenzierung ermöglichen. Ein Forscher beobachtet, was andere Forscher beobachten.
Kommunikationsbereich eines Mediums sind auf sich selbst anwendbar, sie können ihr eigener Gegenstand Wer liebt, hat sein primäres Interesse darin, herauszufinden, ob der/die Geliebte (noch) liebt. Preise bieten die
sein. Im Wahrheitsmedium gibt es Forschung über Forschung und wahre (bzw. unwahre) Aussagen über die Möglichkeit, zu beobachten, wie andere den Markt beobachten und ob sie zu einem bestimmten Preise kaufen
576
Wahrheit (bzw. Unwahrheit) von Aussagen. Wertbeziehungen können selbst bewertet werden, etwa unter dem oder nicht kaufen. Die moderne Kunst läßt sich nur verstehen, wenn man erkennt, wie die Künstler ihre
573 577
Gesichtspunkt ihrer ideologischen Funktion. Man schließt dann vom Ideal auf den, der es nötig hat. Daß Mittel einsetzen, das heißt: wie sie beobachten, was sie tun. Und vollends sind Machtbeziehungen auf ein
man Liebe um der Liebe willen liebt, sich und die Geliebte als Liebende liebt (und sogar: nur insofern!), ist ein wechselseitiges Beobachten von Beobachtungen angewiesen; denn anderenfalls müßte man ständig drohen
bekanntes Postulat der Liebessemantik. Daß man Geld für Geld beschaffen kann, ist geläufig ebenso wie die oder Drohungen provozieren, um herauszufinden, welche Kommunikationen durch Macht gedeckt sind. In all
Anwendung von Macht auf Macht, etwa in der Form der politischen Wahl oder des innerorganisatorischen diesen Fällen geht es nicht darum, daß man die Teilnehmer an medienvermittelten Kommunikationen wie
Phänomens der Pressionsmacht von Untergebenen. Objekte im Blick auf deren eigenen Merkmale beobachtet, um voraussehen zu können, wie sie handeln
Die Beispiele zeigen zugleich, daß solche Formen der Reflexivität auf eine Indirektheit hinauslaufen. Ihre werden. Das Interesse geht ausschließlich darauf, zu beobachten, was sie beobachten; und das schließt in
historische Durchsetzung war infolgedessen schwierig und ist erst in der modernen Gesellschaft voll gelungen. vielen Fällen ein: zu beobachten, was sie nicht beobachten.
Das ist verständlich, wenn man bedenkt, daß diese Reflexivität nicht nur ein Anwendungsfall unter anderen Sobald es eine Beobachtung zweiter Ordnung gibt, wird alles Beobachten in dem jeweiligen
ist, sondern die Form, in der das Medium Distinktheit und Autonomie gewinnt und sich gegenüber Medienbereich auf die Ebene zweiter Ordnung bezogen. Auch der Beobachter erster Ordnung weiß sich durch
578
Anforderungen der Familien- und Schichtenordnung durchsetzt. Man kann nicht ernsthaft forschen, ohne über einen Beobachter zweiter Ordnung (der er selber sein kann) beobachtet. Für das Wahrheitsmedium faßt
Methoden und Theorien zu verfügen, die selbst das Resultat von Forschung sind. Wirkliche Liebe erfordert man dies Erfordernis unter dem Ausdruck "Empirie" zusammen. Deshalb müssen auch alle Konditionierungen
das Lieben des Liebens, usw. Das Medium muß erst auf sich selber angewandt werden, bevor es operativ des Mediums auf der Ebene zweiter Ordnung angesetzt werden. Damit wird, mit immensen Folgen, die
einsatzbereit ist. Es ist nur eine andere Version desselben Sachverhalts, wenn man sagt, daß Medien eine Beobachtung erster Ordnung freigegeben und auf Überraschungen eingestellt.
selbstsubstitutive Ordnung erzeugen. Resultate in einem Medienbereich können nur durch Operationen Unter all diesen Bedingungen selbstreferentieller Zirkularität bleibt das Medium eine durch Codierung
desselben Mediums geändert werden. Man kann Wahrheiten nicht gegen Bezahlung außer Kraft setzen, bestimmte, unverwechselbare Einheit. Elementare Operation, Strukturbildung, Strukturänderung, Kreuzen im
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sondern nur durch Forschung. Auch insofern ist das Medium für sich selbst, für die eigenen Resultate Code und Ebenenwechsel werden im selben Medium vollzogen. In diesem Sinne nehmen die Medien eine
zuständig. Universalzuständigkeit für alle Kommunikationen in Anspruch, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Sie
Medien können nur reflexiv gehandhabt, das heißt auf eigene Prozesse und eigene Resultate angewandt tun das im Sinne von "sofern"-Abstraktionen: Sofern es um Probleme und um Zurechnungskonstellationen des
werden, wenn der dafür nötige Apparat an Unterscheidungen und Bezeichnungen zur Verfügung steht. Es darf Wahrheitsmediums geht, ist dieses Medium allein zuständig. In der Sprache der Parsons'schen pattern
580
nicht zur Verwechslung mit den Gegenständen anderer Medien kommen. Man muß das Lieben lieben und variables formuliert, kombinieren die Medien mithin "universalism" und "specificity", und Parsons hält das
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nicht nur das Lieben denken können. Wenn aber Medien durch eine eigene Codierung ausdifferenziert sind, mit Recht für eine typisch moderne Konstellation, die ältere Gesellschaften nicht erreichen konnten. Der
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erzeugen sie die Sondersemantik in dem Prozeß, der sie benötigt. Universalismus betrifft den weltweiten, durch externe Umstände nicht eingeschränkten Anwendungsbereich,
Ein Beobachter sieht in solchen Fällen eine entfaltete Paradoxie, also eine letzte Unentscheidbarkeit. Alle die Spezifizität betrifft die Unterscheidung (hier: den Code), die dem Beobachten zugrunde liegt.
Macht kommt dadurch zustande, daß sie sich der Macht unterwirft, und die oberste Macht durch (5) Die Mediencodes sind offen für alle Informationen und Mitteilungen, die in ihren jeweiligen Bereich fallen.
Unterwerfung unter die unterste Macht. Das nennt man Demokratie. Der Wahrheitscode selbst ist, indem wir Sie sind auf Zufallsanstöße angewiesen und eingestellt. Sie müssen ferner garantieren können, daß beide
hier über ihn sprechen, Gegenstand wahrer oder vielleicht unwahrer Aussagen. Geld muß knapp gehalten Werte im System benutzbar sind — daß man also nicht nur Recht, sondern auch Unrecht erhalten kann und
werden, um Güter im Überfluß erzeugen zu können, während in Wirklichkeit das Umgekehrte der Fall ist. daß es im Prozeß der Spezifikation von Annahmezumutungen zu einem ständigen Kreuzen zwischen den
Wertbeziehungen erweisen ihre Haltlosigkeit, wenn man entsprechend zu handeln versucht und dabei Codewerten kommt. So gehört die Unwahrheit bestimmter Aussagen zu den wichtigsten Argumenten der
feststellen muß, daß dies nur unter Verstoß gegen andere Werte möglich ist. Aber die Paradoxie, die den Wahrheitssuche; deren Ablehnung allein kann die Medienfunktion nicht erfüllen. Das heißt auch, daß die
Medien letztlich zugrunde liegt, führt nicht zu einer Blockierung ihrer Operationen. Sie ist, im Gegenteil, Positivwerte für sich genommen nicht die Funktion eines Kriteriums (im klassischen Sinne von kritérion,
Bedingung kreativer Entfaltungen, medienspezifischer Unterscheidungen oder zeitlicher Sequenzierungen, die kánon, regula) haben können, das die Wahl dieses selben Wertes orientiert. So ist Wahrheit, wie heute wohl
das, was zugleich nicht möglich ist, ins Nacheinander verlagern. Erst gilt ein Gesetz, dann nicht mehr; und
niemand stößt sich daran, daß das Recht Unrecht und das Unrecht Recht ist. Es geht dann nur noch um
verpaßte Gelegenheiten.

575
Wir kommen darauf in Kap. 5 ... ausführlicher zurück.
576
Hierzu Dirk Baecker, Information und Risiko in der Marktwirtschaft, Frankfurt 1988.
572 577
Dafür hat sich vor allem die sogenannte "Ethnomethodologie" interessiert und ist dank dieses Interesses zu Forschungen Nur deshalb ist Kunstkritik ein besonderes Metier geworden, in dem das Lob des Kunstwerks zum Teil auf den
gekommen, die zeigen, daß von dieser Reflexivität nicht zu oft und vor allem nicht zur Ermittlung letzter Gründe zurückfällt, der herausgefunden hat, weshalb es zu loben ist; und außerdem noch ein sicheres Metier, da auch das Tadeln
Gebrauch gemacht werden kann. Das "taking for granted" ist unentbehrlich. Vgl. dazu Chua Berg-Huat, On the des Kunstwerks dem Kritiker zum Lob gereichen kann.
Commitments of Ethnomethodology, Sociological Inquiry 44 (1974), S. 241-256. Im Kontrast dazu werden wir 578
Siehe aus den Anfängen der modernen Wissenschaft und auf Buchdruck bezogen Steve Shapin, Pump and
verdeutlichen, was mit der Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien gewonnen werden kann.
Circumstances: Robert Boyle's Literary Technology, Social Studies of Science 14 (1984), S. 481-520.
573
In diesen unterschiedlichen Formen der Reflexivität liegen die Gründe, die eine Trennung von Wahrheiten und 579
Es ist bemerkenswert, daß genau diese Idee auch der von Neumann-Maschine, dem Computer zugrunde liegt.
Wertbeziehungen (oder in der Terminologie des 19. Jahrhunderts: Fragen des Seins und Fragen der Geltung) erzwungen
580
haben. Vgl. auch Niklas Luhmann, Wahrheit und Ideologie, in ders., Soziologische Aufklärung Bd. 1, Opladen 1970, S. Vgl. insb. Talcott Parsons, Pattern Variables Revisited, American Sociological Review 25(1960), S. 467-483.
54-65. 581
Wie verbreitete Einwände gegen den Universalitätsanspruch der Systemtheorie zeigen, sind selbst heute Lebende
574
Hier liegen zugleich Gründe dafür, daß diese Medien von den Aufzeichnungen der Schrift und für ihre Vollentwicklung diesem kombinatorischen Problem oft nicht gewachsen, obwohl bereits Kant vorbildlich mit "sofern"-Abstraktionen"
vom Buchdruck abhängig sind. gearbeitet hatte.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 171 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 172
582
allgemein anerkannt, kein Wahrheitskriterium. Aber auch Eigentum-Haben ist kein ausreichender Grund würde. Eine Differenzierung der symbolisch generalisierten Medien legt eine entsprechende Differenzierung
für wirtschaftliches Verhalten. Vielmehr ist heute eher typisch, daß, wer sein Eigentum zu halten versucht, an der im Medienbereich verwendeten symbiotischen Symbole nahe; denn die Bezugnahmen auf Körperlichkeit
Vermögen verliert und wer sein Vermögen halten oder vermehren will, in Eigentumsfragen ständig werden in einem jeweils hochspezifizierten Sinne erforderlich, während im übrigen außer Betracht bleiben
584
umdisponieren muß. Das Medium gilt als ein Transaktionsmedium, Eigentum ist kein Gesamtbegriff für kann, daß Menschen körperlich beteiligt sind.
verschiedenartige Güter. Schließlich ist auch die Machtüberlegenheit selbst oder die bloße Rechtmäßigkeit Was Wahrheit angeht, bezieht sich das symbiotische Symbol auf die körperlich mögliche
einer Machtausübung kein Kriterium für Machtanwendung. Parsons hatte, in Anaologie zum Geld, von der Wahrnehmung, oder genauer: auf die Möglichkeit des Wahrnehmens der Wahrnehmungen anderer. Sicher ist
Notwendigkeit gesprochen, Macht "auszugeben", und der Grund dafür kann wiederum nicht allein im dies keine letzte Entscheidungsinstanz, wie in älteren empiristischen Theorien angenommen wurde; denn selbst
Positivwert des Codes liegen. wenn feststeht, daß wahrgenommen wurde, kann immer noch darüber gestritten werden, was wahrgenommen
585
Es muß also weitere Bedingungen geben, die festlegen, unter welchen Umständen die Zuordnung des wurde. Auch korreliert das, was die Forschung leistet, keineswegs mit der Menge und Eindeutigkeit von
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positiven Wertes und unter welchen Umständen die Zuordnung des negativen Wertes richtig bzw. falsch ist. wissenschaftlich gesicherten Wahrnehmungen. Aber die Wahrnehmung des Wahrnehmens anderer sorgt für
Wir wollen solche Bedingungen Programme nennen und entsprechend für alle symbolisch generalisierten Irritation und kann nicht ohne weiteres ignoriert werden.
Kommunikationsmedien Codierung und Programmierung unterscheiden. Diese Unterscheidung löst viele Im Bereich des Mediums Liebe findet man eine genaue Entsprechung im symbiotischen Gebrauch
Probleme, die bei einer einfacheren teleologischen, zielorientierten, wertepragmatischen Sichtweise unlösbar sexueller Referenzen. Ähnlich wie im Falle der Wahrheit findet man auch im Falle der Liebe das symbiotische
wären. Sie ist zugleich die Bedingung dafür, daß Medien Komplexität generieren können. Symbol nicht als Absicherung der Kommunikation durch eine tiefliegende motivationale Grundlage, sondern
Wie leicht zu sehen, handelt es sich um eine Unterscheidung von Unterscheidungen, also um eine Form als Irritationsquelle, die in die Semantik eingebaut werden muß. Deshalb kommt es, im Falle der
für Formen. Codierung sichert die Ausdifferenzierung und Spezifikation eines Mediums im Unterschied zu Wahrnehmung ebenso wie im Falle der Sexualität, im Zuge der neuzeitlichen Ausdifferenzierung dieser
587
anderen, und Programmierung kann deshalb nur codespezifisch erfolgen. Für das Wahrheitsmedium zum Medien zu einer Aufwertung ihrer symbiotischen Symbole. Sie werden nicht länger im Kontext einer
Beispiel nehmen Programme die Form von Theorien und Methoden an, für die rechtlich codierte Macht die hierarchischen Weltarchitektur dem "niederen" (weil mit Tieren gemeinsamen) Bereich der Sinnlichkeit
Form von Gesetzen, Gerichtsentscheidungen mit präjudizierenden Wirkungen und Verträgen; das Medium zugerechnet, sondern in die Konditionierungen der Medien einbezogen. Für Sexualität heißt die
Geld wird in der Form von Investitionsprogrammen bzw. Konsumprogrammen respezifiziert, die dann über Leitunterscheidung dann: mit oder ohne Liebe. Im einen Falle läuft es auf Ehe hinaus, für den anderen entsteht
588
Bilanzen bzw. Budgets kontrolliert werden. Für das Medium Liebe scheint die Erinnerung an eine eine Gegenkultur der Obszönität.
gemeinsame Geschichte die entsprechende Funktion des Einschränkens der Möglichkeiten zu übernehmen. All Eigentum und Geld beziehen sich, was Symbiosis angeht, auf Bedürfnisse. Schon in der alten Welt war
dies bedürfte weiterer Forschung. An dieser Stelle ist nur der Nachweis wichtig, daß solche Programme anerkannt gewesen, daß keine Eigentumsordnung die akuten körperlichen Bedürfnisse anderer schlicht
jeweils einem und nur einem Code zugeorndet sein müssen und nicht von Medium zu Medium fluktuieren ignorieren könne. Das Leben an der Subistenzgrenze gab besondere Rechte, und für Notfälle gab es den nicht
589
können. Eine Theorie ist noch kein Gesetz, und wer in eine Liebesbeziehung investiert, handelt nicht strafbaren Notdiebstahl. Der Übergang zur Geldwirtschaft ändert diese Semantik, indem man jetzt
unternehmerisch. einerseits voraussetzt, daß jeder seine Bedürfnisse durch Lohnarbeit befriedigen kann, wenn er nur will, und
Weiter unterscheiden Codierung und Programmierung sich, wie bereits erwähnt, unter dem andererseits einen generalisierten Begriff des Bedürfnisses schafft, der alles abdeckt, auf was hin produziert
Gesichtspunkt der Invarianz bzw. Variabilität. Einen Code kann man nicht ändern. Ein solcher Versuch werden kann. Die Symbiosis mit Menschen, die drauf und dran sind, an Hunger zu sterben, bleibt in den
würde nur besagen, daß man der Kommunikation ein anderes symbolisch generalisiertes Medium zu Grunde Konditionierungen des Wirtschaftsmediums unberücksichtigt und wird damit zu einem politischen Problem.
legt oder gar keines. Auf der Ebene der Programme kann dagegen Variabilität organisiert werden. Die oben Im Falle von Macht heißt das symbiotische Symbol physische Gewalt. Es gibt in jeder Gesellschaft viele
genannten Beispiele dürften das zur genüge zeigen. andere Machtquellen, zum Beispiel regelmäßige Gewährung von Vorteilen, mit deren Entzug dann gedroht
Schließlich ist zu beachten, daß all die Werte, die durch die Binarität des Codes auf dieser Ebene werden kann, aber gegen überlegene physische Gewalt ist nichts auszurichten. Das politische System, das
ausgeschlossen sind, als Gesichtspunkte der Programmwahl wiedereingeführt werden können. Ein Kunstwerk Macht als Medium benutzt, muß daher Entscheidungen über den Einsatz physischer Gewalt konzentrieren;
muß dem eigenen Code stimmig/unstimmig oder, traditionell gesprochen: schön/häßlich genügen. Aber in der und eben das geschieht heute mit Hilfe des Rechts. Kontrolle über physische Gewalt mag man mit Parsons als
Wahl des sujets kann man "politisieren" oder auf Verkaufsmöglichkeiten achten.
(6) Symbolisch generalisierte Medien operieren, wie alle Kommunikation, in struktureller Kopplung mit dem
Bewußtsein derjenigen psychischen Systeme, die sich an der Kommunikation beteiligen. Diese strukturelle
Kopplung engagiert auch den lebenden Körper der Beteiligten. In Interaktionssystemen müssen sie zum
583
Beispiel körperlich anwesend sein, um zur Kommunikation beitragen zu können. Ständig referiert die
584
Kommunikation deshalb auf Personen und setzt dabei voraus, daß diese Referenz durch die Realität Siehe Niklas Luhmann, Symbiotische Mechanismen, in ders., Soziologische Aufklärung Bd. 3, Opladen 1981, S.
hochkomplexer, aber intransparenter autopoietischer Systeme gedeckt ist. Da dies in umgekehrter Perspektive 228-244; ders., Macht a.a.O., S. 60 ff.; ders., Liebe als Passion a.a.O., insb. S. 137 ff.; ders., Soziale Systeme a.a.O. S. 337
ff.
auch für psychische Systeme gilt, kann man, mit einer Anleihe beim Begriffsapparat der Parsons'schen
585
Theorie des allgemeinen Handlungssystems, von Interpenetration sprechen. Eine bemerkenswerte Fallstudie hierzu ist: Harold Garfinkel / Michael Lynch / Eric Livingston, The Work of
Die Notwendigkeit, in der Kommunikation auf Körperlichkeit Rücksicht zu nehmen, kann man als Discovering Science, Constructed with Materials from the Optically Discovered Pulsar, Philosophy of the Social Sciences
11 (1981), S. 131-158.
Symbiosis bezeichnen und die entsprechenden Ausdrucksmittel als symbiotische Symbole. Symbiotische
586
Symbole ordnen die Art und Weise, in der Kommunikation sich durch Körperlichkeit irritieren läßt; die Art Siehe dazu Alfred North Whitehead, Modes of Thought (1939), Neudruck New York 1968, S. 111 ff.
und Weise also, in der die Effekte struktureller Kopplung im Kommunikationssystem verarbeitet werden, ohne 587
Zur Aufwertung der Sexualität seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vgl. Edward Shorter, Illegitimacy, Sexual Revolution
daß dies die Geschlossenheit des Systems sprengen und eine nichtkommunikative Operationsweise erfordern and Social Change in Modern Europe, Journal of Interdisciplinary History 2 (1971), S. 237-272; Aram Vartanian, La
Mettrie, Diderot and Sexology in the Enlightenment, in: Essays on the Age of Enlightenment in Honor of Ira O. Wade,
Genf 1977, S. 347-367.
582 588
Vgl. nur Karl R. Popper, Objective Knowledge: An Evolutionary Approach, Oxford 1972, S. 317 ff. Daß auf der Ebene Zu den Anfängen und zu den Grundlagen im Buchdruck vgl. David Foxon, Libertine Literature in England 1660-1745,
von Wahrheitstheorien diese Einsicht oft wieder außer Acht gelassen wird und Begründungsmomente (Kohärenz, Konsens The Book Collector 12 (1963), S. 21-36, 159-177, 294-307.
etc.) in den Wahrheitsbegriff eingebaut werden, zeigt jedoch an, wie neu und wie unwahrscheinlich diese Einsicht ist. 589
Siehe z.B. P.J. Montes, Precedentes doctrinales del "estado de necessidad" en las obras de nuestras antiguos teologos y
583
Wir kommen darauf in Kap. 4,...... zurück. jurisconsultos, La Ciudad de Dios 142 (1925),S. 260-274, 352-361.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 173 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 174
590 594
Sicherheitsgrundlage (real assets) des Mediums Macht ansehen. Sie ist zugleich aber Irritationsquelle, denn Handlungssystems genügt eine Verankerung in den "Realien", die Handeln ermöglichen , und im übrigen
wer physische Gewalt als symbiotisches Symbol und nicht als eigene Verhaltensform verwenden will, kann eine Analogie zu den Inflationen und Deflationen des Geldes. Wir finden uns demgegenüber in einer
nicht ignorieren, wenn Gewalt vorkommt, deren Konditionierung er nicht kontrolliert. Die zur Gewaltsamkeit theoretisch schwierigeren Situation. Was heißt "zu viel" und "zu wenig" erfolgreiche Motivation?
neigenden Demonstrationen der jüngsten Zeit (oder auch nur: das massenhafte Vorführen körperlicher Wir sehen das Problem nicht im Ausmaß der "Deckung" des Mediums durch "Realien" (Schon für die
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Präsenz) illustrieren dieses Problem. Geldtheorie würde das nicht ausreichen), sondern im Vertrauen in Bezug auf die weitere Verwendung des
Die verschiedenen symbiotischen Symbole der verschiedenen Medien weisen viele Gemeinsamkeiten auf. durch die Kommunikation reduzierten Sinnes (Zirkulation). Das mag, muß aber nicht von "Deckung" durch
In allen Fällen ergibt sich ein enger Zusammenhang von Verwendbarkeit und Störbarkeit, der aus der Realien abhängen; und vor allem bestehen zwischen den einzelnen Medien erhebliche Unterschiede in der
systeminternen Aktivierung struktureller Kopplungen folgt. In allen Fällen ist das Symbol, weil Symbol, Frage, was als Realdeckung fungiern kann.
Gegenstand kultureller Interpretation. So kann schon ein frecher Blick als Beginn physischer Gewalt gelten Zu Inflationen kommt es, wenn die Kommunikation ihr Vertrauenspotential überzieht, das heißt: mehr
oder ein Tag ohne Bier und Taback als Notstand. Viel hängt von geschulter Empfindlichkeit ab. Wer im Vertrauen voraussetzt, als sie erzeugen kann. Zur Deflation kommt es im umgekehrten Fall, also wenn
Dunkel ägyptischer Grabkammern Inschriften oder Wandmalereien "sehen" will, braucht einige Erfahrung, Möglichkeiten, Vertrauen zu gewinnen, nicht genutzt werden. Im Falle von Inflation reagiert das Medium
und das heißt: das Medium ist stärker auf die Spezifik struktureller Kopplungen angewiesen. Vor allem aber durch Entwertung der Symbole (in der Wirtschaft: gemessen an Preissteigerung). Im Falle von Deflation
benötigen alle symbiotischen Symbole Selbstbefriedigungsverbote. Sie sind darauf angewiesen, daß der reagiert das Medium durch zu stark beschränkende Konditionierungen, das heißt: durch Verringerung der
Körper nach Maßgabe sozialer Konditionierungen benutzt wird und nicht unmittelbar nach dem, was das Zirkulation. Die Kalkulation mit Weiterverwendbarkeit (=Liquidität) der Mediensymbole setzt eine
Bewußtsein ihm suggeriert. So erklärt sich, daß die positive Sexologie des 18. Jahrhunderts zugleich eine Kalkulation der Kalkulation anderer voraus. Insofern ist mit Inflationen und Deflationen erst zu rechnen, wenn
geradezu neurotische Einstellung zur Masturbation ausgelöst hat; daß wenige Jahrzehnte zuvor die auf das Medium auf ein Beobachten zweiter Ordnung eingestellt ist. Grenzfälle von Inflationen sind erreicht, wenn
kontrollierte Wahrnehmung angewiesene Wissenschaft alle Berufung auf Intuition im Sinne einer sich selbst man damit rechnen muß, daß die inflationären Korrekturen (Entwertung) nicht mehr ausreichen, sondern die
591
befriedigenden Anschauung als Variante von "Fanatismus" zurückweisen mußte ; und erst recht natürlich: Annahme der Symbole verweigert wird. Grenzfälle der Deflation werden erreicht, wenn die Konditionierungen
daß die politische Gewalt des "souveränen" Staates keine gewaltsame Eigenmächtigkeit in ihrem Territorium so scharf zugreifen, daß sie keine Kommunikation mehr zulassen. Und auch dann wird die Annahme
tolerieren und nur noch zwischenstaatliche Kriege zulassen konnte. Hierbei fällt auch auf, daß verweigert, weil man unter solchen Bedingungen sicher ist, mit den Resultaten nichts anfangen zu können. In
Selbstbefriedigungsverbote auf die Codierung der Medien verweisen. Für Pascal hieß das: da der diesen Fällen der Hyperinflation/-deflation kommt die ursprüngliche Unwahrscheinlichkeit der Annahme von
Wissenschaft ein intuitiv-direkter Zugang zur Wahrheit fehle, wie die Religion ihn in Anspruch nehme, müsse Kommunikationen mit besonderem Zumutungsgehalt wieder zum Vorschein — aber jetzt in entwickelten
592
sie den mühseligen Umweg über die Widerlegung gegenteiliger Annahmen gehen. Und ebenso ist es für den Gesellschaften, die das nicht mehr ertragen können. Nur diese Grenzfälle des Korrekturversagens kann man
Fall der Macht klar, daß eine generell stabilisierte Differenz von Überlegenheit/Unterlegenheit nur als Mißtrauen bezeichnen, während es in den anderen Fällen um ein zunehmend aufwendiges Erhalten des
aufrechterhalten kann, wenn nicht jedermann über eigene Mittel physischer Gewalt verfügt und die Vertrauens geht.
Machtfrage immer erst durch Kampf entschieden werden muß. Wahrheit wird inflationiert, wenn sie mehr Verwendungsmöglichkeiten in Aussicht stellt, als sich
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Schließlich fällt etwas Überraschendes auf: über symbiotische Symbole werden die Medien abhängig realisieren lassen. Für Wertbeziehungen findet man ein eindrucksvolles Beispiel bereits vor ihrer
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von Organisation. Das ist offensichtlich dort, wo die Kontrolle über physische Gewalt Entscheidungen Ausdifferenzierung, nämlich in den Devotionsbewegungen des 17. Jahrhunderts und in der gleichzeitigen
erfordert und dazu eine militärische bzw. polizeiliche Organisation. Aber auch die Präparierung Erfindung des Begriffs der "Mode". Für heutige Bedingungen können Werte als inflationsstabil gelten, denn es
wahrheitsrelevanter Wahrnehmungen erfordert heute, will man nicht dem Zufall ausgeliefert sein, tut ihnen keinen Abbruch und man muß sie nicht entwerten, wenn man sieht, daß man mit ihnen nichts
Organisation. Dasselbe gilt für marktvermittelte Befriedigung von Bedürfnissen. Und neuestens hat sogar die anfangen kann. Man folgt dem Rat der Mode und geht zu anderen Werten über. Liebe wird inflationiert, wenn
Sexualität sich von Organisationsleistungen abhängig gemacht, nämlich von Leistungen der pharmazeutischen sie mehr Beachtung der Welt des anderen in Aussicht stellt, als sich lebenspraktisch umsetzen lassen. Hier
Industrie. Hinter der externen Referenz und Irritation, die durch die strukturelle Kopplung an Bewußtsein und sorgen der Roman, und heute: der Trivialroman und entsprechende Filme, für Dauerinflationierung — nicht
Körper gegeben ist, taucht nun wieder die Gesellschaft selber auf. Die letzte Sicherheit liegt nicht im ohne deflationistische Gegentendenzen in der Literatur auszulösen. Inflationen des Geldmediums liegen vor,
Kontrollieren der Körper, wie die alte Lehre von den Passionen und der Vernunft meinte, sondern im
Funktionieren der Organisationen.
(7) Die Funktion der symbolisch generalisierten Kommunikation ist es, Selektionen so zu konditionieren, daß
Kommunikationen angenommen werden, obwohl dies von der Zumutung her unwahrscheinlich ist. In Bezug Media Dynamics, in: Jan J. Loubser et al. (Hrsg.), Explorations in General Theory in Social Science, New York 1976, Bd.
auf den tatsächlichen Motivationserfolg kann ein symbolisches Medium aber zu viel oder zu wenig gebraucht 2, S. 579-608. Auch David A. Baldwin, Money and Power, The Journal of Politics 33 (1971), S. 578-614 (608 ff.) sieht bei
einer sonst recht kritischen Einstellung zum Medienkonzept hier eine ausbaufähige Fragestellung.
werden. Den erstgenannten Fall bezeichnen wir als Inflation, den anderen als Deflation.
594
Die Anregung zur Generalisierung dieser zunächst nur für Geld üblichen Unterscheidung hat Parsons Siehe auch Stefan Jensen, Systemtheorie, Stuttgart 1983, S. 57 als Beispiel für Inflation: "Es zirkulieren zuviel Worte
593 (Symbole) gegenüber zu wenig "Realien" — es wird zuviel über Liebe geredet und zu wenig Liebe praktiziert".
gegeben, wenngleich begrifflich wenig entwickelt. Im Rahmen der allgemeinen Theorie des
595
Hierzu näher Niklas Luhmann, Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 3. Aufl. Stuttgart
1989. Vgl. auch Diego Gambetta (Hrsg.), Trust: Making and Breaking Cooperative Relations, Oxford 1988.
590 596
Vgl. Talcott Parsons, Some Reflections on the Place of Force in Social Process, in: Harry Eckstein (Hrsg.), Internal War: Eine Fallstudie hierzu, die Inflationierung der kantischen Philosophie im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts
Problems and Approaches, New York 1964, neu gedruckt in ders., Sociological Theory and Modern Society, New York betreffend, ist: Niklas Luhmann, Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft: Von der Philanthropie zum
1967, S. 264-296. Neuhumanismus, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 2, Frankfurt 1981, S. 105-194. Ein anderes Beispiel, das
591 auf ein gesellschaftlich suggeriertes Interesse an Individuen zurückzuführen ist, behandelt Wolfgang Walter, Vererbung
Wie der damals übliche Ausdruck Fanatismus andeutet: ein altes Problem der Religion, vor allem akut seit der rapiden
und Gesellschaft: Zur Wissensoziologie des hereditären Diskurses, Dissertation Bielefeld 1989.
Zunahme unbeglaubigter (aber kirchen- und klosterpolitisch nutzbarer und als körperliche Realität inspizierbarer) Visionen
597
im späten Mittelalter. Alban J. Krailsheimer, Studies in Self-Interest: From Descartes to La Bruyère, Oxford 1962, S. 113, spricht im Hinblick
592 auf die Auswirkungen von einem "debasement of spiritual currency". Im Jansenismus, Pietismus usw. kam es dann zu einer
Siehe: De l'esprit géométrique et de l'art de persuader, zit. nach OEuvres (éd. de la Pléiade), Paris 1950, S. 358-386
fundamentalistischen Gegenbewegung. Für das heutige Amerika unterscheidet Parsons inflationistische Trends (social
(369).
activism) und deflationistische Trends ("fundamentalism") in der Religion. Vgl. a.a.O. (1980), S. 212. Bei Richard Münch
593
Vgl. Talcott Parsons, Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, Opladen 1980, insb. S. 211 ff.; Talcott Parsons / findet man ähnliche Überlegungen für den Bereich der (modernen) Moral. Siehe: Moralische Achtung als Medium der
Gerald M. Platt, The American University, Cambridge Mass. 1973, S. 304 ff. Vgl. ferner Rainer Baum, On Societal Kommunikation, in: Richard Münch, Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt 1995, S. 214 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 175 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 176
598
wenn das Geld nicht zu dem Wert wiederverwendet werden kann, zu dem man es angenommen hatte. selbst verhindern würden. Für das Medium Liebe hat die historische Semantik paradoxe Formeln gefunden,
Inflationen in der Kunst entstehen vor allem dann, wenn auf die "Schwierigkeit" der Herstellung von die die Unwahrscheinlichkeit des Mediums bezeichnen und zugleich verdeutlichen, daß die
Kunstwerken und die darin liegende Knappheit verzichtet, wenn also Kunst von Können abstrahiert wird. Unwahrscheinlichkeit der Liebe in der Ehe pathologische Formen annimmt. Liebe verlangt, daß jede (verbale
Dann mögen Inflationen gleichzeitig mit Deflationen auftreten, indem Moden, Namenspflege und und körperliche) Geste der Beobachtung, ja der Beobachtung der Beobachtung von Liebe dient. Einen solchen
Galeriebetrieb dazu führen, daß die Werke einiger Künstler überschätzt und die anderer Künstler unterschätzt Dauertest hält jedoch keine Dauerbeziehung aus. Es müssen daher Umgangsformen gefunden werden, die
werden. Im Falle von Macht schließlich liegt die Inflation darin, daß eine Politik in Aussicht gestellt wird, die einen Nichtbeweis von Liebe ermöglichen, wobei das kommunizierte Verständnis dafür zugleich als
599
sich nicht durchführen läßt. Die moderne Technik politischer Kommunikation, gute Absichten nur noch Liebesbeweis zählt.
auszustrahlen, reflektiert bereits eine Dauerinflation, und die Entwertung der Symbole findet dadurch statt, (9) Universalisierung und Schließung durch eine Nullmethodik ist zugleich eine semantische und
daß die Worte der Politiker von vornherein diskontiert werden. Von Zeit zu Zeit ist es dann gut, die Politiker kommunikative Vorbedingung dafür, daß medienspezifische, operativ geschlossene Funktionssysteme
daran zu erinnern, daß nur Götter die Verhältnisse durch Worte ändern können. ausdifferenziert werden können. Als letzten Gesichtspunkt des Vergleichs verschiedener Medien stellen wir
Der Überblick zeigt, daß die Funktion der Medien, unwahrscheinliche Motivation in Aussicht zu stellen, deshalb die Frage, ob und wie weit sie in der Lage sind, als Katalysator für Systembildungen zu dienen.
zur Inflationierung tendiert. Eingeführte Medien erzwingen Vertrauen und Vertrauen in das Vertrauen Offensichtlich gibt es Zusammenhänge zwischen der Differenzierung der Medien und der Differenzierung der
anderer, und eben deshalb haben sie eine hohe Inflationstoleranz. Deshalb ist es auch wenig sinnvoll, nach Funktionssysteme der modernen Gesellschaft. Offensichtlich setzt die moderne Wirtschaft die Zweitcodierung
Gleichgewichtszuständen zu suchen, in denen weder Inflationen noch Deflationen gegeben sind, und diese des Eigentums durch das Geld voraus und die moderne Politik die Zweitcodierung der Macht durch das
Zustände für optimal zu halten. Auch kann es Inflationen und Deflationen gleichzeitig geben, und nur Recht. Andererseits zeigen bereits diese beiden Beispiele Unterschiede, die andeuten, daß die Systembildung
hochzentralisierte Medien wie zum Beispiel das Geld machen das unwahrscheinlich. (Man hat aber eigenen Gesetzlichkeiten folgt. So sind politisches System und Rechtssystem als verschiedene autopoietische
601
"Stagflation" unter diesem Gesichtspunkt diskutiert.) Deflationierungen kommen eher in der Form von Systeme mit unterschiedlichen Codes ausdifferenziert ; nicht so Eigentum und Geld. Es gibt also keine sich
Korrekturbewegungen vor — so das Insistieren auf Empirie gegen "große Theorie" in der amerikanischen automatisch ergebende Kongruenz von Medienbildung und Systembildung, aber doch eine deutliche
Soziologie, die Regionalisierungsbewegungen in der Politik, der Fundamentalismus in der Religion. Jedenfalls Prominenz derjenigen Fälle, in denen ein System durch die Benutzung eines Mediums ausgezeichnet ist.
handelt es sich auch bei Inflation/Deflation um eine Form mit zwei Seiten und einer Trennlinie, die nur als zu Die wohl wichtigste Bedingung eines solchen Zusammenhangs ist: daß der Code eines Mediums sich
überschreitende Grenze, aber nicht als perfekter Zustand zu verstehen ist. eignet, die Einheit eines Systems im Unterschied zu anderen Systemen seiner Umwelt zu definieren. Medien
(8) Wenn symbolisch generalisierte Medien den Anspruch erheben, universell verwendbar zu sein und in ohne Zentralcodierung, vor allem Wertbeziehungen, haben keine Chance, unterscheidbare Systeme zu bilden.
diesem Sinne operativ geschlossen zu fungieren, müssen sie eine Möglichkeit bieten, den Einschluß des Denn ob eine Operation sich der Politik oder der Wirtschaft, dem Recht oder einer Intimbeziehung zuordnet,
Ausschließens zu symbolisieren, so wie die Arithmetik über ein Nullsymbol verfügt und dami die Nichtzahl entscheidet sich nach dem Code, an dem sie sich orientiert.
als Zahl symbolisiert. Besonders auffällig findet man diese Nullmethodik im Falle des Geldes durchgeführt. Das allein genügt jedoch nicht. Die Operationen, die das Medium (trotz Unwahrscheinlichkeit der
Wenn Geld dem Beobachten von Knappheit, also dem Umsetzen von Knappheit in Operationen dient, so muß Kombination von Selektion und Motivation) ermöglicht, müssen sich für das Ingangbringen und Schließen
es in einem Geldsystem auch nichtknappes Geld geben. Dies wird heute nicht mehr durch externe Referenzen eines autopoietischen Reproduktionszusammenhanges eignen. Sie müssen rekursive Vor- und Rückgriffe
realisiert, also dadurch, daß knappe Waren wie Gold das verfügbare Geld beschränken. Statt eines solchen organisieren können, also nicht nur hin und wieder und isoliert vorkommen. Medien müssen, mit anderen
Warengeldes dient der Kredit der Zentralbank dazu, Geldmengen systemintern zu regulieren indem, gleichsam Worten, Kommunikationen verketten können. Dabei müssen sie unabhängig werden von der Selbigkeit der
aus dem Nichts heraus, Geld vermehrt oder vermindert (verteuert) wird. Entscheidend ist dabei, daß diese Kommunikationspartner und ihres Gedächtnisses. Außerdem ist es von Vorteil, wenn die Verkettung nicht
Nullmethodik nicht als Freigabe von Beliebigkeit oder als Zulassung externer (hier: politischer) Einflüsse strikt linear in einer eins-zu-eins Abfolge erzeugt werden kann, sondern offen ist für Verzweigungen und
verstanden wird, sondern an die Selbstreflexion des Systems in seiner konkreten historischen Lage gebunden unvorhersehbare Konstellationen. Die Bindung, die in einer Kommunikation erzeugt wird, muß für andere
600
wird. Das funktioniert nicht automatisch, sondern nur, wenn es kommuniziert wird. relevant sein, und zwar so, daß erst später entschieden werden muß: wofür. Diesem Erfordernis kann die
Erkennt man das Prinzip, findet man den gleichen Sachverhalt auch im Falle der Macht. Macht stützt Kunst nur schwer genügen, und ihr Systembildungspotential bleibt deshalb gering. Geld dagegen genügt
sich entscheidend auf die Möglichkeit, negative Sanktionen, insbesondere physischen Zwang einzusetzen. Im dieser Voraussetzung optimal. Es behält seinen Wert, obwohl jede Zahlung die Erinnerung an die Strukturen
602
tatsächlichen Einsatz dieser Sanktionen scheitert jedoch die Macht, weil man damit nicht das erreichen kann, (Preise, Transaktionsbedingungen) löscht, die die Zahlung motiviert hatten , und es bleibt trotzdem und in
was man eigentlich erreichen wollte. Die Machtpraxis erfordert also eine ständige Reflexion des ganz anderen Stückelungen einsatzbereit, ohne daß der geringste Zweifel aufkommen kann, daß eine Zahlung
Nichtgebrauchs der Machtmittel, ein ständiges Balancieren zwischen Zeigen von Stärke und Vermeiden des immer eine Operation des Wirtschaftssystems ist.
Vollzugs der Sanktionen. Und auch dies ist ein Kommunikationsproblem: Man muß drohen, ohne zu drohen, In diesem Zusammenhang ist ferner die oben behandelte Technizität des Codes von Bedeutung, also die
man muß versuchen, mit einem Hinweis auf Strukturen und Bedingungen auszukommen, ohne festzulegen, Unabhängigkeit des Kreuzens zwischen positivem und negativem Wert von zahllosen konkreten
was man tun wird, wenn die Weisung nicht befolgt nicht. Sinnkonstellationen, seine psychologische und moralische Dekonditionierung — und all dies ohne Verlust an
Im Falle von Wahrheit liegt ein ähnliches Problem darin, daß man vergessen können muß, um erinnern Eindeutigkeit der Option zwischen positivem und negativem Wert, ohne Ausweichen in vage und
zu können. Das Wahrheitsmedium stilisiert diese Notwendigkeit als Selektionsproblem und gibt für die interpretationsbedürftige Generalisierungen. Und auch in dieser Hinsicht ist das Geld ein optimaler Fall, denn
bevorzugte Selektion Gründe an. Aber für Vergessen kann es keine Gründe geben, die nicht das Vergessen wenn gezahlt wird, besteht kein Zweifel daran, daß und wieviel gezahlt wird.
Wahres Wissen und Recht sind in qualitativen Einheiten gegeben, doch auch sie garantieren hohe
598
Aus diesem Grunde können nur generelle Preissteigerungen als Inflationsindex gelten, weil bei der Annahme des
Verzweigungsfähigkeit und Wiederverwendbarkeit. Sie erfordern aber Instanzen (Publikationen,
Geldes noch nicht feststeht, wofür man es ausgeben wird.
599 601
Siehe im Kontext einer historischen Fallstudie mit Parsons'schen Theoriemitteln Mark Gould, Revolution in the Man kann sich allerdings fragen, ob dem nicht ein historischer Zufall zugrundeliegt, nämlich die Tatsache, daß es in
Development of Capitalism: The Coming of the English Revolution, Berkeley Cal. 1987, insb. S. 54 ff. und 230 ff.: Der Europa bereits im 11. Jahrhundert zur Ausdifferenzierung eines Rechtssystems gekommen war (nicht zuletzt in der Form
englische König überzieht seine Machtmittel in Ermangelung eines ausreichenden Unterbaus der Verwaltung und des kanonischen Rechts der katholischen Kirche und auf Grund des Fundes der Quellen des römischen Zivilrechts), das
provoziert dadurch die Revolution. dann die Entstehung des Territorialstaates begleiten konnte. Siehe hierzu Harold J. Berman, Recht und Revolution: Die
600 Bildung der westlichen Rechtstradition, dt. Übers. Frankfurt 1991. Der weltweite Test dieser Besonderheit steht noch aus.
Für eine kommunikationstheoretische Behandlung dieses Problems siehe Michael Hutter, Signum non olet: Grundzüge
602
einer Zeichentheorie des Geldes, in: Waltraud Schelkle / Manfred Nitsch (Hrsg.), Rätsel Geld: Annäherungen aus Zu den darauf reagierenden Abstraktionen siehe Dirk Baecker, Das Gedächtnis der Wirtschaft, in: ders. et al. (Hrsg.),
ökonomischer, soziologischer und historischer Sicht, Marburg 1995, S. 325-352. Theorie als Passion, Frankfurt 1987, S. 519-546.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 177 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 178

Organisationen), auf die man sich beziehen kann, wenn die Verteilung der Codewerte unklar ist. Wer gewesen zu einer Zivilisationskritik — mag sie nun, wie die Restaurationsphilosophie auf Religion setzen
regelmäßig Aspirin nimmt, um sich gegen Herzinfarkte zu schützen, kann sich erstaunten Mitmenschen oder, wie Habermas, auf Vernunft. Neuere kybernetische und systemtheoretische Forschungen zeigen jedoch,
606
gegenüber auf entsprechende Forschungsresultate berufen. Und wenn man vom Parkplatzeines Bürogebäudes daß dies ein ganz normales Phänomen ist, das nur durch Evolution korrigiert werden kann.
weggeschickt wird, obwohl man Aktionär (also, wie man meint: Eigentümer) der entsprechenden Gesellschaft Auch unter evolutionstheoretischen Gesichtspunkten ist es wichtig, zwischen symbolisch generalisierten
ist, ist dies ein Fall, den man durch Gerichte und nicht durch die Börse klären lassen muß. Typisch müssen Kommunikationsmedien und den durch sie gebildeten Systemen zu unterscheiden. Medien können entstehen
Laien bei hochtechnisierten Codes und entsprechenden Programmen dieser Art die Erfahrung einstecken, daß und differenziert werden, bevor es entsprechende Funktionssysteme gibt. Die für die Systembildung nötige
es auf all das nicht ankommt, woran sie zunächst gedacht hatten. Das bedeutet nicht zuletzt, daß auch die Codierung, deren Programmtypik und deren Sondersemantik kann auf provisorischer Basis vorbereitet
moralische Bewertung zurückstehen muß, weil die Zuteilung der positiven bzw. negativen Codewerte nicht werden. Wir konnten die Anfänge dafür bis in die Antike zurückverfolgen. Besonders deutlich sind solche
603
mit der Unterscheidung von Achtung und Mißachtung koordiniert werden kann. Genau von jener Vorentwicklungen am Umfang einer Geldwirtschaft in der Antike und dann wieder seit dem Hochmittelalter
technischen Effizienz hängt aber ab, daß und in welchem Ausmaß Medien hochkomplexe, operativ abzulesen, aber auch am juristisch elaborierten Fallrecht mit Ansätzen zu einer begrifflichen
geschlossene, sich selbst abgrenzende und reproduzierende Systeme bilden können. Systematisierung, vor allem römischer, aber auch englischer Provenienz. Ohne solche Vorarbeiten wäre der
Die Weiterverwendung einer einmal erreichten Selektion hat man auch als Zirkulation des Mediums Übergang von einer stratifizierten zu einer funktional differenzierten Gesellschaft kaum möglich gewesen, und
604 607
bezeichnet. Der Ausdruck ist nur historisch verständlich, denn von "Kreis" kann keine Rede sein. Letztlich — wie immer bei solchen "preadaptive advances" — ist ausschlaggebend, daß ein vorläufiger Kontext zur
geht es um den dynamischen Aspekt der Medium/Form-Differenz. Obwohl jede Kopplung des medialen Verfügung steht, der die Errungenschaften stabilisiert, ohne daß die Systeme schon gebildet sind, die dann
Substrats zu Formen das Medium selbst wieder freigibt für neue Formen, muß in autopoietischen Systemen endgültig zu einer operativen Schließung und autopoietischen Autonomie der entsprechenden Funktionskreise
mehr als nur ein bloßes Pulsieren erreichbar sein; und gerade die symbolisch generalisierten Medien sind führen werden. Denn wenn es zur Systembildung kommt, kann man davon ausgehen, daß es Operationen des
darauf angelegt, daß man mit den erreichten Festlegungen etwas anfangen kann. Sie dienen als schon dafür nötigen Typs immer schon gegeben hat, und kann sich daran machen, die Beschränkungen, die eine
reduzierte Komplexität, als Absorption von Ungewißheit, als Prämisse für weitere Operationen. Jede erhaltene ältere Ordnung oktroyiert hatte — etwa die Zersplitterung grundherrlicher und klerikaler Gerichtsbarkeiten
Geldsumme ist für weitere Zahlungen verfügbar. Wenn Wahrheiten feststehen, kann man von ihnen ausgehen, oder die dualen Währungssysteme des Mittelalters oder die Leibeigenschaft und die Adelsbindung von
ohne sie erneut prüfen zu müssen, und bei durchsetzungsfähiger Macht kann jeder damit rechnen, daß auch Grundbesitz — nach und nach abzubauen.
die anderen den Anforderungen folgen und er nicht allein der Dumme ist.
Andererseits heißt, und insofern führt der Begriff des Zirkulierens in die Irre, dies nicht, daß die
Anschlußoperationen voraussehbar wären. Zirkulation ist kein Begriff, der Berechnung und Planung in
Aussicht stellt. Wer zahlt, kann nicht voraussehen, was der Empfänger mit dem Geld anfängt, und wenn dies XII. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien IV: Selbstvalidierung
unter besonderen Umständen doch faktisch oder auch rechtlich unter Kontrolle bleibt, ist spätestens der
nächste Empfänger unberechenbar. Auch bei den Konditionalprogrammen des Rechts reicht die Sichttiefe Seit dem Beginn ihrer Entwicklung haben die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien auf
605
nicht viel weiter. Man denke nur an die Schwierigkeit, abzuschätzen, wie sich eine Änderung des verschiedene Probleme verschieden reagiert. Das unterscheidet sie von der Religion, unterscheidet sie aber
Scheidungsrechtes auf Machtverhältnisse in Ehen auswirkt. Zirkulation der Mediensymbole dient zwar der auch voneinander. Im Laufe der gesellschaftlichen Evolution treten die entsprechenden Abgrenzungen
Systembildung, denn die Symbole können nur im System zirkulieren. Es wäre jedoch falsch, daraus auf deutlicher hervor; besonders in dem Maße, als die Medien dazu tendieren, Kristallisationskerne zu bilden für
Steuerbarkeit des Systems zu schließen. Besonders die technische Effizienz des Mediums in der Struktur die Ausdifferenzierung entsprechender Funktionssysteme. Daran zerbricht schließlich die religiöse (oder
seines Codes und in der Streuung von Bindungseffekten spricht nicht für, sondern gegen Steuerbarkeit. kosmologische oder naturbezogene) Begründung der Medien und ihrer Semantik. Auch ihre Codes lassen sich
Diese Unterschiede der Systembildungsfähigkeit der verschiedenen symbolisch generalisierten nicht mehr zu einem einzigen gesellschaftlichen Code der Moral aggregieren. Das führt schließlich zu der
Kommunikationsmedien prägen das Gesicht der modernen Gesellschaft. Sie führen (neben anderen Faktoren) Frage, worauf eigentlich die Bereitschaft beruht, Mediensymbole zu akzeptieren und die entsprechenden
zu einem ungleichen Wachstum der Funktionssysteme, also auch zu einer ungleichen Bedienung der Einschränkungen als Prämissen der weiteren Kommunikation zu übernehmen. Die Frage der generalisierten
Funktionen, was Kommunikationsaufwand und Sichtbarkeit angeht, ohne daß dem eine heimliche Rationalität 608
Akzeptanz ist besonders im Hinblick auf das Geldmedium diskutiert worden. Sie stellt sich bei allen
oder eine Rangordnung der Funktionen zugrunde läge. Die Gesellschaft geht nicht auf wie Sauerteig, sie wird anderen Medien ebenfalls.
nicht gleichmäßig größer, differenzierter, komplexer, wie die Fortschrittstheorien des 19. Jahrhunderts meinten Alle Kommunikation ereignet sich als Operation konkret unter der Regie bestimmter Sinnintentionen. Es
(und meinen konnten, weil sie die Gesellschaft nur als Wirtschaftssystem begriffen). Sie komplexiert vielmehr geht um die Wahrheit bestimmter Aussagen, um die Befolgung bestimmter Weisungen, um den Kauf
einige Funktionsbereiche und läßt andere verkümmern. Diese Unausgewogenheit ist immer wieder Anlaß bestimmter Objekte, um bestimmte Anzeichen für Liebe — oder Gleichgültigkeit. Einzelkommunikationen
dieser Art sind jedoch niemals selbstmotivierend, sie greifen auf ein rekursives Netzwerk der
Wiederverwendbarkeit desselben Mediums zurück. Also muß auch hier in jedem Einzelfall die Doppelleistung
603
Das ist nur eine andere Version der bereits oben formulierten Feststellung, daß die Gesellschaft nach der der Kondensierung und Konfirmierung des Mediums erbracht werden, die paradoxe, weil gegenläufige
Differenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien keinen Supercode mehr oktroyieren kann. Aber das Operation der Generalisierung durch Spezifikation. Die Mediensymbole erzeugen also, könnte man sagen, die
schließt nicht aus, ja macht es gerade möglich, daß die Moral nun ihrerseits frei ist, zu bewerten, was sie will und wie sie
will.
Eigenwerte ihrer eigenen Rekursivität. Wenn sie wiederverwendet werden, bilden sich solche
604
Ursprünglich hatte die Metapher des Kreises eine kosmologische Bedeutung, sie symbolisierte die Einheit von
Bewegung und Unveränderlichkeit. Dem 17. Jahrhundert kam es dann darauf an, dies Symbol vom Himmel auf die Erde zu 606
Ein wichtiger Ausgangspunkt war: Magoroh Maruyama, The Second Cybernetics: Deviation-Amplifying Mutual Causal
holen, obwohl weder der Blutkreislauf noch der Geldkreislauf die strenge Form eines Kreises aufweisen.
Processes, General Systems 8 (1963), S. 233-241, und die anschließenden Forschungen über positiven feedback. Vgl. auch
605
Juristen, die sich für eine folgenorientierte Entscheidungspraxis einsetzen, und das sind heute fast alle, leiden hier unter Alfred Gierer, Generation of Biological Patterns and Form: Some Physical, Mathematical, and Logical Aspects, Progress of
schier unbegreiflichen Illusionen. Für die Entscheidung zählen denn auch nicht die wirklichen Folgen, sondern nur die, die Biophysics and Molecular Biology 37 (1981), S. 1-47; ders., Socioeconomic Inequalities: Effects of Self-enhancement,
der Jurist mit einem informierten Urteil bewirken oder verhindern möchte. Immerhin gibt es auch gemäßigte Stimmen, die Depletion and Redistribution, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 196 (1981), S. 309-331; ders., Die Physik,
die Folgenorientierung auf Öffnung oder Verschließung von Entscheidungsmöglichkeiten im Rechtssystem (also: auf das Leben und die Seele: Anspruch und Grenzen der Naturwissenschaft, 4. Aufl. München 1988, insb. S. 121 ff.
Regulierung der Zirkulation des Symbols "Rechtsgeltung") einschränken wollen. Siehe dazu Bernard Rudden, 607
Wir kommen darauf in Kap. 3,.... ausführlich zurück.
Consequences, Juridical Review 24 (1979), S. 193-201, und, in dieser Richtung nachgebend, Neil MacCormick, Legal
608
Decisions and Their Consequences: From Dewey to Dwokin, New York University Law Review 58 (1983), S. 253-258. Vgl. André Orléan, La monnaie et les paradoxes de l'individualisme, Stanford French Review 15 (1992), S. 271-295.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 179 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 180

medienspezifischen Eigenwerte — als Wert der an sich wertlosen Geldsymbole zum Beispiel. Die angesichts der Stabilität mafioser Kontrapositionen gegenüber staatlicher Macht oder angesichts der Hektik
Eigenwertbildung ist ein Resultat der Wiederverwendung, der Anwendung von Operationen auf das Resultat der Spekulation, die sich aus der Handelbarkeit aller Geldanlagen ergibt. Selbstvalidierung der Eigenwerte der
vorheriger Operationen desselben Mediums. Aber sind Eigenwerte zugleich auch die Bedingung der Medien muß deshalb als eine riskante evolutionäre Errungenschaft gelten, von der nicht abzusehen ist, ob sie
Möglichkeit solcher Wiederverwendung? in allen Medienbereichen unter allen Bedingungen halten kann, was sie verspricht.
Es fällt ersichtlich schwer, sich mit einem derart zirkulären Argument abzufinden. Fragt man die für die
einzelnen Medien entwickelten Theorien, so erfährt man, daß typisch mit externen Referenzen gearbeitet wird.
Ein Machthaber muß tatsächlich in der Lage sein, Truppen zu schicken. Ein Liebender muß tatsächlich in der
Lage sein, die entsprechenden Gefühle zu mobilisieren. Für Wahrheitstheorien scheint, bei allem Geplänkel XIII. Moralische Kommunikation
mit "Konstruktivismus", irgendeine Deckung durch eine externe Realität unverzichtbar zu sein. Nur beim
Geld sind Theorien dieser Art zunehmend fragwürdig geworden, nachdem eine Edelmetalldeckung als In dem Maße, als die Gesellschaft ihre wichtigsten Funktionsbereiche über symbolisch generalisierte
überflüssig erkannt und eine Deckung bestimmter Währungen durch Devisen angesichts der Volatilität des Kommunikationsmedien betreut, die nur noch für Spezialprobleme zuständig sind, ändert sich die
internationalen Geldes schon fast auf eine Selbstvalidierung hinausläuft. gesellschaftliche Bedeutung der moralischen Kommunikation. Das ist leicht einzusehen. Bis heute istes aber
Ein Zusatzargument beruft sich auf notwendiges Vertrauen. Von dem, was so bezeichnet wird, erwartet nicht gelungen, dafür ein überzeugendes Konzept zu entwickeln. Und auch hier kann das nur aus der
man zwei Überbrückungsleistungen, die zwischen externer Referenz und interner Verwendbarkeit und die Blickweise eines externen Beobachters, also nicht in moralisch überzeugender oder gar verbindlicher Weise
zwischen Generalisierung und Spezifikation. Vertrauen in eine externe Absicherung macht es möglich, sich geschehen. Der folgende Text ist also nicht so gemeint, daß der Verfasser damit seine Selbstachtung aufs
auf das Medium für noch nicht spezifizierte Situationen zu verlassen. Das ist ein kompliziertes, durch Spiel setzen möchte.
psychologische Plausibilität verdecktes Argument. Es geht aber nach wie vor darum, die Differenz zwischen Moralische Kommunikation zeichnet sich vor anderen Kommunikationsweisen nicht dadurch aus, daß
Spezifikation und Generalisierung durch Externalisierung aufzulösen, und sei es in der Form, daß man in das sie auf eine bestimmte Sorte von Regeln oder Maximen oder Prinzipien bezugnimmt, die sich als moralische
609
Vertrauen anderer vertraut und folglich unter dem Schutzschild von "pluralistic ignorance" operiert. (oder: sittliche) von anderen, zum Beispiel von rechtlichen unterscheiden. Eine solche, wechselseitig exklusive
Diese Überlegungen lassen sich beträchtlich vereinfachen, wenn man konzediert, daß ein Medium die Abgrenzung ist, gerade auch für das Recht, undurchführbar. Moral ist, anders gesagt, nicht etwa angewandte
Zukunft seiner eigenen Operationen als Focus für Externalisierungen benutzen kann. Zukunft ist und bleibt Ethik. Vielmehr gewinnt sie ihr Medium durch Bezugnahme auf Bedingungen, unter denen Menschen sich
610
extern insofern, als sie nie Realität werden, sondern immer nur erneut hinausgeschoben werden kann. Was selbst und andere achten bzw. mißachten.
612
611
realisierte Realität angeht, findet sich jedes System immer am Ende seiner Geschichte. Zugleich kann aber Die Möglichkeit, Achtung bzw. Mißachtung in Anspruch zu nehmen bzw. zum Ausdruck zu bringen, ist
in jedem Moment, in jeder Gegenwart, getestet werden, ob die Zukunft noch hält, was sie verspricht. Ob hoch diffus verfügbar. Die Form dieses Mediums grenzt sich nur dadurch ab, daß es nicht um Anerkennung
andere noch bereit sind, Geld anzunehmen, kann man nur in der Gegenwart, aber in jeder Gegenwart von besonderen Fertigkeiten oder Leistungen von Spezialisten geht, sondern um Inklusion von Personen
ausprobieren. Liebende schwören sich ewige Treue — im Moment für den Moment. Aber auch hier reiht sich schlechthin in die gesellschaftliche Kommunikation. Dies gehört jedenfalls zum expressiven Stil von Moral,
eine Situation an die andere, und man kann (so selbstdestruktiv das dann wirken mag) immer neu nachprüfen, gleichgültig ob dann Moralverstöße tatsächlich durch Exklusion, Kontaktunterbrechung oder
ob der Schwur noch gilt. Wahrheiten können schon morgen revidiert werden; aber um überzeugend zu sein, 613
Kontaktreduktion sanktioniert werden oder nicht. Ferner ist unerläßlich, daß doppelter Kontingenz
müssen die neuen Wahrheiten auch eine Erklärung für das anbieten können, was, wie man nun weiß, die alten Rechnung getragen wird und zur Überbrückung dieselben Achtungs/Mißachtungsbedingungen sowohl für
Wahrheiten falsch erklärt hatten, denn anderenfalls ergäbe sich gar keine Substitutionskonkurrenz. Ego als auch für Alter proklamiert werden — von welcher Seite immer. Diese Erfordernisse werden
Wir können demnach sehr wohl von einer Selbstvalidierung der Medien ausgehen und sogar bestimmte zusammengefaßt in der Form einer binären Codierung, die (für beide Seiten gleichermaßen) gutes und
Formerfordernisse daraus ableiten. Wir brauchen nur eine hinreichend fein gearbeitete Theorie der Zeit, die schlechtes Verhalten oder, wenn innere Einstellungen zum eigenen Verhalten mit in Betracht gezogen werden,
die Gegenwart als Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft bestimmt. Wenn immer Diskontinuitäten gutes und böses Verhalten unterscheidet. Auch wenn die Gesellschaft massenhaft moralisch neutrales
zwischen Vergangenheit und Zukunft relevant werden (und nur so kann ja künftige Akzeptabilität zum Verhalten vorsieht, enthält die Moral selbst keinen dritten Wert und läßt deshalb erhebliche Fluktuationen im
Problem werden), ist die Gegenwart die Bruchstelle und der Ort, an dem Erwartungen überprüft und erneuert Themenbereich von Moralisierungen zu. Im Theater Jeans zu tragen, gilt nicht länger als Verstoß gegen die
werden können; und zugleich der einzige Zeitort, an dem real und weltgleichzeitig gehandelt werden kann. Moral, während unter ökologischen Gesichtspunkten moralisiert werden kann, welches Waschpulver und
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien können, wie alle Kommunikation, nur die Gegenwart welche Art Papier man benutzt.
benutzen, um die Differenz von Spezifikation und Generalisierung (Kondensation und Konfirmation) zu Der Buchdruck einerseits und die Ausdifferenzierung von besonders codierten symbolisch codierten
überbrücken. Und dies kann nur mittels einer Führung durch die Erwartungen geschehen, die das Medium Kommunikationsmedien andererseits hat diesen Bereich moralischer Kommunikation mit veränderten
selbst produziert und reproduziert. Insofern kann man von Selbstvalidierung sprechen. Konstellationen konfrontiert. Die Moral ist jetzt nur noch Moral. Sie verliert ihre kosmologische und damit
Das Problem liegt demnach nicht in der tautologisch-paradoxen Formulierung, die sich über die magische Verankerung, die Nähe ihres Negativurteils zu Unreinem, Widerwärtigem, Abscheulichem.
Zeitdimension auflösen läßt. Es liegt sehr viel mehr in der Frage, ob generalisierte medienspezifische 614
Verstöße werden erklärbar und ihre Beurteilung damit auf die Umstände ableitbar. Die magischen Formen
Zukunftserwartungen unter allen Umständen reproduziert werden können, oder ob es Erfahrungen mit 615
der Wirksamkeit und der Bekämpfung des Bösen verschwinden. Man kann offenbar nicht mehr
Gesellschaft gibt, die dies verhindern oder doch entscheidend schwächen. An Hinweisen fehlt es nicht, etwa
612
Dazu bereits oben Abschnitt .... und ausführlicher Niklas Luhmann, Soziologie der Moral, in: Niklas Luhmann / Stephan
609 H. Pfürtner (Hrsg.), Theorietechnik und Moral, Frankfurt 1978, S. 8-116.
Siehe dazu Floyd H. Allport, Institutional Behavior: Essays Toward a Re-interpreting of Contemporary Social
613
Organization, Chapel Hill 1933. Nicht zufällig ist Allport von da aus später zu einer eigenwilligen sozialpsychologischen Hier setzt dann in der moralkritischen Diskussion der Neuzeit der Vorwurf der Heuchelei (hypocrasy) ein, der natürlich
Theorie gelangt, die von der Unterscheidung von "structure" und "event" ausgeht. berechtigt ist, aber gerade nicht in Frage stellt, daß mit Bezug auf das Medium Moral kommuniziert wird. Im Grunde geht
610 es hier nur um die utopische Vorstellung, daß die Leute tatsächlich meinen müßten, was sie sagen.
Hierzu Niklas Luhmann, The Future Cannot Begin: Temporal Structures in Modern Society, Social Research 43 (1976),
614
S. 130-152. Vgl. für einen Überblick über sehr verschiedenartige Ausprägungen, die nicht nur regional, sondern auch nach
611 Hochkultur und Volkskultur divergieren, David Parkin (Hrsg.), The Anthropology of Evil, Oxford 1985.
Bernard Anconi, Apprentissage, temps historique et évolution économique, Revue internationale de systémique 7
615
(1993), S. 593-612 (597 f.), formuliert noch härter: "Le système est toujours à la fin des temps", konzediert dann aber Ob deswegen auch Worte wie "böse" oder "evil" weniger gebraucht werden, ist umstritten geblieben und wohl schwer
sofort, daß das nicht im Widerspruch stehe zur Offenheit der Zukunft. nachzuweisen. Siehe dazu Alan MacFarlane, The Culture of Capitalism, Oxford 1987, S. 98 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 181 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 182

voraussetzen, daß ein Verhalten durch böse Geister inspiriert oder sonstwie schlechthin verdammungswürdig verfügbar, und zwar sowohl auf der Ebene der Interaktion unter Anwesenden als auch im Bereich der
ist oder zur dunklen Seite der Welt gehört wie die Teufel oder die Hexen. Man kann und muß nach den Kommunikation über Massenmedien. Vor allem das Fernsehen hat zu einer unübersehbaren Alltagsaktualität
Motiven des Verhaltens fragen, und das schwächt die Verurteilung durch weitere Überlegungen ab. moralischer Kommunikation geführt.
Im 17. Jahrhundert mehren sich die Anzeichen dafür, daß der Moralcode entontologisiert und als Einheit Die entscheidenden Veränderungen finden sich im Verhältnis von medialem Substrat und den Formen,
616
gesehen wird. Ohne Laster kann es keine Tugenden geben. Das moralische Urteilen wird selber verurteilt. die mit Hilfe des Mediums gebildet werden und es regenerieren. Während das Medium stabil ist und sich für
Das kosmische Ringen im Paradise Lost, in dem Gott aus allem Bösen noch etwas Gutes zu machen sucht, alle möglichen Kommunikationen zur Verfügung hält, sind die Konditionen für Achtung und Mißachtung, und
und der Teufel, dadurch als Prinzip gefährdet, im Gegenzug im Guten etwas Böses entdeckt, findet in das sind die Regeln für die im Medium gebildeten Formen, eher instabil und jedenfalls nicht mehr
Wahrheit in der menschlichen Seele statt — und geht hier unentschieden aus. Annähernd gleichzeitig wird die durchgehend konsensfähig. Die Polizei hat hier andere Vorstellungen als die Drogenkonsumenten, die
Moral aus der Obhut der Religion entlassen und verliert dadurch sowohl heteronome Beschränkungen als Studenten andere als Herren in den Chefetagen der großen Wirtschaftsunternehmen, die
auch Sicherheit. Das deutet sich bereits in der science de moeurs und den courtesy-Lehren des 17. Professionsangehörigen andere als ihre Klienten. Ebenso gibt es krasse regionale Differenzen, was zum
Jahrhunderts an, vollends aber im Führungswechsel von Religion und Moral in den semantischen Prioritäten Beispiel ethnische und religiöse Gesichtspunkte betrifft, und nicht zuletzt Unterschiede im moralischen
des 18. Jahrhunderts. Man appelliert jetzt an Moral, wenn es darum geht, religiöse Toleranz durchzusetzen, Akzeptieren der Relativität aller moralischen Urteile und der daraus folgenden Normierung von
und die Religionen selbst werden dem Kulturvergleich überlassen, wenn nicht vor den Richterstuhl der Moral Zurückhaltung und Toleranz. Die Differenz von medialem Substrat (loser Kopplung) und medialen Formen
zitiert. Unter Abkopplung von der alten Bindung an (gute) Manieren, wie man sie noch bei Montesquieu oder (strikter Kopplung) wird also voll ausgenutzt, und das führt zu einer Gleichzeitigkeit von Konsens und
bei seinem Bewunderer Lord Kames finden kann, verändert der Begriff der Moral im 18. Jahrhundert seinen Dissens, Stabilität und Instabilität, Notwendigkeit und Kontingenz in der moralischen Kommunikation.
Sinn. Er wird jetzt nicht mehr nahezu gleichbedeutend mit "sozial" gebraucht (so zum Beispiel noch in In älteren Gesellschaften hätte es wenig Sinn gemacht, noch wäre es verstanden worden, in dieser Weise
Formulierungen wie: certitude morale, personne morale für juristische Persönlichkeit, oder ius est facultas zwischen medialem Substrat und temporären medialen Formen zu unterscheiden. Statt dessen formulierte man
moralis agendi), sondern gewinnt ein spezifisches Anforderungsprofil. Er übernimmt sogar politisch- das Problem mit Hilfe einer Hierarchievorstellung, in der die oberen Normen invariant, die unteren dagegen je
617
subversive und generell "emanzipatorische" Funktionen. Das wiederum führt die Moral in einen nach Zeit und Situation variabel gedacht waren. Das Problem war in die Normordnung selbst eingebaut,und
619
Begründungsnotstand, dem zunächst über eine Theorie der Natur des Menschen und seiner sozialen = das Recht war, wie wir noch sehen werden , als Naturrecht konzipiert, dessen Beachtung mit Moral
moralischen Empfindungen (Shaftesbury, Hutcheson, Adam Smith) und schließlich über neuartige ethische konvergierte. Der Zusammenbruch einer solchen Legeshierarchie kann aber nicht so verstanden werden, daß
Theorien abgeholfen wird, die ihre Aufgabe darin sehen, vernünftige Gesichtspunkte für die Begründung nun alles variabel und kontingent geworden sei. Gerade weil Kontingenzbeobachtungen sich ausbreiten,
moralischer Urteile anzubieten. Alte, in der apokryphen oder in der spekulativen Literatur der Theologie kommt es zur Neuformulierung von damit kompatiblen "Werten". Gerade wenn in einer Hierarchie die
tradierte Zweifel, ob man gut und böse überhaupt als Prinzipien unterscheiden könne, treten jetzt offenbar zu Differenz von oben und unten im Kurzschluß kollabiert, kommt es zur Frage nach externen
Tage: Mandeville, Sade. Aber gerade jetzt, wo es darauf ohne religiöses Auffangnetz so sehr ankommt, Bezugsgesichtspunkten, die das überdauern. "Supertangling creates a new inviolate level", meint Douglas R.
620
können solche Zweifel sich gegen eine Moral, die sich selber für gut hält, nicht durchsetzen. Hofstädter. Und logische Unentscheidbarkeiten müssen "gödelisiert", das heißt: durch Externalisierung
618
Das alles kann hier nur skizzenhaft angedeutet werden. Will man nachzeichnen, welche Konsequenzen curiert werden.
die Veränderungen im Kommunikationssystem Gesellschaft für die Moral haben, genügt es nicht, sich auf Was Moral betrifft, so finden man jetzt typisch einen unformulierten (unterstellten) Konsens in
ideengeschichtliche Analysen zu stützen. So wichtig solche Indikatoren sein mögen: wir benötigen eine Wertbeziehungen. Niemand findet sich, der sagt, er sei gegen Frieden, gegen Gerechtigkeit, gegen Ehrlichkeit,
formalere Begrifflichkeit, da es darum geht, das Verhältnis der Verbreitungstechnologien und der symbolisch gegen Gesundheit etc. Damit wird aber keinerlei Vorsorge für Wertkonflikte getroffen. Über Wertkonflikte,
generalisierten, aber problemspezifischen Kommunikationsmedien zur Moral zu beurteilen. Deshalb greifen und nur in Konfliktfällen werden Werte überhaupt relevant, kann immer nur situationsabhängig, nur ad hoc,
wir auf die Unterscheidung von Medium und Form (oben Abschnitt ...) zurück. Das spezifische, aber zugleich nur in Teilsystemen der Gesellschaft bzw. nur von Einzelpersonen entschieden werden. In dieser Hinsicht
universale Medium der Moral wird durch die codierte Unterscheidung von Achtung und Mißachtung kommt es dann typisch zu moralischen Dissensen über die Formen der Moral, über die Bedingungen von
bereitgestellt. Dessen Elemente bestehen aus Kommunikationen, die zum Ausdruck bringen, ob bestimmte Achtung und Mißachtung. Der eine rechtfertigt Ungleichheiten (zum Beispiel in der Gewährung von
Personen zu achten oder zu mißachten sind. Die Form der Elemente des Mediums (also die Form des Krediten), weil sich dies aus der Funktionslogik des Wirtschaftssystems ergibt und anders eine bestmögliche
medialen Substrats im Unterschied zu den im Medium gebildeten Formen) unterscheiden sich nur durch die Ausnutzung wirtschaftlicher Ressourcen zur Bedarfsdeckung (Wohlstand) nicht erreichbar ist; der andere ist
spezifische Codierung Achtung/Mißachtung, gut/schlecht und durch die Unterscheidung von bloßer dagegen, weil auf diese Weise derjenige keine Kredite bekommt, der es am nötigsten hat.
Anerkennung von Fertigkeiten bzw. Leistungen. Sowohl der Bezug auf einzelne Personen (Man kann nicht die Nach all dem kann jedoch keine Rede davon sein, daß die moderne Gesellschaft die Moralisierung ihrer
Menschheit achten bzw. verachten) als auch die Formalität der Code-Differenz garantieren die lose Kopplung Kommunikationen dem Belieben überläßt. Einerseits gibt es strukturell bedingte Anlässe für Moralisierungen
der Elemente des Mediums. Die hohe Individualisierung der Personreferenzen in der modernen Gesellschaft — zum Beispiel dort, wo die Codierung der Kommunikationsmedien bedroht ist, etwa das "fair play" im
verstärkt dieses "loose coupling". Man kann nicht gut eine ganze Familie verachten, weil einer ihrer Verhältnis von Regierung und Opposition (Watergate, Barschel) oder im Sport (doping). Vor allem aber ist
Angehörigen im Gefängnis sitzt oder die Tochter ein uneheliches Kind bekommen hat. Das Medium selbst hat das Verhältnis von Konsens und Dissens, von Notwendigkeit und Kontingenz, von Stabilität und Instabilität
infolge dieser losen Kopplung hohe Stabilität. Es wäre deshalb durchaus irrig, wollte man behaupten, daß in als solches bemerkenswert. Offenbar müssen beide Seiten dieser Unterscheidungen moralfähig sein. Die
der modernen Gesellschaft die Bedeutung der Moral abnimmt. Das Medium der Moral ist und bleibt Moral aktualisiert sich in der Einheit der Differenz der beiden Seiten dieser Unterscheidungen, wobei die
Einheit selbst (und damit auch das Paradox der Unterscheidungen) sich der Kommunikation entzieht. Man
kann die Tatsache, daß konsensfähige Werte erst im Wertkonflikt relevant werden, für den dann keine
616
"No man can justly censure or condemn another, indeed no man truly knows another". Und: "Further no man can judge konsensfähige Lösung mehr zur Verfügung steht, nicht ihrerseits wieder bewerten. Man kann kein Prinzip
another because no man knows himself", liest man in: Thomas Browne, Religio Medici and Other Writings (1643), zit. daraus machen, daß Prinzipien nur mit Einschränkungen praktikabel sind, deren Zulassung nicht auf gleichem
nach der Ausgabe der Everyman's Library, London 1965, S. 72. Abstraktionsniveau spezifiziert werden kann. Die Darstellung dieses Problems mit Hilfe der Unterscheidung
617
Siehe zu diesem Sinnwandel von "Moral" und für einen sehr umfangreichen Forschungskomplex etwa Marcel Thomann, von stabilem medialem Substrat und temporären, also instabilen Formen, die sich in diesem Medium
Histoire de l'idéologie juridique au XVIIIe siècle, ou: "Le droit prisonnier des mots", Archives de philosophie du droit 19
(1974), S. 127-149.
619
618 Vgl. unten Kap. 5.....
Vgl. auch Niklas Luhmann, Ethik als Reflexionstheorie der Moral, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3,
620
Frankfurt 1989, S. 259-357; ferner den Abschnitt über Universalisierung der Moral in Kap. 5. in: Gödel, Escher, Bach: An Eternal Golden Braid, Hassocks, Sussex, UK 1979, S. 688.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 183 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 184

aktualisieren, ist eine theoretische, aber nicht selber moralfähige Darstellung des Problems. Aber gerade sie genauen, paradoxen Sinne der Utopia des Thomas Morus. Sie bezeichnet einen topos, der nicht zu finden ist,
macht erkennbar, wie sich die Hyperkomplexität der modernen Gesellschaft auf die Moral auswirkt. einen Ort, den es nicht gibt. Unter dem Namen Ethik schafft die Gesellschaft sich die Möglichkeit, die
Im übrigen lassen sich so auch Gemeinsamkeiten der Moral und der symbolisch generalisierten Negation des Systems in das System einzuführen und auf honorige Weise darüber zu reden. Daß es diese
Kommunikationsmedien erkennen. Auch für Geld gilt zum Beispiel, daß das mediale Substrat des Gegensoll-Ethik gibt, belegt die Autonomie und die operative Schließung des Systems, das in der Lage ist,
Zahlungsmittels, die Akzeptierbarkeit von Geld in der Autopoiesis des Wirtschaftssystems, sehr viel auch mit der Negation des Systems im System umzugehen. Denn von außen kann die Gesellschaft nicht
dauerhafter garantiert werden muß und kann als die Formen, die sich mit Hilfe dieses Mediums bilden, also negiert, sondern nur destruiert werden.
die gezahlten Preise. Nur Inflationen bzw. Deflationen lassen diese Differenz eventuell kollabieren, indem sie
den Geldwert und die Preise in kurzschlüssig-zirkuläre Interdependenzen versetzen. Und ähnlich, könnte man
vermuten, kann es auch Inflationierungen bzw. Deflationierungen der Moral geben mit unmittelbarer Gefahr
des Übergangs in Gewalt, weil die gleichzeitige Aktualisierung von stabilen Medien und instabilen Formen XIV. Auswirkungen auf die Evolution des Gesellschaftssystems
nicht mehr aufrechterhalten werden kann.
Dies alles zugestanden dürfte die wichtigste Veränderung der Funktion moralischer Kommunikation Will man wissen, wie weit und mit welchen Konsequenzen symbolisch generalisierte Medien die
darin liegen, daß die Moral nicht mehr dazu dienen kann, die Gesellschaft im Blick auf ihren bestmöglichen moderne Gesellschaft bestimmen und ihre weitere Evolution konditionieren, muß man nicht nur an die
Zustand zu integrieren. Dies ist schon dadurch ausgeschlossen, daß die besonderen symbolisch generalisierten Unausgewogenheit ihres eigenen Wachstums denken. Auch in anderen Hinsichten ist ihre Wirkungsweise
Kommunikationsmedien eigenen binären Codes folgen, deren Positiv/Negativwerte nicht mit denen der Moral begrenzt, denn gerade in der Begrenzung liegen ihre Chancen. Die Gesellschaft ist kein Nullsummenspiel. Sie
gleichgesetzt werden können. Machthaber, Eigentümer, Liebhaber, erfolgreiche Forscher sind nicht im bezug entwickelt Komplexität mit Hilfe von dafür geeigneten Komplexitätsreduktionen.
auf je ihren Code zugleich als moralisch besser ausgewiesen, und erst recht würde die Gesellschaft es nicht Die wichtigsten Gesichtspunkte liegen bereits in den vorangegangenen Überlegungen begründet und
akzeptieren, diejenigen, die machtlos sind, kein Eigentum haben, nicht lieben können usw. deshalb der müssen nur noch herausgezogen und vorgestellt werden. Vor allem: Medien ordnen, bei aller Normalisierung
moralischen Verachtung preiszugeben. Wenn die Inkongruenz aller Codes untereinander und in ihrem ihres Gebrauchs (zum Beispiel im Umgang mit Geld) niemals das vollständige Alltagsverhalten. Liebe hat
Verhältnis zum Moralcode offen zu tage tritt, muß die Gesellschaft darauf verzichten, sich selbst als sich im Alltag, nicht als Alltag zu bewähren. Will man Kunst genießen, muß man erstmal wissen, wo sie zu
moralische Anstalt zu begreifen. 622
finden ist. Der Machthaber braucht auch ein Zimmer, einen Schreibtisch, ein Telephon. Wenn Medien die
Aber das schließt moralisierende Kommunikation keineswegs aus. Manches deutet vielmehr darauf hin, Autopoiesis eines Systems organisieren, gibt es in diesen Systemen immer viel mehr Kommunikation als nur
daß die Moral jetzt eine Art Alarmierfunktion übernimmt. Sie kristallisiert dort, wo dringende gesellschaftliche das autopoietische Minimum (so wie eine Zelle viel mehr chemische Moleküle enthält als nur die, welche die
Probleme auffallen und man nicht sieht, wie sie mit den Mitteln der symbolisch generalisierten Autopoiesis im strengen Sinne durchführen). Gerade in dieser Zuordnung von Alltagsverhalten zu einem
Kommunikationsmedien und in den entsprechenden Funktionssystemen gelöst werden könnten. Offenbar autopoietischen Prozeß besteht der "Mehrwert", der durch Systembildung erreicht werden kann. Die
rekrutiert die Gesellschaft für gravierende Folgeprobleme ihrer eigenen Strukturen und vor allem ihrer 623
Autopoiesis der Wirtschaft besteht in der Reproduktion von Zahlungen durch Zahlungen ; aber natürlich
Differenzierungsform moralische Kommunikation. Solange dies zur Rechtfertigung von Zentrum/Peripherie- gibt es kein Wirtschaftssystem, das nur dies und nichts anderes vorsieht.
Differenzierungen oder zur Rechtfertigung von Stratifikation diente, konnte man den Eindruck haben und Daß keiner der Mediencodes Kongruenz mit dem Moralcode erreichen kann, daß Eigentümer nicht mehr
pflegen, daß die Gesellschaft selbst in ihrem Zentrum oder an ihrer Spitze moralisch integriert sei. In der Achtung verdienen als Nichteigentümer (schon weil jedermann Nichteigentümer fast aller Güter ist, wie reich
modernen Gesellschaft läßt sich diese Vorstellung nicht mehr halten. Moralische Kommunikation wird jetzt immer er sein mag), hatten wir schon mehrfach betont. In dem Maße, als die Systemdifferenzierung der
freigegeben und dorthin geleitet, wo beunruhigende Realitäten sichtbar werden: die soziale Frage des 19. Gesellschaft sich auf symbolisch generalisierte Medien stützt, wird diese Distanz zur Moral
Jahrhunderts, die weltweit krassen Wohlstandsunterschiede und die ökologischen Probleme dieses funktionsnotwendig, aber zugleich wird die Moral selbst damit zur frei flottierenden, störenden und stützenden
Jahrhunderts, denen offenbar weder wirtschaftlich noch politisch beizukommen ist. Das führt zu einer (freilich Orientierung; jedenfalls aber nicht zu einem Letztprinzip vernünftiger Begründung.
hoch selektiven) Inflationierung moralischer Kommunikation. Ihr Code ist ohne klare Direktiven leicht Angesichts dieser Lage kann sich auch die aus den Hochkulturen überlieferte Kongruenz von Moral und
aktualisierbar; ihre Kriterien (Regeln, Programme) aber nicht mehr konsensfähig. Moral nimmt dann Religion mit ihrer Himmel/Hölle-Theologie nicht mehr halten. Man kann und braucht Prediger nicht daran
polemogene Züge an: sie entsteht aus Konflikten und feuert Konflikte an. hindern zu moralisieren. Es ist immer gut, sich für das Gute einzusetzen. Die Verlegenheiten der Religion in
Zu den wichtigsten Problemen, die heute moralisch geladene Aufmerksamkeit auf sich ziehen, gehören einer "säkularisierten" Gesellschaft werden denn auch oft mit Moral überbrückt. Die Religion selbst wäre
Praktiken, mit denen die Trennung der Code-Werte und damit die Codierungen der symbolisch generalisierten jedoch gut beraten, wenn sie auf Distanz zur Moral achten würde. Ob der alte Mechanismus, inkonsistentes
Kommunikationsmedien sabotiert werden. Das gilt für das Unterlaufen der Recht/Unrecht-Unterscheidung Verhalten, nämlich Sünde und Reue zu verlangen, dafür ausreicht und ob es ausreicht, daß Jüngste Gericht als
durch Korruption, es gilt für entsprechende Phänomene im Bereich der Parteipolitik (Watergate). Es gilt für Überraschung für die Gerechten und für die Sünder in Aussicht zu stellen, mag man bezweifeln. Jedenfalls hat
das Benutzen von Insider-Wissen bei Börsengeschäften und für die weit verbreitete Praxis des doping im die Religion seit langem in der Duplikationsregel Immanenz/Transzendenz (die sie natürlich nicht als
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Leistungssport. In all diesen Fällen wird das Problem durch die Berichterstattung der Massenmedien in Duplikationsregel reflektieren kann) einen eigenen Code, der ebenso quersteht zur Moral wie die
Skandale transformiert und damit moralisch aufgewertet. Andererseits führt die Verbreitung dieser 624
Präferenzcodes der Medien. Selbst mit diesem Code kann die Religion jedoch keine Kontrolle der
Phänomene (die Skandale leben davon, daß andere Fälle nicht entdeckt werden) zu praktischer Ratlosigkeit. symbolisch generalisierten Medien erreichen. Auch sie kann, anders gesagt, keinen Supercode anbieten,
Aus der Entrüstung, die leicht zu erregen ist, folgt noch nicht, was praktisch wirksam zu tun ist. Die sondern nur eine eigene Weise, die Welt zu beschreiben.
Unwahrscheinlichkeit der Codierung hat ihr Korrelat in der Wahrscheinlichkeit der Sabotage. Gegen Insider- Schließlich ist zu beachten, daß symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien nur für
Skandale dieses Typs wird es denn auch kaum helfen, wenn man das Netz der ethischen Regulierungen auf Funktionsbereiche geeignet sind, in denen das Problem und der angestrebte Erfolg in der Kommunikation
Grund von Fallerfahrungen enger und enger strickt. Helfen kann nur das Recht, das Verstösse mit selbst liegen. Ihre Funktion ist erfüllt, wenn die Selektion einer Kommunikation weiteren Kommunikationen
gravierenden Folgen sanktioniert (wenn es korruptionsfrei gehandhabt werden kann).
Von "Ethik" spricht man jetzt, um die Illusion zu pflegen, es gebe für diese Fälle vernünftig begründbare 622
und praktikable Entscheidungsregeln. In Wirklichkeit hat diese Ethik jedoch die Funktion einer Utopie in dem So Lenin 1917 im Smolny Institute in St. Petersburg.
623
Hierzu Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988.
621 624
Hierzu jetzt die ausführliche Untersuchung von Karl-Heinrich Bette / Uwe Schimank, Doping im Hochleistungssport, Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Die Ausdifferenzierung der Religion, in ders., Gesellschaftsstruktur und
Frankfurt 1995. Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 259-357.
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als Prämisse zugrunde gelegt wird. Sie eignen sich deshalb nicht für Kommunikationsbereiche, deren Funktion Diese Überlegungen hinterlassen eine gewisse Skepsis im Hinblick auf die Möglichkeiten einer Theorie
in einer Änderung der Umwelt liegt — sei dies eine Änderung der physisch-chemisch-biologischen Umstände, der Kultur. Der in allem Sinn aktualisierte Verweisungsüberschuß und gerade die Konkretheit der darin
sei es eine Änderung menschlicher Körper, sei es eine Änderung von Bewußtsseinsstrukturen. Es gibt deshalb angelegten Kondensationen lassen nur ein selektives Prozessieren zu. Es muß etwas gesagt werden — und das
keine symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien für Technologie, für Krankenbehandlung und für heißt: anderes nicht. Man kann sich interpretative oder "hermeneutische" Verfahren denken, die im Umgang
Erziehung. In diesen Fällen tritt das Problem, das die Autokatalyse von symbolisch generalisierten Medien in mit Sinn und im Durchgang durch ihre eigenen Resultate eigenen Sinn kondensieren. Aber damit wiederholt
Gang setzt, nämlich das Problem sehr hoher Ablehnungswahrscheinlichkeit, gar nicht auf. Zumindest für sich nur, wenngleich auf eine geistreichere Weise, das Ausgangsproblem.
Krankenbehandlung und für Erziehung sind eigene gesellschaftliche Funktionssysteme ausdifferenziert, die Eine strukturelle Analyse der möglichen Kulturformen könnte beim Problem des Vergleichs und der
ohne eigenes Kommunikationsmedium zurechtkommen müssen, vor allem mit hoher Abhängigkeit von Kontrolle ansetzen. Die Erweiterung der Vergleichs- und Kontrollmöglichkeiten beginnt mit der Schrift und
organisierter Interaktion. Keiner der drei Problembereiche ist durch ein einzelnes Kommunikationsmedium setzt sich über den Buchdruck bis zur heutigen maschinellen Informationsverarbeitung fort. Immer geht es
beherrscht, nicht durch Wahrheit und auch nicht durch Geld, obwohl der gegenwärtige Entwicklungsstand dabei um einen Vergleich von Eingaben mit Gedächtnis (wobei beides interne Einheiten sind). Vergleichende
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ohne ausdifferenzierte Wissenschaft und ohne Geldwirtschaft undenkbar wäre. Man muß deshalb davon Kontrolle leistet also, wie man im Gegensatz zum englischen Begriff "control" betonen muß, keine
ausgehen, daß die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems bei aller Bedeutung der symbolisch Beherrschung von Kausalität. Sie tendiert im Gegenteil dazu, bewußt zu machen, daß es an einer solchen
generalisierten Kommunikationsmedien nicht einfach dem Medienschema folgen kann, sondern sich nach den Beherrschung fehlt.
Problemen richtet, die die Gesellschaft auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau zu lösen hat. Fragt man nach den semantischen Formen, mit denen die Gesellschaft auf die Zunahme von
Diese Überlegungen zum gesellschaftlichen Kontext der symbolisch generalisierten Kontrollmöglichkeiten reagiert, so stößt man zunächst auf zweckorientierte Semantiken. Nach Einführung des
Kommunikationsmedien können uns schließlich helfen, das Rätsel des Wertmediums zu lösen. Es handelt sich, Alphabets kommt es zur Erfindung der Teleologie als einer Möglichkeit, unter Inanspruchnahme von Zeit
wie wir gesehen haben, nicht um ein voll entwickeltes symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium. Es komplexer werdende Materialien noch unter Einheitsgesichtspunkten zu ordnen. Der Gedanke ist: die
fehlt ein Zentralcode und damit auch die klare Differenz von Codierung und Programmierung; es fehlen natürlichen Bewegungen haben ein natürliches Ende, an dem sie im Zustande der Perfektion zur Ruhe
symbiotische Symbole (was nicht ausschließt, Leben einen Wert zu nennen), und es fehlt ein kommen, und man kann Informationen dann vergleichen im Hinblick darauf, was sie für das Erreichen dieses
Systembildungspotential. Was es dennoch rechtfertigt, von einem Medium zu sprechen, ist die lose Kopplung Endes oder sein Verfehlen besagen. (Deshalb muß Perfektion korruptibel und Natur normativ gedacht
zahlloser Handlungsmöglichkeiten unter Wertgesichtspunkten, die dann durch Wertabwägungen im Einzelfall werden). Wir kennen dieses Theoriemuster unter dem Namen Aristoteles.
eine Form gewinnen. Unbestreitbar sind auch die Eigenständigkeit, die Ausdifferenzierung und der spezifische Die Steigerung der Vergleichs- und Kontrollmöglichkeiten durch den Buchdruck sabotiert diese
Universalismus dieses Mediums. Alle Werte anderer Medien wie Wahrheit oder Reichtum, Liebe, Schönheit Naturteleologie. Teils gibt man die Orientierung an einem zeitlichen Ende (und dann auch: an einem zeitlichen
oder Macht sind im Wertmedium nur Werte unter Werten, und das spezifische Kontingenzmanagement der Anfang) überhaupt auf und restrukturiert die Naturerkenntnis mit Hilfe von Naturgesetzen und/oder
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andere Medien ist, wenn es um Werte als Werte geht, unanwendbar. Andererseits wird bei Werten die Gleichgewichtsvorstellungen. Teils subjektiviert man die Teleologie, so daß es bei Zwecken jetzt nicht mehr
Annahmemotivation nicht erzeugt, sondern vorausgesetzt. auf das natürlich-gute Ende einer natürlichen (inclusive: menschlichen) Bewegung ankommt, sondern auf eine
Wir sehen in diesen Wertbeziehungen ein Verbindungsmedium zwischen den voll funktionsfähigen mentale (und insofern auch: gedächtnismäßige) Antezipation, die ihrerseits menschliches Handeln mit
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Kommunikationsmedien und der Gesellschaft im übrigen. Deshalb die Möglichkeiten einer unmittelbaren entsprechenden Folgen bewirkt. Die neuzeitliche Rationalität der Machbarkeit wird dann bezogen auf die
Umsetzung in Alltagsverhalten durch unauffällig-selbstverständliche Bezugnahme auf Werte; deshalb die Frage, ob und wie weit dies gelingt. Eine der Folgen dieser mit dem Namen Descartes verbundenen
Möglichkeit der Bezugnahme auf Moral und Religion, wie vor allem eine neuere Diskussion über Bifurkation von ausgedehnten und mentalen Existenzen ist der Verzicht auf die Vorstellung einer
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"Zivilreligion" zeigt; deshalb die übergreifende Relevanz, die auch Erziehung, Krankenbehandlung und Weltrationalität mit der Konsequenz, daß sich eine extrem unruhige Kultur des Gegenangehens entwickelt.
neuerdings sogar Technologien zur Werteabwägung verurteilt. Deshalb die Notwendigkeit eines Verzichts auf Man hält in der Form eines Riesengedächtnisses fest, was man erwartet hatte, und muß dann an neuen
Zentralcodierung. Die spezifische Modernität der Werte liegt letztlich darin, daß sie als Form wie auch bei Informationen erkennen, daß es so nicht eingetroffen ist. Dann muß das System neue Mittel aktivieren oder
allen Anwendungen nicht auf Einheit hinführen, sondern auf Differenz. Und schließlich fällt jenes "strange seine Memoiren korrigieren, um das, was es erwarten kann, auf den neuesten Stand zu bringen. Der Vergleich
loop" (Hofstadter) auf, das darin besteht, daß die höchsten Werte auf den untersten Ebenen der des Istzustandes mit dem Sollzustand, den man selbst gesetzt hatte, wird zum Dauerproblem, und die
gesellschaftlichen Kommunikation abgesichert sein müssen, und hier nicht durch Begründung, sondern durch laufenden Korrekturnotwendigkeiten ruinieren allmählich das, was an Bindungen vorausgesetzt war. Es
Nichtmarkierung, durch bloße Unterstellung. bleiben schließlich nur noch die Werte als Formen der Selbstbestätigung von Kultur.
Im Zusammenwirken aller Kommunikationsmedien — der Sprache, der Verbreitungsmedien und der Ob die Erfindung des Computers, die ja zunächst nur die Kontrollmöglichkeiten im Sinne des Vergleichs
symbolisch generalisierten Medien — kondensiert das, was man mit einem Gesamtausdruck Kultur nennen von Information mit Gedächtnis nochmals erweitert, daran etwas ändern kann, ist nicht sicher vorauszusehen.
könnte. Kondensierung soll dabei heißen, daß der jeweils benutzte Sinn durch Wiederbenutzung in Damit bleibt auch offen, was auf diese Möglichkeiten hin als Kultur kondensieren wird. Daß der Computer
verschiedenen Situationen einerseits derselbe bleibt (denn sonst läge keine Wiederbenutzung vor), sich aber das durchschnittliche Erfüllungsniveau von Erwartungen steigern kann, wenn er zugleich Erwartungen
andererseits konfirmiert und dabei mit Bedeutungen anreichert, die nicht mehr auf eine Formel gebracht speichert, ist eher unwahrscheinlich. Erreichbar ist eine bessere und raschere Organisierung von Komplexität.
werden können. Das legt die Vermutung nahe, daß der Verweisungsüberschuß von Sinn selbst ein Resultat Damit können auch Erwartungen besser vorgetestet werden, bevor sie gespeichert werden - aber doch immer
der Kondensierung und Konfirmierung von Sinn ist und daß Kommunikation diejenige Operation ist, die sich nur mit Hilfe der Technik vergleichender Kontrolle, also immer nur vergangenheitsbezogen. Es ist kaum zu
damit ihr eigenes Medium schafft. befürchten, daß dies zu einer errechneten Kultur führen wird, denn Sinnformen kondensieren nur in der
Kommunikation selbst. Eher wird man annehmen müssen, daß die Beschleunigung der Kontrolloperationen
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dasjenige Moment sein wird, auf das die Kultur reagieren muß, — und dies dann wohl mit einem Verzicht auf
Wir behaupten diese Eigenständigkeit extern gerichteter (immer natürlich: kommunikativer) Bemühungen explizit auch eine Positivwertung zeitlicher Beständigkeit.
für Technologie, sehen also auch und gerade in der heutigen Technologie mehr als nur angewandte Wissenschaft. Siehe
Kapitel 3 ... Zahllose technologische Probleme — vom Eisenbahnbau bis zur modernen Sicherheitstechnologie — können
nicht durch "Lesen" gelöst werden, sondern sind auf Bau und Ausprobieren genau der Anlagen angewiesen, die man
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konstruieren will. Daß dies wissenschaftlich ausgebildetes Personal voraussetzt, versteht sich von selbst. Aber auch dessen Siehe zur Datierung Anfang des 17. Jahrhunderts Edgar Zilsel, The Genesis of the Concept of Physical Law,
Ausbildung ist keine Forschung, sondern Erziehung. Philosophical Review 51 (1942), S. 245-279.
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Siehe Niklas Luhmann, Grundwerte als Zivilreligion: Zur wissenschaftlichen Karriere eines Themas, Archivio di Zu diesem Zweig der Ideenentwicklung Niklas Luhmann, Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer
Filosofia 46, No. 2-3 (1978), S. 51-71. Perspektive, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 2, Frankfurt 1981, S. 9-44.
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Strukturelle Analysen dieser Art haben jedoch nur exemplarischen Wert. Sie erfassen bestenfalls
einzelne Perspektiven, die dem Gesamtkomplex der modernen Kultur nicht gerecht werden, ihn nicht auf ein
Grundproblem reduzieren können. Selbst wenn man bei hochkomplexen Sachverhalten dieser Art auf eine Kapitel 3 Evolution
Beschreibung der phänomenalen Komplexität verzichten muß, bleibt immer noch die Möglichkeit, mit
genetischen Analysen zu arbeiten. Man kann fragen, wie es zustandekommt— selbst wenn man nicht erklären
kann, warum es so ist, wie es ist. Für Zwecke einer solchen genetischen Analyse ist es hilfreich, eine I. Schöpfung, Planung, Evolution
Systemtheorie zu benutzen, die Genauigkeit in der Bestimmung der Operationen verlangt, die das System mit
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seinen Grenzen produzieren und reproduzieren. Deshalb sind wir in diesem Kapitel dem Begriff der Gesellschaft ist das Resultat von Evolution. Man spricht auch von "Emergenz". Das ist aber nur eine
Kommunikation treu geblieben. Eine daran anschließende Theorie, die ebenfalls nur eine genetische Analyse Metapher, die nichts erklärt, sondern logisch auf eine Paradoxie zurückführt. Wenn das akzeptiert ist, kann
und keine Phänomenerklärung liefern kann, läuft heute unter dem Titel "Evolution". Ihr werden wir uns im man Evolutionstheorien beschreiben als Transformation eines logisch unlösbaren Problems in ein genetisches
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folgenden Kapitel zuwenden. Problem. Wie immer unbefriedigend evolutionstheoretische Erklärungen, gemessen an logischen,
wissenschaftstheoretischen und methodologischen Standards kausaler Erklärung und Prognose, ausfallen
mögen: es gibt heute keine andere Theorie, die den Aufbau und die Reproduktion der Strukturen des
Sozialsystems der Gesellschaft erklären könnte.
Damit haben wir zunächst aber nichts anderes getan als ein Wort genannt und auf eine eher verwirrende
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Diskussion Bezug genommen. Als Leitfaden für die weitere Analyse wird uns die Paradoxie der
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Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen dienen. Für Statistiker ist das eine Trivialität (oder auch: eine
falsche Anwendung statistischer Begriffe). Denn schließlich ist jede Merkmalsgesamtheit, etwa die Eigenart
eines bestimmten Menschen, wenn man nach den Bedingungen des Zusammenkommens eben dieser
Merkmale fragt, extrem unwahrscheinlich, nämlich das Resultat eines zufälligen Zusammentreffens; aber
zugleich ist diese Unwahrscheinlichkeit in jedem Falle gegeben, also ganz normal. Die Statistik kann und muß
dieses Problem ignorieren. Für die Evolutionstheorie liegt in der Auflösung dieser Paradoxie jedoch der
Ausgangspunkt. Die Unwahrscheinlichkeit des Überlebens isolierter Individuen oder auch isolierter Familien
wird transformiert in die (geringere) Unwahrscheinlichkeit ihrer strukturellen Koordination, und damit
beginnt die soziokulturelle Evolution. Die Evolutionstheorie verlagert das Problem in die Zeit und versucht,
zu klären, wie es möglich ist, daß immer voraussetzungsreichere, immer unwahrscheinlichere Strukturen
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entstehen und als normal funktionieren. Ihre Grundaussage ist: daß Evolution geringe
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Entstehenswahrscheinlichkeit in hohe Erhaltungswahrscheinlichkeit transformiert. Dies ist nur eine andere
Formulierung der geläufigeren Frage, wie aus Entropie (trotz des Entropiesatzes) Negentropie entstehen kann.
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Es geht, mit nochmals anderen Worten, um die Morphogenese von Komplexität.

629
Vgl. nur Colwyn L. Morgan, Emergent Evolution, New York 1923 oder, für eine Vielzahl von Dimensionen oder
Variablen von Emergenz, Anthony Wilden, System and Structure: Essays in Communication and Exchange, 2. Aufl.
London 1980, S. 351 ff. (375). Für einen neueren Überblick siehe auch Eric Bonabeau / Jean-Louis Dessalles / Alain
Grumbach, Characterizing Emergent Phenomena, Revue internationale de systémique 9 (1995), S. 327-346, 347-371.
630
So formuliert für den Fall der "Emergenz" von Selbstorganisation E. Bernard-Weil, Réévaluation des concepts d'auto-
organisation et d'émergence à la lumière de la systémique ago-antagoniste, Revue internationale de systémique 8 (1994), S.
315-335 (316). Dabei helfen freilich auch dialektische Lösungen nicht weiter, deren Logik erst recht undurchsichtig bleibt.
Eher müßte man an Versuche denken, mathematische Kalküle zu temporalisieren.
631
Für Überblicke über ihren angelsächsischen Zweig siehe Tim Ingold, Evolution and Social Life, Cambridge 1986, oder
Stephen K. Sanderson, Social Evolutionism: A Critical History, Oxford 1990.
632
Zu "l'improbable probable" vgl. Edgar Morin, La Méthode Bd. 1, Paris 1977, S. 294 ff. Das heute bereits klassische
"Paradigma" dafür ist die chemische Unwahrscheinlichkeit von DNA Molekülen.
633
In strukturalistischer Manier könnte eine entsprechende Theorie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen mit
Hilfe des Begriffs der Gewalt konstruiert werden. Die universell verteilte virtuelle Gewalt wird gedoppelt und in legitime
und nichtlegitime Gewalt unterschieden. Das geschieht nicht durch Sozialkontrakt (Hobbes), sondern durch Evolution. In
ihrer legitimen Form dient die Gewalt (heute als Staatsgewalt) dem Austreiben der illegitimen Gewalt. Mit dieser
Differenzierung wird Gewalt also durch Einschließen des Ausschließens gekennzeichnet, und Legitimität ist, so gesehen,
kein Wertbegriff, sondern eben dieses Einschließen des Ausschließens — eine Paradoxie, deren Auflösung sich als
Staatsgewalt (oder als deren funktionales Äquivalent) konstituiert. Siehe hierzu auch Dirk Baecker, Gewalt im System,
Soziale Welt 47 (1996), S. 92-109.
634
So Magoroh Maruyama, Postscript to the Second Cybernetics, American Scientist 51 (1963), S. 250-256.
635
Dies ist eine recht geläufige Ansicht. Sie geht letztlich auf Herbert Spencer zurück — auf die berühmte Formel des
"change from a state of indefinite, incoherent homogeneity to a state of definite, coherent heterogeneity", zit. nach What is
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Diese Zeit einbeziehende, auf Dynamik abstellende Problemstellung schließt es aus, Evolution lediglich bestimmten Zeitpunkte ihrerseits unwahrscheinlich. Spezifische Wahrscheinlichkeiten werden zu
an ihren strukturellen Resultaten abzulesen, zum Beispiel an ihren Auswirkungen auf die Verteilung von Erwartbarkeiten verdichtet, aber in einer fundamentalen Ungesichertheit aller Erwartungen macht sich noch
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Energie und Macht oder auf die Koordination von Integrationsebenen der Gesellschaft. Zwar ist es wichtig, bemerkbar, daß sie an sich unwahrscheinlich sind.
solche Resultate mitzuerfassen, etwa in der Form von Verteilungen der Handlungspotentiale auf "Ebenen" Im Relevanzbereich dieses Problems gibt es verschiedene Theorieangebote, gegen die sich die
oder "Subsysteme". Aber diese Resultate sind das, was die Evolutionstheorie erklären müßte. Die Evolutionstheorie zu profilieren hat. Schon seit langem hatte man die Komplexität des Weltbaus bewundert
638
Beschreibung der entstandenen Differenzen ist selbst noch keine Evolutionstheorie, und dies auch dann nicht, und darauf mit Schöpfungstheorien reagiert. Das hatte, wie man rückblickend feststellen kann, einen
wenn das Material in ein historisches Nacheinander eingeordnet, also als Sukzession dargestellt wird. Deshalb bedeutenden theoretischen Vorteil. Man konnte die Welt unterscheiden, nämlich sie als Werk, und zwar
sehen wir das Problem in der Morphogenese von Komplexität. Einheit der Gesamtheit aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge beschreiben und dabei eine andere Seite der
Die neueren Evolutionstheorien erklären die Morphogenese von Komplexität nicht durch ein Unterscheidung, eben Gott vorsehen, ja explizit oder implizit immer miterinnern. Die Genese einer komplexen
entsprechendes Gesetz, (das dann empirisch verifiziert werden kann) und auch nicht durch Ordnung wurde einer intelligenten Ursache zugeschrieben und die nicht begreifende Bewunderung der Weltin
Rationalitätsvorteile von Komplexität, was eine zielstrebige, wenn nicht intentionale Deutung von Evolution eine nicht begreifende Bewunderung Gottes umgeleitet. Ordnung ist die Ausführung eines Planes. Die Einheit
nahelegen würde. Vielmehr nimmt man an, daß die Evolution sich rekursiv verhält, das heißt: dasselbe der Ordnung wird gedanklich dupliziert in Ursache und Wirkung. Die Ursache ist der Schöpfergott, die
Verfahren iterativ auf die eigenen Resultate anwendet. Dann muß man aber genauer definieren, um was für Wirkung, in der die Ursache sich zu erkennen gibt, ist die Welt. Aber diese Erklärung befriedigt nur, wenn
ein "Verfahren" es sich handelt. Wir werden dies im folgenden in Anlehnung an das neodarwinistische Schema man an sie glaubt.
von Variation, Selektion und Restabilisierung versuchen. Schöpfungstheorien müssen hinreichend detailliert ausgeführt werden, damit an ihnen sowohl
Eine weitere Annahme, für die wir empirische Evidenz in Anspruch nehmen, lautet, daß im Laufe der Redundanz als auch Varietät abgelesen werden kann. Sie müssen die "diversitas temporum" mitverarbeiten
Evolution die auf dem Erdball zu findende Biomasse und ebenso, seitdem es Sprache gibt, die Menge der und für Positives wie für Negatives aufgeschlossen sein. Nur so können sie im Aufprall der täglichen
kommunikativen Ereignisse zugenommen hat. Dies ist zunächst eine rein quantitative und insofern leicht Ereignisse Information erzeugen. Die traditionellen Unterscheidungen von guten und schlechten Ereignissen
verifizierbare Feststellung. Will man den Befund erklären, führt das zu der Annahme, daß und von Perfektion und Korruption der Natur waren diesen Anforderungen gerecht geworden. Sie ließen sich
Mengensteigerungen dieser Art nur durch Differenzierungen möglich sind. Und im Bereich der sprachlichen durch theologische Theorien der Spezialprovidenz Gottes ergänzen, die es zum Beispiel als sinnvoll erscheinen
Kommunikation wird man hinzufügen müssen, daß die mögliche Menge enorm zunehmen wird, wenn ließen zu beten. In der frühen Neuzeit lösen sich diese Plausibilitätsbedingungen unter dem theoretischen und
Kommunikation auch neinläufig, also in der Form des Bestreitens oder Ablehnens von Kommunikationen methodischen Druck der Anforderungen naturwissenschaftlicher Forschung einerseits und menschlicher
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möglich ist. Hinter der Annahme eines quantitativen Wachstums steht also die Voraussetzung struktureller Handlungsspielräume andererseits auf. Die aristotelische Theorie der natürlichen Endzwecke wird
Differenzierungen nichtbeliebiger Art. Man kann dies auch auf die übliche Formel der Komplexitätssteigerung aufgegeben. Die These der göttlichen Weltschöpfung verliert daher jede Resonanz als Komplement täglichen
bringen, etwa mit Darwin auf die Formel der Differenzierung und Spezialisierung der Teile, sofern man nur Erlebens und Handelns. Sie erzeugt keine Informationen mehr und dient nur noch, gleichsam zur Schonung
die Zusatzannahme fallen läßt, daß höhere Komplexität einer besseren Anpassung der Systeme an ihre der überlieferten Religion, als Abschlußformel der Bezeichnung der anderenfalls unbeobachtbare Einheit der
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Umwelt dient. Mit all dem sind Richtungsangaben vorgeschlagen, aber dies erklärt noch nicht, weshalb es zur Welt. Nach einer längeren Phase der religiösen Quarantäne und der Suche nach neuen Symbiosen setzt sich
Transformation von Unwahrscheinlichkeiten in Wahrscheinlichkeiten und zu jenen differenzierungsgestützten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei aller theologischen Anstößigkeit die Evolutionstheorie durch.
Mengenzunahmen gekommen ist. Der Evolutionstheorie ist ein Problem vorgelegt, aber damit ist nur ein Die Schöpfungstheorie verzichtet auf Welterklärung und zieht sich auf Theologie zurück. Hier stellen sich
Rahmen abgesteckt, in dem nach Lösungen genau dieses Problems zu suchen ist. dann spezifische Probleme. Das "Nichts" der creatio ex nihilo kann nicht in der Vergangenheit zurückbleiben.
Die Evolutionstheorie arbeitet durchaus mit Kausalannahmen, verzichtet aber darauf, Evolution Es wird ständig benötigt, damit das Sein Sein sein kann. Die creatio continua erfordert eine ständige
kausalgesetzlich zu erklären. Vielmehr sind Unwiederholbarkeitsannahmen eingebaut, und in diesem Sinne Neuschöpfung auch das Nichts. Darum muß sich aber die Evolutionstheorie nicht kümmern.
handelt es sich um eine Theorie des geschichtlich-einmaligen Aufbaus von Systemen. Denn Evolution kommt Ein anderes Hindernis lag in den ontologischen Denkvoraussetzungen der Tradition, kombiniert mit
durch eine Nutzung von vorübergehenden, nicht bleibenden Bedingungen zustande. Genau darin, daß dies einem geringen Auflösevermögen der Wissenschaft. Man sprach von den Arten und Gattungen der
möglich ist, besteht die Chance des Aufbaus einer unwahrscheinlichen Ordnung im Laufe der Zeit. Evolution Lebewesen, die man nach dem Schema Sein/Nichtsein behandeln mußte. Natur bzw. Schöpfung hatten die
ist gleichsam eine Theorie des Wartens auf nutzbare Zufälle, und dies setzt zunächst einmal voraus, daß es Wesensformen und Substanzen festgelegt. Variation war nur im Bereich des Akzidentellen möglich.
bestands- und/oder reproduktionsfähige Systeme gibt, die sich selbst erhalten — und warten können. Zeit Ereignishafte Durchbrechungen wurden als "Wunder" begriffen — als natürlich-unwahrscheinliche
gehört mithin zu den wesentlichen Voraussetzungen von Evolution, und dies besagt unter anderem, daß Vorkommnisse, mit denen Gott auf sich selber hinwies. Mehr oder weniger legendäre Mischformen waren
zeitlich enge Bindungen zwischen Umweltzuständen und Systemzuständen unterbrochen sein müssen. Man unter dem Titel "Monstren" bekannt, aber ihnen wurde jeder Ordnungswert abgesprochen. Sie hatten allenfalls
nennt das heute auch "loose coupling". die Funktion, für die perfekte Ordnung und Harmonie der Natur einen Umwegbeweis zu führen: So sieht es
Evolution heißt demnach zunächst, daß die Zahl der Voraussetzungen, auf die eine Ordnung sich stützen aus, wenn etwas mißglückt!. Es war diese Ordnung der Arten, die zugleich den Kaninchen genügend
kann, zunimmt. Durch einen Prozeß der sich selbst verstärkenden Abweichung von Grundannahmen der
Gleichverteilung entsteht eine Ordnung, in der Positionen, Abhängigkeiten, Erwartungen in Abhängigkeit von
eben dieser Ordnung mehr oder weniger sicher erwartet werden können. Wenn überhaupt sinnhafte
Kommunikation möglich wird, wird die gleiche Wahrscheinlichkeit jeder bestimmten Mitteilung zu jedem 638
Wir sprechen hier von Weltentstehungstheorien mit den Merkmalen: Gesamtschöpfung durch einen Autor, Kontingenz,
Abhängigkeit. Die biblischen Texte vermitteln ein sehr viel komplexeres Bild. Dazu Michael Welker, Schöpfung und
Wirklichkeit, Neukirchen-Vluyn 1995. Weitergedacht könnte man sagen: Schöpfung ist Ereignis (oder: Einschreibung) der
Social Evolution, The Nineteenth Century 44 (1898), S. 348-358 (353). Die ausführliche Behandlung findet man in den
Differenz, die danach beginnen kann, schöpferisch tätig zu sein.
Kapiteln über The Law of Evolution in den First Principles, zit. nach der 5. Aufl. London 1887, S. 307 ff. An neueren
639
Stellungnahmen etwa J.W.S. Pringle, On the Parallel between Learning and Evolution, Behaviour 3 (1951), S. 174-215; Genau umgekehrt hatte Hegel argumentiert. Siehe Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, zit. nach Werke Bd.
Walter Buckley, Sociology and Modern Systems Theory, Englewood Cliffs N.J. 1967, S. 50 f., 62 ff.; Gerd Pawelzig, 16, Frankfurt 1969, S. 20 ff. Hegel sieht im Verzicht auf die detaillierten Zwecknaturen einen Gewinn für die
Dialektik der Entwicklung objektiver Systeme, Berlin 1970, S. 135 ff.; Gerhard Lenski, Social Structure in Evolutionary Frömmigkeit: "Was zum Nutzen des einen dient, gereicht dem anderen zum Nachteil, ist daher unzweckmäßig: die
Perspective, in: Peter Blau (Hrsg.), Approaches to the Study of Social Structure, London 1976, S. 135-153. Erhaltung des Lebens und der mit dem Dasein zusammenhängenden Interessen, die das eine Mal befördert werden, sind
636 das andere Mal ebensosehr gefährdet und vernichtet. So liegt eine Entzweiung in sich selbst darin, daß der ewigen
So z.B. Richard Newbold Adams, Energy and Structure: A Theory of Social Power, Austin 1975.
Wirkungsweise Gottes zuwider, endliche Dinge zu wesentlichen Zwecken erhoben werden" (S. 21 f.). In der
637
Das führt zurück auf die Ausführungen über die Ja/Nein-Codierung der Sprache in Kapitel 2, S.... Weltgeschichte des Geistes kann dies nur eine vorübergehende Unzulänglichkeiten sein.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 191 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 192

Nachkommen bescherte, so daß die Füchse etwas zu fressen hatten, die nicht anders als theologisch zu besteht dann die Theoriearchitektur einer Evolutionstheorie? Bereits der Biologie fällt es fast ein Jahrhundert
644
erklären war. lang schwer, das komplexe design des natural selection zu begreifen. Die Darwin zunächst leitende
Durch die Ontologie und ihre zweiwertige Logik war auch diktiert, daß man zwischen beweglichen und Unterscheidung von natural/artificial wird in dem Maße, als die Systemkonturen des Lebensvollzugs deutlich
unbeweglichen (bzw. veränderlichen und unveränderlichen) Dingen zu unterscheiden hatte. Alle Theorien des werden, durch die Unterscheidung von außen und innen ersetzt, wodurch der Begriff des natural selection den
Wandels hatten von dieser Unterscheidung auszugehen, die in der Paradoxie des unbewegten Bewegers Sinn von externer Selektion erhält. Bei Übernahme in die Gesellschaftstheorie vermischt sich dieses Konzept
zusammengefaßt war und an diesem Punkt in Potenzbegriffe (Wille, Macht) umgesetzt und religiös mit bereits vorhandenen Vorstellungen über geschichtliche Prozesse (im Plural oder im Singular), wobei man
(Allmacht) interpretiert wurde. Es verbot sich schlechthin (solange man beim Bewegungsbegriff blieb) alles im 19. Jahrhundert eher geschichtsfatalistisch denkt und nicht mehr einfach davon ausgeht, daß "der Mensch
als bewegt zu denken und auf jeden Gegenbegriff zu verzichten. Oder man sah sich genötigt, eine Zwei-Seiten- die Geschichte mache".
Form mit der Unterscheidung schneller und langsamer Bewegungen in den Begriff der Bewegung einzuführen. Seit dem 18. Jahrhundert hatte man dieses Problem in die Form von Phasenmodellen der geschichtlichen
Solange die Lebewesen wie alle Dinge durch feste Gattungsmerkmale definiert waren, bewahrten sie Entwicklung gebracht. Wir wollen das, obwohl vom Wortsinne her nicht ganz schlüssig,
damit auch die Erinnerung an ihren Ursprung. Mit dem Übergang zu Evolutionstheorien, ja bereits mit Entwicklungstheorien nennen. Hier geht es um eine Art "Operationalisierung" von Fortschrittstheorien —
Lamarck verlieren die Dinge gleichsam ihr Gedächtnis. Sie verdanken das, was sie jeweils sind, irgendwelchen denn wie soll man Fortschritt empirisch anders beweisen als durch Vergleich verschiedener Phasen des
645
Variationen, die sich in anderen Formen wiederholen und zu anderen Formen führen können. Das heißt: der historischen Prozesses? Die Einheit der Gesellschaftsgeschichte wird als Unterscheidung von Epochen
Geschichte! Dafür bietet die Evolutionstheorie, und darin lag für das 19. Jahrhundert und seine Nachfahren rekonstruiert, und was nicht hineinpaßt, wird mit dem Anomalien absorbierenden Begriff der Gleichzeitigkeit
ihre theologische Anstößigkeit, wissenschaftliche Beweise an. Schon das 18. Jahrhundert hatte einiges des Ungleichzeitigen angegliedert.
abgeschwächt. Man nannte den Schöpfer jetzt, um Verstrickungen in die theologische Dogmatik zu Dem entspricht die Vorstellung der Geschichte als Prozeß. Ihre verbindliche Form hat sie in der
vermeiden, "Vorsehung". Und man gab ihm Zeit. Er hat nicht die ganze Welt auf einmal geschaffen. Er ist Geschichtsphilosophie Hegels gewonnen. Ihr liegt noch die ins Zeitliche ausgearbeitete Vorstellung einer
640
noch dabei. Aber nicht mehr mit Werken und Wundern, nicht mehr mit "Fingerzeigen", sondern mit Hierarchie von niederen und höheren Tätigkeiten zu Grunde. Mit den damit gegebenen Unterscheidungen kann
"unsichtbarer Hand". Gleichzeitig entdeckt man "die Geschichte". Schließlich stellte das zunehmende die Theorie im Verschiedenen Dasselbe als tätig erweisen. Sie baut, und gibt sich insofern als logische
Auflösevermögen der geologisch/biologischen Forschung auch, und darin bestand das Problem Darwins, die Metaphysik, das Moment der Negation ein, mit dem das zu sich selbst kommende Höherefür sich das Niedere
Typenfestigkeit der Arten und Gattungen in Frage. Einerseits war und blieb klar, daß Kreuzungen enge als unzureichend, als Mangel, als Schmerz, als zu Überwindendes auffaßt. Es entdeckt und realisiert in dieser
Grenzen gezogen waren. Dem entsprach ein neuer Begriff der Population als polymorpher Einheit. Aber Negation als eigener seine "Freiheit". Es findet damit in sich einen Widerspruch und hat so die Wahl, an dem
andererseits bot die Geschichte immer mehr Hinweise für Variation und Diversifikation der Species. Auch Widerspruch zu Grunde zu gehen oder, wie die Philosophie rät, ihn "aufzuheben". Um sich in dieser Weise in
dadurch drängt es sich auf, Evolutionstheorie als Geschichtstheorie zu entwerfen. Sie grenzt sich bei Darwin sich reflektieren zu können, muß das Prinzip des Werdens "Geist" sein. Der Geist bewegt sich mit Hilfe seiner
gegen die Annahme einer Kompaktschöpfung der Arten und Gattungen durch einen gradualistischen Fähigkeit des Unterscheidens bis hin zu seiner "absoluten" Endform des Sich-in-sich-Unterscheidens. Der
Evolutionsbegriff ab, der die Entstehung der Arten und Gattungen als einen allmählichen und kontinuierlichen Geist reichert sich also nur an, er löscht nichts aus. Er vergißt nichts. Er verzichtet auch nicht auf die
641
Prozeß begreift. Letztlich wird die Koordination, das mögliche Zusammenleben des Differenzierten, Realisation von Möglichkeiten. Deshalb liegt seine Perfektion darin, daß am Ende nur noch das Ausschließen
642
geschichtlich erklärt — und nicht als Resultat einer entsprechenden Absicht. Genau dies macht sie dann für ausgeschlossen ist, und dann ist alles Mögliche wirklich geworden.
die zeitgenössische Gesellschaftstheorie interessant. An die Stelle der "unsichtbaren Hand" treten nun die Zu dieser geschlossenen Form hat es seitdem nie wieder eine Theorie gebracht, und alle Späteren müssen
unsichtbar wirkenden Kräfte der Geschichte, die unterschwelligen Änderungen der Evolution, die latenten sich folglich davon unterscheiden. Alle posthegelianischen Theorien müssen deshalb nicht den Ausschluß des
Motive und Interessen, die nur mit Hilfe wissenschaftlicher Theorien sichtbar gemacht werden können. Ausschließens vorsehen, sondern den Einschluß des Ausschließens. In den empirischen Wissenschaften, die
Aber worin besteht die Alternative zu Schöpfungstheorien? Mit welcher anderen Unterscheidung kann ohne Geisttrend mit induktiv gewonnenen Epochenbegriffen arbeiten, hat die Vorstellung einer Prozeßeinheit
man die Einheit des Ursprungs und die Unterscheidung bewegt/unbewegt als Leitdifferenz der Theorie des zu zahllosen Kontroversen Anlaß gegeben, die heute nicht mehr aktuell sind, — etwa zur Charakterisierung
geschichtlichen Wandels ersetzen? Die semantische Alternative hatte man vom 17. bis zum 19. Jahrhundert (und dann natürlich: zur Ablehnung der Charakterisierung) dieses Prozesses als kontinuierlich, als unilinear,
646
zunächst in Fortschrittstheorien gesucht. Das gilt heute als überholt, und zwar gerade in den als gesetzmäßig notwendig, als zwangsläufig progressiv. Wenn man der Evolutionstheorie derartige
643 647
Evolutionstheorien. Das Auftauchen evolutionärer Errungenschaften läßt sich keiner Gegenstandsbestimmungen unterstellt, kann man sie nur noch ablehnen. Aber dem liegt eine Verwechselung
bewertungskonsistenten Fortschrittslinie zuordnen. Wenn aber Fortschrittsannahmen entfallen: worin genau zu Grunde, die mit einem Minimum an begrifflicher Sorgfalt leicht zu beheben sein dürfte.

640 644
So Johann George Sulzer, Versuch über die Glückseligkeit veständiger Wesen (1754), zit. nach: Vermischte Für eine Geschichte der Evolutionstheorien aus biologischer Sicht siehe Peter J. Bowler, Evolution: The History of an
Philosophische Schriften Bd. 1, Leipzig 1773, Nachdruck Hildesheim 1974, S. 323-347. Vgl. auch Kants Allgemeine Idea, 2. Aufl. Berkeley Cal. 1989. Als systematische Darstellung nach dem heutigen Wissensstand vgl. Stuart A. Kauffman,
Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), insb. das 7. Hauptstück. Im übrigen findet man schon im 16. The Origins of Order: Self-Organization and Selection in Evolution, New York 1993.
Jahrhundert im Zuge eines aufkommenden Fortschrittsbewußtseins die Meinung, daß Gott die Welt, wenn auch nicht nach 645
Methodisch liegt dem heute eine Guttman-Skalierung zu Grunde, die aber nie auf die Gesellschaft im Ganzen, sondern
und nach geschaffen hat, so doch nach und nach zu erkennen gibt — so schließlich auch den Buchdruck, die beiden
nur auf Spezialbereiche wie Arbeitsteilung, Religion, politische Ordnung, Recht angewandt worden ist. Für einen
Amerikas und die Artillerie. Vgl. François de La Noue, Discours politiques et militaires, Basel 1587, Neudruck Genf 1967,
Überblick vgl. Robert L. Carneiro, Scale Analysis, Evolutionary Sequences, and the Rating of Cultures, in: Raoul Naroll /
S. 520 ff. Nach heute herrschender Auffassung tritt der Umbruch jedoch erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein. Vgl.
Ronald Cohen (Hrsg.), Handbook of Method in Cultural Anthropology, Garden City N.Y. 1970, S. 834-871.
Arthur O. Lovejoy, The Great Chain of Being: A Study of the History of an Idea, Cambridge Mass. 1936, S.242 ff.; Wolf
646
Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte: Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und Herbert Spencer, der im Mittelpunkt dieser Kontroversen gestanden hatte, war in dieser Hinsicht vorsichtig und
19. Jahrhunderts, München 1976. unvorsichtig zugleich. Siehe z.B. die Kritik solcher Annahmen in: Principles of Sociology Bd. 1, 3. Aufl., London 1885, S.
641 93 ff., und dann First Principles, 5. Aufl., London 1887, S. 517: "that Evolution can end only in the establishment of the
Das ist heute sowohl in der Biologie als auch in der Gesellschaftstheorie zugunsten eines Begriffs von gelegentlichen,
greatest perfection and the most complete happiness". Hundert Jahre später kann man das immer noch akzeptieren —
dann aber abrupten Strukturänderungen aufgegeben, nachdem man nicht mehr befürchten muß, damit in die Nähe von
allerdings mit dem Zusatz: dann endet sie eben nicht!
Schöpfungswundern zu geraten. Dazu nochmals unten ....
647
642 Viele, rückblickend gesehen nutzlose, Kontroversen über Evolutionstheorie sind hierdurch ausgelöst worden. Siehe z.B.
Zu Darwin als "historical methodologist" Stephen Jay Gould, Evolution and the Triumph of Homology, or Why History
L.T. Hobhouse / G.C. Wheeler / M. Ginsberg. The Material Culture and Social Institutions of Simpler People: An Essay in
Matters, American Scientist 74 (1986), S. 60-69.
Correlation, London 1915, Neudruck 1965, S. 1 ff. Auch die Kritik des Stils dieser Kontroversen ist bereits mehr als ein
643
Siehe z.B. Ingold a.a.O. (1986), S. 12 ff. halbes Jahrhundert alt. Siehe z.B. Leonhard Adam, Functionalism and Neo-Functionalism, Oceania 17 (1946), S.1-25.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 193 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 194

Das Urteil über solche Epocheneinteilungen und über Entwicklungstheorien im allgemeinen fällt heute Paradox verliert die Wiedererkennbarkeit, es wird invisibilisiert, und an seine Stelle tritt eine andere
648
zunehmend skeptisch aus. Das Gleiche gilt für die globalen Prozeßtheorien, die sich dadurch haben Unterscheidung, die Aussichten auf empirische Fragestellungen eröffnet. Denn man kann jetzt fragen, unter
inspirieren und tragen lassen. Was immer man aber davon halten mag: es handelt sich nicht um welchen Bedingungen sich Mechanismen der Variation und Mechanismen der Selektion trennen und sich
Evolutionstheorien. daraufhin durch einen Beobachter unterscheiden lassen.
Ein anderer, ebenfalls als Evolutionstheorie firmierender Ansatz verfolgt ein ganz anderes Wie immer benötigt eine Unterscheidung, die dem Beobachten dient, einen blinden Fleck. Er findet sich
Erklärungsziel. Hier geht es um das Problem differentieller Evolution, das heißt um die Frage, weshalb einige dort, wo die Grenze gezogen werden muß, die die beiden Seiten der Unterscheidung trennt. Der Trennstrich
Gesellschaften sich entwickeln und andere nicht; so zum Beispiel um die Frage, weshalb in einigen muß als unbeobachtbar gezogen werden, weil der Beobachter an die eine oder die andere Seite der
Gesellschaften "Staaten" entstehen und in anderen nicht. Dabei geht man typisch von bestimmten Variablen Unterscheidung anschließen muß. Im Falle der Unterscheidung von Variation und Selektion und von Selektion
aus, vor allem Bevölkerungswachstum, und nimmt dann andere (etwa ökologische Bedingungen oder und Restabilisierung wird die Grenze als Zufall bezeichnet, das heißt: als Negation jedes systemischen
649
Sozialorganisation) hinzu, um zu erklären, weshalb es zu differentieller Entwicklung kommt. Ein weiteres, Zusammenhangs der evolutionären Funktionen. Man kann demnach nicht wissen (nicht beobachten), ob
ebenfalls als Evolutionstheorie ausgegebenes Schema findet man in der Unterscheidung Variationen zur positiven oder negativen Selektion der Neuerung führen; und ebenso wenig, ob eine
650
Innovation/Diffusion. Das sind durchaus legitime, vor allem unter Archäologen und Vorgeschichtlern Restabilisierung des Systems nach der positiven bzw. negativen Selektion gelingt oder nicht. Und eben das:
verbreitete Forschungsinteressen. Verwirrend ist nur, daß auch dies als Evolutionstheorie bezeichnet wird, daß man es nicht wissen, nicht berechnen, nicht planen kann, ist diejenige Aussage, die eine Theorie als
was den Unterschied zu Theorien, die sich für die Morphogenese von Komplexität interessieren, verwischt. Evolutionstheorie auszeichnet.
In der Sozialanthropologie und der Soziologie werden diese Unterschiede zwar noch heute kaum Solange man mit Darwin von einer "natürlichen Selektion" durch die Umwelt ausging,lag darin zugleich
651 652 654
erkannt ; aber von Darwin her gesehen ist es ganz eindeutig. Die Evolutionstheorie (wie weit immer sie eine Garantie für Stabilität. Nicht alle, aber die gut angepaßten Systeme galten deshalb als stabil, solange
sich heute von Darwin entfernt haben mag) benutzt eine ganz andersartige Unterscheidung, um die die Umwelt sich nicht ändert. Eine besondere Funktion der Restabilisierung kam nicht in Frage. Das wird
Unterscheidung bewegt/unbewegt zu ersetzen. Sie unterscheidet nicht Epochen, sondern Variation, Selektion anders, wenn man das Prinzip der natürlichen Selektion aufgibt und die Evolutionstheorie auf Co-Evolution
653 655
und Restabilisierung. Sie erklärt damit, in der alten Sprache ausgedrückt, die Entstehung der strukturell gekoppelter, autopoietischer Systeme umstellt. Dann müssen diese Systeme selbst für ihre
Wesensformen und Substanzen aus dem Akzidentellen. Sie löst die Ordnung der Dinge von jeder Bindung an Stabilität sorgen, um weiterhin an Evolution teilnehmen zu können. Man braucht jetzt drei evolutionäre
einen Ursprung, an einen formgebenden Anfang ab. Sie kehrt das begriffliche Gerüst der Weltbeschreibung Funktionen oder Mechanismen, von denen Variation und Selektion Ereignisse bezeichnen, die Funktion der
einfach um. Restabilisierung dagegen die Selbstorganisation evoluierender Systeme als Voraussetzung dafür, daß
Daß zwischen Variation, Selektion und Restabilisierung unterschieden wird, hat einen Sinn, den die Variation und Selektion überhaupt möglich sind.
Unterscheidung selbst zugleich verdeckt. Die Unterscheidung erklärt, daß und wie es möglich ist, Daß von zwei Unterscheidungen die Rede ist, nämlich von Variation/Selektion und von
vorübergehende und wieder entfallende Konstellationen zu nutzen. Sie dient der Entfaltung des Paradoxes der Selektion/Restabilisierung ist schon ein erster Schritt zur Auflösung des mit "Zufall" markierten Problems der
Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen mit Hilfe einer anderen Unterscheidung. Die Begriffe Variation Unbeobachtbarkeit, nämlich in der Form des nachgeschalteten Begriffs der Restabilisierung, die nur zum
und Selektion verlagern das Problem auf eine andere Ebene und verdrängen dadurch die Frage nach der Zuge kommt, wenn Variation und Selektion "zufällig" zusammenwirken, der also auf den Zufall als Einheit
Einheit der Unterscheidung von wahrscheinlich und unwahrscheinlich. Sie bringen das Ausgangsparadox in dieser Unterscheidung wiederum zufällig (systemisch unkoordiniert) reagiert. Hätte die Theorie nur eine dieser
eine besser handhabbare Form; und dies natürlich sprunghaft, logisch nicht nachvollziehbar, kreativ. Das Unterscheidungen zur Hand, bliebe sie sozusagen am Zufall hängen und müßte über diesen Begriff auf die
Umwelt des Systems verweisen. Erst die auf den Begriff der Selektion zentrierte Koppelung zweier
Unterscheidungen ermöglicht es ihr, Evolution als Endlosprozeß in einer irreversiblen Zeit zu denken, bei der
648
Vgl. die Diskussionen in: Hans Ulrich Gumbrecht / Ursula Link-Heer (Hrsg.), Epochenschwellen und dann jede erreichte Stabilität — und je komplexer, sie ist, desto mehr — wieder Ansatzpunkte für Variationen
Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt 1985, oder in: Reinhart Herzog / Reinhart bietet.
Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik Bd. XII), München 1987. Vor allem leuchtet ein, daß sowohl positive als auch negative Selektionen ein Problem der Stabilität
649
Siehe für ein Beispiel William T. Sanders / David Webster, Unilinealism and Multilinealism, and the Evolution of hinterlassen. Im Falle der positiven Selektion muß eine neue Struktur in das System eingebaut werden mit
Complex Societies, in: Charles L. Redman et al. (Hrsg.), Social Archeology: Beyond Subsistence and Dating, New York Folgewirkungen, die sich im weiteren zu bewähren haben. Im Falle der negativen Selektion "potentialisiert"
1978, S. 249-302. das System die abgelehnte Möglichkeit. Es muß mit ihrer Ablehnung leben, obwohl es sie hätte nutzen
650
So Ernst Heuss, Evolution und Stagnation of Economic Systems, in: Kurt Dopfer / Karl-F. Raible (Hrsg.), The Evolution können, und andere Systeme sie vielleicht genutzt haben oder nutzen würden. Dies kann, und das bleibt, ein
656
of Economic Systems: Essays in Honour of Ota Sik, London 1990, S. 91-99 (93). Fehler gewesen sein. Die Selektion garantiert also nicht notwendigerweise gute Ergebnisse. Sie muß,
651 längerfristig gesehen, auch noch den Test der Stabilisierbarkeit bestehen.
Siehe zum Beispiel Ingold a.a.O. (1986), S. 102, der im Sinne der Begriffstradition vom Evolutionsbegriff verlangt, "to
denote the continous, directed and purposive movement to which the term originally and quite properly referred. Dazu die Diese Darstellung läßt Restabilisierung als das Ende einer Sequenz erscheinen. Aber Stabilität ist ja
treffende Kritik von Marion Blute, Sociocultural Evolutionism: An Untried Theory, Behavioral Science 24 (1979), S. auch als Anfang vorausgesetzt, nämlich als Voraussetzung dafür, daß etwas variiert werden kann. Der dritte
46-59. Vgl. ferner Thomas Dietz / Tom R. Burns / Frederick H. Buttel, Evolutionary Theory in Sociology: An Examination Faktor der Evolution ist mithin Anfang und Ende zugleich, ist ein Begriff für ihre Einheit, die, weil es auf
of Current Thinking, Sociological Forum 5 (1990), S. 155-171. Strukturänderung hinausläuft, als dynamische Stabilität beschrieben werden kann. Im zeitabstrakten Modell
652
Allerdings sollte mindestens erwähnt werden, daß der Begriff der Evolution eher durch Spencer als durch Darwin in
Mode gekommen ist. Darwin selbst verwendet ihn nur ganz beiläufig und jedenfalls nicht zur Bezeichnung seiner eigenen 654
Darwin selbst hatte im übrigen gemeint, daß die Evolution von Zivilisation die natürliche Selektion aufhebe. Siehe dazu
Theorie. Auch der sog. Sozialdarwinismus kann sich kaum auf Darwin selbst berufen, vor allem nicht auf The Decent of
Patrick Tort, L'effet réversif de l'évolution: Fondements de l'anthropologie darwinienne, in: Tort a.a.O. S. 13-46. Das müßte
Man (1871). Für Rückblicke siehe jetzt Patrick Tort (Hrsg.), Darwinisme et société, Paris 1992.
heißen, daß die Zivilisation, als Produkt von Evolution, sich nunmehr selbst zu garantieren habe.
653
Für eine Übernahme in die Sozialwissenschaften siehe vor allem Donald T. Campbell, Blind Variation and Selective 655
Siehe dazu auch Loet Leydesdorff, The Evolution of Communication Systems, International Journal of Systems Research
Retention in Creative Thought as in Other Knowledge Processes, Psychological Review 67 (1960), S. 380-400; ders.,
and Information Science 6 (1994), S. 219-230.
Variation and Selective Retention in Socio-Cultural Evolution, General Systems 14 (1969), S. 69-85, ders., On the Conflict
656
Between Biological and Social Evolution and Between Psychological and Moral Tradition, American Psychologist 30 Siehe Julian S. Huxley, Evolution: The Modern Synthesis, 3. Aufl. London 1974, S. 485 (zit. nach C. R. Hallpike, The
(1975), S. 1103-1126 (eine Auswahl aus im ganzen mehr epistemologisch ausgerichteten Arbeiten) und ferner im Hinblick Principles of Social Evolution, Oxford 1986, S. 77): "... we now realize that the results of selection are by no means
auf kulturelle, "rules" ändernde Evolution Tom R. Burns / Thomas Dietz, Cultural Evolution: Social Rule Systems and necessarily 'good', from the point of view either of the species or of the progressive evolution of life. They may be neutral,
Human Agency, International Sociology 7 (1992), S. 259-281. the may be a dangerous balance of useful and harmful, or they may be definitely deleterious."
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 195 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 196

beschreibt die Evolutionstheorie ein zirkuläres Verhältnis. Sie deutet damit zugleich an, daß, und wie, Zeit als beobachten). Strukturen sind Bedingungen der Einschränkung des Bereichs anschlußfähiger Operationen, sind
asymmetrisierender Faktor einspringt. Eben deshalb scheint es bei oberflächlicher Beschreibung, die freilich also Bedingungen der Autopoiesis des Systems. Sie existieren nicht abstrakt, nicht unabhängig von der Zeit.
das Ausgangsparadox völlig verdrängt, um einen Prozeß zu gehen. Sie werden im Vollzug des Fortgangs von Operation zu Operation verwendet - oder nicht verwendet. Sie
Nach diesen Klarstellungen braucht kaum noch betont zu werden, daß die Evolutionstheorie keine kondensieren und konfirmieren durch Wiederholung in verschiedenen Situationen einen Sinnreichtum, der sich
Theorie des Fortschritts ist. Sie nimmt Emergenz und Destruktion von Systemen mit Gleichmut hin. Darwin exakter Definition entzieht; oder sie werden vergessen. Als "stabil" erscheinen (einem Beobachter) Strukturen
661
hat sich denn auch (allerdings nicht ganz konsequent) geweigert, Ausdrücke wie "höher" oder "niedriger" zur in dem Maße, als es andere Strukturen gibt, die ihre Wiederverwendung nahelegen. Aber immer realisieren
Charakterisierung der Arten zu verwenden. Schon die Vorstellung, Evolution verbessere die Anpassung der sich Strukturen nur in der Dirigierung (Einschränkung des Möglichkeitsbereichs) des Fortgangs von
Systeme an ihre Umwelt, läßt sich nicht als Fortschritt begreifen, weil man dabei unterstellen muß, daß die Operation zu Operation. Und es ist dieser Operationsbezug (in unserem Falle also: Kommunikationsbezug),
Umwelt sich laufend ändert und immer neue Anpassungen auslöst. Ebenso fraglich wird, ob man weiterhin der die Strukturen der Gesellschaft der Evolution aussetzt.
Spezialisierung als eine Art evolutionären Attraktor ansehen kann, der — aber wie eigentlich? — dazu führt, Es bedarf also nicht, wie die klassische Theorie es sehen müßte, einer außerordentlichen Anstrengung,
daß mehr und mehr spezifische Kompetenzen, Rollen, Organisationen, Systeme ausdifferenziert werden. um Strukturen trotz ihrer immanenten Festigkeit zu ändern. Sie können obsolet werden, wenn andere
Offenbar hat sich hier die ökonomische Theorie der Arbeitsteilung und der Beschränkung von Konkurrenz Kanalisierungen operativer Anschlüsse bevorzugt werden. Ihr Gebrauch kann auf bestimmte Situationen
durch Diversifikation von Märkten der Evolutionstheorie aufgedrängt und ist, vor allem durch Spencer, zu eingeschränkt oder auch auf neue Situationen ausgedehnt werden. Evolution ist immer und überall.
einem allgemeinen historischen Gesetz generalisiert worden - nur um die Evolutionstheorie zu provozieren,
657
dann ihrerseits den Evolutionsvorteil des Unspezifizierten zu entdecken. Solche Vorstellungen brauchen
nicht der pauschalen Ablehnung zu verfallen; aber man muß mit Hilfe der Evolutionstheorie im engeren Sinne
prüfen, ob und wie weit sie haltbar sind. II. Systemtheoretische Grundlagen
Diese Abgrenzungsüberlegungen haben Konsequenzen für das Erklärungsziel der Evolutionstheorie. Die
658
Evolutionstheorie leistet keine Deutung der Zukunft. Sie ermöglicht auch keine Prognosen. Sie setzt keine Die neueren Entwicklungen der Evolutionstheorie seit ihren Anfängen bei Darwin sind vor allem
Teleologie der Geschichte voraus — weder im Hinblick auf ein gutes, noch im Hinblick auf ein schlimmes dadurch gefördert worden, daß allmählich klar wurde, in welchem Umfange die Evolutionstheorie auf
Ende der Geschichte. Und sie ist keine Steuerungstheorie, die helfen könnte in der Frage, ob man die Evolution systemtheoretische Prämissen zurückgreifen muß und dadurch in den Streit der Systemtheorien hineingezogen
659
gewähren lassen oder sie korrigieren sollte. Es geht vielmehr allein um die Frage, wie zu erklären ist, daß in 662
wird. Aus systemtheoretischer Sicht behandelt man Variation und Selektion als "sub-dynamics of the
einer Welt, die immer auch anderes bietet und beibehält, komplexere Systeme entstehen, und eventuell: woran 663
complex system". Das 19. Jahrhundert hatte eine Semantik der Demographie, der Populationen, der
sie dann scheitern. Es geht, sehr vereinfacht gesagt, um die Erklärung von Strukturänderungen. Erblichkeit bevorzugt. Je unsicherer die Semantik der Subjektivität und der Freiheit, desto sicherer dann doch
Normalerweise denkt man dabei an ungeplante Strukturänderungen. Jedoch bietet die Planungstheorie das Leben und die Leiblichkeit. Ohne diesen Hintergrund ist das Interesse Darwins und vor allem das
keine Alternative zur Evolutionstheorie. Die Evolutionstheorie behandelt auch Systeme, die sich selbst planen. Interesse der Ideologien an Darwin nicht zu denken. Bei all den zahlreichen Varianten, die man vorfindet, dient
Daß Planungen oder allgemeiner: intentionale Vorgriffe auf Zukunft in der soziokulturellen Evolution eine das Individuum als letzte Referenz; und das gilt auch für Versuche, Handlungstheorie mit Evolutionstheorie
660
Rolle spielen, wird keineswegs bestritten. Man spricht auch von forward induction. Aber erstens ist die 664
zu kombinieren. Man gelangt damit nicht über die Theorien des 19. Jahrhunderts hinaus, die das
Grundlage für die Bildung von Intentionen typisch, wenn nicht immer, eine Abweichung von eingelebten Individuum für die Selbststeuerung des evolutionären Prozesses in Anspruch nehmen, also für
Routinen (also keineswegs eine spontan auftretende Selbstverwirklichung des Geistes); sie ist also selbst ein Entwicklungstheorien, die sich als Geschichtstheorien vorstellen und oft den Ausdruck Evolution explizit
Resultat von Evolution. Und außerdem richtet die Zukunft sich nicht nach denIntentionen, sondern nimmt nur zurückweisen. Hier scheint denn auch mehr als in der Absage an religiöse Erklärungen das einigende Band der
die intentional geschaffenen Fakten als Ausgangspunkt weiterer Evolution. Die Evolutionstheorie geht mithin meisten Evolutions- oder Geschichtstheorien des 19. Jahrhunderts (Hegelderivate ausgenommen) zu liegen
davon aus — und findet sich damit nicht weit weg von der Realität — daß Planungen nicht bestimmen 665
und damit der unbestrittene Ausgangspunkt aller Kontroversen. Die Systemtheorie erzwingt, verglichen
können, in welchen Zustand das System infolge der Planung gerät. Insofern ist Planung, wenn sie vorkommt, damit, schärfere Abstraktionen, aber auch größere Genauigkeit in den Begriffen.
ein Moment von Evolution, denn schon die Beobachtung der Modelle und der guten Absichten der Planer
bringt das System auf einen nichtvorgesehenen Kurs. Die Evolutionstheorie würde dazu sagen: welche
661
Strukturen sich daraus ergeben, stellt sich durch Evolution heraus. Wir werden weiter unten argumentieren, daß hierfür die Form der Systemdifferenzierung eine besondere Bedeutung
Will man Strukturänderungen evolutionistisch begreifen, muß man freilich die Vorstellung aufgeben, besitzt. Vgl. unter....und im allgemeinen Kap. 4.
Strukturen seien etwas "Festes" im Unterschied zu etwas "Fließendem". (So kann es zwar ein Beobachter 662
Unter Biologen hat vor allem Rupert Riedl die Klärungsbedürftigkeit systemtheoretischer Prämissen der
sehen, aber wenn man dann wissen will, was er auf diese Weise als Struktur sieht, muß man den Beobachter Evolutionstheorie betont. Siehe: Die Ordnung des Lebendigen: Systembedingungen der Evolution, Hamburg 1975; ders., A
Systems-analytical Approach to Macro-Evolutionary Phenomena, The Quarterly Review of Biology 52 (1977), S. 351-370.
663
657 So Loet Leydesdorff, New Models of Technological Change: New Theories for Technology Studies, in: Loet Leydesdorff
Hinweise unten Anm. ....
/ Peter van den Besselaar (Hrsg.), Evolutionary Economics and Chaos Theory: New Directions in Technology Studies,
658
Vgl. Lars Löfgren, Knowledge of Evolution and Evolution of Knowledge, in: Erich Jantsch (Hrsg.), The Evolutionary London 1994, S. 180-192 (180).
Vision: Towards a Unifying Paradigm of Physical, Biological, and Sociocultural Evolution, Boulder Col. 1981, S. 129-151. 664
So neuestens Hans-Peter Müller / Michael Schmid, Paradigm Lost? Von der Theorie sozialen Wandels zur Theorie
Die wissenschaftliche Ausarbeitung einer Theorie unprognostizierbarer Veränderungen erfordert die Zulassung von
dynamischer Systeme, in dies. (Hrsg.), Sozialer Wandel: Modellbildung und theoretische Ansätze, Frankfurt 1995, S. 9-55
Selbstreferenz in der Evolutionstheorie wie in der Systemtheorie.
(31 ff.); Michael Schmid, Soziologische Evolutionstheorie, Protosoziologie 7 (1995), S. 200-210 (201 ff.). Vgl. auch
659
Auch solche Vorstellungen werden gelegentlich mit dem Konzept der Evolution formuliert. Siehe als Beispiel die Idee Sanderson a.a.O. (1990), S. 224. Der empirische Bezug dieser Zurechnung auf Handlung bleibt jedoch unklar, da man
einer "welfare-oriented evolutionary theory" bei Edmund Dahlström, Developmental Direction and Welfare Goals: Some wohl kaum behaupten kann, daß bestimmte Handlungen evolutionäre Effekte haben. Insofern ist Giddens (auf den man sich
Comments on Functionalistic Evolutionary Theory about Highly Developed Societies, Acta Sociologica 17 (1974), S. 3-21. in diesem Zusammenhang oft beruft) konsequenter, wenn er eine evolutionistische Deutung seiner "structuration"-Theorie
Der Fortschritt dieser Theorieversion liegt, um ihr gerecht zu werden, darin, nicht mehr statische Endzustände angegeben ablehnt.
werden, sondern Variablen, die Entwicklungsfähigkeit andeuten sollen wie: Lernfähigkeit, Mobilisierung von Ressourcen, 665
Das wird nicht prinzipiell anders, wenn man mit Ingold a.a.O. (1986), insb. S. 104 f., 114 ff. u.ö. unterscheidet
adaptive upgrading.
zwischen Person als sinngebender, handelnder Einheit und Individuum als einer Einheit, in der eine Fülle von objektiven
660
So z.B. Gisèle Umbhauer, Evolution and Forward Induction in Game Theory, Revue internationale de systémique 7 Ereignissen passieren, als "the things that happen" (105), als "temporary vehicle for the projection of past into future"
(1993), S. 613-626 für den Fall der Evolution von Wirtschaft. (106). Man mag die Bedeutung des Menschen für die soziokulturelle Evolution verschieden einschätzen; aber das Problem
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 197 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 198

Wir greifen hierfür zunächst auf unseren allgemeinen Ausgangspunkt zurück: Die Systemtheorie hat es die Biologie heißt das, daß die genetische Heterogenität der Populationen mehr als vielleicht "natural selection"
nicht mit einer besonderen Art von Objekten zu tun, sondern benutzt eine bestimmte Unterscheidung, nämlich Evolution erklärt. Es werden damit Möglichkeiten bereitgehalten, die es der Population erlauben, diese oder
die Unterscheidung von System und Umwelt. Auf den systemtheoretischen Punkt gebracht, heißt Evolution jene vorhandene Charakteristik zu verstärken, um sich auf veränderte Anforderungen einzustellen. Es handelt
denn auch nichts anderes als: daß Strukturänderungen, gerade weil sie nur systemintern (autopoietisch) sich also, wenn man einen solchen Begriff bilden darf, um einen Kollektivindividualismus und nicht um einen
durchgeführt werden können, nicht im Belieben des Systems stehen, sondern sich in einer Umwelt durchsetzen das Einzelwesen betonenden Individualismus. Die Variationsmöglichkeit liegt in der Varietät und nicht in der
müssen, die das System selbst nicht ausloten, jedenfalls nicht planerisch einbeziehen kann. Die evolutionäre Chance, daß unter einer großen Zahl von Individuen mit hinreichenden Wahrscheinlichkeit auch Exemplare
Diversifikation und Vermehrung der Systeme ist zugleich eine Diversifikation und Vermehrung von sind, die sich als besonders innovativ hervortun.
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Umwelten. Nur die Differenz von System und Umwelt ermöglicht Evolution. Anders gesagt: Kein System Andererseits wurde der Selektionsmechanismus in die Umwelt ausgelagert. In diesem Sinne wurde von
kann aus sich heraus evoluieren. Wenn nicht die Umwelt stets anders variierte als das System, würde die "natural selection" gesprochen. Wenn man die Systemtheorie jedoch radikal als Theorie der Produktion und
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Evolution in einem "optimal fit" ein rasches Ende finden. Daraus folgt auch, daß Evolution zwar nicht Reproduktion einer Differenz von System und Umwelt formuliert, ist es wenig sinnvoll, diese Verteilung auf
Anpassung des Systems an die Umwelt bewirken muß, wohl aber Angepaßtheit des Systems an die Umwelt interne (Variation) und externe (Selektion) Faktoren beizubehalten. Es genügt dann auch nicht, lediglich den
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als eine Art Mindestbedingung voraussetzt. Aber damit ist nichts anderes gesagt als: daß nicht mehr Begriff des "natural selection" zu kritisieren und hier den Fortgang über Darwin hinaus anzusetzen. Ebenso
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bestehende Systeme auch nicht mehr evoluieren können. Vor allem aber ist zu beachten, daß die Differenz von wenig überzeugt das entgegengesetzte Manöver , nämlich der soziologischen Theorie, die bisher endogene
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System und Umwelt jeder Änderung einen Multiplikationseffekt gibt. Sie ändert ein System und damit Ursachen deutlich favorisiert hatte , den Begriff des "natural selection" und in diesem Sinne Orientierung an
zugleich die (relevante oder irrelevante) Umwelt anderer Systeme. Jede Änderung setzt also mit hoher externen Ursachen zu empfehlen. Kausalaussagen setzen immer eine Selektion, also eine Zurechnung von
Wahrscheinlichkeit eine Mehrzahl von Wirkungsreihen in Gang, die gleichzeitig und dadurch unabhängig Ursachen und Wirkungen voraus, also einen Beobachter. Aber die Evolution rechnet nicht zu, und sie
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voneinander Wirkungen erzeugen, für die dann wieder das Gleiche gilt. Die Welt wird aus sich heraus beobachtet sich auch nicht selber.
dynamisch, und zwar gerade wegen der Gleichzeitigkeit des Geschehenden und wegen der damit verbundenen Mit Hilfe der Systemreferenz "soziale Systeme" läßt sich auch der Streit zwischen eher
Unmöglichkeit einer Koordination. Wenn, mit anderen Worten, sowohl das System, das man beobachtet, als demographisch-ökologischen und eher an Kultur orientierten Evolutionstheorien entscheiden. Wer sich für
auch die Systeme in seiner Umwelt evoluieren (also: co-evoluieren), kommt es zu einem "coevolution of Menschen als lebende Population (im Kampf mit Mücken, Löwen, Bakterien usw.) interessiert, muß
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unsustainability" , und darauf können Beobachter nur mit der Beobachtung von "Zufällen" reagieren. Erst demographische Orientierungen wählen. Von einer Evolution des Sozialsystems Gesellschaft kann man
vor diesem Hintergrund wird verständlich, welche Rolle der "Zufall" in der Evolutionstheorie spielt. dagegen nur sprechen, wenn man nicht an ein lebendes, sondern an ein kommunizierendes System denkt, daß
Nimmt man diesen differenztheoretischen Ausgangspunkt ernst, wird ein alter Streit über das relative in jeder seiner Operationen Sinn reproduziert, Wissen voraussetzt, aus eigenem Gedächtnis schöpft, kulturelle
Gewicht externer und interner Ursachen (exogene vs. endogene Evolution) obsolet. Mit Hilfe des Begriffs der Formen benutzt. Es geht also gar nicht um eine sinnvolle wissenschaftliche Kontroverse, sondern um die Wahl
"Population" hatte die ältere Evolutionstheorie die Ursachen für Variation systemintern lokalisiert. Das hat einer Systemreferenz, das heißt: um eine Entscheidung über den Gegenstand der evolutionstheoretischen
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einerseits dazu geführt, in demographischen Variablen, hauptsächlich im unwiderstehlichen Trieb der Analyse.
Menschen, sich zu vermehren, den Auslösefaktor aller evolutionären Höherentwicklung zu sehen, so z.B. für Abgesehen von diesen rasch zu klärenden Fragen greift die Systemtheorie auch inhaltlich tief in die
den Übergang zur Landwirtschaft, für Arbeitsteilung, für die Bildung von Hierarchien. Solche Ein-Faktor- Evolutionstheorie ein, wenn man sich entschließt, das Forschungsprogramm der Theorie operativ
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Erklärungen gelten heute als überholt. Auch von dem hier vertretenen Gesellschaftsbegriff aus müßte man geschlossener, autopoietischer Systeme zugrunde zu legen. Mit Hilfe dieser Theorie kann man zunächst gut
aber von Variablen wie Kommunikationsdichte oder Häufigkeit und Diversität des Informationsanfalls
ausgehen und vor allem: zirkuläre Verhältnisse der Abweichungsverstärkung in Betracht ziehen.
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Diese demographische Interpretation des Begriffs der Population hat jedoch die wichtigste, mit diesem Siehe etwa Stephen Jay Gould, Darwinism and the Expansion of Evolutionary Theory, Science 216 (1982), S. 380-387.
Begriff eingeführte Neuerung übersehen. Eine Population besteht, und insofern löst der Begriff den älteren 672
So sieht Anatol Rapoport, Mathematical, Evolutionary, and Psychological Approaches to the Study of Total Societies, in
typologischen Essentialismus der Arten und Gattungen ab, aus Individuen, und das heißt: aus verschiedenen Samuel Z. Klausner (Hrsg.), The Study of Total Societies, Garden City N.Y. 1967, S. 114-143 (133 ff.) Möglichkeiten, sich
Individuen. Sie ist also eine polymorphe Einheit. Dabei wird nicht etwa, wie im späteren Sozialdarwinismus, mit Hilfe des Sinnbegriffs von Darwins Vorstellung eines "natural selection" abzusetzen. Ähnlich Stephen Toulmin,
das gelegentliche Vorkommen besonders kreativer, innovationsstarker, durchsetzungsfähiger Individuen als Human Understanding Bd. 1, Princeton 1972, dt. Übers. Frankfurt 1978. Argumentiert man mehr im Kontext der
Hauptströmungen der Soziologie, beeindruckt eher die fast völlige Vernachlässigung externer Ursachen in den Theorien
Quelle der Variation angesehen, sondern die Verschiedenheit der Individuen im Kollektiv der Population. Für
über geschichtliche Entwicklungen. Das wird zunehmend kritisiert. Anthony D. Smith, The Concept of Social Change,
London 1973, S. 150 ff., sieht hier den Grund für die Kontroverse von Historismus und Evolutionismus, und Bernhard
ist, ob die Evolutionstheorie sich überhaupt von einem derart humanistischen Zuschnitt ihrer Ausgangsvorstellung Giesen / Christoph Lau, Zur Anwendung Darwinistischer Erklärungsstrategien in der Soziologie, Kölner Zeitschrift für
abhängig machen sollte. Soziologie und Sozialpsychologie 33 (1981), S. 229-256, sowie Michael Schmid, Theorie sozialen Wandels, Opladen 1982,
666 schlagen deshalb eine Neuorientierung mit Hilfe des Begriffs externer "natural selection" vor. Nur: kann es auf diese
Wir kommen bei der Behandlung der Systemdifferenzierung darauf noch einmal zurück.
Unterscheidung überhaupt ankommen?
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Hierzu treffende Bemerkungen bei C.H. Waddington, The Principles of Archetypes in Evolution in: Paul S. Moorhead / 673
Siehe nur (mit einem unhaltbaren Rückschluß aus der Einheit des Gegenstandes der Soziologie auf endogene Kausalität
Martin M. Kaplan (Hrsg.), Mathematical Challenges to the Neo-Darwinian Interpretation of Evolution, Philadelphia 1967,
Emile Durkheim, Les règles de la méthode sociologique, zit. nach der 8. Aufl. Paris 1927, S. 147 f.: " ... que les causes des
S. 113-115.
phénomènes sociaux sont internes à la société". Und weiter: "C'est bien plutôt à la théorie qui fait dériver la société de
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Dies hat bereits Herbert Spencer deutlich gesehen. Vgl. das Kapitel "The Multiplication of Effects", in: First Principles. l'individu qu'on pourrait justement reprocher de chercher à tirer le dedans du dehors."
5. Aufl. London 1887, S. 93 ff. 674
Um so problematischer erscheinen dann freilich Mischformen, die demographisch bewährte Theoriemuster auf soziale
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Eine Formulierung von Richad B. Norgaard, The Coevolution of Economic and Environmental Systems and the Systeme übertragen. Diese Art Theoriebildung ist vor allem im Bereich der Evolution von Organisationen verbreitet. Vgl.
Emergence of Unsustainability, in: Richard W. England (Hrsg.), Evolutionary Concepts in Contemporary Economics, Ann z.B. Bill McKelvey / Howard Aldrich, Populations, Natural Selection, and Applied Organizational Science, Administrative
Arbor Mich. 1994, S. 213-225 (220). Science Quarterly 28 (1983), S. 101-128; W. Graham Astley, The Two Ecologies: Population and Community Perspectives
670 on Organizational Evolution, Administrative Science Quarterly 30 (1985), S. 224-241; Michael T. Hannan / John Freeman,
Vgl. z.B. Gregory A. Johnson, Organizational Structure and Scalar Stress, in: Colin Renfrew / Michael J. Rowlands /
Organizationale Ecology, Cambridge Mass. 1989; Joel Baum / Jitendra Singh (Hrsg.), Evolutionary Dynamics of
Barbara Abbott Segraves (Hrsg.), Theory and Explanation in Archaeology, New York 1982, S. 389-421 (391 f.): "...
Organizations, New York 1994.
population is not necessarily the best measure of scale". Vgl. auch S. 407. Gleichwohl zählt der Verfasser, weil ihm keine
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andere Gesellschaftstheorie zur Verfügung steht, nach wie vor Individuen, Familien, Kleingruppen als Ausgangspunkt für Speziell hierzu Gerhard Roth, Conditions of Evolution and Adaptation in Organism as Autopoietic Systems, in: D.
die Bestimmung der Größe und des "scalar stress" einer Gesellschaft. Mossakowski / G. Roth (Hrsg.), Environmental Adaptation and Evolution, Stuttgart 1982, S. 37-48; Hans Rademacher, Zur
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erklären, daß in Systemen ein Spielraum für evolutionäre Strukturentwicklungen gegeben ist. Die Autopoiesis allem im Hinblick auf den evolutionär ausgelösten Wechsel der Formen gesellschaftlicher Differenzierung
selbst stellt nur Minimalanforderungen; sie fordert im Falle des Gesellschaftssystems nur, daß überhaupt im weiterverfolgen.
Hinblick auf weitere Kommunikation kommuniziert wird. Das kann aber unter sehr verschiedenen Strukturen Während mit diesen Überlegungen der Zusammenhang von Systemtheorie und Evolutionstheorie
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geschehen. Strukturen sind zwar notwendig, denn sie verengen den Spielraum für passende verdeutlicht werden kann, gerät die Theorie operativ geschlossener, autopoietischer Systeme in anderen
Anschlußoperationen so weit, daß der Fortgang von Operation zu Operation vollzogen werden kann. Sie sind, Hinsichten in einen flagranten Widerspruch zu bisher üblichen Denkweisen der Evolutionstheorie. Wie soll ein
könnte man auch sagen, notwendige Komplexitätsreduktionen. Mit dieser Selektivität der Strukturbildung ist operativ geschlossenes Gesellschaftssystem, das seine eigenen Operationen nicht verwenden kann, um
jedoch zugleich die Chance unterschiedlicher Entwicklungen gegeben. Die Notwendigkeit einer mit anzufangen oder aufzuhören, sondern entweder autopoietisch operiert oder nicht, evoluieren? Wie soll es
Autopoiesis kompatiblen Strukturselektion begründet, und das ist nur die Kehrseite desselben Sachverhalts, allmählich entstehen? Es gibt für Übergangslagen kein "halbes" Leben, kein "bißchen" Kommunikation.
die Chance differentieller Evolution. Typen autopoietischer Operationen und entsprechender Entweder ein Lebewesen lebt oder nicht. Entweder Kommunikation findet statt oder nicht. Der Begriff
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Systembildungen — wir denken an Leben, an Bewußtsein und an Kommunikation — sind gleichsam verlangt diese kompromisslose Härte.
Einmalerfindungen der Evolution, die sich auf Grund ihres Strukturentwicklungspotentials bewähren. Die Zunächst sei daran erinnert, daß alle autopoietischen Systeme ihre Operationen immer nur in der je
Bewährung aber liegt in der Spezifikation von sehr verschiedenen Formen, die sich im Medium der aktuellen Gegenwart durchführen. Auch die rekursive Vernetzung der Operationen erfolgt in der Gegenwart
autopoietischen Notwendigkeit bilden und weiter spezifizieren können. Dies Zusammenspiel von auf Grund gegenwärtig verfügbarer Bedingungen und Anschlußmöglichkeiten. Für die Operation (und das gilt
Selbstfortsetzung und Strukturbildung ermöglicht und erzwingt Evolution, ohne daß man dabei "natural auch für Kommunikation, wenn dies denn eine autopoietische Operation sein soll) gibt es daher nie einen
selection" oder andere Arten externer Strukturdetermination unterstellen müßte. Also kommt es auch nicht auf Anfang, weil das System immer schon angefangen haben muß, um seine Operationen aus eigenen Produkten
eine nahezu optimale, jedenfalls konkurrenzüberlegene Anpassung an die Umwelt an. Unter gleichen reproduzieren zu können, und ebenso gibt es kein Ende, weil jede weitere Operation im Hinblick auf weitere
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ökologischen Bedingungen können sehr verschiedene ausgestattete Lebewesen überleben. Außerdem löst Operationen produziert wird. Nur ein Beobachter (und das kann das operierende System selber sein) kann
sich damit eine alte Kontroverse in Theorie auf, nämlich der Streit um das höhere Evolutionspotential des einen Anfang und ein Ende feststellen, wenn er eine entsprechende Konstruktion des Vorher/Nachher zu
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Unterspezifizierten. Es gibt in der Realität keine unspezifische Reproduktion. Aber es gibt die Differenz von Grunde legt. Nur wenn das System operiert und wenn es hinreichende Komplexität aufgebaut hat, um sich
Autopoiesis und Strukturdetermination. selbst in der Zeitdimension beschreiben zu können, kann es seinen Anfang "postizipieren". Die Bestimmung
Hiermit wird auf grundsätzliche Weise dem Forschungsprogramm der Soziobiologie widersprochen. Die eines Anfangs, eines Ursprungs, einer "Quelle" und eines (oder keines) "Davor" ist ein im System selbst
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genetische Determination des Lebens ist ein unbestrittener Ausgangspunkt. Aber daraus folgt gerade nicht, gefertigter Mythos — oder die Erzählung eines anderen Beobachters.
daß auch Sozialordnungen von da aus determiniert seien (wobei natürlich zu konzedieren ist, daß keine Evolution kann daher, soweit autopoietische Systeme beteiligt sind, nicht begriffen werden als ein bloßes
Sozialordnung Bestand haben kann, die verlangen würde, daß die Menschen ständig auf den Händen statt auf Zusammenkommen von Einzelheiten, wobei das bereits Vorhandene ermöglicht, daß etwas hinzukommt, was
den Füssen laufen). Vielmehr wird die genetische Determination des Lebens kompensiert durch eine mit hohen ohne diese Voraussetzung nicht möglich gewesen wäre. Wir müssen einen solchen Werdegang nicht völlig
(kann man sagen: höheren?) Freiheitsgraden ausgestattete gesellschaftliche Ordnung sozialer Systeme. Und ausschließen; aber allein damit ließe sich das Tempo der Evolution nicht erklären. Autopoietische Systeme
diese entwickelt Strukturdeterminationen eigenen Typs. ermöglichen Evolution, und zwar schnelle Evolution, gerade dadurch, daß sie sich auf der Basis eigener
Auch in einer weiteren Hinsicht führt die Unterscheidung von Systemtheorie und Evolutionstheorie zu Unterscheidungen abschließen und damit ihre eigenen Voraussetzungen rekrutieren können, wenn immer die
bemerkenswerten Einsichten — besonders wenn man das Konzept operativ geschlossener autopoietischer gleichzeitig vorhandene Umwelt dafür ausreicht. Ohnehin ist ja die Zeitdimension kein
Systeme zugrundelegt. Denn diese Systeme praktizieren ein selbstreferentielles, zirkuläres Verhältnis von System/Umwelt-Schema in dem Sinne, daß System in der Zeit existieren und Vergangenheit bzw. Zukunft
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Struktur und Operation. Sie erzeugen Strukturen durch ihre eigenen Operationen, die aber voraussetzen, daß ihre Umwelt bildeten. Die System/Umwelt-Differenz kann ausschließlich in der Sachdimension beobachtet
Strukturen die Festlegung anschließender Operationen steuern. Bei zeitabstrakter Betrachtung ist eine solche werden. Der Beobachter kann sie dann zwar als Differenz in die Vergangenheit bzw. Zukunft verlängert
Theorie empirisch leer. Die Evolutionstheorie asymmetrisiert dagegen das Verhältnis von Struktur und
Operation, weil es jetzt nur um die Änderung von Strukturen geht und Autopoiesis nur als Grenzbegriff eine
Dies zu (und nicht nur zu) Walter L. Bühl, Politische Grenzen der Autopoiese sozialer Systeme, in: Hans Rudi Fischer
Rolle spielt. In diesem Kontext kann dann ein Einwirken auf eine Operation der Punkt sein, an dem das (Hrsg.), Autopoiesis: Eine Theorie im Brennpunkt der Kritik, Heidelberg 1991, S. 201-225.
System zufallsabhängig mutieren kann. Dagegen ist die evolutionäre Selektion der Vorgang, der entscheidet, 680
Gunther Teubner reagiert auf genau dieses Problem mit einer Abschwächung der Härte des Begriffs der Autopoiesis in:
ob eine Strukturänderung angenommen oder abgelehnt wird. Sieht man autopoietische Systeme als Resultate
Hyperzyklus in Recht und Organisation: Zum Verhältnis von Selbstbeobachtung, Selbstkonstitution und Autopoiesis, in:
von Evolution — und was spräche dagegen? — kommt man mithin zu jenen Beschränkungen möglicher Hans Haferkamp / Michael Schmid (Hrsg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung: Beiträge zu Luhmanns
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Strukturänderung, die eine Formulierung empirisch gehaltvoller Theorien erlauben. Wir werden das vor Theorie sozialer Systeme, Frankfurt 1987, S. 98-128. Ähnlich für die Biologie Gerhard Roth, Autopoiese und Kognition:
Die Theorie H.R. Maturanas und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung, in: Günther Schiepek (Hrsg.), Systeme
erkennen Systeme: Individuelle, soziale und methodische Bedingungen systemischer Diagnostik, München 1987, S. 50-74
(57 f.). Die Ausführungen oben im Text suchen einen anderen Ausweg. Siehe ferner, die Begriffe "Selbstorganisation" und
Grammatik autopoietischer Systeme, in: Hans Rudi Fischer (Hrsg.), Autopoiesis: Eine Theorie im Brennpunkt der Kritik,
"strukturelle Kopplung" einsetzend, Rudolf Stichweh, Selbstorganisation und die Entstehung nationaler Rechtssysteme
Heidelberg 1991, S. 53-66.
(17.-19. Jahrhundert), Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 254-272.
676
Deshalb unterscheidet Maturana zwischen der autopoietischen Organisation und den Strukturen eines Systems. Wir 681
Bei der Behandlung von Interaktionen, die als Episoden angelegt sind, werden wir auf diese Frage nochmals
wollen jedoch den Ausdruck "Organisation" in diesem Zusammenhang vermeiden, weil wir ihn anders einsetzen möchten.
zurückkommen und zeigen, daß Episodisierung nur mit Hilfe der Unterscheidung von Interaktion und Gesellschaft, also nur
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So Salamander mit bzw. ohne kompliziert gebaute Schleuderzunge. Vgl. David B. Wake / Gerhard Roth / Marvalee H. in einer ihrerseits endlosen Gesellschaft möglich ist. Vgl. Kap. 4,....
Wake, On the Problems of Stasis in Organismal Evolution, Journal of Theoretical Biology 101 (1983), S. 211-224. 682
Insofern hat N. Katherine Hayles, Making the Cut: The Interplay of Narrative and System, or What Systems Theory
678
Vgl. etwa E.D. Cope, The Primary Factors of Organic Evolution, Chicago 1896, S. 172 ff.; Elman R. Service, Cultural Can't See, Cultural Critique 30 (1995), S. 71-100, recht, wenn sie meint, daß hier ein Übergang zu narrativen Mustern
Evolutionism: Theory in Practice, New York 1971, S. 31 ff. für die eine, und G. Ledyard Stebbins, The Basis of helfen könnte, mit denen berichtet werden kann, wie autopoietische Systeme und, unter ihnen, beobachtende Systeme, sich
Progressive Evolution, Chapel Hill N.C. 1969, S. 121 für die andere Auffassung. selbst als Differenz setzen. Nur reicht dieser Ausweg nicht sehr weit. Er macht zwar andere Plausibilisierungsmittel
679 verfügbar und erlaubt auch die Frage, in welchen historischen Situationen die Erzählung der autopoietischen Evolution
Dies Argument richtet sich gegen einen oft erhobenen, aber rein methodisch schon ganz unsinnigen Einwand. Denn kein
überhaupt Wurzeln schlagen konnte. Aber letztlich führt das nur zurück zu der Frage: wer erzählt die Erzählung?
Begriff — weder Autopoiesis noch Handlung, weder Steuerung noch Sozialisation, weder Zweck noch Organisation gibt
683
als Begriff die strukturellen Beschränkungen an, unter denen das Bezeichnete jeweils realisiert werden kann. Offenbar läßt Das wird selten hinreichend klar gesagt. Siehe aber Anthony Giddens, Time and Social Organization, in ders., Social
die Hitze der Kontroverse über Autopoiesis vergessen, daß man dergleichen von den eigenen Begriffen auch nicht verlangt. Theory and Modern Society, Cambridge England 1987, S. 140-165, im Anschluß an Heidegger.
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denken und sich dabei einen Anfang und ein Ende vorstellen - aber auch dies nur als gegenwärtige, mit der waren nicht für Tauschzwecke bestimmt gewesen, sondern dienten als Verrechnungseinheiten in
jeweiligen Umwelt gleichzeitige Operation. hauswirtschaftlichen Zusammenhängen. Geld kam zunächst als Zeichen für unausgeglichene
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Damit verschiebt sich (im Verhältnis zu einem "objektiven" Zeitdenken) die Fragestellung. Leistungsverhältnisse, gewissermaßen als Ersatz für Dankbarkeit in Gebrauch. Nachdem es dann aber eine
Autopoietische Systeme können entstehen, wenn es zu Gegenwarten kommt, in denen rekursive Reproduktion hinreichende große Menge solcher Geldstücke gab und eine Tauschwirtschaft entwickelt genug war, um am
eingerichtet werden kann. Das ist selbstverständlich nicht auf Grund einer beliebigen Vorgeschichte möglich. Problem des Findens passender Gegenstücke zu stagnieren, konnte sich eine Geldwirtschaft ausdifferenzieren
Um zu erkennen, was vorgegeben sein muß, muß man die autopoietische Operation genau genug bezeichnen. — wie gering am Anfang auch Umfang und Komplexität der Geschäfte gewesen sein mögen. Mit der
So kommt zum Beispiel Kommunikation (also Gesellschaft) immer dann in Gang, wenn man beim Ausdifferenzierung einer auf Münzgeld beruhenden Wirtschaft kommt es dann zu einer rapiden
Beobachten (das dadurch "Verstehen" wird) Mitteilung und Information unterscheiden kann. Das ist auch wirtschaftlichen Entwicklung, die sich weder auf den vorigen Stand noch auf die "Erfindung" des Münzgeldes
vorsprachlich schon möglich, aber die Sprache drängt diese Unterscheidung derart zwingend auf, daß der zurückführen läßt, sondern nur auf ihr eigenes rekursives Netzwerk, das Annahmebereitschaft von wie immer
Verstehende, wenn er dann selbst spricht, sich auf eben den Mechanismus stützen kann, der ihm das wertgarantiertem Geld unterstellen kann. Oder, um mit einem Beispiel aus der Frühmoderne zu schließen: Der
Verstehen ermöglicht. So entsteht eine rekursive Schließung, die keinerlei Elemente aus der Umwelt benutzt, unter dem Titel Souveränität ausdifferenzierte Staat setzt Herrschaftsstrukturen älterer Art voraus, versteht sie
sondern mit einer emergenten Unterscheidung arbeitet. Daß auch das Bewußtsein sich mit Hilfe solcher aber im Rückblick dann völlig neu — so als ob es immer schon souveräne Rechtskonzentration gegeben habe
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Rückgriffe reproduziert, ist ebenfalls leicht nachzuweisen. und nur die Mißbräuche des Adels das alte System ruiniert hätten. Mit der Verkündung des souveränen
Diese "Exklusivität" von Sprache hat gerade im Verhältnis zur Umwelt wichtige Vorteile. Sie ermöglicht Staates nehmen, besonders im Frankreich der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die Geschichtsschreiber
ein laufendes Sicheinlassen des Systems auf eine ständig wechselnde Umwelt; also nicht nur eine ihre Arbeit auf. Die Gegenwart braucht eine zu ihr passende Vergangenheit.
Einmalanpassung der Systemstrukturen an dauernde oder wiederkehrende Umweltzustände, sondern (wie Unsere Analysen zeigen, daß das Problem des allmählichen Anfangens nur gelöst werden kann, wenn
schon beim Sehvermögen von Organismen) ein vorübergehendes Sicheinlassen auf vorübergehende Zustände man den zu Grunde liegenden Zeitbegriff revidiert. Ebenso einschneidende Änderungen sind erforderlich, um
685
auf Grund von Strukturbedingungen, die nur im System und nicht in der Umwelt gegeben sind. Alle in der den Begriff der Anpassung anzupassen.
Gesellschaft eingerichteten Teilsysteme können sich dann auf besondere Opportunitäten spezialisieren. Wann Schon in der über Spencer und Darwin hinausgehenden Evolutionstheorie haben sich schwerwiegende
die Evolution dieser Bedingung "angefangen" hat, läßt sich dann nicht mehr objektiv-eindeutig bestimmen, Bedenken gegen die Annahme ergeben, über "natural selection" würden die bestangepaßten (oder doch: die am
691
vielmehr wird eine solche Zäsur im System selbst konstruiert, so als ob es sich um ein Ereignis gehandelt wenigsten schlecht angepaßten) Systeme zum Überleben ausgewählt. Irritiert hat ferner, daß offensichtlich
habe, dem das geschlossene System seine Existenz und seine Kriterien verdankt. Nur ein besonders manche Arten von Lebewesen über Jahrmillionen unverändert existieren können, während andere durch
692
ausgerüsteter Beobachter wird dann die Frage nach den Vorentwicklungen, den die Schließung Anpassungsdruck evoluieren. Außerdem gibt es in sehr vielen Fällen — und diese Einsicht ist für die
ermöglichenden und begünstigenden Vorbedingungen stellen und nach Maßgabe seiner Evolutionstheorie erklärungswesentlich — Angepaßtsein schon vor dem Bedarf. So gab es schon vor der
693
Erkenntnismöglichkeiten beantworten können. Erfindung des DDT daran angepaßte Insekten, die dann überleben konnte. Im allgemeinen beschränkt die
Dieser Grundvorgang läßt sich vielfach variieren, wo immer es gelingt, autopoietische Systeme zu biologische Kritik des älteren Adaptionismus sich auf die Feststellung, daß nicht alle Veränderungen der
694
bilden. Eine Adelsschicht schließt sich über Endogamie oder über andere Mechanismen ab — aber natürlich Phänotypik von Lebewesen als bessere Anpassung erklärt werden können. Erst die Theorie autopoietischer
nur, wenn man die Familien erkennen kann, die dafür in Betracht kommen. Und dann erst werden Genealogien Systeme erzwingt eine begriffliche Revision. Für sie ist Angepaßtsein Voraussetzung, nicht Resultat von
686
konstruiert, die bei Heroen oder Göttern oder Familienstiftern enden. Die Ausdifferenzierung eines Evolution; und Resultat dann allenfalls in dem Sinne, daß die Evolution ihr Material zerstört, wenn sie
695
Rechtssystems setzt vorhandene Mengen von Streit- und Streitlösungsereignissen voraus, an denen man Angepaßtsein nicht länger garantieren kann. Die Erklärungslast trägt jetzt der Begriff der "strukturellen
Regeln der weiteren Praxis erkennnen kann, auch wenn das, was man erinnert, überhaupt nicht imSinne einer Kopplung". Über strukturelle Kopplung ist eine für die Fortsetzung der Autopoiesis ausreichende Anpassung
687
Anwendung von Regeln abgelaufen war. Die Wissenschaft kann als eigenes autopoietisches System nur immer schon garantiert. Die Bewegungsfähigkeit der Lebewesen harmoniert mit der auf der Erde gegebenen
entstehen, wenn es hinreichend große Mengen von Wissen schon gibt, das man dann kritisch daraufhin Schwerkraft. Aber damit ist noch nicht gesagt, in welchen Formen, ob als Saurier oder als Insekten, diese
688
durchsehen kann, ob es sich um wahres oder um unwahres Wissen handelt. Die ersten Geldprägungen Gelegenheit genutzt wird. Und so hängt auch die gesellschaftliche Kommunikation in vielen Hinsichten (zum
Beispiel was mögliches Tempo betrifft) von der strukturellen Kopplung an Bewußtseinssysteme ab, ohne daß
damit determiniert wäre, was kommuniziert wird und wie das autopoietische System der Gesellschaft seine
684
Nach dem Unfall weiß man, was man erlebt hat und warum man sich so verhalten hat, wie man sich verhalten hat, so Grenzen zur Umwelt zieht. Von der Evolution ist also keine immer bessere Anpassung der Übrigbleibenden zu
als ob alles unter bewußter Kontrolle abgelaufen sei; oder man weiß (aber man weiß!), daß man sich nicht deutlich genug erwarten; und ein Blick auf die ökologischen Probleme der modernen Gesellschaft dürfte wohl genügen, um
erinnern kann.
685
Hierzu auch Donald T. Campbell, Neurological Embodiments of Belief and the Gaps in the Fit of Phenomena to 689
Vgl. auch oben Kap. 2 ......
Noumena, in: Abner Shimony / Debra Nails (Hrsg.), Naturalistic Epistemology, Dordrecht 1987, S. 165-192 (175).
690
686 Siehe für ein instruktives Beispiel, lokale Gerichtsbarkeit betreffend, C.L.P. (Charles Loyseau, Parisien), Discours de
Daß hierzu auch Schrift erforderlich ist, ohne die man schwerlich zu stabilen Ahnen kommt, läßt sich an griechischen l'abus des iustices de villages, Paris 1603.
Beispielen studieren. Vgl. Rosalind Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, Cambridge, England
691
1989, insb. S. 155 ff. Siehe auch Gerdien Jonker, The Topography of Remembrance: The Dead, Tradition and Collective Vgl. dazu Gould a.a.O. (1982); Richard M. Burian, Adaptation, in: Marjorie Green (Hrsg.), Dimensions of Darwinism,
Memory in Mesopotamia, Leiden 1995, insb. S. 213 ff. Cambridge England 1984, S. 287-314; Michael T. Hannan / John Freeman, Organizational Ecology, Cambridge Mass.
687 1989, S. 21 ff. Eine verbreitete Kritik läuft auf einen Vorwurf der Tautologie hinaus (Anpassung=Überleben=Anpassung);
Vgl. hierzu Harold J. Berman, Recht und Revolution: Die Bildung der westlichen Rechtstradition, dt. Übers. Frankfurt aber das ließe sich ausräumen.
1991. Berman datiert den Umbruch (nach Unterbrechung der römischen Zivilrechtstradition) präzise auf die zweite Hälfte
692
des 11. Jahrhunderts. Und hier kann man erkennen, wie der take off ermöglicht wird, wenn zu einer gesellschaftlich Hier hatte zunächst das Konzept der evolutionären "Nische" geholfen, aber das verschiebt nur die Problemstellung, denn
eingebetteten Rechtspflege in wenigen Jahrzehnten Zufallsereignisse wie die Entdeckung der römischen Rechtstexte des damit bekommt nun die Unterscheidung Nische/Nichtnische eine für die Theorie zentrale Bedeutung.
Corpus Iuris Civilis, die normannische Eroberung Englands mit der Folge einer gerichtlichen Durchsetzung des 693
Dies Beispiel bei Theodosius Dobzhansky, Chance and Creativity in Evolution, in: Francisco Jose Ayala / Theodosius
Königsrechts und vor allem die Kirchenreform hinzutreten.
Dobzhansky (Hrsg.), Studies in the Philosophy of Biology: Reduction and Related Problems, London 1974.
688
Vgl. für diesen Fall G.E.R. Lloyd, Magic, Reason and Experiences: Studies in the Origin and Development of Greek 694
Vgl. etwa Bowler a.a.O. S. 340.
Science, Cambridge, England 1979, eine Darstellung der griechischen Wissenschaftsentwicklung, die sich sehr gut unter
695
den im Text gegebenen Theorieprämissen interpretieren läßt, obgleich sie in keiner Weise auf dieses Problem hin Vgl. Humberto Maturana / Francisco Varela, El arbol del conocimiento, Santiago de Chile 1984, insb. S. 71 ff. (dt.
konzipiert ist. Übers. Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern 1987)
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einer solchen Annahme jede Plausibilität zu entziehen. Gerade weil autopoietische Systeme operativ Die Bedeutung von Zufall in der Evolutionstheorie könnte so verstanden werden, als ob die Theorie auf
geschlossene Systeme sind, haben sie einen großen Spielraum für die Entwicklung von Strukturen, die sich als ein Postulat der Unkenntnis gegründet sei — Unkenntnis bezogen auf die mikrophysikalischen, chemischen,
mit Autopoiesis kompatibel erweisen. Auf der Basis des Angepaßtseins können so immer gewagtere biochemischen, neurophysiologischen, psychologischen Prozesse, die dann letztlich doch determinieren, was
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Unangepaßtheiten entstehen, — solange die Fortsetzung der Autopoiesis selbst nicht unterbrochen wird. geschieht. Damit würde das Problem jedoch auf eine erkenntnistheoretische Fassung und auf ein Paradox
Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen muß und kann die Bedeutung des Begriffs der Komplexität (Wissen gründet auf Nichtwissen) reduziert werden. Aber dies ist nur ein Sonderfall eines viel allgemeineren
für ein Verständnis von Evolution neu bestimmt werden. Die alte Vorstellung, Evolution sei ein Prozeß, der Gesetzes, daß nämlich Systeme immer begrenzte (reduzierte und gesteigerte) Resonanzfähigkeit aufweisen
von einfachen zu komplexen Verhältnissen führe, ist schon deshalb unhaltbar, weil es keine einfachen und füreinander, wenn man so formulieren darf, nur über "windows" zugänglich sind. In anderen Begriffen
Verhältnisse gibt; und außerdem deshalb, weil offenbar weniger komplexe und komplexere System auch heute könnte man auch sagen, daß alle Systeme Messungen durchführen müssen, um Informationen zu erzeugen,
noch zusammenexistieren, also nicht etwa die einen durch die anderen (etwa wegen "besserer" nach denen sie sich richten können. Deshalb ersetzt ein System Vollkenntnis der Umwelt durch Einstellung auf
Anpassungfähigkeit) ersetzt worden sind. Wenn man Richtungsangaben dieser Art findet, handelt es sich um etwas, was für es Zufall ist. Nur dadurch ist Evolution möglich.
simplifizierende Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft, und speziell für sie sind solche Im Unterschied zu älteren Annahmen dient der Begriff also nicht der Negation von Kausalität, er besagt
Beschreibungen auch plausibel, weil sie ohnehin nur noch ein einziges globales System ist und keine nicht: Ursachelosigkeit des Vorkommens. "Zufall" ist also auch nicht eine kausale Verlegenheitskonstruktion,
"einfachen" Gesellschaften in sich oder neben sich duldet. Die Evolution selbst benötigt keine etwa die Ursache, die man (gleichsam zur Vervollständigung des Kausalschemas der Welterklärung) noch
Richtungsangaben. Sie ist ohnehin kein zielorientierter Prozeß. benennen kann, wenn man keine Ursache benennen kann. Wir geben dem Zufallsbegriff keinerlei
Jedenfalls ist die Evolutionstheorie durchaus kompatibel mit der Beobachtung, daß hochkomplexe kausaltheoretische Bedeutung. In äußerster Abstraktion kann von Zufall als einem differenztheoretischen
696
Systeme wieder zerstört oder aufgegeben werden , daß sie oft eine zu geringe Evolutionsfähigkeit besitzen Grenzbegriff gesprochen werden. Zufall heißt dann, daß die Bestimmung der einen Seite einer Unterscheidung
697
und daß die Evolution nicht selten hochkomplexe Arrangements durch überlegene Vereinfachung ersetzt. nichts besagt für die Bestimmung der anderen Seite. So versteht Hegel den Begriff Zufall und entsprechend
Vor allem im Blick auf Sprache ist die These einer im Laufe der Evolution immer zunehmenden Komplexität den Gegenbegriff Notwendigkeit. Uns genügt eine engere Fassung, bezogen auf die Unterscheidung von
698
unhaltbar. Bei all diesen Einwendungen kann jedoch nicht bestritten werden, daß es im Laufe der Evolution System und Umwelt. Wir verstehen unter "Zufall" eine Form des Zusammenhangs von System und Umwelt,
705
zu Komplexitätstests und zum Aufbau komplexerer Systeme neben anderen kommt. Komplexität ist ein die sich der Synchronisation (also auch der Kontrolle, der "Systematisierung") durch das System entzieht.
699
epigenetisches Produkt der Operationsweise autopoietischer Systeme. Sie erlaubt unter weiter zu klärenden Kein System kann alle Kausalitäten beachten. Deren Komplexität muß reduziert werden. Bestimmte
Bedingungen mehr (oder "weichere") strukturelle Kopplungen zwischen System und Umwelt und folglich Kausalzusammenhänge werden beobachtet, erwartet, vorbeugend eingeleitet oder abgewendet, normalisiert—
differenziertere Irritierbarkeiten des Systems. Aber niemals kann Komplexität selbst ein Selektionskriterium und andere werden dem Zufall überlassen. Die "Irregularität" von Zufall ist, mit anderen Worten, kein
700
sein (sie ist dafür zu komplex). Im einzelnen muß man daher immer fragen, "what kinds of situations would Weltphänomen und folglich ist es auch nicht sinnvoll, sie in die Diskussion über
701
give positive selective value to increased or decreased complexity" , und nur weil beides möglich ist, kommt Determinismus/Indeterminismus einzubringen. Sie setzt eine Systemreferenz voraus, denn nur so kann ein
es im Laufe der Evolution auch zum Aufbau hochkomplexer Systeme. Beobachter sagen, für wen etwas Zufall ist.
Diese Neukonzipierung des Verhältnisses von Evolutionstheorie und Systemtheorie kann der Tatsache Diese eher negative Charakterisierung ergänzen wir durch eine positive. Zufall ist die Fähigkeit eines
Rechnung tragen, daß Neuentwicklungen oft abrupt und sehr rasch und unter Sonderbedingungen erfolgen, Systems, Ereignisse zu benutzen, die nicht durch das System selbst (also nicht im Netzwerk der eigenen
702
also sich gerade nicht aus den bereits realisierten Strukturen von Großsystemen oder Populationen ergeben. Autopoiesis) produziert und koordiniert werden können. So gesehen sind Zufälle Gefahren, Chancen,
Man denke an die Besonderheiten der hebräischen oder der griechischen Randkultur der alten Welt, also an Gelegenheiten. "Zufall benutzen" soll heißen: ihm mit Mitteln systemeigener Operationen strukturierende
703
das, was Parsons "seed-bed societies" genannt hat. Schließlich bedarf auch der vielleicht wichtigste, Effekte abzugewinnen. Die Effekte können, gemessen an vorhandenen Strukturen, sowohl konstruktiv als
jedenfalls skandalträchtigste Begriff der Evolutionstheorie einer systemtheoretischen Reintegration: der Begriff auch destruktiv sein (sofern dies sich langfristig gesehen überhaupt unterscheiden läßt). In jedem Fall erweitert
des Zufalls. die Beobachtung von Zufällen die Informationsverarbeitungskapazität des Systems und korrigiert damit, im
Ausmaß des Möglichen, die Engigkeit der eigenen Strukturbildungen, ohne die Orientierungsvorteile dieser
696
Engführung preiszugeben.
Vgl. nur Joseph A. Tainter, The Collaps of Complex Societies, Cambridge Engl. 1988.
Mit diesen Festlegungen ist freilich noch nicht gesagt, wie dies geschieht. Darüber gibt es in der
697 706
Wer an der These festhält, daß Evolution ein komplexitätssteigernder Prozeß sei, muß diese Phänomene folglich als Systemtheorie sehr allgemeine Vorstellungen. Das "order from noise" Prinzip ist eine von ihnen , die
"Devolution" bezeichnen. Siehe Charles Tilly, Clio and Minerva, in: John C. McKinney / Edward A. Tiryakian (Hrsg.), Vorstellung, daß strukturelle Kopplungen Irritationen kanalisieren, ist eine andere. Die Systemtheorie ist damit
Theoretical Sociology: Perspectives and Developments, New York 1970, S. 433-466. Wir schränken lieber die These selbst
vorbereitet, Evolutionstheorie zu empfangen. Aber das erklärt natürlich noch nicht, wie Evolution möglich ist.
ein.
698
Vgl. etwa Joseph H. Greenberg, Essays in Linguistics, New York 1957, S. 56 ff.
699
Auf anderen Theoriegrundlagen wird auch von Biologen betont, daß Komplexität epigenetisch mitproduziert wird, daß
aber der eigentliche Effekt der Evolution im Aufbau von Systemstrukturen bestehe. Siehe G. Ledyard Stebbins, Adaptive
Shifts and Evolutionary Novelty: A Compositionist Approach, in: Francisco Ayala / Theodosius Dobzhansky (Hrsg.),
Studies in the Philosophy of Biology: Reduction and Related Problems, London 1974, S. 285-306 (302 ff.). Vgl. auch ders.,
The Basis of Progressive Evolution, Chapel Hill N.C. 1969.
704
700 In diesem Sinne diskutiert Michael Conrad, Rationality in the Light of Evolution, in: Ilya Prigogine / Michèle Sanglier
Dies gilt bereits für die physisch-chemische und erst recht für die organische Evolution. Vgl. Melvin Calvin, Origin of
(Hrsg.), Laws of Nature and Human Conduct, Brüssel 1987, S. 111-211, ein "postulate of ignorance".
Life in Earth and Elsewhere, in: The Logic of Personal Knowledge: Essays Presented to Michael Polanyi, London 1961, S.
705
207-231 (214). Eine ähnliche Funktion hat in einer ganz anders ausgerichteten Theorie des sozialen Wandels, nämlich bei Bernhard
701 Giesen, Code und Situation: Das selektionstheoretische Programm einer Analyse sozialen Wandels — illustriert an der
So Richard Levins, Evolution in Changing Environments: Some Theoretical Explorations, Princeton 1968, S. 6.
Genese des deutschen Nationalbewußtseins, in: Hans-Peter Müller / Michael Schmid (Hrsg.), Sozialer Wandel:
702
Siehe für die Biologie Niles Eldredge / Stephen Jay Gould, Punctuated Equilibria: An Alternative to Phyletic Modellbildung und theoretische Ansätze, Frankfurt 1995, S. 228-266, der Begriff der Entkopplung.
Gradualism, in: Thomas J.M. Schopf (Hrsg.), Models in Paleobiology, San Francisco 1972, S. 82-115. Vgl. auch Kenneth 706
Vgl. Heinz von Foerster, On Self-Organizing Systems and Their Environments, in: Marshall C. Yovits / Scott Cameron
E. Boulding, Punctuationalism in Societal Evolution, Journal of Social and Biological Structures 12 (1989), S. 213-223.
(Hrsg.), Self-Organizing Systems: Proceedings of an Interdisciplinary Conference, Oxford 1960, S. 31-48; Henri Atlan,
703
Siehe Talcott Parsons, Societies: Evolutionary and Comparative Perspectives, Englewood Cliffs N.J. 1966, S. 95 ff. Entre le cristal et la fumée, Paris 1979.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 205 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 206

III. Neo-darwinistische Theorie der Evolution unterscheiden, in der Variation, Selektion und Restabilisierung auseinandergezogen und getrennt verwirklicht
werden. Für die Evolution von Lebewesen könnte man dabei an unterschiedliche Arten von Systemen denken
Die Eigenständigkeit der Evolutionstheorie liegt in der Eigenständigkeit ihrer Unterscheidungen. Seit — an genetisch programmierte Zellen als Gegenstand von Variation, an das Überleben von Organismen als
Darwin spricht man von Variation und Selektion. Da Selektion jedoch zweischneidig wirkt, indem sie das Gegenstand von Selektion und an ökologisch stabile Populationen als Gegenstand von Restabilisierungen. Für
Vorhandene entweder gegen Variation schützt oder aber ändert, brauchen wir einen weiteren Begriff. Wir diese Art Separierungsgarantie fehlt in der gesellschaftlichen Evolution jeder Anhaltspunkt. Schon das
werden von Restabilisierung sprechen. Wie unsere Rahmentheorie lehrt (siehe oben I.), geht es dabei um ein Medium Sinn macht mit seiner immensen Verweisungs- und Verknüpfungsfähigkeit eine solche Isolierung
710
Paradoxieauflösungsprogramm, um die Entfaltung der Paradoxie der Wahrscheinlichkeit des evolutionärer Funktionen auf verschiedenen Systemebenen unwahrscheinlich. Kritiker des Neodarwinismus
Unwahrscheinlichen. Deshalb werden mit diesen Begriffen Formen bezeichnet, also identifizierbare lehnen denn auch für den Fall sozialer Systeme eine Trennbarkeit von Variation und Selektion ab —
711
Unterschiede, und das dürfte gerade hier unmittelbar einsichtig sein. Variation heißt nicht einfach hauptsächlich mit dem Argument, daß Individuen auf die Zukunft vorgreifen. Das schließt jedoch nicht aus,
Veränderung (denn das wäre dann ja schon die Evolution), sondern Herstellung einer Variante für mögliche daß auch Systeme, die sinnhaft operieren, Variation, Selektion und Restabilisierung trennen können. Die
Selektion. Und ebenso meint Selektion im evolutionstheoretischen Kontext nicht einfach die pure Tatsache, Frage ist nur: wie?
daß etwas so-und-nicht-anders geschieht, sondern der Begriff bezeichnet Selektion aus Anlaß einer Variation, Diese Frage ist in den Sozialwissenschaften, soweit diese überhaupt das Darwin-Schema übernommen
712
die im System vorkommt. Es geht also um korrespondierende Begriffe, die außerhalb der Evolutionstheorie haben, kaum gestellt, geschweige denn befriedigend beantwortet worden. Wir schlagen vor, die
keine Verwendung haben, und eben dieses immanente Bezogensein ihrer Leitunterscheidung gibt dem Begriff unterschiedlichen Komponenten der Evolution auf unterschiedliche Komponenten der Autopoiesis des
der Evolution seine Form. Gesellschaftssystems zu beziehen, und zwar in folgender Weise:
Während Phasenmodelle die Differenz in die bloße Sukzession verlegen und den historischen Prozeß (1) Durch Variation werden die Elemente des Systems variiert, hier also die Kommunikationen. Variation
dann nur noch als Einheit dieser Differenzen beschreiben können, setzt die Evolutionstheorie die Erzeugung besteht in einer abweichenden Reproduktion der Elemente durch die Elemente des Systems, mit anderen
von Differenz im Zeitlauf selbst voraus und kann dadurch das Differenzprinzip reflexiv werden lassen. Die Worten: in unerwarteter, überraschender Kommunikation.
Variation erzeugt, wie immer sie empirisch operiert, eine Differenz, nämlich im Unterschied zum bisher (2) Die Selektion betrifft die Strukturen des Systems, hier also Kommunikation steuernde Erwartungen. Sie
Üblichen eine Abweichung. Diese Differenz erzwingt eine Selektion - gegen oder für die Innovation. Die wählt an Hand abweichender Kommunikation solche Sinnbezüge aus, die Strukturaufbauwert
Selektion wiederum erzwingt, wenn sie das Neue wählt, Kaskaden von Anpassungs- oder versprechen, die sich für wiederholte Verwendung eignen, die erwartungsbildend und -kondensierend
Abgrenzungsbewegungen im System, und, wenn sie es beim Alten beläßt, Bestätigungen für diese Option, da wirken können; und sie verwirft, indem sie die Abweichung der Situation zurechnet, sie dem Vergessen
das vordem Selbstverständliche kontingent geworden ist. Die Unterscheidungen der Evolutionstheorie überläßt oder sie sogar explizit ablehnt, diejenigen Neuerungen, die sich nicht als Struktur, also nicht als
bezeichnen mithin Differenzen, die Differenzen prozessieren. Und es ist diese Struktur, die es unnötig werden Richtlinie für die weitere Kommunikation zu eignen scheinen.
läßt, von einem Endziel oder einem Gesetz der geschichtlichen Bewegung zu sprechen. (3) Die Restabilisierung betrifft den Zustand des evoluierenden Systems nach einer erfolgten, sei es positiven,
Zu ganz ähnlichen Vorstellungen kommt man, wenn man vom Problem der genetischen bzw. kulturellen sei es negativen Selektion. Dabei wird es zunächst um das Gesellschaftssystem selbst im Verhältnis zu
707
Transmission ausgeht. Autoren dieser Richtung tendieren dazu, vom Generationswechsel auszugehen und seiner Umwelt gehen. Man denke etwa an die Erstentwicklung von Landwirtschaft mit Konsequenzen, die
das Problem der Evolution zunächst in der Überbrückung dieses, durch das Leben diktierten Bruches zu im Sozialsystem der Gesellschaft "systemfähig" sein müssen. Oder an die Vermeidung einer Agrarisierung
sehen. Das führt zu der Frage, ob es in der Kultur transmissible Äquivalente für die Rolle der Gene in der (aus ökologischen oder anderen Gründen), die dann zur Entstehung von "Nomadenvölkern" am Rande von
biologischen Evolution gibt. Und man spricht dann eher von Populationen als von Systemen. Auch hier stellt bereits politisch entwickelten Bauerngesellschaften führt. Im weiteren Verlauf der gesellschaftlichen
sich aber auf der nächsten Theoriestufe das Problem der Verkraftbarkeit abweichender Transmission, also die Evolution verlagert die Restabilisierungsfunktion sich dann mehr und mehr auf Teilsysteme der
Frage, ob Fehlformen einfach ausgemerzt werden, oder im seltenen Falle zu strukturellen Neuerungen führen. Gesellschaft, die sich in der innergesellschaftlichen Umwelt zu bewähren haben. Dann geht es letztlich um
Und erst das ist eigentlich eine über die bloße Autopoiesis des Lebens oder der Gesellschaft hinausgehende das Problem der Haltbarkeit gesellschaftlicher Systemdifferenzierung.
Evolution. Elemente, Strukturen und Einheit des Reproduktionszusammenhanges sind notwendige Komponenten eines
Mit der Unterscheidung von Variation, Selektion und (autopoietischer) Stabilisierung der Reproduktion autopoietischen Systems. Es gibt keine Elemente ohne System, kein System ohne Elemente usw. Diese
ist der Ausgangspunkt einer allgemeinen Evolutionstheorie formuliert, die noch ganz davon absieht, welche Bedingung gegeben, fragt sich, wie dann Evolution überhaupt möglich ist, wenn sie einen nach Variation,
Arten von Systemen eine Trennung dieser evolutionären Funktionen durchführen können. Es kann sich sowohl Selektion und Restabilisierung differenzierten Zugriff auf diese einzelnen Komponenten voraussetzt. Mit
708
um lebende Systeme als auch um Gesellschaften handeln. Bei jeder Anwendung von Evolutionstheorie muß dieser Frage rekonstruieren wir zugleich die These der Unwahrscheinlichkeit aller Evolution und der
deshalb zunächst einmal die Systemreferenz bestimmt werden. Wenn es um Gesellschaft gehen soll, gehören unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit der durch sie erzeugten Systemformen.
709
alle lebenden Systeme in die Umwelt des Systems. Entsprechend könnte sich bereits die Art und Weise
710
Dies Bedenken führt manche zu dem Einwand, Variation, Selektion und Restabilisierung ließen sich in der
gesellschaftlichen Evolution überhaupt nicht unterscheiden, weil das eine nur in sinnhaftem Rückbezug auf das andere
707
Siehe z.B. Robert Boyd / Peter J. Richerson, Culture and the Evolutionary Process, Chicago 1985. vorkomme. Aber das gilt für Sinnverhältnisse allgemein und schließt ganz offensichtlich sinnhafte Unterscheidungen nicht
708 aus.
Es sollte damit deutlich sein, aber vorsorglich merken wir es im Hinblick auf zahllose Mißverständnisse und
711
Fehlinterpretationen noch an, daß hier kein Analogieschluß vorliegt, und zwar weder in der einen noch in der anderen Siehe zum Beispiel Hallpike a.a.O. (1986), Kap. II. Man sieht, wie sich die Konfusionen im Verhältnis von Individuum
Richtung. Das heißt: daraus, daß es eine Evolution lebender Systeme gibt, kann man nicht schließen, daß es auch eine und Gesellschaft (vgl. Kap. 1 ...) auswirken und den Weg zu einer Theorie gesellschaftlicher Evolution durch Nebel
Evolution gesellschaftlicher Systeme geben müsse. Ein solcher Schluß konnte allenfalls in Theorien vertreten werden, die versperren.
meinten, die Gesellschaft bestehe aus Lebewesen. 712
Ältere Beispiele sind: Albert G. Keller, Societal Evolution: A Study of the Evolutionary Basis of the Science of Society,
709
Daß dies nicht hinreichend beachtet wird, hat den Streit um die "Soziobiologie" ausgelöst. Die Kontroverse kann man 2. Aufl. New Haven 1931; V. Gordon Childe, Social Evolution, London 1951 (dt. Übersetzung Frankfurt 1989). Sodann vor
sich schenken, ohne deshalb bestreiten zu müssen, daß genetische Determinationen wie andere Umweltfaktoren auch auf allem: Donald T. Campbell, Variation and Selection Retention in Socio-cultural Evolution, General Systems 14 (1969), S.
Gesellschaft einwirken, nämlich Kommunikation irritieren können. In der Systemreferenz lebender Systeme kann man 69-85; Robert A. LeVine, Culture, Behavior, and Personality, Chicago 1973, S. 101 ff.; Howard E. Aldrich, Organizations
"Kultur" als Fortsetzung des Lebens mit anderen (und dann wohl: bedenklichen) Mitteln ansehen oder auch als gelerntes and Environments, Englewood Cliffs N.J. 1979, S. 26 ff.; John Langton, Darwinism and the Behavioral Theory of
(im Unterschied zu genetisch festgelegtem) Verhalten begreifen. (Vgl. etwa John Tyler Bonner, The Evolution of Culture Sociocultural Evolution: An Analysis, American Journal of Sociology 85 (1979), S. 288-309; Christoph Lau,
in Animals, Princeton N.J. 1980). All das mag dann auch "anthropologisch" interessante Einblicke gewähren. Nur erlaubt Gesellschaftliche Evolution als kollektiver Lernprozeß, Berlin 1981. Eine Übersicht über diese Literatur zeigt, daß die
es keine Rückschlüsse auf gesellschaftliche Evolution. Spezifikationsmöglichkeiten, die die Systemtheorie zu bieten hätte, nicht genutzt werden.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 207 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 208

Schon dem Begriff des autopoietischen Systems ist zu entnehmen, daß diese Komponenten des in dem evoluierenden System selbst erfolgen. Zum anderen kann eine Theorie operativ geschlossener Systeme
Systemaufbaus und der Evolution in einem zirkulären Verhältnis zueinander stehen. Die Unterscheidung von nicht akzeptieren, daß der Variationsmechanismus in der organisch-psychischen Umwelt der Gesellschaft
Variation, Selektion und Restabilisierung suggeriert zwar eine zeitliche Abfolge, und sie ist auch so gemeint. liegt. Die hohe Eigenkomplexität und die gesellschaftsexterne Autopoiesis menschlicher Organismen und
Ebenso richtig ist jedoch, daß Variation bereits Stabilität oder, wenn man so will, Normalreproduktion psychischer Systeme erlauben es, ja zwingen dazu, ihre Mitwirkung an gesellschaftlicher Evolution als Zufall
voraussetzt. Evolution ist daher immer nur Modifikation bestehender Zustände; und wenn man sie mit anzusehen — bei aller Sozialisation und bei aller Gesellschaftsabhängigkeit dieser Individuen. Wenn wir
Begriffen wie Innovation oder Emergenz zu fassen versucht, sind das schon abgezogene Beschreibungen, bei Aufschluß über evolutionäre Variation erhalten wollen, müssen wir uns an das Gesellschaftssystem selbst
denen man fragen kann, weshalb auf Diskontinuität und nicht auf Kontinuität geachtet wird. wenden und die Bedingungen der Möglichkeit von Variation in den Grundoperationen dieses Systems suchen,
Ebenso künstlich ist jede Episodenbildung, die bei Variation ansetzt und mit Restabilisierung ihr also in der Kommunikation.
Resultat bezeichnet. Lediglich der Selektionsbegriff kann nicht, und darin erweist sich seine Schlüsselstellung Unakzeptabel ist auch ein weiterer, eher in die Soziologie dieses Jahrhunderts passender Vorschlag, die
im Konzept der Evolution, den Anfang oder das Ende einer Evolutionsepisode bezeichnen. Mit Selektion kann Intellektuellen nach einem im 18. Jahrhundert ausgebildeten Muster als Störfaktoren zu begreifen und sie für
717
ein autopoietisches System eine Strukturänderung weder anfangen noch enden. In grober Vereinfachung kann die Funktion der Variation anzustellen. Damit ist der Schritt vom Individuum zur Rolle getan. Die
man Evolution daher auch als Strukturselektion bezeichnen und, wenn man bedenkt, daß Strukturen die Produktion von abweichenden Vorstellungen erhält eine gewiße Regularität, fast Geschäftsmäßigkeit.
713
Selektion der Operationen steuern, als Selektion von Selektionen. Entsprechend empfinden Intellektuelle "Kritik" als positive Attitude. Was ihnen schwerer fällt, ist die Einsicht,
718
daß die Spezialisierung auf Variation einen Verzicht auf die Verantwortung für Selektion erfordert.
Gewichtiger ist jedoch ein anderes Bedenken: Evolutionäre Variation ist ein viel zu allgemeines breites,
massenhaftes Phänomen, als daß sie Spezialrollen überlassen bleiben könnte. Intellektuelle mögen als
IV. Variation der Elemente Verstärker wirken, aber sie sind ihrerseits viel zu stark durch Moden, Polemiken und semantische Konsistenz
ihrer Vorstellungen bestimmt, als daß sie eine ausreichend offene Variation auf Probe erzeugen könnten. Mit
Bis heute fehlt in der soziologischen Literatur eine befriedigende Erklärung evolutionärer Variation— so Recht hat bereits der Prager Strukturalismus der Vorkriegszeit darauf verzichtet, den Dichtern und Künstlern
wie ja auch in der Biologie Mutation zunächst nur als abrupt und unerklärlich auftretende Änderung des als großen Persönlichkeiten die ausschlaggebende Rolle für die Evolution von Literatur und Kunst
719
Erbgutes begriffen wurde. In der älteren Soziologie begnügte man sich mit dem Hinweis auf die praktisch zuzuweisen. Bei aller Unentbehrlichkeit dieses Zufallsfaktors erkläre das nicht das gehäufte Auftreten in
unendlichen Variationsmöglichkeiten individuellen Verhaltens.
714
Noch heute argumentieren "Pleiaden" zu bestimmten Zeiten und auch weder die Positionsdifferenzen noch die Art der Kontroversen; und
Handlungstheoretiker — sei es gegen, sei es in Absicht auf eine Ergänzung von Systemtheorie —, daß man die seien die in der Evolution schließlich ausschlaggebenden Variationen. Historische "Größe" ist eine zur
für die Erklärung gesellschaftlichen Wandels auf motivstarkes individuelles Handeln zurückgreifen, dieses Erklärung von Variation angefertigte Beschreibung, eine gesellschaftliche Konstruktion.
715
also (mitsamt den handelnden Individuen?) in den sozialen Systemen verorten müsse. Das läßt sich jedoch Der primäre Variationsmechanismus findet sich bereits in der Sprachförmigkeit der Kommunikation
bei einer genaueren Analyse und vor allem bei einem besseren Verständnis gerade der Individualität (und hier liegt denn auch die Parallele zum Erfordernis chemischer Stabilität genetischer Mutationen). Die
organisch-psychischer Systeme nicht halten. Ebenso spricht der Begriff einer eventuell evolutionär Sprache macht Variation bereits als Variation von komplexen Feinregulierungen abhängig. Die
erfolgreichen Variation dagegen. Zum einen suggeriert die neuere biologische Forschung eine hochkomplexe Kommunikation muß sprachlich annähernd richtig, muß jedenfalls verständlich sein. Die Variation liegt also
716
Feinregulierung auch und gerade der Bedingungen genetischer Variation. Diese Regulierung kann aber nur nicht im gelegentlichen Sichversprechen oder in Schreib- oder Druckfehlern. Dies wären viel zu seltene und
belanglose Vorfälle, als daß sie einer Gesellschaft ausreichende Selektionschancen eröffnen könnten. Die
sprachliche Kommunikation muß mit Hilfe von akzeptablen Worten und Satzkonstruktionen vorweg schon
eine Sinnverdichtung leisten, in der kleinere technische Defekte verschwinden; und die evolutionäre Variation
713
An dieser Stelle werden Bezüge auf einen sehr viel allgemeineren Evolutionsbegriff erkennbar, auf die wenigstens kommt nur dadurch zustande, daß sprachlich gelungene Sinnzumutungen im Kommunikationsprozeß infrage
anmerkungsweise hingewiesen werden soll. Er würde sich auf die Erklärung synergetischer Effekte, dissipativer Strukturen gestellt oder rundheraus abgelehnt werden. Die Variation kann in einer ungewöhnlichen Mitteilung liegen,
etc. kurz auf sehr allgemeine Prozesse der Differenzbildung (Abweichungsverstärkung) beziehen, die auch an aber auch, und vermutlich häufiger, im unerwarteten Nichtakzeptieren einer Mitteilung angesichts einer
physikalischen, also an nichtautopoietischen Systemen nachgewiesen werden können. Es soll nicht bestritten werden, daß Situation, die dies als möglich oder als aussichtsreich motiviert. Sie muß aber auf jeden Fall sprachlich
eine solche Theorie auch auf soziale Systeme angewandt werden könnte; nur ist sie hierfür nicht spezifisch genug.
verständlich sein — und dies nicht nur im Hinblick auf den Sinn, der direkt negiert wird, sondern auch im
714
So ausnahmslos, soweit ich sehe, das 19. Jahrhundert, und noch Keller a.a.O. (1931), S. 67 ff. (S. 68: "The agent of Hinblick auf ein Wieso, Wozu, Was dann?
variation is the individual"). Auch die schon früh ausgebildete evolutionäre Erkenntnistheorie beruft sich auf den Zufall des Genauer gefaßt und auf seine kommunikative Verwendung hin betrachtet, liegt der
Einfalls bestimmter Forscher. Vgl. etwa William James, Great Man, Great Thought and the Environment, The Atlantic
Variationsmechanismus in der Erfindung der Negation und in der dadurch ermöglichten Ja/Nein-Codierung
Monthly 46 (1888), S. 441-459, oder Georg Simmel, Über einige Beziehungen der Selektionslehre zur Erkenntnistheorie, 720
Archiv für systematische Philosophie 1 (1895), S. 34-45 (S. 39: "unter den unzähligen, psychologisch auftauchenden sprachlicher Kommunikation. Man achte auf die Unwahrscheinlichkeit dieser evolutionären
Vorstellungen sind einige, die..."). Schon damals stand, wie oben .... bereits notiert, diese Erklärung von Variation in Errungenschaft. Zunächst ist ja jede sprachliche Kommunikation ein positives, tatsächlich erfahrbares
Widerspruch zum Kollektivindividualismus des Begriffs der Population. Ereignis in der wirklichen Welt; und zwar ein unterscheidendes Ereignis, das etwas Bestimmtes bezeichnet.
715
Siehe nur Uwe Schimank, Der mangelnde Akteursbezug systemtheoretischer Erklärungen gesellschaftlicher
Differenzierung — Ein Diskussionsvorschlag, Zeitschrift für Soziologie 14 (1985), S. 421-434; Michael Schmid, Naturwissenschaften 58 (1971), S. 465-523. Der Effekt dieser Vorselektion im Ausprobieren von Variationen ist vor allem,
Autopoiesis und soziales System: Eine Standortbestimmung, in: Hans Haferkamp / Michael Schmid (Hrsg.), Sinn, daß die evolutionäre Selektion selbst dadurch abgekürzt und beschleunigt wird.
Kommunikation und soziale Differenzierung: Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt 1987, S. 25-50
717
(41 f.); ders., Soziologische Evolutionstheorie, Protosoziologie 7 (1995), S. 200-210. Der Rückgriff auf Individuen Vgl. für viele: Josef Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1946, S. 47 ff.; Theodor Geiger,
bezeichnet jetzt nicht mehr eine bestimmbare empirische Realität, sondern dient nur noch dazu, das Handeln als variabel Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, Stuttgart 1949.
vorzustellen. Siehe in umgekehrter Blickstellung Schmid a.a.O. S. 201: "Handeln muß als veränderbar konzipiert werden, 718
Daran erinnert, freilich nicht in einem evolutionstheoretischen Kontext, sondern eher "politisch", Helmut Schelsky, Die
damit Akteure Träger von Variation werden können."
Arbeit tun die anderen: Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975.
716
Vgl. für einen knappen Überblick Ernst Mayr, Evolution und die Vielfalt des Lebens, Berlin 1979, S. 47 ff. Auch die 719
Vgl. insbesondere den hierzu wichtigen Beitrag von Jan Muka_ovský, Das Individuum und die literarische Evolution,
hierfür erforderlichen Prüf- und Harmonisierungsleistungen werden oft als "Selektion" bezeichnet, aber dann nicht in
in: ders., Kunst, Poetik, Semiotik, dt. Übers., Frankfurt 1989, S. 213-237.
einem strikt evolutionstheoretichen Sinne des Begriffs. Vgl. z.B. Lancelot L. White, Internal Factors in Evolution, London
720
1965, oder Manfred Eigen, Selforganization of Matter and the Evolution of Biological Macromolecules, Die Die näheren Ausführungen dazu finden sich oben in Kapitel 2,....
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 209 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 210

Das, was man beobachten kann, ist zunächst nur die Operation des Unterscheidens selbst— ganz unabhängig sorgt für Fortgang der Kommunikation, wenngleich mit freieren Anschlußmöglichkeiten und mit einer
von der Frage, ob sie etwas, und was sie, positiv oder negativ referiert. Das, was nicht bezeichnet wird, bleibt immanenten Tendenz zum Konflikt.
im "unmarked state" der Welt und wird gerade nicht negiert (denn das würde ja eine Bezeichnung Tagtäglich kommt es massenweise zu einer berichtigenden Variation dieser Art, zu einer Korrektur
721
erfordern). Die Möglichkeit, eine Kommunikation als Negation aufzufassen und erst recht die Möglichkeit, geäußerter Meinungen oder auch zu leicht angedeuteten und dann zumeist vermiedenen Konflikten. Es ist also
eine solche Möglichkeit vorgreifend in Rechnung zu stellen, ist ein sehr voraussetzungsvolles Resultat (wir wichtig, sich den Bagatellcharakter der evolutionären Variation vor Augen zu führen. Wie alle operativen
argumentieren zirkulär!) ihrer eigenen Evolution. Elemente dynamischer Systeme ist Kommunikation und auch deviante Kommunikation ein
Wie man weiß, gibt es für Negationen kein Umweltkorrelat. Sie sind für lediglich internen Gebrauch situationsgebundenes Geschehen und verliert normalerweise rasch wieder an Bedeutung. Der Begriff der
entstanden. Das gilt erst recht für den Sprachcode, der bewirkt, daß jede Kommunikation als Kommunikation Variation gibt also noch keine Antwort auf die viel zu kompakt gestellte Frage, wie große, epochenmachende
(und nicht etwa wegen ihres Außenweltbezugs) auf eine Bifurkation von Annahme oder Ablehnung des Ideen oder Erfindungen zustandekommen. Die Evolution macht keine großen, abrupten Sprünge (auch wenn
Sinnangebots zugespitzt wird. Rein sprachlich ist das, so sehr die Rhetorik sich Mühe geben mag, nicht zu ihr Resultat bei rückblickender Beobachtung zuweilen so interpretiert werden kann). Sie setzt aber voraus,
verhindern. Im Unterschied zu einem umweltbezogenen Negationsgebrauch ("ich habe ihn nicht gesehen") daß evolutionsträchtiges Material massenweise produziert wird und normalerweise unbenutzt wieder
richtet sich die Codierung auf die Kommunikation selbst. Es geht um Annahme oder Ablehnung des in ihr verschwindet. Nur so bestehen hinreichende Chancen für Selektionen, und nur so kann es auch hinreichend oft
offerierten Sinnes, und nicht etwa darum, ob Kommunikation stattgefunden hat oder nicht. Durch Codierung vorkommen, daß Kleinzufälle aneinander Halt finden und eine Variation sich auf eine gerade ablaufende
wird die Kommunikation selbst reflexiv und kann in dieser Form dann auch umweltbezogene Negationen andere mitabstützen kann.
traktieren, indem man darüber diskutiert, ob eine diesbezügliche Behauptung zutrifft oder nicht. Einmal Zu beachten ist ferner, daß die Variation, anders als die Selektion, nicht als solche kommuniziert wird.
724
eingeführt, kann die Codierung als Moment der Autopoiesis sprachlicher Kommunikation nie wieder Sie wird nicht im Hinblick auf Selektion mitgeteilt. Sie begründet sich irgendwie — aber nicht mit ihrer
abgeschüttelt werden. Sie wächst mit den Möglichkeiten sprachlicher Kommunikation, also mit der evolutionären Funktion. Dafür sprechen auch praktische Gründe. Würde die Variation nur oder überwiegend
Gesellschaft. Je mehr Möglichkeiten des Ausdrucks und des Verstehens durch die Entwicklung einer im Hinblick auf Selektionschancen erfolgen, wäre sie mit einem zu hohen Enttäuschungsrisiko verbunden;
komplexen Semantik bereitgestellt werden, desto mehr Anregungen zur Ablehnung werden mitproduziert. denn die soziale Wirklichkeit ist extrem konservativ eingestellt und negiert nicht so leicht Vorhandenes und
Das muß nicht heißen, daß Jas und Neins ursprünglich gleichwahrscheinlich verteilt sind. Die Codierung Bewährtes im Hinblick auf etwas Unbekanntes, dessen Konsenschancen noch nicht erprobt sind und in der
schafft einen Überschuß, die Gesellschaft hilft sich mit Inhibierung des Nein. Was sprachlich möglich und gegebenen Situation auch nicht getestet werden können. Die Ablehnung muß ihre Gründe anderswo suchen.
verständlich wäre, ist gleichwohl nicht immer angebracht. Soweit die Inhibierung nicht greift oder soweit, wie Man hält sich nicht an das Zinsverbot — aber nicht, weil man damit der Evolution des Wirtschaftssystems
wir gleich sehen werden, institutionelle Desinhibierungen Ablehnungsmöglichkeiten wiederherstellen, findet dient, sondern weil sich juristisch und kirchlich haltbare Umgehungskonstruktionen finden lassen. Oder man
der Variationsmechanismus Spielraum, und nur auf diesem komplizierten Umweg der Überschußproduktion, grenzt sich nur ab und aus: nimby (not in my backyard). Daß Abweichungen von einer bisherigen Praxis zur
Inhibierung und Desinhibierung läßt er sich dem jeweiligen Stande der gesellschaftlichenEvolution anpassen. Selektion vorgeschlagen werden, soll damit natürlich nicht ausgeschlossen sein (und insofern ist es in der Tat
Variation kommt mithin durch eine Kommunikationsinhalte ablehnende Kommunikation zustande. Sie irreführend, die soziokulturelle Evolution als "blind" zu bezeichnen). Aber der Vorschlag selbst ist eben noch
produziert ein abweichendes Element — nicht mehr und nicht weniger. Dabei blickt der Prozeß auf die in der nicht die Selektion; und im übrigen hat nur ein kleiner Teil der evolutionär relevanten Variationsvorkommnisse
725
Kommunikation schon geäußerte oder angedeutete oder erwartete Annahmeerwartung. Er blickt also in die diese intentionale Form. Nur durch Nichtkoordination von Variation und Selektion, das heißt: durch
Vergangenheit — mit dem Rücken zur Zukunft wie die Propheten Israels. Auf diese Weise werden Variation Vermeidung von Kommunikation über diese Beziehung, kann Evolution hinreichend wahrscheinlich sein und
und Selektion getrennt; denn ein Selektionsvorschlag wäre selbst schon eine positive Sinnofferte, die sich hinreichend rasch zum Aufbau einer in sich unwahrscheinlichen Ordnung führen. In diesem genauen Sinne
ihrerseits der Bifurkation von Annahme und Ablehnung aussetzt. Variation ist also nicht Spontangenese von kann man auch die Beziehung von Variation und Selektion als Zufall bezeichnen: Die Bestimmtheit der
722
Neuem ("Neues" ist auf lange Zeit noch eine suspekte, fast mit Devianz gleichsinnige Kategorie ), sondern Variation sagt nichts aus über die Chancen der Selektion.
abweichende Reproduktion von Elementen des Systems. Und Abweichung ist ein rekursiver Begriff, denn sie Wenn Evolution komplexere Gesellschaften hervorbringt, kann dies also nicht bedeuten, daß jetzt um so
setzt etwas voraus, von dem sie abweichen kann. mehr "brauchbare" Variationen erzeugt werden müssen. Mit höherer Komplexität wird es ja zunächst einmal
Die Ablehnung widerspricht der Annahmeerwartung oder auch einfach einer unterstellten Kontinuität unwahrscheinlicher, daß überhaupt irgendeine Neuerung sich strukturell einpassen läßt. Die
des "so wie immer". Alle Variation tritt mithin als Widerspruch auf — nicht im logischen, aber im Zufallskoordination von Variation und Selektion muß deshalb erhalten bleiben; denn das Gegenteil hieße: zu
ursprünglicheren dialogischen Sinne. Sie kann gar nicht anders vorkommen denn als Selbstwiderspruch des Planung überzugehen. Zugleich muß aber im Funktionsbereich der Variation die Dialektik von
723
Systems. Sie fügt sich damit — sie kommuniziert! — den Erfordernissen der Autopoiesis des Systems, sie Überschußproduktion, Inhibierung und Desinhibierung mit den Mitteln höherer Komplexität den Bedingungen
höherer Komplexität angepaßt werden. Man braucht, mit anderen Worten, Zusatzeinrichtungen der Häufung
721 und Beschleunigung von Variation (so wie in der Evolution des Lebens die biochemische Mutation durch
Im Formenkalkül von George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck New York 1979, ist denn auch zunächst nur
diese Operation des unterscheidenden Bezeichnens erforderlich; und deshalb handelt es sich nicht um eine Logik, sondern bisexuelle Reproduktion ergänzt worden ist). In der gesellschaftlichen Evolution ist das auf zweierlei Weise
um eine mathematische Theorie. Zur Generierung der Form einer positiv/negativ-Unterscheidung sind sehr viel
komplexere Beobachtungsverhältnisse erforderlich, die am Anfang noch nicht vorausgesetzt werden können. die Struktur selbst kann nicht als "widerspruchsvoll" bezeichnet werden, und zwar weder in einem logischen noch in einem
722 dialogischen Sinne. Sie wird operativ zur Vermittlung von Anschlüssen verwendet oder nicht verwendet; und nur ein
Wortgeschichtliche Belege bei Johannes Spörl, Das Alte und das Neue im Mittelalter: Studien zum Problem des
Beobachter kann hier Widersprüche konstruieren.
mittelalterlichen Fortschrittsbewußtseins, Historisches Jahrbuch 50 (1930), S. 297-341, 498-524. Vgl. auch Walter Freund,
724
Modernus und andere Zeitbegriffe des Mittelalters, Köln-Graz 1957. Oft wird zwar behauptet oder unterstellt, daß das Gegenteil zutreffe, daß gerade die Kopplung von Variation und
723 Selektion für die soziokulturelle Evolution charakteristisch sei und daß daran die "Analogie" zur biologischen Evolution
Hierzu allgemein Niklas Luhmann, Soziale Systeme a.a.O., S. 488 ff. Die oben im Text eingenommene Position ist zu
scheitere. So (allerdings für den begrenzten Bereich der Evolution von Wissenschaft) L. Jonathan Cohen, Is the Progress of
unterscheiden von der verbreiteten Auffassung, daß strukturelle Widersprüche Anlaß geben zur Variation des Systems —
Science Evolutionary?, British Journal for the Philosophy of Science 24 (1973), S. 41-61 (47 f.); Stephen Toulmin, Human
sei es in der durch die Dialektik vorgeschriebenen Weise, sei es als "variety pool" mit noch unbestimmten
Understanding Bd. 1, Princeton 1972; Nicholas Rescher, Methodological Pragmatism: A Systems-Theoretic Approach to
Entwicklungsmöglichkeiten. Vgl. für viele: Oskar Lange, Wholes and Parts: A General Theory of System Behaviour,
the Theory of Knowledge, Oxford 1977. Diese Meinungsverschiedenheit könnte nur über eine genauere Analyse
Oxford-Warschau 1965, S. 1 f., 72 ff.; Claude Lévi-Strauss, La notion de structure en Ethnologie, in ders., Anthropologie
kommunikativer Operationen behoben werden.
structurale, Paris 1958, S. 303-351 (342 ff.); Talcott Parsons, Some Considerations on the Theory of Social Change, Rural
725
Sociology 26 (1961), S. 219-239; Walter Buckley, Sociology and Modern Systems Theory, Englewood Cliffs N.J. 1967, Für einen Test dieser These am Fall der (zunächst in ihrer Intention und Planmäßigkeit beeindruckenden) Erfindung von
insb. S. 50 ff.; Jon Elster, Logic and Society: Contradictions and Possible Worlds, Chichester 1978. Es ist durchaus "Verfassungen" siehe Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal (1990), S.
vorstellbar, daß es strukturelle Bedingungen gibt, die mehr als andere dazu anregen, Kommunikationen abzulehnen. Aber 176-220.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 211 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 212

geschehen: durch das Verbreitungsmedium Schrift und durch Stärkung der Konfliktfähigkeit und zurückgewirkt haben; denn wenn man es wagt, abzulehnen, nachdem andere sich in der Kommunikation
Konflikttoleranz in der Gesellschaft (oder anders gesagt: durch Verzicht auf die Externalisierung aller bereits festgelegt hatten, steht der Konflikt ins Haus. Die anderen werden insistieren, Argumente und
Konflikte, wie sie für segmentäre Gesellschaften charakteristisch ist). Verbündete suchen und finden, und unversehens bildet sich ein System im System: ein Konflikt. In kleinen,
Wenn Schrift als Verbreitungsmedium (also nicht nur zu Aufzeichnungszwecken) angenommen wird, interaktionsnah gebildeten Gesellschaften ist daher eine Konfliktrepression überlebenswichtig. Bei
hat dies einen Doppeleffekt: Der Kommunikation kann größere räumliche und zeitliche Reichweite gegeben zunehmender Größe und Komplexität kann, und bereits spätarchaische Gesellschaften liefern dafür manche
werden, und sie wird von den Zwängen der Interaktion entlastet, das heißt: sowohl im Herstellen (Schreiben) Zeugnisse, diese Bedingung gelockert werden. Allerdings kann dies nur unter ebenfalls komplexen
als auch im Rezipieren (Lesen) freier gestellt. Die größere Verbreitung schafft die Möglichkeit, durch eine Bedingungen geschehen, die es ermöglichen, mehr Konflikt und mehr Frieden zugleich zu erreichen.
Änderung vieles ändern zu können, und zwar unübersehbar vieles. Damit verliert sich oder reduziert sich auf Ein weit verbreiteter Versuch bestand darin, das Problem der Devianz auf die Ebene sozialer Rollen zu
bestimmte magisch-religiöse Praktiken die Vorstellung, man könne durch das Wort unmittelbar etwas ändern. verlagern und dort durch Differenzierung von erfolgs- bzw. mißerfolgs- oder unglücksbezogenen Rollen zu
Außerdem muß die damit wachsende Unbeobachtbarkeit der Effekte institutionell abgesichert werden. Wie bei lösen. Die ersteren werden zu Prominenzrollen und werden dann auch für Konfliktregulierungen in Anspruch
729 730
jeder Technik wirft das religiöse Probleme auf, von denen der Prometheus-Mythos erzählt. Im Feuer der genommen , die letzteren werden in Annahmen über bösen Blick, Hexerei und dergleichen neutralisiert.
Schrift löst sich zum Beispiel die Festigkeit des althergebrachten heiligen Rechts auf, und das jetzt "geltende" Über diesen Stand führt erst die Entwicklung politischer Entscheidungskompetenzen hinaus mit komplizierten
726 731
Recht ermöglicht Gesetzgebung, aber wie? Oder: wenn das Ethos des Adels aufgeschrieben und, wie in der Folgen für das nun notwendige Ausbalancieren des Verhältnisses von Religion und Politik.
Frühmoderne, sogar gedruckt wird, wird der Adel sich alsbald mit unbestimmbaren Leuten konfrontiert sehen, Mit der Entwicklung durchsetzungsfähiger politischer Herrschaft gewinnt man die Möglichkeit, die
die Bücher gelesen haben und deshalb (!) besser wissen, "virtuoser" handhaben und kritisch beurteilen können, Ablehnung kommunikativer Sinnofferten zu stärken und zugleich von Konfliktfolgen zu entlasten. Es entsteht
732
was vorher nur Prätention war. legitime Gewalt zur Bekämpfung illegitimer Gewalt. Die dafür gefundene Form ist eine strukturell
Schriftliche und damit interaktionsfreie Kommunikation braucht und kann auf Anwesende keine gesicherte Asymmetrie — sei es auf der Basis von Eigentum, sei es auf der Basis von durch Gefolgschaft
Rücksicht nehmen, aber sie muß die Verständnishilfen ersetzen, die in der Einheit der Situation gelegen hatten. gesicherter Macht. Wer hier über die Ressourcen verfügt, kann nein sagen, kann sich Hilfs- oder
733
Sie muß sich deutlicher und allein aus dem Text heraus explizieren. Das führt zu Verbalformen neuen Typs Abgabezumutungen entziehen, ohne mit Konflikten rechnen zu müssen. Er kann seine Ressourcen
und vor allem zur Bildung von Begriffen mit ihrerseits unübersehbaren Folgewirkungen. Solange Gott nur mit konzentrieren. Die Restabilisierung dieser Errungenschaft findet durch Stratifikation des Gesellschaftssystems
734
einem Namen bezeichnet wurde, den man wissen mußte, um ihn anrufen zu können, war das Problem durch statt.
Geheimhaltung des Namens zu lösen. Hat man einen Begriff für Gott, der schriftlich fixiert ist, kann der Eine andere Möglichkeit ist: Konflikte zuzulassen, sie aber durch soziale Regulierung und durch
Begriff Erfahrungen kondensieren, Präzisierungen verlangen, in Konsistenzprobleme führen — kurz all das Einfluß Dritter auf den Streitausgang zu entschärfen. Hierfür haben sich Verfahren der Streitschlichtung,
auslösen, was dann die mittelalterliche Theologie beschäftigen wird. schließlich der an Regeln orientierten Streitentscheidung eingespielt, die, gleichsam epigenetisch, semantisches
Die andere, oben genannte Möglichkeit der Steigerung von Variationsfähigkeit, nämlich der Erzeugung Material produzieren, das schließlich als "Recht" bewußt wird und für die Autopoiesis eines Rechtssystems in
735
und Tolerierung innergesellschaftlicher Konflikte, mußte ebenfalls gegen strukturell verfestigte Bedenken Anspruch genommen werden kann. Der Reiche kann einer an ihn herangetragenen Kommunikation sowieso
736
durchgesetzt werden; und noch heute sieht man, wenige Soziologen ausgenommen, Konflikte nicht gern. widersprechen; aber der Arme kann es jetzt auch, wenn er im Recht ist. Entgegen den Annahmen eines
Konflikte testen Ablehnungspotentiale. Sie führen zu einer allseitigen Integration des Verhaltens der "moralischen Funktionalismus" eines Durkheim oder mancher Rechtsphilosophen dient das Recht also nicht
Beteiligten, zu einer laufenden Beobachtung des Beobachtens und damit zu einem intensiven primär einer moralischen Integration der Gesellschaft, sondern der Steigerung von Konfliktmöglichkeiten in
737
Informationsaustausch. Wenn als Ergebnis eines Konfliktes ein Nein gewinnt, kann man deshalb davon Formen, die die sozialen Strukturen nicht gefährden. Die Steigerung der Konfliktfähigkeit kann dann
727
ausgehen, daß es eine erste Bewährungsprobe bestanden und seine Durchhaltefähigkeit bewiesen hat. differentiell genutzt werden, und sie dient in älteren Gesellschaften hauptsächlich dem Aufbau
Gleichwohl geraten Konflikte leicht außer Kontrolle und stören die innergesellschaftliche Umwelt. In älteren stratifikatorischer Differenzierung.
Gesellschaften kommt Gewalt unter Anwesenden sehr viel häufiger vor als heute, und entsprechend gibt es
728
eine schwer lastende Repression von Konfliktneigungen. Das muß auf die Bereitschaft, nein zu sagen,
729
Für ein Beispiel aus einer umfangreichen Literatur siehe Kenelm O.L. Burridge, Disputing in Tangu, American
Anthropologist 59 (1957), S. 763-780.
726
Im altgriechischen Recht wurde, um ein Beispiel zu geben, das Problem zunächst in der Form eines Prozesses gegen das 730
Siehe vor allem Mary Douglas, Purity and Danger: An Analysis of the Concept of Pollution and Taboo, London 1966, S.
geltende Recht gelöst, das heißt in der Form einer Beobachtung zweiter Ordnung mit der Frage, ob das Recht zu recht oder 111 ff.
zu unrecht gelte. Vgl. Polybios XII, 16, und zu Spätformen einer schon routinemäßigen Behandlung Ulrich Kahrstedt,
731
Untersuchungen zu athenischen Behörden, Klio 31 (1938), S. 1-32 (19 ff.); K.M.T. Atkinson, Athenian Legislative Vgl. für die in Mesopotamien gefundenen Lösungen M. David, Les dieux et le destin en Babylonie, Paris 1949; John G.
Procedure and the Revision of Laws, Bulletin of the John Rylands Library 23/1 (1939), S. 107-150; A.R.W. Harrison, Gunnell, Political Philosophy and Time, Middletown Conn. 1968, insb. S. 39 ff.
Law-Making at Athens at the End of Fifth Century B.C., Journal of Hellenic Studies 75 (1955), S. 27-35; W.G. Forrest, 732
Vgl. oben Anm. ...
Legislation in Sparta, Phoenix 21 (1967), S. 11-19. Erst sehr allmählich, sicherlich dann bei Aristoteles, Rhetorik 1354 a
733
32 ff., gibt man der Differenz von Gesetzgebung und Rechtsprechung eine neue Funktion, nämlich die der Sicherung einer Daß dies in der Interaktion unter Anwesenden bis heute schwierig ist, wird man zugeben müssen. Hier helfen neben
nicht schicht- und nicht freundschaftsabhängigen Rechtspflege. Aber das war nicht der Sinn der ursprünglichen Variation, Interaktionsvermeidungen unter Umständen technische Vorkehrungen. Wer seine Zigarette selber dreht, ist gegen
sondern ergab sich aus einer Betrachtung ihrer Effekte. Abgabezumutungen besser geschützt als derjenige, der sie aus dem Päckchen zieht.
727 734
Im Unterschied zu spieltheoretisch angelegten Evolutionstheorien — vgl. insb. John Maynard Smith, Evolution and the Wir kommen darauf ausführlich zurück. Vgl. Kapitel 4,.....
Theory of Games, Cambridge Engl. 1982, — nehmen wir jedoch nicht an, daß damit allein Selektion schon ausreichend 735
Ein Anwendungsfall der oben .... diskutierten evolutionären Emergenz autopoietischer Systeme.
geklärt ist.
736
728 Vgl. den oben Kap. 2, Anm... zitierten Euripides-Text.
Aus einer umfangreichen Literatur über segmentäre Gesellschaften siehe etwa H. Ian Hogbin, Social Reaction to Crime,
737
in: Law and Moral in the Schouten Islands, New Guinea, The Journal of the Royal Anthropological Institute 68 (1938), S. Das muß aber für heutige Verhältnisse nicht gleich heißen: die den Interessen der Oberschicht dienen, wie die "critical
223-262; Alfred R. Radcliffe-Brown, On Joking Relationships, Africa 13 (1940), S. 195-210; Max Gluckman, Custom and legal studies" Bewegung in den USA annimmt. Vgl. hierzu auch Austin Turk, Law as a Weapon in Social Conflict, Social
Conflict in Africa, Oxford 1955; George M. Foster, Interpersonal Relations in Peasant Society, Human Organization 19 Problems 23 (1976), S. 276-291. Andererseits ist es, besonders in Ländern der peripheren Moderne, nicht untypisch, daß
(1960), S. 3-15; Asen Abalikai, Quarrels in a Balkan Village, American Anthropologist 67 (1965), S. 1456-1469; Sally F. man Angehörige der Unterschicht eher als Beklagte und Angehörige der Oberschicht eher als Kläger findet. Siehe die
Moore, Legal Liability and Evolutionary Interpretation: Some Aspects of Strict Liability, Self-Help and Collective Feststellungen für zivilrechtliche Prozesse in Mexiko bei Volkmar Gessner, Recht und Konflikt: Eine soziologische
Responsibility, in: Max Gluckman (Hrsg.), The Allocation of Responsibility, Manchester 1972, S. 51-107. Untersuchung privatrechtlicher Konflikte in Mexiko, Tübingen 1976, insb. S. 100.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 213 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 214

Hiermit kaum vergleichbar ist eine dritte Möglichkeit hochkomplexer Gesellschaft, nämlich die Umgehungen in bezug auf das Verbot, Zinsen zu nehmen). Das heißt dann auch, daß in Umbruchszeiten die
738
Differenzierung von Konfliktgründen und Konfliktthemen. Es kann tiefliegende strukturelle Gründe für ein Radikalität des Strukturwandels nicht beobachtet werden kann und man, rückblickend gesehen, in nicht mehr
immer neues Ausbrechen von Konflikten geben, aber die Konflikte selbst suchen sich andere Anlässe und angemessenen Unterscheidungen kommuniziert. Wenn die frühe Neuzeit ihr Problem darin sah, Innovationen
Themen, weil der strukturelle Auslöser ohnehin kein "lösbares Problem" ist. Die penetrante Suche mancher in fast allen Funktionsbereichen mit einer grundlegend religiösen Weltsetzung in Einklang zu bringen oder
Soziologen nach den "eigentlichen" Gründen des Konflikts, ihr marxistisches Erbe mit anderen Worten, hat dagegen zu distanzieren, muß man sich heute fragen, ob das überhaupt das Problem war, an dem sich der
verdeckt, daß gerade in dieser Differenz von Gründen und Themen eine Errungenschaft liegt, sofern das Übergang zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft entschied.
739
System groß genug ist, um die Konflikte aushalten zu können. Kann man erwarten, daß die Gesellschaft auf Grund dieser Problemlage schließlich zu immer besseren
Zu den Unberechenbarkeiten, die mit diesen Erweiterungen der Variationsmöglichkeiten ausgelöst Welt- und Selbstbeschreibungen kommt, also lernt, auch die Kategorienbildung noch zu kontrollieren, die das
werden, gehören die entsprechenden Transformationen der Semantik und deren Folgen. Je mehr vorgibt, was als alt und was als neu erfahren wird? In gewisser Weise beantwortet die Frage sich selbst. Daß
Ablehnungsmöglichkeiten zugelassen werden, desto gewichtiger wird der Bedarf an Nichtnegierbarkeiten. man sie stellen kann, verschiebt das Problem nur auf eine andere Abstraktionsstufe, ohne es damit definitiv zu
Aber gerade die Suche nach Notwendigem produziert, wenn sie als Suche beobachtet werden kann (und das lösen. Was man jedoch beobachten kann, ist eine andere Art von Reaktion, nämlich die Verschärfung der
garantiert die Schrift), immer neue Kontingenzen. Die Religion vollzieht, soweit sie sich durch Theologie Differenzierung von Variation, Selektion und Restabilisierung, die nicht zufällig schubweise erfolgt, wenn es
740
betreuen läßt, diesen gefährlichen Gang mit. Die Wirklichkeit, die als das Nichtnegierbare schlechthin zu tiefgreifenden Strukturbrüchen kommt, etwa zur Verbreitung einer leicht handhabbaren Schrift oder zur
gegolten hatte, gerät in den Verdacht, bloße Schöpfung, bloßer "Schein", bloßes Bewußtseinskorrelat, oder Änderung der Differenzierungsform der Gesellschaft. Man bemerkt zwar nicht, daß eine Schemarevision
heute: bloße "Konstruktion" zu sein. Mit der Ausdifferenzierung besonderer Funktionssysteme entstehen, auf fällig wäre, aber die Evolution selbst evoluiert; sie verselbständigt Selektion und Restabilisierung gegenüber
sie bezogen, Kontingenzformeln, die eine systemspezifische Unbestreitbarkeit behaupten können, etwa der Variation und schafft damit höherer Freiheitsgrade in der Bewältigung unverstandener oder unzureichend
Knappheit für das Wirtschaftssystem, Legitimität für das politische System, Gerechtigkeit für das placierter Probleme.
741
Rechtssystem, Limitationalität für das Wissenschaftssystem. Aber in der Festlegung solcher Formeln auf Wenn man in vormodernen Gesellschaften sich dem Druck gesteigerter Variationsmöglichkeiten
jeweils besondere Funktionssysteme bleibt offen, was sie gesamtgesellschaftlich besagen. Die seit der Mitte ausgesetzt sah, konnte man immer noch davon ausgehen, daß die Selektion sich an dem Einen, dem Wahren,
des 19. Jahrhunderts übliche Erlösungsformel lautet: Werte. Aber sie ist dem gleichen Korrosionsprozeß dem Guten zu orientieren habe. Man konnte sich in einem Essenzenkosmos gehalten glauben. Die Mittel
ausgesetzt. Einmal in die Welt gesetzt, läßt sie es zu, von "Umwertung der Werte" oder von "Wertwandel" zu mochten unsicher sein oder versagen, aber an den Zielen war nicht zu zweifeln, quia ex se patet quod optatur.
sprechen. Aber dies Vertrauen in einzig-richtige, letztlich Perfektion, Ruhe, Stabilität bewirkende Selektion hatte in der
All diese Überlegungen zu Formen der Variation setzen voraus, daß Abweichungen überhaupt Stratifikation und in der Zentrum/Peripherie-Differenzierung des Gesellschaftssystems eine heimliche
wahrgenommen werden können. Damit hängt alle Variation ab von einer vorgegebenen Semantik, vom Rückversicherung gehabt, die heute entfallen ist. Man beginnt statt dessen, das Neue als solches zu
742
Gedächtnis des Systems, das alle Kommunikationen darüber informiert, was bekannt und normal ist, was schätzen , dem Begriff der "Kritik" den Sinn des Ablehnens des Kritisierten zu unterschieben und
erwartet werden kann, und was nicht. Gerade das, was auffällt, wird also gesteuert durch schon etablierte "Alternativen" nicht mehr als bloße Optionen zu verstehen, sondern als Varianten, die ohne nähere Prüfungen
Strukturen. Diese Voraussetzung hat um so mehr Gewicht, als sie unbemerkt wirkt. Die Einheit der besser sind als das Vorhandene. Es kommt, zusammenfassend gesagt, zu einer semantischen Hypertrophie der
Unterscheidung von erwartet/unerwartet, normal/abweichend wird nicht selbst zum Thema. Und gerade fein Variation — und folglich zu einer eingebauten Enttäuschung der Gesellschaft über sich selbst. Denn Variation
verästelte Semantiken, etwa solche einer religiösen oder juristischen Dogmatik, leiten auftauchende Probleme allein kann noch keine Evolution bewirken.
in sich selbst zurück auf gröbere oder fundamentalere Unterscheidungen, führen aber nicht dazu, daß das Im Ergebnis geschieht jedoch etwas ganz anderes als nur eine Umwertung im Verhältnis von alt und neu.
Unterscheidungsschema selbst in Frage gestellt wird. Man kann sich dann wohl zwischen Herkommen und Faktisch stellt sich die Gesellschaft jetzt auf Selektionsweisen ein, die nicht mehr ohne weiteres Stabilität in
Variation, zwischen alt und neu entscheiden. Eine Variation kann sich in günstigen Fällen durchsetzen. Aber Aussicht stellen. Sie differenziert zwischen Selektion und Restabilisierung — einfach deshalb, weil der
es wird kaum möglich sein, die Frage zu stellen, warum die Frage überhaupt so und nicht anders gestellt wird. Neuerungsdruck wächst und rascher verarbeitet werden muß. Um diesen Vorgang erfassen zu können,
Die Abhängigkeit von einer vorgegebenen Semantik ermöglicht überhaupt erst das Erkennen von müssen wir jedoch zunächst die für Selektion und für Restabilisierung entwickelten Funktionsträger als solche
Abweichungen, also Evolution. Trotzdem kann man sich vorstellen, daß an der Schwelle radikaler Umbrüche studieren.
sich daraus Schwierigkeiten ergeben. Wenn immer von der unsichtbaren Hand der Tradition (und für viele
Sachgebiete heißt das: Religion) bestimmt wird, wie zwischen konform und abweichend unterschieden werden
kann, muß man damit rechnen, daß Variationen die Probleme falsch kategorisieren, etwa Ausnahmen von
Regeln produzieren, die als Regeln bereits ihre Bedeutung verloren haben (zum Beispiel Ausnahmen oder

V. Selektion durch Medien


738
Vgl. als Fallstudie auf der Ebene einer Organisation Alvin Gouldner, Patterns of Industrial Bureaucracy, Glencoe Ill.
1954, und ders., Wildcat Strike, Yellow Springs Ohio 1954. Siehe auch Eligio Resta, Conflitti sociali e giustizia, Bari
1977. Die Unterscheidung von Variation und Selektion ist die Form des Begriffs der Evolution. "Form"
739
Systeme, die unter diesem Gesichtspunkt "zu klein" sind, — seien es Familien, seien es Organisationen — werden
bedeutet die Notwendigkeit einer "anderen Seite" und hier, daß, wenn Variation vorkommt, Selektion
heute zum Gegenstand einer "Systemtherapie", die sich um ein Re-arrangieren ihrer Konflikte bemüht. notwendig ist. Das Interesse des 19. Jahrhunderts an Evolution war ein Interesse an Selektion, gleichviel ob
740
Dies kann man unter sehr verschiedenen Blickwinkeln diskutieren — etwa im Hinblick auf das Zunehmen
unentscheidbarer Kontroversen und die damit zugleich zunehmenden Konsistenzzwänge in der Argumentation; oder im
Hinblick auf den Voluntarismus mit seinen Kontingenzproblemen (Duns Scotus, William Ockham); oder an Hand der
sogenannten via negationis der Gottesbeweise; oder mit Bezug auf die Auflösung der Perfektionsvorstellungen durch den 742
Der Umbruch erfolgt im 17. Jahrhundert, in dem man für Religion, aber auch für Politik an der alten Warnung vor
Begriff der aktualen Unendlichkeit. Wir müssen es bei diesen Andeutungen belassen.
Neuerungen noch festhält, zugleich aber für alles, was "gefallen" soll, eine Positivwertung durchsetzt. "Si la durée fait
741
Dieser weniger gebräuchliche Ausdruck soll besagen, daß von begrenzten Möglichkeiten ausgegangen werden muß, subsister toutes les parties du monde, la nouveauté les faict estimer", formuliert François de Grenaille, La Mode ou le
wenn man behaupten will, daß die Feststellung von Wahrheiten bzw. von Unwahrheiten den Bereich der noch zu prüfenden Charactere de la Religion, Paris 1642, S. 5, diesen Zwiespalt. Zur entsprechenden Aufwertung von "surprise" im 17./18.
Fragen verkleinert und nicht (worauf ja manches hindeutet) vergrößert. Nur unter dieser Prämisse hat es zum Beispiel Jahrhundert von Méré (eher zweifelnd) über Bouhours bis zu Montesquieu siehe Erich Köhler, Esprit und arkadische
Sinn, die "Falsifizierbarkeit" von Hypothesen zu fordern. Freiheit: Aufsätze aus der Welt der Romania, Frankfurt 1966, S. 267 f. Dazu ausführlicher Kap. 5 ...
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 215 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 216
743
natürliche oder unnatürliche Selektion ; und das Interesse an Selektion war das Interesse an Herstellung von Ob die evolutionäre Selektion in die eine oder die andere Richtung tendiert, wird über ihre eigenen
Einheit oder Einheiten, nachdem diese nicht mehr als gegeben vorausgesetzt werden konnten. Mechanismen entschieden. Danach ist es ein Zufall, wenn eine Variation schon durch ihre eigene
748
Da Variation und Selektion nur "zufällig" gekoppelt sind, kann man eine Theorie evolutionärer Selektion Bestimmtheit selektionsrelevant wird. Vor allem darf kein Zweckverhältnis installiert sein mit der Folge,
744 745
separat ausarbeiten. Es kommt hier und dort zu einer strukturellen Innovation, "whatever its causes". daß eine Variation nur um der Selektion willen durchgeführt wird. Variationen mögen so motiviert sein, und
749
Man spricht auch von Äquifinalität verschiedener Ausgangslagen — eher irreführend, weil dies natürlich nicht Kommunikationen mit Vorausblick auf brauchbare Resultate sind natürlich nicht ausgeschlossen. Aber
besagen soll, daß es im Laufe der Evolution zu einer Konvergenz bewährter Formen kommt. Festzuhalten ist selbst wenn es daraufhin zu evolutionären Strukturänderungen kommt, liegen diese nicht im Erreichen des
nur, daß die Selektionsfunktion nur vom Faktum der Variation abhängt, nicht aber davon, welche konkreten Zweckes, sondern darin, daß das System auf das Bemühen um den Zweck mit Strukturänderungen reagiert.
Auslöser es in die Welt gesetzt hatten. Die Evolution benutzt Zweckoptimismus, um zu Variationen anzuregen. Was als Struktur seligiert wird, ist
750
So wie Variation ist auch Selektion nur möglich, wenn und solange das System besteht, das heißt: wenn allein damit aber noch nicht entschieden.
und solange die Angepaßtheit des Systems bewahrt werden kann. In der evolutionären Selektion kommt diese Die Trennung dieser evolutionären Funktionen ist schon dadurch gewährleistet, daß sie sich auf
Randbedingung (die nicht als Selektionskriterium dient!) in der Form der Wiederverwendbarkeit der verschiedene Komponenten des Gesellschaftssystems beziehen: die Variation auf die Elemente, also auf die
Selektionsgesichtspunkte zum Ausdruck. Sie erinnern und kondensieren die Bewährungserfahrungen des einzelnen Kommunikationen, die Selektion dagegen auf die Strukturen, also auf die Bildung und den
746
Systems und machen sie intern verfügbar. Dazu müssen sie von konkreten Situationen abstrahiert, aber Gebrauch von Erwartungen. Das besagt vor allem, daß zwischen Variationsereignissen und Selektionen kein
zugleich auch so gefaßt werden, daß sie zu vielen, konkret verschiedenartigen Situationen "passen" — eins-zu-eins Verhältnis unterstellt werden darf (ebensowenig wie in der organischen Evolution zwischen
gleichviel, ob man die frühere Verwendung und Bewährung erinnert oder nicht. Außerdem ist, schon für das Mutationen und Selektion phänotypischer Merkmale). Dazu wirkt Kommunikation, vor allem wenn sie
Verstehen des vorliegenden Problems, ein hohes Maß an Konformität mit bisherigen Strukturen erforderlich. beobachtet wird, viel zu diffus. Ein einzelnes Nein ändert noch keine Strukturen, und wenn dies doch
Die Neuerung wird auf Kompatibilität hin geprüft. Allerdings kommt der Evolution entgegen, daß Konsistenz vorkommt, wäre es ein extrem seltener Ausnahmefall, der das Tempo der Evolution nicht erklären kann. Der
schwer zu prüfen ist und sich im allgemeinen erst erkennen läßt, wenn die Neuerung eingeführt ist und in der Widerspruch zu vorausgesetzten Erwartungen kann auffallen, kann Sozialprestige verleihen, kann zur
Praxis zu Problemen führt. Jedenfalls muß der Fall, den die moderne Gesellschaftskritik vor Augen hat: daß Wiederholung oder zu Parallelaktionen anreizen und kann im Gesamteffekt zusammen mit anderen
747
nämlich eine Neuerung deswegen bevorzugt wird, weil sie abweicht, als der seltene Ausnahmefall gelten. Bedingungen ganz andere Strukturen ändern (oder festigen) als die, die ursprünglich Gegenstand der
Jede Variation hat zwangsläufig Selektion zur Folge. Auch wenn keine positive Selektion stattfindet, Ablehnung waren. Immer wirkt eine schon vorhandene Sozialordnung mit, wenn es um Struktureffekte von
findet Selektion statt, weil dann die operationsgebundene Variation vergeht, ohne Strukturen zu ändern, und Kommunikationsablehnungen geht. Und nur das kann erklären, weshalb in der Evolution des Lebens wie in
alles so bleibt, wie es war und ist. Seligiert wird dann der bisherige Zustand — und nicht die Innovation. Die der Evolution der Gesellschaft die Resultate durchweg stimmig, um nicht zu sagen: harmonisch ausfallen.
Selektion selbst ist also eine Zwei-Seiten-Form: wenn nicht positiv dann negativ. Daß sie Form ist, Rückbezogen auf das Problem der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen, mit dem wir die
unterscheidet sie zugleich von der Variation, die ihrerseits Form ist, weil sie vorkommen — oder nicht Untersuchungen dieses Kapitels eingeleitet hatten, können wir nun auch deutlicher sehen, wie dieser
vorkommen kann. Die Form der Evolution (Variation/Selektion) ist mithin eine Form zweiter Stufe, eine aus Gesamteffekt zustandekommt. Die Ablehnung einer Annahmezumutung ebenso wie eine Negation
Formen gebildete Form. antezipierter Ablehnungen im Versuch, es trotzdem zu erreichen, gehört zu den hochwahrscheinlichen
Grundlegende Bedingung aller Evolution ist daher, daß Einrichtungen der Variation und Einrichtungen Ereignissen des täglichen Lebens. Variation in diesem Sinne kommt dauernd vor. Erst über Selektion einer
der Selektion nicht zusammenfallen, sondern getrennt bleiben. In kybernetischer Terminologie formuliert dies Ereignis benutzenden, bestätigenden, kondensierenden Struktur kommt etwas Unwahrscheinliches
verbindet die Operation sich mit dem System in der Form des feedback. Dabei kann es sich um negativen oder zustande, nämlich eine markante Abweichung vom Ausgangszustand. Es ist klar, daß klassische Theorien
um positiven feedback handeln, um Einhalten einer gegebenen Schwankungsbreite der Systemzustände oder linearer Kausalgesetzlichkeit solche Phänomene nicht erklären können. Es ist nicht so, daß geeignete Ursachen
um Abweichungsverstärkung, um Aufbau von Komplexität, die sich dann mit ihren eigenen Problemen zu bei Vorliegen der notwendigen Nebenbedingungen zwangläufige Effekte produzieren; sondern Ereignisse, die
Geltung bringt. immer wieder vorkommen, werden gelegentlich (aber aufs ganze gesehen häufig genug) durch Prozesse
751
Weder durch negative Selektion (= Selektion der Nichtselektion) noch durch negativen feedback läßt die zirkulärer Abweichungsverstärkung benutzt, um Strukturen zu bilden, die es vorher nicht gab. Und das
Geschichte sich rückgängig machen. Das System gerät nie wieder in den früheren Zustand. Es kann nur "Nein" hat den für eine solche Initialzündung nötigen Aufmerksamkeitswert. Bei aller Komplexität der
erinnern und vergleichen. Es kann die Variation der Situation zurechnen und das Nichtaufgreifen der Vermittlungen gibt es durchaus Zusammenhänge zwischen Kommunikation und Strukturbildung; oder
Gelegenheit zur Änderung begründen. Aber damit ist nicht zu verhindern, vielmehr gerade nahegelegt, daß jedenfalls kann das, was nie kommuniziert wird, auch nie die Strukturbildung beeinflussen. Wenn die
man einen konservativen Kurs später bereut oder das Problem neu aufgreift. Die Wiederholung schafft in Kommunikation aber, bisherige Strukturen gegeben, eine abweichende Variante aktualisiert, kann diese zur
jedem Falle eine andere Situation. Struktur gerinnen — oder auch nicht. Die Variation als solche erzeugt, und zwar gerade durch ihre
Bestimmheit, immer beide Möglichkeiten. Sie gibt, sonst wäre sie keine Variation, die Selektion frei. Aber
welche Mechanismen sorgen dafür, daß es nicht dabei bleibt, sondern daß die Gesellschaft sich auf die eine
743
So jedenfalls das Interesse von Henry Adams: "He felt, like nine men in ten, an instinctive belief in Evolution, but he
felt no more concern in Natural than in unnatural Selection..." Siehe The Education of Henry Adams (1907), Boston 1918, 748
Unbestritten ist heute auch in der Biologie, daß es eine Fülle von selektionsneutralen Mutationen gibt (was von
S. 225.
Biologen oft als Abweichung von Darwinschen Theoriemuster angesehen wird). Vgl. z.B. Jack Lester King / Thomas H.
744
Daß dies eine theoretische Abstraktion ist, versteht sich von selbst. Jukes, Non-Darwinian Evolution, Science 164 (1969), S. 788-798.
745 749
Diese Formulierung bei Talcott Parsons, Societies: Evolutionary and Comparative Perspectives, Englewood Cliffs N.J. Wir hatten oben von "forward induction" gesprochen. Vgl. Anm. ...
1966, S. 42. 750
Vgl. im vorigen Abschnitt Anm......
746
Wir hatten im Zusammenhang mit der Einführung des Begriffs der symbolisch generalisierten Medien (Kap. 2, ...) 751
Zu den Autoren, die diesen Vorgang mit einer zweiten Kybernetik des positiven feedback assoziiert haben, gehört vor
bereits notiert, daß dies typisch im Falle der historisch kontingenten Annahmen von Sinnvorschlägen geschieht, nicht aber
allem Magoroh Maruyama. Und bei ihm ist denn auch deutlich gesagt: "A small initial deviation, which is within the range
im Falle ihrer Ablehnung.
of high probability, may develop into a large deviation of low probability (or more precisely into a large deviation which is
747
Immerhin dürfte diese Möglichkeit eine erhöhte Wahrscheinlichkeit dadurch erhalten, daß die Massenmedien very improbable within the framework of probabilistic unidirectional causality". Siehe Toward Cultural Symbiosis, in:
vornehmlich über Abweichungen berichten und damit eine Voraussetzung dafür schaffen, daß Abweichungen als normal Erich Jantsch / Conrad C. Waddington (Hrsg.), Evolution and Consciousness: Human Systems in Transition, Reading Mass.
wahrgenommen werden. Das mag deren Institutionalisierung erleichtern. 1976, S. 198-213 (203).
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 217 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 218

oder die andere Möglichkeit vorläufig festlegt? An Hand dieser Fragestellung gewinnen wir auch für das Unterschied zu den üblichen diffusionistischen Theorien geht es hier um eine durch Grenzen ermöglichte
Selektionsgeschehen die Möglichkeit einer historischen Spezifikation, also die Möglichkeit, die Abhängigkeit andersartige Verwendung einer zunächst flüchtigen oder nur begrenzt ausbaufähigen Anregung (zum Beispiel
der Evolution von den durch sie selbst geschaffenen Gesellschaftsformationen zu erkennen. um die Verwendung einer schon entwickelten Steinbearbeitungstechnik in großen Formaten für religiöse
Die darwinistische Theorie hatte hierfür eine einfache Antwort parat: Die Variation erfolge im System, Zwecke). Eine tiefgreifende Veränderung der Evolutionslage tritt aber erst durch die Erfindung und
die Selektion als "natural selection" dagegen durch die Umwelt. Diese einfache Entgegensetzung wird jedoch Verbreitung von Schrift statt. Da jetzt nicht mehr alle Kommunikation in Interaktionssystemen stattfindet und
heute kaum noch vertreten. Biologen haben sie zum Beispiel durch spieltheoretische Annahmen aufgelöst. Sie die Schrift ihrerseits der Negation neue Chancen gibt, können nur entsprechende Verstärker im Bereich der
ist vor allem aber mit einer entwickelten systemtheoretischen Begrifflichkeit nicht zusammenzubringen. Wenn Selektion sicherstellen, daß eine Evolution möglich bleibt.
man die Theorie operativ geschlossener, strukturdeterminierter Systeme akzeptiert, muß man davon ausgehen, Zunächst vermag die Religion den Druck aufzufangen. Sie kann Kriterien anbieten, nach denen sich
daß Systeme ihre Strukturen nur mit den eigenen Operationen ändern können, wie immer diese in der Form beurteilen läßt, ob das Sicheinlassen auf Variationen zu Schwierigkeiten mit jenseitigen Mächten führen kann
von Störung, Irritation, Enttäuschung, Mangel etc. auf Umweltgeschehnisse reagieren. Wir müssen also die oder nicht; und man kann vermuten, daß der mundane Bereich für Experimente (zum Beispiel mit neuen
Gesellschaft selbst auf ihre Selektionsmechanismen hin untersuchen. Produktionstechniken) freigegeben wird, sofern nur der sakrale Bereich geschont wird. Freilich muß man dann
Für alle Gesellschaften, die primitivsten eingeschlossen, liegt der primäre Selektionsmechanismus in der wissen können, was den Göttern und Geistern gefällt und was nicht. Es kommt zu bedeutenden religiösen
752
Differenzierung von Interaktionssystemen und Gesellschaftssystem. Dazu bedarf es keiner Kriterien, und es Innovationen. Das archaische Willkürverhalten sakraler Mächte wird eingeschränkt und diszipliniert — so
gibt auch keine Instanzen, die entsprechende Prüfvorgänge durchführen könnten. Die Frage ist nur, ob und in wie Ackerbau und Stadtbildung die Gesellschaft disziplinieren. Die Götter Mesopotamiens handeln nach
welchen Formen sich gesamtgesellschaftlich durchsetzt, was in einzelnen Interaktionssystemen, von ihrer beschlossenen Plänen, sie akzeptieren, auch für sich selbst, Herrschaftsstrukturen und Familienordnungen.
Situation her überzeugend, auftaucht. Über Religion setzt die Gesellschaft sich selbst unter Anpassungsdruck und entwickelt geheiligte
In der Interaktion unter Anwesenden kann man abweichende Meinungen, wenn sie geäußert werden, Selektionskriterien, mit denen sie wilde Variationen abfangen und sortieren kann. Eventuell genügt für die
kaum ignorieren. (Takt, Humor etc. sind einschlägige, — aber zivilisatorisch späte Erfindungen). Da die Erfüllung dieser Funktion ein einziger Gott, dem die Fähigkeit zugeschrieben wird, alles zu beobachten und zu
Kommunikation einer Person als Handlung zugerechnet wird, muß man mit ihrem Wiedervorkommen oder beurteilen, so daß es nicht falsch sein kann, sich an seinen Kriterien zu orientieren.
mit entsprechendem Anschlußverhalten innerhalb oder außerhalb des Systems rechnen. Entweder kommt es Diesem Bedarf nach Neuordnung der Selektion verdanken wir die heute noch praktizierten
dann zu Konflikten, die die Ressourcen aufzehren. Das System ist zu klein, um Konflikte in sich tolerieren zu Weltreligionen. Sie sind, jede für sich, Religionen für jedermann, für alle Menschen. Sie steigern die
können, es wird zum Konflikt. Oder das System ergreift die Gelegenheit und geht auf den dadurch moralischen Ansprüche an Gott und an die Menschen, so als ob es gelte, die Einheit des
nahegelegten Kurs. Innerhalb von Interaktionssystemen ist mithin die Wahrscheinlichkeit der Selektionszusammenhanges einer Kultur jetzt erst recht festzuhalten und mit Hilfe "kanonischer" Texte zu
755
Strukturtransformation durch kommunikative Ereignisse sehr hoch — praktisch so hoch, daß es hier keine fixieren. Die Moral gibt Spielraum für Interpretationen und für eine Rechtskasuistik. Die Religion selbst
Evolution geben kann, weil die Selektion nicht unabhängig eingerichtet werden kann, sondern praktisch jeder findet Formen von überbietender Radikalität und kann damit sowohl im Verhältnis zur Herrschaftsbürokratie
Variation auf den Leim geht. Die Interaktion kann mit allen möglichen Absonderlichkeiten experimentieren, als auch im Verhältnis zur sozialen Schichtung auf Distanz gehen. Man denke an die Beziehung des
weil sie sicher sein kann, daß die Gesellschaft ohnehin fortbesteht. Buddhismus zum Kastensystem oder an die augustinische Lehre von den zwei civitates. Die für allen Sinn
Die Gesellschaft vollzieht aber nicht nur Interaktionen, sie ist zugleich immer auch gesellschaftliche problematische Kombination von Evidenz und Dauer wird in die Transzendenz ausgelagert. Mit Hilfe ihrer
753
Umwelt von Interaktionen. Diese innergesellschaftliche Differenz verhindert, daß alles, was in Interaktionen Texte wird die Religion in (weitgehend mündlich praktizierte) Tradition umgesetzt und über Ritualisierungen
einfällt, gefällt, mißfällt, sich auf die Strukturen des Gesellschaftssystems auswirkt. Aller Sinn — und damit (vor allem in Indien) oder Populärversionen breiten Schichten zugänglich gemacht. Und gerade weil schriftlich
besonders das, was Person oder Rolle sein kann — wird transinteraktionell konstituiert mit einem Blick für Fixiertes mündlich tradiert wird, bezeugt der Text eine in der mündlichen Weitergabe nicht (oder nur
Verwendungen außerhalb der jeweils laufenden Interaktion. Schon in der Interaktion nimmt man darauf unmerklich variierte) Festigkeit, deren Offenkundigkeit verdeckt, daß es andere Möglichkeiten geben könnte.
Rücksicht, und im Vergleich zu dem, was in der Interaktion passieren kann, kann nur wenig Innovation diesen Während dieser Ausweg dominiert und alle Überzeugungskraft für sich hat, gibt es außerdem noch
Filter zu gesellschaftsweiter Diffusion passieren. Ansätze zu einer andersartigen, funktional äquivalenten Verstärkung der Selektionsmittel. Sie liegt in der
In frühen segmentären Gesellschaften ist noch recht übersichtlich, was anderswo in der Gesellschaft Entwicklung funktionsspezifischer, symbolisch generalisierter Medien der Kommunikation. Die Selektion
passieren kann oder akzeptabel sein wird. Wenn die Gesellschaft komplexer wird, verliert sie diese leichte prüft dann, ob man sich für Machbarkeit und für Folgenvoraussicht auf Wahrheit berufen kann, ob die
Möglichkeit der Selbsteinschätzung. Anders als in einfachen Gesellschaften kann es jetzt aber "Subkulturen" Innovation finanzierbar ist und ob die Macht ausreicht zur Durchsetzung gegen eventuellen Widerstand.
geben, in denen Abweichungen sich halten können und auch Subsysteme, die dann ihrerseits Grenzen bilden, Über symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien ist oben (Kap. 2,....) das Nötige gesagt worden,
754
die übersprungen werden müssen, wenn eine Innovation gesellschaftsweite Resonanz auslösen soll. Im so daß wir uns hier auf wenige Angaben beschränken können. Symbolisch generalisierte
Kommunikationsmedien können die Annahme von Kommunikationen mit hohem Zumutungsgehalt auch unter
unwahrscheinlichen Bedingungen noch sicherstellen dadurch, daß sie Annahmemotive konditionieren und über
752
Man mag zum Vergleich an die Zelle als Umwelt von (eventuell mutierten) Genen denken; und auch hier ist anerkannt, Konditionierung erwartbar machen. Zu Grunde liegt dem ein Vorgang der Auflösung und Rekombination,
daß die Evolution nur dank einer Regulierung dieser Beziehung eine Richtung bekommt. Vgl. Ernst Mayr, Selektion und also eine enorme Steigerung kombinatorischer Möglichkeiten, die sich dann Formen suchen kann, die
gerichtete Evolution, Die Naturwissenschaften 52 (1965), S. 173-180. trotzdem binden. Geld ist dafür ein gutes Beispiel; aber auch Macht, die durch Drohung mit jedenfalls
753
Eine gründlichere Darstellung dieser Form der Differenzierung müssen wir dem entsprechenden Kapitel vorbehalten. überlegener physischer Gewalt gedeckt ist, hat diese Struktur. Eine ähnliche, an die Grenze des Beliebigen
Siehe Kap. 4,..... gehende thematische Offenheit wird mit der Methodisierung wissenschaftlicher Wahrheit erzeugt, und auch
754
Siehe hierzu (am Beispiel der Akzeptanz von Metallurgie) Colin Renfrew, The Emergence of Civilization: "The
der Kunst ist nachgerühmt worden, daß sie im "weichen, einfachen Element" der Vorstellung etwas gestalten
756
Cyclades and the Aegean in the Third Millenium B.C., London 1972, S. 28, 36 ff.: "Innovations occur all the time in any kann, was sich so in der Natur, die ihr als Vorlage dient, nicht findet.
society: new ideas which crop up rather haphazardly, rather like mutations in the organic world. They are not individually
predictable. But what is crucial is the response to these innovations. If the innovation is rejected, there is no effective
change. But if accepted it can be further modified.... Changes or innovations occuring in one field of human activity (in one
subsystem of a culture) sometimes act so as to favour changes in other fields (in other subsystems). The multiplier effect is 755
Siehe dazu Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
said to operate when these induced changes in one or more subsystems act so as to enhance the original changes in the first
Hochkulturen, München 1992.
subsystem" (S. 28,37). Die anschließende Frage, welche Faktoren denn in genau dieser Hinsicht diskriminieren, wird man
756
nur durch konkrete Analysen der einzelnen Sachverhalte beantworten können. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, zitiert nach der Ausgabe Frankfurt 1970, Bd. 1, S. 215.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 219 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 220

In ihrer basalen Struktur sind die Medien lose gekoppelte, riesige Mengen von Elementen, mit denen die Ergebnis erscheint als Dominanz von Technik oder von Geld oder von Sonderrationalitäten, die nicht voll
Tradition unterlaufen werden kann. Das bietet die Chance zur Formulierung neuer Selektionskriterien, die befriedigen.
ohne Bezug auf Perfektion, Ruhe und Stabilität auskommen. So wird "Profit" zum Selektionsgesichtspunkt Bei aller semantischen Verschiedenheit der Religion auf der einen und der symbolisch generalisierten
für die Verwendung von Geld, obwohl der Profit selbst instabil ist und gerade von der Ausnutzung instabiler, Medien auf der anderen Seite scheint es aber auch etwas Gemeinsames zu geben. In beiden Bereichen etabliert
sich ständig ändernder Marktlagen abhängt. Jede Abstützung auf Perfektionen — sei es in der Qualität der die Selektion sich auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Die Religion beobachtet Gott als
Arbeit oder der Waren, sei es in Lebensart und standesgemäßem Einkommen der Kaufleute, sei es schließlich Beobachter der Menschen, die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien dirigieren das Beobachten
in einem Naturtrieb der Menschen, den die Vernunft zu zähmen und zu nutzen hätte — wird aufgegeben; und anderer Beobachter, etwa in den Märkten des Wirtschaftssystems oder im Bereich der Wissensbehauptungen.
übrig bleiben Rentabilitätsrechnungen, gebunden an Einzelformen. Sie setzen zum Beispiel abgrenzbare Die jetzt nötigen Selektionseinrichtungen distanzieren sich von der Unmittelbarkeit des Variationsgeschehens
Vermögenseinheiten voraus, die als solche noch nicht einmal die Stabilität des Wirtschaftssystems ins Auge wie ein Beobachter, der beobachtet, was andere Beobachter beobachten. Wenn aber dies die Technik ist, mit
fassen können. Parallel dazu proklamiert leidenschaftliche Liebe Souveränität über ihr eigenes Reich, der auf die zunehmende Komplexität reagiert wird, ist zu erwarten, daß sie, wenn erfolgreich praktiziert, das
verdrängt die objekt- und qualitätsbezogenen Liebesbegriffe, Gottesliebe und Tugendliebe und setzt statt unmittelbare Realitätsvertrauen auflöst. Wie aber läßt sich dann das Ergebnis von Selektionen in eine stabile
757
dessen auf die Erfahrung, daß es nicht lange dauern kann. Die Politiktheorie des 17. Jahrhunderts macht die Form bringen?
758
Nutzung von Gelegenheiten (damals hieß dies "coups d'état ) zum Zentrum ihres Interesses und sieht die
Notwendigkeit der Konzentration von Macht im Staat hauptsächlich unter diesem Gesichtspunkt. Schließlich
lockert auch die Wissenschaft ihre (zur Durchsetzung gegen Religion zunächst unentbehrliche) Behauptung
einer in der Natur der Gegenstände und der Erkenntnis selbst liegende Gewißheit und findet Wahrheit nur VI. Restabilisierung der Systeme
noch auf dem freien Markt der Induktionsschlüsse, der Falsifikationsversuche und derKonstruktionen.
Die auffällige Parallelentwicklung dieser semantischen Innovationen deutet auf einen Zusammenhang Solange das Selektionsgeschehen an feststehenden, nur zeitweilig gestörten Zuständen orientiert ist,
mit funktionaler Differenzierung hin. Im vorliegenden Kontext interessiert uns nur, daß auf diese Weise macht es nicht viel Sinn, von einer dritten evolutionären Funktion zu sprechen. Die Selektion selbst sorgt für
Selektion von Stabilisierungsaussichten abgekoppelt, also auch zwischen Selektions- und Stabilität, und wenn ihr das mißlingt (wie in einer durch Korruption oder Sünde bestimmten Welt zu
Stabilisierungsfunktionen nochmals eine Grenze gezogen, ein Trennschnitt angebracht wird. erwarten), muß eben immer wieder neu und möglichst gut seligiert werden. Noch der frühmoderne Staat war
Es wird einleuchten, daß mit dieser sozial (und wie sich später zeigen wird, auch religiös) im Hinblick auf diese Aufgabe beschrieben worden, und "Frieden" war der dies empfehlende Begriff. Denn
760

rücksichtslosen Öffnung und Schließung eines Spielraums von Selektionsmöglichkeiten eine Antwort auf das wo Frieden gesichert ist, kann man es jedem überlassen, für sein Seelenheil und sein irdisches Auskommen
Problem gefunden werden kann, das die immens gesteigerten Variationsmöglichkeiten in die Welt gesetzt selber zu sorgen. Auch in der evolutionstheoretischen Literatur wird Selektion und Stabilisierung oft in einem
haben. Wenn im Relevanzbereich solcher Medien Abweichungen auftreten, haben sie keine besonderen einzigen Begriff zusammengefaßt. Man spricht von "selective retention" oder von "stabilisierender
Schwierigkeiten, sich einzuprägen und durchzusetzen — vorausgesetzt, daß sie den besonderen Konditionen 761
Selektion". Das war plausibel, solange man in der Biologie, aber zum Beispiel auch in der ökonomischen
genügen, die für das Medium gelten. Es kommt zu einer neuen Erfindung — sagen wir: der Druckpresse, und Theorie, Selektion als natural selection durch die Umwelt und ihr Ergebnis als "optimal fit" verstand.
schon steht Geld bereit, um ein Unternehmensprogramm nach Kosten und Nutzen kalkulierbar zu machen, Stabilität wurde als "Gleichgewicht" beschrieben, das homeostatische Mechanismen benutzt, um Störungen
das diese Erfindung dann realisiert, soweit es wirtschaftlich geht. Nur in seiner Quantität, nicht aber zum auszugleichen und in den Gleichgewichtszustand zurückzukehren. Das setzte freilich voraus, daß der
Beispiel durch Intervention in den Druckvorgang, vermag das Geld Widerstand zu leisten. Oder: es kommt zu Gleichgewichtspunkt feststand und durch etwa vorkommende Abweichungen nicht seinerseits verschoben
einer neuen Forschungsfrage, und schon stehen bewährte Prüftechniken bereit, die allein darüber entscheiden, wurde. Dann bedurfte es, unter der Voraussetzung, daß die Umwelt sich nicht selbst ändert, keiner weiteren
wie weit den Ergebnissen die Form wahrer bzw. unwahrer Sätze gegeben werden kann. Oder: man hat Vorsorge für Stabilisierung nach Strukturänderungen. Aber diese Auffassung wird heute kaum noch
Romane gelesen und weiß, was Liebe ist. Es kommt dann nur noch darauf an, die Person zu finden, an der das 762
vertreten. Evolutionsfähig sind gerade dynamische Systeme, die sich fernab vom Gleichgewicht halten und
Gefühl sich kristallisieren kann. reproduzieren können. Erst recht ist man zur Aufgabe jener Prämisse gezwungen, wenn man Selektion (wie
Während die Religion die Hoffnung auf Einheit der Selektionskriterien bewahrt und dies eventuell mit wir) als rein internen Vorgang begreift. Denn was garantiert die Voraussetzung, daß nur Aussicht auf
Stagnation zu bezahlen bereit ist, wird unter dem Regime symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien Stabilität erfolgreich seligieren kann? Und vor allem: was garantiert dies in einer Gesellschaft, die sich selbst
der Ausbau der gesellschaftlichen Komplexität abhängig von der Frage, welche Medien mehr als andere sich im Blick auf eine Differenz vergangener und künftiger Zustände beschreibt und tagtäglich die Erfahrung eines
dafür eignen. Man muß also mit erheblichen Disbalancierungen rechnen. Jedenfalls kann man nicht davon sehr raschen Strukturwandels zu verkraften hat? Orientiert denn nicht gerade die heutige Gesellschaft ihre
ausgehen, daß das System der Gesellschaft sich in allen Bereichen gleichmäßig entwickelt, daß jeder mögliche Selektionen nur noch an dem, was im Moment oder vorübergehend als brauchbar erscheint?
763

Sinn früher oder später entfaltet wird und daß alle Bedürfnisse und Interessen nach und nach auf einem Für Lebewesen wird die Funktion der Restabilisierung durch die Bildung von Populationen erfüllt —
höheren Niveau Befriedigung finden. Solche Illusionen eines Totalaufstiegs der "Menschheit" hatte man sich Population hier begriffen als reproduktive Isolation eines Gen-Pools, der in begrenztem Umfange Variationen
im 18. Jahrhundert und, wenn man "Kommunismus" dazuzählt, sogar noch im 19. Jahrhundert gemacht. aufnehmen und in die Reproduktion einbeziehen kann. Jede Population kann nur in sich selbst Nachwuchs
Inzwischen sind diese Vorstellungen ohne Nachfolger verabschiedet worden. Man muß damit rechnen, daß produzieren, Schlangen und Katzen können nicht Schlatzen zeugen. Die unter dem Namen Lamarck
bestimmte Funktionsbereiche ihr Selektionsproblem erfolgreicher lösen als andere, sich rascher dem Tempo
759
der modernen Gesellschaft anpassen oder auch Errungenschaften besser kumulieren können als andere. Das
760
So ist der Staat nach Giovanni Antonio Palazzo, Discorso del Governo e della Ragion Vera di Stato, Venetia 1606, S. 12
f., Frieden, nämlich nichts anderes als "una identità e pace temporale delle cose; cioè un esser sempre la stessa essenza",
und genau darin besteht seine Perfektion.
757 761
Für Einzelheiten siehe Niklas Luhmann, Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität, Frankfurt 1982. Siehe Donald T. Campbell, Blind Variation and Selective Retention in Creative Thought as in Other Knowledge
758 Processes, Psychological Review 67 (1960), S. 380-400; ders., Variation and Selective Retention in Socio-Cultural
So bei Gabriel Naudé, Considérations politiques sur les coups d'Etat (1639), zit. nach der Ausgabe: Science des Princes,
Evolution, General Systems 14 (1969), S. 69-85; Michael Schmid, Theorie sozialen Wandels, Opladen 1982, S. 137 u.ö.
ou Considérations sur les coups d'etat, 3 Bde. Paris 1712.
762
759 Immerhin hält man ihre Zurückweisung noch für nötig. Siehe z.B. Michael T. Hannan / John Freeman, Organizational
Siehe hierzu die Unterscheidung von kumulativen und nichtkumulativen Bereichen gesellschaftlichen Wandels bei Eric
Ecology, Cambridge Mass. 1989, S. 21 f.
R. Wolf, The Study of Evolution, in: Shmuel N. Eisenstadt (Hrsg.), Readings in Social Evolution and Development, Oxford
763
1970, S. 179-191 (187 ff.). Der kumulative wird mit dem durch Technologie bestimmten Bereich gleichgesetzt. Vgl. Warren G. Bennis / Phillip E. Slater, The Temporary Society, New York 1968.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 221 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 222

überlieferte These von der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften gilt als widerlegt. Eben darauf beruht die vor allem die Systembildung selbst sei. Sie produziert Form, das heißt Grenzen, auf deren Innenseite
Geschlossenheit der Population (im strengen systemtheoretischen Sinne) und auf der Geschlossenheit ihre reduzierte Komplexität und ein hohes Maß an Indifferenz gegen die Außenseite gewonnen werden kann.
hohe Ökologische Unabhängigkeit (= Stabilität). Nur sehr wenige ökologische Faktoren greifen noch ein, Inkompatibilitäten können dann externalisiert werden — sei es daß sie Personen in die Schuhe geschoben
nämlich nur solche, die Reproduktion unterbinden können. werden, sei es, daß sie Gott zugerechnet und im Geheimnis Gottes aufgehoben werden. Oft findet man an
Sucht man innerhalb der heutigen Theorie gesellschaftlicher Evolution nach Anregungen für die dieser Funktionsstelle sehr spezifische institutionelle, ja organisatorische Erfindungen. So dienen Banken der
genauere Erfassung der Restabilisierungsfunktion, dann bleibt der Ertrag dürftig. Teils wird ohne tieferes evolutionären Restabilisierung der Geldwirtschaft, die die alte Maxime der Reziprozität aufgelöst hatte. Und
764
Problembewußtsein auf die normale Kontinuität der Fakten und Bestände abgestellt , teils orientiert man der neuzeitliche "Staat" dient der Restabilisierung von schon lange vorbereiteten politischen Zentralisierungen.
sich noch an der Geist/Materie-Unterscheidung des 19. Jahrhunderts und erklärt Stabilität durch kulturelle Wie wir im folgenden Kapitel über Differenzierung ausführlich zeigen wollen, kann dieser Trick der
765
Transmission und Vererbung. Auch hier macht sich erneut das Fehlen einer hinreichend ausgearbeiteten Ausdifferenzierung in bereits ausdifferenzierten Systemen wiederholt werden, so daß die Evolution zu immer
systemtheoretischen Begrifflichkeit bemerkbar; denn Stabilität läßt sich am besten im Hinblick auf Systeme voraussetzungsreicheren (also unwahrscheinlichen) Systembildungen führt, um die Last der strukturellen
bestimmen. Inkompatibilitäten gering zu halten und sie auf verschiedene Systeme zu verteilen. Damit handelt sie sich dann
Wir gehen davon aus, daß schon der Selektionsprozeß zu Strukturbildungen führt. Ein weiteres Problem freilich strukturelle Inkompatibilitäten im Verhältnis der Systeme untereinander ein. Zunächst geschieht das in
kann daher nur im Verhältnis der Strukturen zu den Systemen liegen, deren autopoietische Operationen der relativ übersichtlichen, genau dies mitlegitimierenden Form der Stadt/Land-Differenzierung und der
strukturabhängig ablaufen. Ferner ist zu bedenken, daß ein Restabilisierungsproblem sowohl durch positive Stratifikation. Unter dem heutigen Regime funktionaler Differenzierung nimmt dieses Problem aber drastische
als auch durch negative Selektionen ausgelöst werden kann, also auf Selektion schlechthin reagiert. Bei Formen an, und das Gesamtsystem der Gesellschaft kann dann nur noch registrieren, daß dies so ist.
positiven, Strukturen ändernden Selektionen liegt das auf der Hand. Die innovierten Strukturen müssen dem Auch die Funktion der evolutionären Restabilisierung unterliegt mithin wie die Bildung der Populationen
System eingepaßt und mit seinen Umweltverhältnissen kompatibel werden, ohne daß im voraus (bei der von Lebewesen, einer historischen Spezifikation. Sie bedient sich, wenngleich mit beachtlichen
Selektion) ausgemacht werden könnte, ob und wie das gelingt. Im Jahre 1789 wurden Pariser Unruhen als Restproblemen, der Systemdifferenzierung und entwickelt unterschiedliche Lösungen je nach der
"Revolution" beobachtet und mit einem eigens dafür modifizierten Begriff beschrieben. Die Folgen waren vorherrschenden Differenzierungsform. Während die kumulative Ablagerung immer weiterer Strukturen und
768
weder aufzuhalten noch zu kontrollieren, und man kann sie wohl am besten als ein hundertjähriges Mißlingen die Wiederholung von Systembildungen in Systemen zu einer zunehmenden Formbindung führt , kann durch
weiterer Revolutionen beschreiben, die dann aber in ihren Konsequenzen das politische System Frankreichs Wechsel der Formen der Systemdifferenzierung, also durch evolutionären Übergang von segmentärer
auf eine repräsentative Demokratie umstellten. Codifizierungen des Rechts, Freigabe der Wirtschaft an in ihr Differenzierung zu Zentrum/Peripherie-Differenzierung, zu Stratifikation und schließlich zu funktionaler
selbst durchsetzungsfähige Kräfte, Säkularisierungen im Bereich der Religion, Privatisierung auch der Großen Differenzierung, ein neuer Spielraum des Auflösens und Rekombinierens solcher Formen entstehen mit
Familien waren Ausgleichsentwicklungen, die als Restabilisierungen der revolutionären Innovationen Chancen für neue, komplexitätsgünstigere Strukturen. Man kann dies auch an den parallellaufenden
begriffen werden können. Formveränderungen der Religion (religio=Bindung) nachvollziehen.
Aber auch, wo Revolution negativ seligiert, also abgelehnt wurde wie in Preussen, waren Externalisierungen können natürlich nie endgültige Problemlösungen sein. Die Probleme kehren in
Restabilisierungen nötig, etwa im Sinne eines Kulturstaatsprogramms für Schulen und Hochschulen. veränderter Form in die Beziehungen zwischen System und Umwelt zurück. Man kann dies an den
Allgemeiner formuliert: Variationen können im Unbemerkten verschwinden, Selektionen werden aber ökologischen Problemen studieren, in die die moderne Gesellschaft geraten ist, aber auch an
normalerweise im Systemgedächtnis festgehalten, und man muß dann im weiteren mit dem Wissen innergesellschaftlichen Problemen, zum Beispiel an der Diskussion über die fragwürdig gewordene
zurechtkommen, daß etwas Mögliches nicht realisiert wurde. So können konservierende Tendenzen als "Externalisierung von Kosten" durch die Geldwirtschaft. Es lohnt sich daher, noch etwas genauer
766
konservative Ideologie beschrieben und kritisiert werden. Auch in diesen Fällen ist also mit der (negativen) nachzusehen, wie der Prozeß der Restabilisierung beim Einbau neuer Strukturen in ein Gefüge von
Selektion noch nicht ausgemacht, daß und wie das System sich daraufhin an sich selbst und an seine Umwelt vorhandenen Strukturen vor sich geht.
(etwa: Erwartungen von Individuen) anpassen kann. Und es kann durchaus sein, daß die Innovationswirkung Auch hierbei profitiert das System von bereits reduzierter Komplexität. Strukturelle Widersprüche
einer abgelehnten Innovation langfristig gesehen viel größer ist als die Innovationswirkung einer werden an bestimmten Stellen sichtbar, etwa im späten Mittelalter an der zunehmenden Geldabhängigkeit des
durchgeführten Innovation — zum Vorteil oder zum Nachteil des Systems. Adels oder im Zeitalter des Wohlfahrtsstaates daran, daß die Politik von einer erfolgreich operierenden
In jedem Falle bezeichnet der Begriff der Restabilisierung Sequenzen des Einbaus von Wirtschaft abhängig wird und zugleich eigene Erfolge nur dadurch erreichen kann, daß sie mehr und mehr
Strukturänderungen in ein strukturdeterminiert operierendes System; und er trägt dabei der Einsicht Ressourcen der wirtschaftlichen Kalkulation entzieht. "Inflation" ist dann die Folge der Externalisierung
769
Rechnung, daß dies auch über Variationen und Selektionen, immer aber durch eigene Operationen des politischer Konflikte , aber zugleich auch ein Problem, für dessen Dauerüberwachung und ständige
Systems geschieht. In jedem Falle führt Selektion, ob positiv oder negativ, zum Ansteigen der Komplexität des Behandlung sich spezifische Geschicklichkeiten und Instrumente entwickeln lassen. Neuerungen werden dann
Systems, und darauf muß das System mit Restabilisierungen reagieren. gleichsam am Bildschirm der Inflation kontrolliert, und man sieht so relativ rasch, ob es noch geht oder nicht.
Nun gehören solche Probleme struktureller Kompatibilität (oder "struktureller Widersprüche") zum Auch für hochgeneralisierte Problemverteilungsmechanismen — und die Geldwirtschaft ist dafür berühmt —
alltäglichen Menu der Soziologen, und es muß daher erstaunen, daß sie im Kontext der Evolutionstheorie lassen sich wieder spezifische Techniken des Umgangs ausfindig machen, so wie für Zivilisationskrankheiten
767
nicht gebührend beachtet worden sind. Zur Verringerung der Probleme struktureller Kompatibilität trägt der verschiedensten Art. Die Verhältnisse bleiben unübersichtlich. Man kann bei der Einführung neuer
Strukturen (man denke nur an die Einführung der automatischen Datenverarbeitung in immer weitere
Gesellschaftsbereiche) nicht voraussehen, was geschehen wird; und wenn etwas geschieht, ist es für die
764
Vgl. z.B. Thomas G. Harding, Adaptation and Stability, in: Marshall D. Sahlins / Elman R. Service (Hrsg.), Evolution Rücknahme der Neuerung zumeist zu spät. Immerhin kann man im Hinblick auf die Folgeprobleme neu
and Culture, Ann Arbor Mich. 1960, S. 45-68.
765
So ausführlicher Keller a.a.O. (1931), S. 287 ff. und in modernerer Ausführung Robert Boyd / Peter J. Richerson, Dynamik, Strukturfunktionalismus versus Theorien sozialen Wandels; oder auch darin, daß die Lehre von strukturellen
Culture and the Evolutionary Process, Chicago 1987. Widersprüchen von Klassentheoretikern als ein "konservativer" Versuch angesehen wurde, das einzig relevante Thema des
766 Klassenkampfes zu vermeiden oder doch abzuschwächen. Das alles ist heute kaum noch von Interesse.
Vgl. zu dieser Unterscheidung (allerdings nicht auf evolutionstheoretischen Grundlagen) die Habilitationsschrift von
768
Karl Mannheim, Konservativismus: Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hrsg. von David Kettler, Volker Meja und Richard Levins, Evolution in Changing Environments: Some Theoretical Explorations, Princeton 1968, S. 108 f., spricht
Nico Stehr, Frankfurt 1984. von Evolution als "progressive binding".
767 769
Sucht man nach einer wissenschaftsgeschichtlichen Erklärung, so mag sie darin liegen, daß der Streit um die Zu einer neueren Diskussion dieses Themas vgl. Tom Baumgartner / Tom R. Burns, Inflation as the Institutionalized
Evolutionstheorie lange Zeit mit falsch gezogenen Fronten geführt worden ist, etwa Struktur versus Prozeß, Statik versus Struggle over Income Distribution, Acta Sociologica 23 (1980), S. 177-186.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 223 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 224

investieren. Der Kraftfahrzeugverkehr erfordert Haftpflichtgesetze und -versicherungen, Rettungsdienste, beiseitezuschieben. Die Orientierung der Wirtschaft an Profit erlaubt eine laufende Anpassung der Produktion
spezialisierte Unfallkrankenhäuser, verbesserte und verschlechterte ("verkehrsberuhigte") Straßen. Aufs an Marktbedingungen. Der Ausgleich liegt in einer nur noch mathematischen Theorie des Gleichgewichts. Die
Ganze gesehen stellt die Gesellschaft ihre Stabilisierungsbemühungen auf reaktive Verfahren um. Für eine Idee, Liebe sei eine Passion, überläßt Intimbeziehungen einer eigenen, jedenfalls endlichen, zeitlichen
Orientierung an Stabilität als einem zu erreichenden Ziel ist die Gesellschaft zu komplex geworden und zu Entwicklung. Der Ausgleich liegt in der Annahme, daß Liebe zur Ehe führe, ist aber bedauerlicherweise für
intransparent. die nicht gangbar, die bereits verheiratet sind. Von Stil spricht man seit der zweiten Hälfte des 18.
Es ist kein Zufall, daß die Ausdifferenzierung von Selektionskriterien, die keine Stabilität mehr Jahrhunderts, um eine zugleich sachlich-formale und zeitliche Einheit zu bezeichnen, und zwar eine Einheit,
versprechen, Hand in Hand geht mit dem Übergang zu einer funktionalen Differenzierung des die in sich selbst schon Ausgangspunkte für mögliche Abweichungen enthält, die erlaubt sind, sofern sie als
Gesellschaftssystems. Deutlicher als je zuvor werden dadurch Selektion und Restabilisierung getrennt. Die Kunstwerke gelingen. Das Recht findet sein Geltungsprinzip jetzt in der Positivität seiner Setzung mit der
multifunktionalen Problemlösungen der Familienhaushalte und der Moral werden aufgebrochen und durch Folge, daß andere Entscheidungen anderes Recht in Geltung setzen können. Die gleiche Destabilisierung der
funktionale Spezifikationen ersetzt. Die Stabilität der Funktionssysteme und der in ihnen sich arbeitsteilig Kriterien zeigt sich schließlich in der Frühmoderne auch in der Religion und nimmt der Religion damit die
ausdifferenzierenden Organisationen, Professionen und Rollen ist mit Variationen und Selektionen der Möglichkeit, anderen Systemen Stabilisationshilfen anzudienen. Das Medium der Religion liegt im Verhältnis
verschiedensten Art kompatibel. Sie beruht darauf, daß eine Funktion, wenn sie einmal ausdifferenziert ist, auf ihrer Grenzidentitäten Gott und Seele. Es konnte im christlichen Religionskreis an Hand der biblischen Texte
einem avancierten Niveau nur noch in der dafür vorgesehenen Einrichtung erfüllt werden kann. Die Funktion als Glauben an offenbarte Wahrheiten ausformuliert und durch die anstaltliche Ordnung der Kirche, durch
selbst ist der Bezugsgesichtspunkt für die Limitierung funktionaler Äquivalente, und deshalb gibt es für die Beichte, Moralkasuistik usw. glossiert werden. Seit dem späten Mittelalter und seinen theologischen
Funktion selbst kein funktionales Äquivalent (es sei denn: mit Bezug auf ein allgemeineres Problem, für Kontroversen und seit einer immer stärkeren Individualisierung der Seele (Individualität = Selbstreferenz)
welches dann dasselbe gilt). Forschung kann zum Beispiel nur noch "wissenschaftlich" betrieben werden. Der werden jedoch die Möglichkeiten, in diesem Medium Formen zu bilden, problematisch. Das heißt konkret: die
Amateur verschwindet. Wenn Organisationen der Politik oder der Wirtschaft Forschungsinstitute bilden, Bedingungen des Seelenheils werden zum Problem, auf das schließlich die Texte der Tradition keine
laufen die dort vollzogenen Operationen gleichwohl im Wissenschaftssystem ab — oder es handelt sich gar befriedigende Antwort mehr geben. Weder die durch die Kirche und ihre Gnadenverwaltung vermittelte
nicht um Forschungseinrichtungen, sondern möglicherweise um eine verdeckte Werbung oder um einen Ort Zuversicht reicht aus noch die Lebensberatungspraxis der Jesuiten, weder der Verweis auf den Glauben (sola
zum Abstellen verdienstvoller Politiker. Die Ordnung solcher Systeme ist dann selbstsubstitutiv eingerichtet in fides) noch die Sicherheit, die man gerade in der eigenen Sorge um das Seelenheil finden zu können meinte.
dem Sinne, daß ihre Strukturen nur durch andere Strukturen mit der gleichen Funktion und der gleichen Typik Durchweg werden mithin die Selektionskriterien, und das sind die Programme für die Programmierung der
ersetzt werden können, also Theorien nur durch andere Theorien, Rechtsgesetze nur durch andere codierten Funktionssysteme, auf Instabilität eingestellt, und das heißt, daß neue "inviolate levels" eingezogen
Rechtsgesetze, ein politisches Programm nur durch ein anderes. Das darin liegende Stabilitätsprinzip hat die werden müssen — semantisch in der Form der Wertbegrifflichkeit des 19. Jahrhunderts, strukturell in der
Form der Forderung einer Ersatzlösung. Wer Atomkraftwerke abschaffen will, sieht sich folglich mit der Form der autopoietischen Autonomie der Funktionssysteme.
Frage konfrontiert: Wie erzeugen wir dann auf andere Weise Strom? Eine derart immanente, aber alternativenoffene Absicherung von Stabilität kommt ohne Weltgewißheit
Mit dem Übergang der Restabilisierungsfunktion auf die Funktionssysteme wird Stabilität selbst zu aus. Sie braucht sich auch nicht auf eine Beschreibung der Gesellschaft zu berufen. Es werden nur
770
einem dynamischen Prinzip und indirekt dann zu einem Hauptanreger von Variation. Funktionssysteme funktionsbezogene Alternativenbündel ausdifferenziert, wobei sich allzu abstrakte Problemformeln als
verhalten sich änderungsbereit unter der Bedingung funktionaler Äquivalenz und Nettoüberlegenheit neuer wirkungslos erweisen, weil sie nicht informativ genug sind für eine Abschätzung des Ausmaßes an Änderung
Formen. Auch wenn sie nicht selbst Innovationen in die Welt setzen, haben sie ein hohes Potential, auf im Prozeß von laufenden Restabilisierungen. In evolutionstheoretischer Hinsicht fällt daran auf, daß
Innovation mit Innovation zu reagieren. Das gilt in dem Maße mehr, als sich innerhalb der Funktionssysteme Funktionssysteme auf Variation hin stabilisiert sind, so daß der Stabilisierungsmechanismus zugleich als
771 773
Organisationen bilden, die sich selbst und ihre Entscheidungspraxis durch Entscheidung ändern können. Motor der evolutionären Variation fungiert. Das beschleunigt die gesellschaftliche Evolution in einem
Schon in der ausgeprägt stratifikatorischen Ordnung des Mittelalters übernehmen Korporationen wie Kirche, bisher unbekannten Ausmaß. Wie in einem Kurzschluß scheinen Stabilisierung und Variation
Klöster, Orden, Städte, Zünfte, Universitäten innovative Funktionen — zunächst deshalb, weil sie dank ihrer zusammenzufallen. Nur deshalb konnten auch Selektionskriterien gewählt werden, die auf jede Bindung an
korporativen Stabilität sich als Lebensgemeinschaften ihrer Mitglieder außerhalb der Ständeordnung halten eine gesamtgesellschaftlich verpflichtende Moral und auf Stabilitätsrücksichten verzichten, und nur deshalb
können. Die Gesellschaft experimentiert hier bereits mit Formen dynamischer Stabilität, die in ihrer konnte eine ernsthaft vorgeschlagene Semantik Neuheit, Kritik, Abwechslung, also Variation als solche
772
Differenzierungsform nicht vorgesehen sind. Gerade diese Abseitsstellung der Korporationen besagte aber devianzfrei konzipieren und willkommen heißen. Auch die Gegner der Gesellschaft, und gerade sie, profitieren
auch, daß ihr Innovationspotential auf sie selbst beschränkt blieb und dann im Übergang zur Moderne eher als davon, daß die Gesellschaft sich in dieser historisch einmaligen Weise selber Mut macht. Das Resultat ist eine
starr und unbeweglich registriert wurde. Die Ordnung von Ständen und Korporationen wurde mehr und mehr ungewöhnlich hohe, in der Lebenszeit der einzelnen Menschen sichtbar werdende Änderungsfrequenz in den
durch die Ordnung von Organisationen in Funktionssystemen ersetzt; und erst das gab den primären Strukturen des Gesellschaftssystems. "We need an annual supplement to the Decalogue", stöhnte Edward A.
774
gesellschaftlichen Subsystemen selbst die Möglichkeit, konditionierte dynamische Stabilität auszubilden. Ross. Genau dies entspricht der evolutionstheoretischen Annahme, daß das Ausmaß der Differenzierung
Im Zuge dieses Evolutionsschrittes stellen die Funktionssysteme ihre Selektionsweise auf prinzipiell von Variation, Selektion und Restabilisierung mit dem Tempo evolutionärer Änderungen korreliert.
instabile Kriterien um. Die Selektion läßt sich nicht mehr durch die Qualität des Seligierten begründen, Nach all dem muß der Begriff der Systemstabilität neu gefaßt werden. Die Anerkennung struktureller
sondern nur noch durch die Kriterien der Selektion. So spricht man von Staatsräson, um der Politik zu Widersprüche und der Begriff dynamischer Stabilität waren bereits Schritte in dieser Richtung. Darüber
erlauben, sich Situationszwängen zu fügen und dabei stabile moralische oder naturrechtliche Normen hinaus wird man aber bezweifeln müssen, ob Stabilität überhaupt mit einer zweiwertigen Logik beschrieben
werden kann, so daß stabil/instabil sich zueinander verhalten wie A/nonA. Vielmehr sind selbstreferentielle
Systeme immer so gebaut, daß sie in sich Optionen freisetzen, deren Alternativen zugleich vorliegen und deren
770
Mit der Betonung funktionaler Differenzierung präzisieren wir eine auch in der Biologie übliche These: daß Diversität Einheit daher als paradox beschrieben werden muß. Und nur weil dies so ist, können Änderungen von außen
die Chance und Häufigkeit von Variationen erhöht. ausgelöst werden. Flüssiges Wasser enthält in sich selbst die Möglichkeit, zu Eis zu erstarren oder zu
771 verdampfen; und nur deshalb können externe Veränderungen der Temperatur diese Wirkungen erzeugen. Mit
Wir kommen auf diese Form der Systembildung im nächsten Kapitel zurück, müssen dies hier aber vorwegnehmen.
772
Vgl. für Universitäten Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität: Zur Interaktion von
Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.-18. Jahrhundert), Frankfurt 1991; für Klöster Alfred 773
Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei Michael Fullan / Jan J. Loubser, Education and Adaptive Capacity, Sociology of
Kieser, From Ascetism to Administration of Wealth: Medieval Monasteries and the Pitfalls of Rationalization, Organization
Education 45 (1972), S. 271-287 (281 f.).
Studies 8 (1987), S. 103-123; für Zünfte Alfred Kieser, Organizational, Institutional, and Societal Evolution: Medieval
774
Craft Guilds and the Genesis of Formal Organizations, Administrative Science Quarterly 34 (1989), S. 540-564. Sin and Society: An Analysis of Latter-Day Iniquity, Bosten 1907, S. 40.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 225 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 226

der Form der Kommunikation ist die Möglichkeit gegeben, auf Sinnvorschläge akzeptierend oder ablehnend VII. Die Differenzierung von Variation, Selektion und Restabilisierung
zu reagieren; und nur deshalb können externe Veränderungen über Bewußtseinszustände psychischer Systeme
auf die Gesellschaft einwirken. Dies läuft nicht auf eine dialektische Theorie hinaus, die annehmen würde, daß Gesellschaftliche Evolution erfordert und realisiert, das haben wir zu zeigen versucht, eine
ein System auf Grund der logischen Instabilität seiner selbsterzeugten internen Gegensätze selbst an deren Differenzierung der evolutionären Funktionen, das heißt: ihre Realisation durch unterschiedliche Sachverhalte.
Synthese arbeite. Vielmehr führt die Evolution zu Systemen, in denen jede interne Operation Bestimmtes auf Dabei verschiebt sich im Laufe der Evolution und mit zunehmender Differenzierung der evolutionären
Kosten von anderem realisiert und damit ein "Kreuzen" der internen Grenzen der jeweils benutzten Funktionen das Trennproblem. In schriftlosen, segmentären Gesellschaften muß es schwierig gewesen sein,
Unterscheidungen ermöglicht, wenn sich dafür Anlässe oder Gelegenheiten bieten. Variation und Selektion zu trennen, denn ihnen stand nur die Interaktion unter Anwesenden als Systemform
Dies kann in einer Beschreibung der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft nicht länger für Kommunikation zur Verfügung und die segmentäre Form der Systemdifferenzierung sorgte dafür, daß in
unberücksichtigt bleiben, weil es nicht nur die Außenverhältnisse, sondern auch die Innenverhältnisse des der innergesellschaftlichen Umwelt überall ähnliche Verhältnisse vorausgesetzt werden konnten. In
Gesellschaftssystems betrifft. Vielleicht hat also Magoroh Maruyama Recht mit der Annahme einer ganz hochkultivierten Gesellschaften erleichtert sowohl die Schrift als auch die Differenzierung auf der Basis von
neuartigen, nicht-stationären Lage. Auch bisher habe es sowohl unmerkliche Veränderungen als auch Ungleichheit diesen primären Trennvorgang. Eben damit wird es aber schwierig, Selektion und
gelegentlich plötzliche Umbrüche gegeben, aber immer von einem stationären Zustand in einen anderen. Die Restabilisierung zu unterscheiden. Die Selektionen werden als Antwort auf Störungen und als
Gesellschaften konnten sich daher immer als stationäre beschreiben und eine entsprechende Epistemologie der Wiederherstellung einer Ruhelage, eines stabilen Gesellschaftszustandes begriffen. Wenn auch zwischen
konstanten Ordnung akzeptieren. Erst der Übergang zur modernen Gesellschaft habe ein "metatransition" Selektion und Restabilisierung eine Trennlinie gezogen wird, und das ermöglicht der Übergang zu einer
bewirkt, das heißt einen Übergang von einem stationären zu einem nicht-stationären Zustand; und eine dafür primär funktionalen Differenzierung, verschiebt sich erneut das Problem. Denn jetzt wird es, wie wir gesehen
775
geeignete Epistemologie sei erst im Entstehen. Die Unterscheidung verschiedener Formen der haben, schwierig, zwischen Restabilisierung und Variation zu unterscheiden. Die Formen gesellschaftlicher
Systemdifferenzierung in Verbindung mit der Theorie evolutionärer Differenzierung evolutionärer Funktionen Differenzierung korrespondieren offenbar mit Schwerpunktproblemen beim Separieren der evolutionären
könnte dafür eine Erklärung anbieten. Funktionen.
Damit ist allerdings eine noch recht einseitige Beschreibung gegeben. Die andere Seite betrifft den Die Entstehung distinkter Formen innergesellschaftlicher Systemdifferenzierung ist also einerseits ein
Konservativismus eben dieser Gesellschaft. Die Methodik der Planung von reaktiven Änderungen— von frei Resultat von Evolution. Die Differenzierungsformen selbst sind evolutionäre Errungenschaften. Andererseits
gewählten, zielorientierten Planungen wollen wir gar nicht erst sprechen — hält nicht Schritt. In der wirken sie auf die Evolution selbst zurück, indem sie jeweils spezifische Schwierigkeiten haben, eine
Entscheidungstheorie verlangt man nur noch "bounded rationality". So wird Methodik zur Bremse, zur Trennung der evolutionären Mechanismen einzurichten. Die Differenzierungsformen unterscheiden sich, wie
Entfaltung von Unwissenheit, und Komplexität wird als fehlende Information definiert — und praktiziert. wir noch ausführlich sehen werden, im Ausmaß struktureller Komplexität, das sie ermöglichen, und in den
Soweit die Kanalisierung von Restabilisierungen in den Händen von Organisationen liegt, das heißt: über Semantiken, mit denen sie auf die damit verbundenen Probleme reagieren. Das wirkt sich auf ihre
776
Entscheidungen laufen und gegen "postdecisional regret" abgesichert sein muß , leistet man gegen Möglichkeiten aus, die evolutionären Mechanismen institutionell zu trennen. Hochkultivierte Gesellschaften,
777
Neuerungen Widerstand. Sinn wird retrospektiv ermittelt, nachdem gehandelt und entschieden worden ist. die sich auf Zentrum/Peripherie-Differenzierungen stützen, haben zum Beispiel schon die Möglichkeit,
Aber die Gesellschaft evoluiert, zum Glück oder zum Unglück, nicht auf der Ebene ihrer Organisationen. Kriterien zu formulieren und anzuwenden; aber sie müssen die in sie eingebauten Ungleichheiten verteidigen,
Das Ergebnis ist ein für die Evolutionstheorie ungewöhnlicher, einmaliger Fall. Die Evolution hat zwar müssen Unruhen abwehren und benötigen daher eine stabilitätsbezogene Semantik, an der sie Selektionen
nie die in ihrem basalen Substrat liegenden Möglichkeiten ausgeschöpft. Das gilt für Proteine, für orientieren. Erst unter dem Regime funktionaler Differenzierung kommt es zu Selektionskriterien, die
Photosynthese, für Sinn und für Sprache. Das Resultat ist immer Diversifikation strukturdeterminierter destabilisierend wirken. Dann aber kollabiert die Differenz von Stabilisierung und Variation, denn jetzt muß
Systeme gewesen. Die Fülle des Seins findet sich in der Vielzahl realisierter Möglichkeiten. Die Stabilität primär auf Flexibilität, Änderbarkeit, Entscheidbarkeit gegründet werden. Mit diesen
gesellschaftliche Evolution hat unzählige tribale Gesellschaften hervorgebracht. Hochkulturen findet man, je Verschiebungen im Übergang von Differenzierungsform zu Differenzierungsform ändert sich zugleich die
nach Zählung, noch in zwanzig bis dreißig Exemplaren. Eine funktional differenzierte Gesellschaft gibt es Häufigkeit struktureller Änderungen und damit das Tempo der Evolution. Die Zeit selbst scheint schneller zu
dagegen nur noch in einem einzigen Fall. Also Evolution in nur einem Fall? Das scheint auf einen Verzicht auf laufen.
alle Redundanzen und alle Ausweichsicherheiten hinauszulaufen. Wenn es diese Gesellschaft nicht mehr gibt, Schon diese Überlegungen zeigen, daß die Trennung und (zufallsabhängige) Wiederverknüpfung der
gibt es keine andere — es sei denn, daß neue Formen aus ihr selbst heraus entstehen. Wir werden die evolutionären Funktionen sich nicht auf Naturgesetze oder auf Notwendigkeiten eines dialektischen Prozesses
778
Möglichkeiten innergesellschaftlicher Evolutionen zu untersuchen haben , aber offensichtlich ist das allein 779
stützen kann. Es gibt keine ewige Weltordnung, in der vorgesehen ist, daß dies so geschieht. Die Evolution
keine angemessene Antwort auf die hier gestellte Frage. Die Antwort kann nur in dieser Gesellschaft selbst 780
verdankt sich der Evolution. Sie ermöglicht sich selbst, indem sie die Bedingungen für die Differenzierung
gefunden werden, zum Beispiel in ihrer Fähigkeit, Tempo auszuhalten, für Ausfälle Ersatz zu finden,
Reserven für Unvorhergesehenes zu kapitalisieren und vor allem: mit diesen Erfordernissen sozialisierend zu
779
wirken und die Bewußtseinssysteme der Menschen mit diesen Gegebenheiten vertraut zu machen. Denn es ist Das Verhältnis der Evolutionstheorie zur Dialektik und damit zur Geschichtstheorie Hegels bedürfte einer gründlicheren
nur allzu verständlich, wenn Menschen, die in langer Kultur anderes gewohnt waren, unter solchen Untersuchung. Hier sei nur angemerkt, daß der Begriff der Form eine Unterscheidung markiert und damit den
Zusammenhang der beiden Seiten der Unterscheidung als notwendig ausweist. Auf Variation folgt deshalb notwendig
Bedingungen nervös werden.
Selektion, auf Selektion notwendig Restabilisierung. Das heißt aber nicht, daß ein entsprechender Prozeß notwendig ist.
Und es heißt auch nicht, daß innerhalb dieses Prozeßes nur Unterscheidungen, die als "Gegensatz" konstituiert werden,
Bewegung in Gang setzen. Diese Prämissen sind nur haltbar, wenn man etwas wie "Geist" postuliert, das aus der höheren
(späteren) Position heraus etwas bloß Vorhandenes in die Form des "Mangels" versetzen kann, um den Mangel schließlich
an sich selbst zu kurieren.
780
Heute wohl weitgehend anerkannt. Vgl. z.B. Erich Jantsch, The Self-Organizing Universe: Scientific and Human
775
Wir paraphrasieren Magoroh Maruyama, Toward Cultural Symbiosis, in: Erich Jantsch / Conrad Waddington (Hrsg.), Implications of the Emerging Paradigm of Evolution, Oxford 1980, insb. S. 217 ff. Davon zu unterscheiden ist die
Evolution and Consciousness: Human Systems in Transition, Reading Mass. 1976, S. 198-213. Selbstreferenz auf der Theorieebene, die besagt, daß die Einsichten über Evolution die Evolutionstheorie dazu bringen, sich
selbst als Resultat von Evolution zu begreifen. Zu diesem "autologischen" Moment einer Evolutionstheorie mit
776
Wir kommen darauf zurück. Siehe Kap. 4,...... Universalitätsanspruch vgl. Lars Löfgren, Knowledge of Evolution and Evolution of Knowledge, in: Erich Jantsch (Hrsg.),
777 The Evolutionary Vision: Towards a Unifying Paradigm of Physical, Biological and Sociocultural Evolution. Boulder Cal.
Vgl. Karl E. Weick, Sensemaking in Organizations, Thousand Oaks Cal. 1995.
1981, S. 129-151. Die Vernunft allerdings urteilt über solche Zirkel mit unnachsichtiger Härte, weil sie hier ihr eigenes
778
Vgl. unter ... historisches Privileg der Selbstbegründung zu verteidigen hat. Siehe Hans-Michael Baumgartner, Über die
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 227 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 228

ihrer Mechanismen aufbaut. Wie alles angefangen hat, müssen wir dem "big bang" oder ähnlichen Mythen Widerstand der Kirche im 11./12. Jahrhundert) eine Fülle von differentiellen Fortschritten in einzelnen
überlassen. Für alle späteren Einsatzpunkte der Evolution kann man immer schon Regionen, die dann wie Experimente mit Fortschritt wirken, mit denen oder gegen die andere Regionen ihren
System/Umwelt-Differenzen voraussetzen und damit jenen Multiplikationsmechanismus, der nur noch Weg in Richtung funktionale Differenzierung bestimmen können. So gibt es in Frankreich schon sehr früh
Systeme mit Operationen entstehen läßt, die sich auf eine Gemengelage von Phänomenen einstellen können, einen Nationalstaat, aber eine kunsttheoretische Literatur entsteht erst nach der Einrichtung der Académie
die sie als Unordnung bzw. Ordnung, als Zufall bzw. Notwendigkeit, als Erwartbares bzw. Irritierendes, und Royale de Peinture et Sculpture (1648) — und beides, die Literatur und die Akademie, nach italienischem
damit eben auch als Variation konstruieren können, die einen Selektionsdruck auslöst. Die Theorie Vorbild. Diese Überlegungen sprengen auch die klassische Theorienunterscheidung von endogen bzw. exogen
selbstreferentieller Evolution verlegt den "Grund" des Geschehens also nicht mehr in den Anfang (arché, induzierter Evolution, die sich systemtheoretisch ohnehin nicht halten läßt. Sie muß ersetzt werden durch eine
principium). Sie ersetzt diese traditionelle Weise der Erklärung durch eine differenztheoretische, nämlich komplexere Theorie, nämlich durch die Hypothese, daß ein evoluierendes System bei Differenzierung der
durch eine Spezifikation der Differenz der evolutionären Funktionen und eine möglichst genaue Lokalisierung evolutionären Funktionen mehr Außeneinflüsse aufnehmen, mehr auf historische Lagen reagieren und deshalb
der besonderen Bedingungen ihres Auseinandertretens in der empirischen Realität evoluierender Systeme. Auf schneller (aber immer: rein intern) evoluieren wird.
diese Weise erzeugt die Evolutionstheorie ein praktisch endloses Forschungsprogramm für historische Wenn es zutrifft, daß Evolution durch ein Auseinanderziehen ihrer Funktionen (durch Realisation ihrer
Untersuchungen. Form) zustandekommt, kann man daraus schließen, daß der betriebsnotwendige Zufall, wenn man so sagen
Wenn Evolution kein Prozeß ist und wenn sie ein zirkuläres Verhältnis ihrer Funktion voraussetzt, darf, im Laufe der Evolution einen höheren Organisationsgrad erhält. Es wird immer wahrscheinlicher, daß
abstrahiert die Theorie zunächst von Zeit. Ebensowenig kann jedoch bezweifelt werden, daß Evolution in der das Unwahrscheinliche, der Zufall, eintritt, weil die hochkomplexen Strukturen evoluierter Systeme mehr
781
Zeit stattfindet. Damit ist nicht nur gemeint, daß ein Strukturwandel datiert werden kann — durch Hinweis Möglichkeiten des Abweichens und auch mehr Möglichkeiten des Verkraftens von Abweichungen bieten.
auf mehr oder weniger lange Zeiträume. Er findet nicht nur in der Zeit statt, sondern nutzt auch historische Daraus folgt dann, daß die Evolution im Laufe der Evolution schneller zu laufen beginnt. Dies kann natürlich
Situationen, die sich aus der Evolution selbst ergeben haben und möglicherweise einmalig sind oder eine nicht heißen, daß im Laufe der Evolution sich alle Systeme oder alle Systemarten immer rascher zu ändern
gewisse Typik aufweisen, die eine Mehrfachentstehung evolutionärer Errungenschaften — des Auges, des beginnen. Schon die Eidechsen würden protestieren. Es kann also nur darum gehen, daß es bei
Testaments etc. — wahrscheinlich machen. Solche Situationen bieten einerseits Gelegenheiten und fortgeschrittener Evolution auch morphogenetische Transformationen gibt, die rascher ablaufen und zugleich
andererseits Beschränkungen, sie bieten Selektionsmöglichkeiten, deren Reproduktion aber nur unter Formen erzeugen, die ein höheres Änderungstempo in der Umwelt und im System selbst durchhalten können.
bestimmten Bedingungen möglich ist. Wir kommen unter Begriffen wie preadaptive advances, evolutionäre Mindestens an dieser Stelle ist die Evolutionstheorie auf einen engen Forschungsverbund mit
Errungenschaften, Geschichte darauf zurück. Im Moment ist nur festzuhalten, daß der Evolutionstheorie kein Systemtheorie angewiesen. Die Systemtheorie würde sagen: je größer die (durch Evolution erreichte)
lineares Zeitkonzept zugrundeliegt, auch wenn sie für Datierungen sich an Zeitmessungen hält, sondern daß Systemkomplexität desto wahrscheinlicher sind Innovationen. Die Notwendigkeit der Form
die Zeit, in der strukturelle Neuerungen geschehen, die Form einer historisch einmaligen Gegenwart annimmt, Variation/Selektion/Restabilisierung korrespondiert mit der Notwendigkeit der Form System/Umwelt. Beide
in der eine Kombination von Gelegenheiten und Beschränkungen verfügbar ist; und zwar als Kombination, Notwendigkeiten plazieren den Zufall in der Weise, daß die Bestimmtheit der Variation nichts für die
denn es gibt keine Gelegenheiten ohne Beschränkungen, so wie es keine Variation und Selektion ohne Bestimmtheit der Selektion und die Bestimmtheit der Umwelt nichts für die Bestimmtheit des Systems besagt.
Stabilität gibt. Evolution ist, anders gesagt, nur in empirischer Konkretion möglich, obwohl die Evoluierende Systeme sind, mit anderen Worten, strukturdeterminierte Systeme und in höheren
Evolutionstheorie das, was dann als geändert und damit als neu erscheint, nicht kausal erklären kann. Organisationsformen dann Systeme, die eine interne Repräsentation für extern induzierte Zufälle einrichten
Dieselbe Einsicht läßt sich auch systemtheoretisch gewinnen. Angesichts der Systemgrundlagen aller können. Wir hatten von "Irritation" gesprochen. Dem höheren Tempo der Evolution entsprechen also nicht
Evolution, angesichts des unauflösbaren Zusammenhangs von elementaren Operationen, Strukturbildungen etwa mehr und mehr Überlappungen, Verquickungen, Entdifferenzierungen an den Systemgrenzen, sondern
und operativer Schließung des nach außen sich abgrenzenden Systems kann Differenzierung der evolutionären im Gegenteil: operative Geschlossenheit und Selbstorganisation bei steigender Irritierbarkeit.
Funktionen nicht heißen, daß es zu einer kausalen Separierung käme. Gemeint ist allerdings, daß die Die These, daß Systemstabilisierungen Voraussetzung sind für Variation oder kürzer: die These der
Funktionen der Variation, der Selektion und der Restabilisierung durch das evoluierende System nicht Evolution der Evolution vermittelt in der bekannten Kontroverse zwischen Lamarckismus und Darwinismus.
koordiniert, nicht aufeinander abgestimmt werden können; denn das würde ja heißen, daß von vornherein nur In jedem Falle beruht Evolution auf jeweils selbstgeschaffenen Ausgangslagen, man könnte auch sagen: auf
so viel variiert wird, wie als Beitrag zur "Systemerhaltung" seligiert werden kann. Verzicht auf diese Art einer als Gegenwart aufsummierten Vergangenheit, die limitiert, was jeweils möglich ist. Das gilt auch für die
zweckmäßiger Koordination besagt, daß es vom System aus gesehen Zufall ist, wenn Variationen zu positiven überlebenden Populationen der organischen Evolution. Die Leistung Lamarcks hatte in der Durchsetzung des
bzw. negativen Selektionen führen, und daß es weiterhin Zufall ist, ob und wie diese Selektionen, die sich Konzepts der durch Umweltveränderungen ausgelösten Veränderung von Strukturmerkmalen gelegen gegen
782
eigener Kriterien bedienen, im System stabilisiert werden können. Mit "Zufall" ist dann auch gesagt, daß das die ältere Vorstellung von festliegenden Wesensmerkmalen der Arten und Gattungen. Das wichtigste
783
evoluierende System an diesen inneren Grenzen unkontrolliert umweltempfindlich ist. Hier können zufällig Strukturmerkmal aller Lebewesen, das feste Typenmerkmale ersetzt, nennt Lamarck "irritabilité". Dies
vorhandene, eventuell vorübergehende Umweltbedingungen einwirken, und auf diese Weise kann das System, Merkmal bezeichnet zugleich den Umweltbezug des Systems. Daran ist nie wieder etwas geändert worden.
ohne dies zu planen, Gelegenheiten nutzen, um Strukturänderungen kommunikativ plausibel durchführen zu Der Streit bezog sich nur auf den von Lamarck kaum beachteten Nebenpunkt der Vererblichkeit erworbener
784
können, die in anderen historischen Situationen unmöglich wären. So gibt die Einführung von Schrift der Eigenschaften, in dem die Entscheidung durch die spätere Genetik, wie es scheint , gegen Lamarck gefallen
schon bestehenden Differenz von kompetenten und inkompetenten Rollen im Umgang mit heiligen Dingen ist. In der Theorie sozio-kultureller Evolution hatte man aber ohnehin auf "Lamarckismus" nie verzichten
neue Möglichkeiten und neue Probleme auf — etwa die der Festigung einer für heilig gehaltenen Tradition. So können, weil hier die Möglichkeit der Strukturänderung durch ein Zusammenwirken von Gedächtnis und
mag es für die Entwicklung des talmudischen Judentums und dessen Umgangs mit Problemen der
Interpretation der heiligen Texte einen Unterschied gemacht haben, daß die politische Einheit des jüdischen
781
Volkes zerstört worden war, also auch keine diskriminierende politische Unterstützung und Stabilisierung Vgl. dazu Stebbins a.a.O. (1969), S. 117: "The hypothesis that living systems have evolved in the manner just outlined
theologischer Kontroversen erwartet werden konnte wie im Falle des Islam und des Christentums. So carries with it the corollary that the ability to evolve by means of mutation and genetic recombination, guided by natural
selection, must have itself evolved gradually from the ability to change only by frequent and irregular chemical reactions."
produziert die regionale und politische Segmentierung Europas (also das Scheitern der Reichsidee am
782
Vgl. Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet de Lamarck, Philosophie zoologique, Paris 1809, Nachdruck Weinheim
1960.
Widerspenstigkeit der Vernunft, sich aus der Geschichte erklären zu lassen: Zur Kritik des Selbstverständnisses der 783
Bd. I, S. 82 ff.
evolutionären Erkenntnistheorie, in: Hans Poser (Hrsg.), Wandel des Vernunftbegriffs, München 1981, S. 39-64; ders., Die
784
innere Unmöglichkeit einer evolutionären Erklärung der menschlichen Vernunft, in: Robert Spaemann / Peter Koslowski / "Wie es scheint", füge ich hinzu, weil man nicht ganz sicher sein kann, ob die Genetik hierzu schon das letzte Wort
Reinhard Löw (Hrsg.), Evolutionstheorie und menschliches Selbstverständnis, Weinheim 1984, S. 55-71. gesprochen hat.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 229 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 230
785
Lernen gar nicht bestritten werden kann. Sicher unterscheiden sich, wie oben notiert, organische und sozio- Komplexität des Systems, das die evolutionäre Errungenschaft aufnimmt und praktiziert. Unter diesem
kulturelle Evolution in der Art, wie sie die Funktionen der Variation, Selektion und Restabilisierung besetzen. Gesichtspunkt reduzieren Errungenschaften Komplexität, um auf der Basis der Restriktion höhere
Für die allgemeine Theorie der Evolution ist aber die laufende zirkuläre Vernetzung dieser Funktionen und Komplexität organisieren zu können. So reduziert ein Straßennetz die Bewegungsmöglichkeiten, um leichtere
damit die Autopoiesis der Evolution selbst der entscheidende Gesichtspunkt, der auch dann trägt, wenn man und schnellere Bewegung zu ermöglichen und damit die Bewegungschancen zu vergrößern, aus denen man
davon ausgeht, daß die genetische Ausstattung des Einzelorganismus durch seine Lebensführung nicht mehr konkret auswählen kann. Steigerung durch Reduktion von Komplexität: evolutionäre Errungenschaften
geändert werden kann. wählen Reduktionen so, daß sie mit höherer Komplexität kompatibel sind, ja sie oft erst (und oft erst sehr
Mit dieser Zwischenbilanz kodifizieren wir den Ertrag unserer bisherigen Untersuchungen und bringen allmählich) ermöglichen. Die Formel ist so generell, daß sie viele Anwendungsmöglichkeiten hat, etwa höhere
ihn auf die Ebene der allgemeinen Evolutionstheorie zurück. Zugleich erzeugt dieser Überblick aber auch neue Komplexität der für das System fassbaren Umwelt oder höhere Komplexität des Systems selbst und höhere
788
Fragen, denen wir uns nunmehr zuwenden müssen. Die eine Frage betrifft das Verhältnis von Kontinuität und Unabhängigkeit (geringere Integration) oder vielfältigere Einwirkungsmöglichkeiten. Vor allem aber
Diskontinuität, oder anders gesagt: das Verhältnis von Allmählichkeit und Sprunghaftigkeit evolutionärer bedeutet Steigerung von Komplexität Steigerung der kombinatorischen Möglichkeiten, und zwar typisch unter
Veränderungen. Offensichtlich gibt es jeweils beides. Offensichtlich hat es wenig Sinn, hier eine Verbindung verschiedener gesellschaftlicher Funktionen. Das kann zur raschen Stabilisierung solcher
wissenschaftliche Kontroverse anzusetzen und es den Professoren zu überlassen, ob sie sich eher auf die eine Errungenschaften beitragen, wenn sie einmal sichtbar und nutzbar geworden sind. In jedem Falle ist mit
oder eher auf die andere Seite stellen wollen. Es handelt sich um eine weitere Unterscheidung, mit der die Komplexität eine historisch relative Komplexitätslage gemeint. Ein Straßennetz stellt, um bei diesem Beispiel
Ausgangsparadoxie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen aufgelöst und in ein zu bleiben, in dem Maße mehr Komplexität zur Verfügung, als auch die Bewegungsmöglichkeiten verbessert
Forschungsprogramm überführt wird. Wir werden dieses Thema mit dem Begriff der evolutionären und der Fernverkehr in das allgemeine Komplexitätsnetz der Gesellschaft eingearbeitet ist. In dieser Hinsicht
Errungenschaften bezeichnen, dem der nächste Abschnitt gewidmet ist. gibt es strategisch zentrale evolutionäre Errungenschaften, die in sehr vielen Gesellschaftsbereichen höhere
Eine andere Frage, der wir uns anschließend zuwenden, betrifft die Einheit oder Vielheit Komplexität ermöglichen. Beispiele: Landwirtschaft, Schrift, Druckpresse, Telekommunikation.
gesellschaftlicher Evolutionen. Da die Gesellschaft nur ein System ist, kann es auch nur eine gesellschaftliche Für keine der evolutionären Errungenschaften, nicht einmal für das Entstehen von Landwirtschaft, gibt
Evolution geben. Das schließt es aber nicht aus, daß es im Gesellschaftssystem weitere Evolutionen gibt, es eindeutige Ursachen. Es können ganz verschiedene Ausgangslagen sein, die "äquifinal" wirken und das
welche die Gesellschaft als schon geordnete innergesellschaftliche Umwelt benutzen, sich also aus der Finden der Form begünstigen. Das setzt voraus, daß es in der Evolution nur begrenzte Möglichkeiten gibt,
789
Evolution der Gesellschaft selbst ergeben. Wir werden diese Frage, mit erheblichen Zweifeln in den Details, Komplexitätsgewinne zu realisieren. Das liegt offenbar an der eigentümlichen Kombination von Verzicht
mit ja beantworten. und Gewinn, von Reduktion von Komplexität zum Aufbau von Komplexität. Das gibt der Evolution eine
Richtung im Sinne zunehmender Komplexität, während gleichzeitig Gesellschaften sehr wohl überleben
können (also nicht an ungelösten Problemen scheitern), die bestimmte evolutionäre Errungenschaften nicht
kennen.
VIII. Evolutionäre Errungenschaften Dieser komplizierte Begriff der evolutionären Errungenschaft trägt einer Kritik Rechnung, die an einem
rein funktionalistischen Konzept der Evolution geübt worden ist. Es ist nicht schon die Eignung allein, die
Will man das Ergebnis von Evolution im allgemeinen beschreiben, genügen Formulierungen wie: gleichsam "bewirkt", daß nach und nach bessere Problemlösungen gefunden werden und sich durchsetzen. Im
Ermöglichung höherer Komplexität. Damit ist jedoch nur eine nahezu unbrauchbare Pauschalformel Funktionsbezug liegt ja immer eine Mehrheit möglicher Lösungen. Es ist dann die umgebende Komplexität,
gefunden. Man muß daher genauer erkunden, was denn und wie es höhere Komplexität ermöglicht. Damit die näher einschränkt, welche von ihnen vorteilhafter ist als andere. Und es ist auch eine Frage der bereits
verschiebt sich die Problemstellung von einer Ebene, auf der das System als Einheit beschrieben wird (es "ist" erreichten Komplexität, in welcher Form Probleme auftreten, für die Lösungsalternativen in Sicht kommen. In
komplex), auf die Ebene der Systemstrukturen. Auch auf dieser Ebene braucht man einen Begriff, der ein der Form evolutionärer Errungenschaften werden geeignete Strukturen fixiert, und in dem Maße, als die davon
Resultat von Evolution bezeichnen kann, einen Begriff für ein strukturelles Arrangement mit deutlicher abhängigen Komplexitätsgewinne realisiert werden, wird die Errungenschaft irreversibel eingebaut. Man kann
Überlegenheit über funktionale Äquivalente. Man denke an das Auge oder an Geld, an bewegliche Daumen sie nicht mehr aufgeben, ohne katastrophale Auswirkungen auszulösen.
oder an Telekommunikation. Konsolidierte Gewinne dieser Art, die besser als andere mit komplexen Evolutionäre Errungenschaften entstehen also nicht, weil sie sich zur Lösung bestimmter Probleme
Verhältnissen kompatibel sind, wollen wir evolutionäre Errungenschaften nennen.
786 eignen. Vielmehr entstehen die Probleme mit den Errungenschaften. Erst wenn es Magie gibt, sieht man, wozu
Daß es bessere und weniger gute Problemlösungen gibt, hängt mit dem Problem der Komplexität man sie brauchen kann. Erst wenn man städtische Ämter schafft, um die Könige loszuwerden, muß man als
zusammen. Rein funktional betrachtet, sind die Lösungen ja "äquivalent". Im Begriff der evolutionären Konsequenz die Amtsbesetzung politisieren und dazu Bedingungen schaffen, die später als "Demokratie"
Errungenschaften stecken mithin zwei verschiedene Bewertungsebenen, und keine von ihnen setzt absolute gefeiert werden. Deshalb enthält der Begriff auch nicht die Vorstellung einer Suche nach immer besseren
787
Wertgeltungen aus. Eine Problemlösung muß sich eignen. Schrift zum Beispiel muß sich nicht nur zu Problemlösungen. Er erklärt vielmehr zugleich, daß die gesellschaftliche Evolution bei nur begrenzt oder gar
Aufzeichnungszwecken, sondern auch zur Kommunikation eignen. Die Eignung kann je nach Spezifikation nicht geeigneten Errungenschaften stehen bleiben kann, wenn sie ein mit ihnen entstandenes Anspruchsniveau
790
der Problemstellung (bei Schrift zum Beispiel: für jede Kommunikation geeignet, leicht lernbar, phonetisch befriedigen oder, wie die Magie, Funktionen erfüllen, die gar nicht im Blick stehen.
unabhängig, ohne viel Interpretationsleistung lesbar) gegeben oder nicht gegeben sein. Neben diese Eine Reihe von bekannten Sachverhalten läßt sich auf diese Weise besser erklären als mit teleologischen
Bewertungsebene tritt als zweite die evolutionäre Vorteilhaftigkeit. Hier geht es um das Verhältnis zur (oder ihnen nachgebauten funktionalistischen) Theorien. Man braucht nicht zu bestreiten, daß es
zielorientieres Suchen nach Problemlösungen gibt. Aber gerade weitreichende evolutionäre Errungenschaften

785
Siehe dazu das Heft 7/5 (1993) der Revue internationale de systémique.
786
In der Literatur findet man eine Mehrzahl von Ausdrücken mit ähnlicher Bedeutung. Sahlins / Service a.a.O. (1960), S.
25, 69 ff. sprechen aufgrund eines paläontologischen und eines biologischen Sprachgebrauchs von "adaptive advances" oder 788
Die zuletzt genannte Doppelmöglichkeit, bezogen auf Umwelt, definiert den Begriff des "dominant type" bei Julian S.
von "dominant types". Parsons spricht von "evolutionary universals" — besonders in: Evolutionary Universals in Society,
Huxley, Evolution: The Modern Synthesis, 2. Aufl. London 1963.
American Sociological Review 29 (1964), S. 339-357, neu gedruckt in ders., Sociological Theory and Modern Society, New
789
York 1967, S. 490-520. Bei James S. Coleman, Social Inventions, Social Forces 49 (1970), S. 163-173, findet man "social Diese Einsicht läßt sich zurückführen auf Alexander A. Goldenweiser, The Principle of Limited Possibilities in the
inventions". In allen Fällen geht es um Vorteile, die auf Restriktionen beruhen. Development of Culturen, Journal of American Folk-Lore 26 (1913), S. 259-290.
787 790
Das unterscheidet, um nochmals darauf zurückzukommen, Evolutionstheorien von Fortschrittstheorien. Siehe hierzu das Kapitel "The Survival of the Mediocre" in Hallpike a.a.O. S. 81 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 231 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 232
791
kommen zumeist nicht auf diese Weise zustande. Oft entdeckt man, oft entwickeln sich evolutionäre für orale Texte, vielleicht unter dem Druck der Konkurrenz einer Vielzahl von Sängern und Poeten, das eine
Errungenschaften unter falschen oder abseitigen (situativen, wenig Komplexität erschließenden) Verschriftlichung des gesamten Kulturgutes einleitete. Gerade wenn Restriktionen Komplexitätschancen
792 793
Perspektiven. Ein oben bereits erwähntes Beispiel ist die Entstehung der chinesische Schrift aus den erschließen, ist mit einem solchen Verfahren zu rechnen, weil im Moment der Neuerung noch gar nicht
komplexen Deutungsmustern der Divinationspraxis. Oder: gemünztes Geld wird, nachdem es Geld in anderen absehbar ist, was alles man damit anfangen kann, so daß andere Gründe vorliegen müssen, die später
Formen (zum Beispiel als Buchgeld) schon lange gegeben hatte, in einem hauswirtschaftlichen Kontext entfallen können. Typisch findet man in solchen Fällen deshalb eine Eignung der emergenten Struktur für
795
entwickelt — in Handelshäusern bzw. Palastwirtschaften. Die Kennzeichnung des Metals war dabei zunächst mehrere Funktionen, die aber nicht gleichzeitig verwirklicht sein müssen. Die Evolution profitiert damit von
nur als Eigentumszeichen gedacht — und nicht etwa als offizielle politische bzw. religiöse Wertgarantie. der Möglichkeit, Multifunktionalität im Nacheinander zu realisieren und sie auf diese Weise für funktionale
796
Nachdem aber diese Protomünzen anfingen, auch außerhalb des Haushaltes, dem sie gehörten, zu kursieren, Spezifikation auszunutzen. Im späteren Kontext wird eine schon bekannte Struktur nur noch "cooptiert".
weil sie im Haushalt verwendet werden konnten, und sich zudem ein Kleingeldbedarf ergab, folgten innerhalb Schon in der Evolution lebender Systeme ist ein solches Überwechseln identischer Merkmale von einem
weniger Jahrzehnte andere Prägungsformen, die auch andere Funktionen, vor allem die der Wertgarantie, zu in einen anderen Anpassungszusammenhang ein keineswegs seltenes, vielmehr typisches Geschehen. Dasselbe
794
übernehmen hatten. Auch hier beeindruckt die Plötzlichkeit des Durchbruchs , der dann die gesamte gilt für die gesellschaftliche Evolution. Auch hier erscheint es geradezu als der Normalfall, daß die Emergenz
797
Wirtschaftsweise und selbst die politischen Formen (Übergang zur "Tyrannis") revolutioniert. Und als ein evolutionärer Errungenschaften durch Vorentwicklungen, durch "preadaptive advances" begünstigt, ja
weiteres Beispiel: die Erfindung des synallagmatischen Vertrags setzt Vertrautheit mit überhaupt erst ermöglicht wird. Beispiele bieten die Großerrungenschaften aller Kommunikationsmedien.
Reziprozitätsverhältnissen voraus, ersetzt aber die Institutionalisierung von Dankbarkeitspflichten durch das Dasselbe findet man aber in vielen Details. Die für die Anpassung der Haushaltsökonomie an städtische oder
Rechtsinstitut des Synallagma als Grund für die Entstehung von Obligationen, die im Falle von auch territoriale Politik so wichtigen Gilden oder Zünfte sind als religiöse Bruderschaften entstanden und
798
Leistungsstörungen eingeklagt werden und auch Fremden gegenüber durchgesetzt werden können. Der haben erst später jene Vermittlungsfunktion übernommen. Eine Semantik der leidenschaftlichen Liebe
Vertrag eignet sich für ein regional breiter streuendes Verkehrsrecht, und er ermöglicht (im römischen konnte zunächst nur für außereheliche Beziehungen entwickelt werden, solange die Familienbildung im
Zivilrecht und dann nochmals in der europäischen Rechtsentwicklung des 11./12. Jahrhunderts) eine System der Stratifikation stattzufinden hatte. Erst die Freigabe der Partnerwahl — in Europa freilich
Separierung von Rechtsschutz durch Strafrecht und durch Zivilrecht. Dabei wurde eine Klage aus Vertrag begünstigt durch eine schon ältere Vorstellung der Neugründung einer Familie in jeder Generation, durch die
zunächst nur in wenigen, streng typisierten Fällen gewährt, die Erfindung wurde juristisch gleichsam auf Forderung der ökonomischen Selbständigkeit (ersetzbar durch die Genehmigung des Herrn) und durch ein
Bewährung freigegeben und dann seit dem Spätmittelalter rasch erweitert. überdurchschnittlich hohes Heiratsalter — konnte der Vorstellung sexuell basierten Liebe die endgültige
Oft kann man auch beobachten, daß Formulierungen und damit Legitimierungen erst gefunden werden, Funktion einer Ehegrundlage geben. Auf diese Weise kann ein komplexitätsgünstiges Arrangement entstehen
nachdem entsprechende Praktiken durchgesetzt und üblich geworden sind. Die Innovation wird dadurch und erst nachher entdeckt werden, wozu es sich eignet, wenn es darum geht, es für einen komplexeren
erleichtert, daß sie zunächst namenlos eingeführt wird. So kann man von einem politischen Begriff der Funktionskontext auszunutzen. Die etwas vage Formulierung: "every now and then an evolutionary advance is
799
"öffentlichen Meinung" erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sprechen, von seiner europaweiten rewarded by a large increase in numbers" , läßt sich mit Hilfe dieser Theorie konkretisieren.
Durchsetzung sogar erst nach der Französischen Revolution. Aber die eigentliche Innovation lag im Gebrauch Zur unerkannten Einführung von Neuerungen dient vielfach die Interpretation oder auch die Erfindung
800
der Druckpresse für politische Pamphlete oder auch, im England des 17. Jahrhunderts, für die Verbreitung von Traditionen. Das vielleicht berühmteste Beispiel ist die protestantische Reformation. Ein anderes wäre
von Petitionen, die an das Parlament gerichtet waren. Denn schon damit war deutlich gemacht, daß nicht nur die Kritik und Abschaffung der grundherrlichen Gerichtsbarkeit in Frankreich unter dem Gesichtspunkt des
der Adressat angesprochen und eine Geheimbehandlung ausgeschlossen war. "Mißbrauchs" eines an sich zur "Souveränität" des Königs gehörenden Rechts. Man erspart es der Neuerung
Evolutionäre Errungenschaften tendieren dazu, Resultate der Evolution zu zementieren. Man wird sie damit, sich als Neuerung legitimieren und durchsetzen zu müssen. Sie tritt im Gewande einer zu ihr gehörigen
nicht wieder los. Neue Möglichkeiten, mit Komplexität umzugehen, sind gewonnen und andere Vergangenheit auf.
gesellschaftliche Einrichtungen stellen sich darauf ein. Eine Abschaffung wäre mit weitreichenden Evolutionäre Errungenschaften können so wie auf Probe und zumeist ohne Absehen ihrer Tragweite
destruktiven Auswirkungen verbunden und ist dadurch so gut wie ausgeschlossen. Neuerungen auf dieser eingeführt werden; und das entspricht der evolutionstheoretischen Prämisse, daß die Koordination von
Ebene müssen als funktionale Äquivalente einspringen können, und das geschieht typisch nicht in der Form Variation, Selektion und Stabilisierung einem Zufallsfaktor überlassen bleiben muß. Sieht man den Kontext
eines kompletten Austausches, sondern eher in der Form einer Ergänzung und Spezialisierung — so wie man der Emergenz evolutionärer Errungenschaften hinreichend deutlich, lassen sich weitere Bedingungen erkennen.
801
neben Geldmünzen dann auch Banknoten und anstelle von Banknoten dann auch staatlich garantiertes Geld Zu ihnen gehört das "Gesetz der begrenzten Möglichkeiten". Nur wenn der Bereich von Eignungen, die in
und Bankkonten hat.
Oft entspringen wichtige Verbesserungen des Komplexitätsarrangements in Systemen der 795
Vgl. Ernst Mayr, The Emergence of Evolutionary Novelties, in: Sol Tax (Hrsg.), Evolution After Darwin Bd. 1, Chicago
Notwendigkeit, in einer veränderten Umwelt zurechtzukommen. Im Falle des Alphabets war es anscheinend
1960, S. 349-380. Ernst Vollmer spricht von (für Evolution unerläßlichen) Doppelfunktionen". Siehe: Die
das Bemühen und eine Verbesserung der Mnemotechnik für wirtschaftliche Leistungen und dann aber auch Unvollständigkeit der Evolutionstheorie, in: Ernst Vollmer, Was können wir wissen? Bd. 2, Stuttgart 1986, S. 1-38, S. 24
ff.
791 796
Und oft müssen auch simple technische Erfindungen erst nachgebessert werden. Daß der kommerzielle Erfolg der Diese Formulierung bei Stephen Jay Gould, Darwinism and the Expansion of Evolutionary Theory, Science 216 (1982),
Eisenbahn erst durch die Erschließung für Personenverkehr zu gewährleisten war und der kommerzielle Erfolg des S. 380-387 (383).
Telephons erst bei einer Erweiterung zu einem Mittel zweiseitiger Kommunikation mit der Möglichkeit des Sprechens und 797
So formuliert Robert MacAdams, The Evolution of Urban Society: Early Mesopotamia and Prehispanic Mexico, London
Hörens am selben Apparat, hat man erst einige Zeit nach der Realisation der Erfindung gesehen.
1966, S. 41. Zur Herkunft des Begriffs L.Cuénot, L'adaptation, Paris 1925.
792
Alfred S. Romer, The Vertebrate Story, Chicago 1959, S. 93 f., illustriert dies Verfahren (Romer's Principle genannt) am 798
Vgl. für China und zum Vergleich mit England (denn für das frühmittelalterliche Europa gilt generell dasselbe) Hosea
Beispiel der Lungenfische, die bei veränderlichen Flutverhältnissen versuchen müssen, über trockene Strecken ins Wasser
Ballou Morse, The Gilds of China: With an Account of the Gild Merchant of Co-Hong of Canton, London 1909.
zurückzukommen und sich so allmählich fürs Landleben qualifizieren.
799
793 So J.B.S. Haldane, The Causes of Evolution, New York 1932, S. 153, zit. nach George G. Simpson, The Concept of
Kap. 2, ...
Progress in Organic Evolution, Social Research 41 (1974), S. 28-51 (46).
794
Fritz Heichelheim, Die Ausbreitung der Münzgeldwirtschaft und der Wirtschaftsstil im archaischen Griechenland, 800
Siehe hierzu Eric Hobsbawn / Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983.
Schmollers Jahrbuch 55 (1931), S. 229-254 (238) spricht von "schlagartiger" Ausbreitung, nachdem man einmal zur
801
Prägung von Kleingeld mit Wertgarantie übergegangen war. Siehe auch Michael Hutter, Communication in Economic Vgl. Goldenweiser a.a.O.; Pitirim A. Sorokin, Social and Cultural Dynamics Bd. IV, New York 1941, S. 76 ff. In der
Evolution: The Case of Money, in: Richard W. England (Hrsg.), Evolutionary Concepts in Contemporary Economics, Ann biologischen Evolutionstheorie findet man eine ähnliche Diskussion über die Frage, wie weit ein bereits erreichter
Arbor 1994, S. 111-136. Phänotyp die Möglichkeiten weiterer Variation limitiert (Gesetz homologer Variation).
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 233 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 234

Betracht kommen, deutlich eingeschränkt ist, kann man bessere Lösungen von weniger brauchbaren Weltgeschichte. Zwar kann man unumkehrbare Sequenzen erkennen (keine Druckpresse vor der Erfindung
unterscheiden. Theoretisch heißt dies: daß die Entwicklung von evolutionären Errungenschaften nur im von Schriften, kein Direktübergang von Segmentierung zu funktionaler Differenzierung), aber die
Kontext struktureller Folgeprobleme zu erwarten ist — und nicht einfach unter dem Gesichtspunkt besserer Unterscheidungen allein erzwingen keinen bestimmten Prozeßverlauf. Es kann aber durchaus evolutionäre
Verständigungsmöglichkeiten oder besserer Komplexitätsreduktionen schlechthin. Die damit gegebenen Errungenschaften geben, die dramatische Formveränderungen auslösen — so wenn in eine Gesellschaft, die
Einschränkungen werden in gewißem Umfang kompensiert durch die Möglichkeit "äquifinaler" schon Rangunterschiede kennt, die Vorstellung der Ebenbürtigkeit von Familien eingeführt und damit die
802
Entwicklungen. Ein und dieselbe Errungenschaft kann sich auf Grund verschiedener Ausgangslagen Abschließung des Adels eingeleitet wird mit all den Vorteilen zentralisierter Interdependenz. Auf diese Weise
entwickeln. Denn wenn die Problemlösung sowohl alternativenarm ist als auch mit vielen verschiedenen entstehen dann, wenn wir so paradox formulieren dürfen, bisher unmögliche Möglichkeiten, deren Nutzung
Situationen kompatibel, also als generalisierte Einrichtung verwendbar, ist es nicht unwahrscheinlich, das sie die Gesellschaft nach und nach auf eine Stufe höherer Komplexität bringt.
mehrfach gefunden wird und deshalb auch einen Ausfall von Trägersystemen überstehen kann. Wenn also evolutionäre Errungenschaften in diese fundamentalen Strukturen, sei es der
Dank dieses Zusammentreffens von Begrenztheit möglicher Problemlösungen mit Äquifinalität sind Verbreitungsmedien der Kommunikation, sei es der Systemdifferenzierung, eingreifen und den Übergang von
Errungenschaften im Bereich der gesellschaftlichen Evolution diffusionsfähig. Sie können ihren der einen zu einer anderen ermöglichen, entsteht für den Beobachter der Eindruck bestimmter
Ursprungskontext überschreiten und anderswo copiert werden. Zu Unrecht hat man dieses Phänomen der Gesellschaftsformationen, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Mit sehr groben Vereinfachungen kann
Diffusion gegen die Evolutionstheorie ausgespielt. Diffusion setzt Evolution voraus und bezieht sich nur auf er dann schriftlose und literarische Kulturen unterscheiden oder deutlich stratifizierte Gesellschaften von
die evolutionären Errungenschaften, die dann ihrerseits freilich auch für die Differenzierung der evolutionären segmentären Gesellschaften oder von der modernen Gesellschaft, die auf einer operativen Schließung von
Funktionen (man denke an Schrift) Bedeutung gewinnen können. Hierbei ist nicht zu übersehen, daß Funktionssystemen beruht. Da es aber zwei Bereiche solcher Unterscheidungen gibt, Kommunikationsmedien
evolutionäre Errungenschaften oft erst durch Diffusion ihre endgültige Form und Prominenz erhalten. Sie und Differenzierungsformen, kommt auch dann keine eindeutige Epochenabgrenzung zustande. Man kann
werden im Prozeß der Diffusion empirisch erprobt, abgeschliffen und generalisiert. So haben sich wichtige, in sagen, die moderne Gesellschaft beginne im 15. Jahrhundert mit dem Übergang von den spätmittelalterlichen
Richtung "homónoia" und Demokratie gehende politische Vorstellungen der Griechen offenbar im Zuge der durchorganisierten Großwerkstätten der Manuskriptproduktion zu einer Anfertigung von Texten mit Hilfe der
803
Koloniebildungen, also im Copieren von Stadtmustern gebildet. Noch offensichtlicher ist dieser Sachverhalt Druckpresse. Oder man kann sagen, die moderne Gesellschaft beginne im 18. Jahrhundert mit der
bei der Entstehung phonetischer Schriften im ständigen Copieren und Anpassen an andere Sprachen. Es mag Beobachtung des Zusammenbruchs der Stratifikation und der Neuformierung operativ geschlossener
daher durchaus sein, daß die Entdeckung von Ursprungsformen, die rein historische Lineatur, etwa die Suche Funktionssysteme. Der Sachverhalt gibt keine eindeutigeren Zäsuren her. Wenn man wissen will, wie die
nach ursprünglichen, autochtonen Staatsbildungen, wenig ergibt, weil die Errungenschaft erst im moderne Gesellschaft sich selber historisch abgrenzt, muß man sie deshalb von einer Ebene zweiter Ordnung
Diffusionsprozeß die Form gewonnen hat, mit der sie der weiteren Evolution zugrundeliegt. aus beobachten. Man muß beschreiben, wie sie sich selbst beschreibt.
Für all das ist es eine unerläßliche Voraussetzung, daß das Gesellschaftssystem schon hinreichend
komplex ist, um eine Interdependenzunterbrechung zwischen verschiedenen Problemlösungen vorsehen und
damit zeitliche Verschiebungen ermöglichen zu können. So können historisch gerade anfallende Bedingungen
genutzt und später als entbehrlich abgekoppelt werden. In diesem Geschehen sind evolutionäre IX. Technik
Errungenschaften relative Verfestigungen, die sich im Hinblick auf strukturabhängige Probleme, deren
Konstanz vorausgesetzt, bewähren. Legt man den Begriff der evolutionären Errungenschaften fest auf Bewährung unter der Bedingung
Der Begriff der evolutionären Errungenschaft sagt noch nichts aus über das relative Gewicht der steigender Komplexität, rückt er in die Nähe von Sachverhalten, die üblicherweise als Technik bezeichnet
entsprechenden Einrichtungen. Die Landwirtschaft gehört dazu, aber auch der Füllfederhalter der von der werden. Evolutionäre Errungenschaften setzen eine gewisse Abkopplung von vorgegebenen
Anwesenheit des Tintenfasses befreit; die Erfindung der Töpferscheibe und die Verlängerung des Bedingungszusammenhängen voraus — "amour passion" zum Beispiel eine Abkopplung von
Familienbewußtseins durch die Erfindung von Großvätern, der Computer und das Fegefeuer zur Familieninteressen. Dasselbe gilt für Technik. Man kann deshalb so weit gehen, Technik (technology,
Überbrückung der Zeitdistanz bis zum Jüngsten Gericht, die Druckpresse, aber auch die (schon vorher Technisierbarkeit usw.) als Steigerungsform evolutionärer Errungenschaften aufzufassen, als Herausformung
eingeführte) Pagination, die Sachregister und leichtere Verweisungen in Büchern ermöglicht. Allein anhand dessen, worauf es vor allem ankommt. Daß romantische Liebe damit mit Technik vergleichbar wird, ja mit
des Begriffs ist kein Überblick zu gewinnen. Wir können gleichwohl die Frage stellen, ob es so etwas gibt wie Technik auf eine Ebene spezifischer Sondermerkmale gerät, wird zunächst überraschen, und natürlich sollen
"epochemachende" Errungenschaften und was sie, wenn es sie gibt, auszeichnet. Verschiedenheiten nicht geleugnet werden; man kann jedoch den Unterschieden durch zusätzliche
Faßt man hierfür die Überlegungen des vorausgegangenen Kapitels über Kommunikationsmedien und Unterscheidungen, insbesondere durch Unterscheidung verschiedener Kommunikationsmedien Rechnung
des folgenden Kapitels über die Differenzierung der Gesellschaft zusammen, so zeigen sie, daß es in der Tat tragen.
Strukturen gibt, deren Änderung sehr weitreichende, "katastrophale" Auswirkungen auf die Komplexität des Mit der Charakterisierung von Technik als evolutionärer Errungenschaft sind Vorstellungen abgelehnt,
Gesellschaftssystems hat. Es sind dies die Verbreitungsmedien der Kommunikation (erweitert durch Schrift, 804
die besagen, daß die "Welt", die "Gesellschaft", die "Zivilisation" selbst technisch geworden seien. Das ist
dann die Druckpresse und heute Telekommunikation und elektronische Datenverarbeitung) und die Formen schwer vorstellbar, wenn das heißen soll, daß nichts anderes als technisch vermittelte Bezüge mehr vorkommt.
der Systemdifferenzierung (Segmentierung, Zentrum/Peripherie-Differenzierung, Stratifikation, funktionale Daß die Entwicklung der Technik Auswirkungen hat auf das, was als Welt, Gesellschaft, Zivilisation erfahren
Differenzierung). Für sich allein genommen, ergeben diese Unterscheidungen noch keine Epochenstruktur der wird, soll natürlich nicht bestritten sein; aber totalisierende Konzepte können weder begrifflich noch empirisch
eingelöst werden. Als Brücke dient uns der Begriff der evolutionären Errungenschaft.
802
Zum Begriff der Äquifinalität vgl. (auf älteren biologischen Grundlagen) Arbeiten von Ludwig von Bertalanffy, etwa: Zu
einer allgemeinen Systemlehre, Biologia Generalis 19 (1949), S. 114-129 (123 ff.); ders., Problems of Life, New York
1960, S. 142. Der gleiche Gedanke bereits bei Emile Boutroux, De la contingence des lois de nature, 8. Aufl. Paris 1915, S.
13. Vgl. ferner W. Ross Ashby, The Effect of Experience on a Determinate Dynamic System, Behavioral Science 1 (1956),
S. 35-42. Auch Parsons baut ihn mit evolutionärem und strukturellem Doppelsinn in seinen Begriff der evolutionären 804
Siehe z.B. Wilhelm Berger, Am Punkt der Vollendung: Technikphilosophie nach Martin Heidegger und Gotthard
Universalien ein: "I shall designate as an evolutionary universal any organizational development sufficiently important to
Günther, in: Ernst Kotzmann (Hrsg.), Gotthard Günther — Technik, Logik, Technologie, München 1994, S. 33-54 (33 f.).
further evolution that, rather emerging only once, it is likely to be 'hit upon' by various systems operating under different
Auch Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 1979,
conditions" (a.a.O., 1967, S. 491).
spricht von "technologischer Zivilisation", sieht aber dennoch in der so bezeichneten Gesellschaft Spielraum für eine
803
Vgl. Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt 1980, S. 57 ff. ethisch motivierte Gegenbewegung.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 235 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 236

Es besteht heute wohl Einverständnis darüber, daß die Evolution technischer Errungenschaften nicht wird. Die schöne Welt ist nicht mehr nur Gegenstand religiöser Bewunderung mit Problemen des praktischen
805
einfach als Anwendung von Wissenschaft erklärt werden kann. Einerseits sind viele andere, vor allem Sichzurechtfindens. Ihre Erscheinungsformen lösen die Frage aus, wie sie zustandegekommen sind und wie
ökonomische Faktoren im Spiel, und andererseits ist die Wissenschaft oft, ja zumeist gar nicht in der Lage,zu man entsprechende Effekte selbst erzeugen könne. Man konzipiert in der Frührenaissance diese Umstellung
sagen, wie spezifisch technische Probleme gelöst werden können. Häufig findet man den umgekehrten Fall: zunächst im Interesse am Wiedergewinnen antiken Wissens und antiker Fertigkeiten. Aber wenn man einmal
daß Fachgebiete wissenschaftlicher Forschung durch Technologieentwicklungen in Gang gesetzt werden weiß, wie etwas hergestellt werden kann, kann man auf dieser Basis auch Ziele variieren und sich vornehmen,
(Stahlproduktion - Metallurgie; Computer - Computerwissenschaft). Das heißt nicht den Beitrag neue, bisher ungesehene Phänomene zu erzeugen. Die neuzeitliche Wissenschaft formuliert ihr
wissenschaftlich erarbeiteten Wissens zu unterschätzen. Er liegt in einer "unique combination of opportunities Naturverständnis im Hinblick auf Methode und Experiment; aber auch die Lehre von der Regierungskunst
806
and constraints". Er liegt außerdem in der Bereitstellung fachlicher Kompetenz, die den Blick auf Probleme geht von der Frage aus, wie man Herrschaft gewinnen und sich in Machtpositionen halten kann. Durchweg
und Alternativen schärft. Aber darin hat man noch kein Rezept für Technologieentwicklungen zur Hand, begünstigt die techniknahe Semantik des Vorstellens und Herstellens (Heidegger) die Annahme eines
sondern nur eine evolutionäre Chance, eine Steigerung von Wahrscheinlichkeiten. außerhalb stehenden Subjekts, das die technischen Möglichkeiten von außen nutzt, ohne selbst nach Art einer
Daß technische Arrangements in der gesellschaftlichen Evolution präferiert werden, scheint vor allem Technostruktur zu fungieren.
damit zusammenzuhängen, daß sie, obwohl es um artifizielle Objekte geht, Konsens einsparen. Was So wurde Technik in der frühen Neuzeit als Anwendung von Naturwissen auf menschliche Zwecke
funktioniert, das funktioniert. Was sich bewährt, das hat sich bewährt. Darüber braucht man kein begriffen, ja geradezu als Parallelaktion zur göttlichen Schöpfung oder als Copieren der Archetypen, die in der
Einverständnis mehr zu erzielen. Technik erspart auch, soweit sie Abläufe koordiniert, die stets schwierige Schöpfung vorgesehen waren. Das machte es möglich, unter der Bezeichnung "Technologie" eine darauf
811
und konfliktträchtige Koordination menschlichen Handelns. Was immer die Zufallsursachen technischer bezogene Wissenschaft zu fordern. Erst dieser enge Zusammenhang von Natur und Technik legte die heute
Erfindungen sein mögen: die Evolution greift zu und treibt die Strukturentwicklung der Gesellschaft in die übliche Kontrastierung von Technik und Humanität nahe. Für die subjektivistische Philosophie, für die
damit angebahnte Richtung. Daß damit auch Risiken verbunden sein können und daß man die Risiken Romantik, für Husserls Phänomenologie, ja noch für Habermas ist diese Kontrastierung entscheidend, und
verschieden beurteilen kann, ist eine späte Einsicht, und manche würden sagen: eine allzu späte Einsicht, die aus ihr folgt eine Technikaversion, eine Charakterisierung von Technik als notwendiges Übel. Die Mahnung
807
dann nur noch mit Zusatztechniken helfen kann. Durch technische Kopplungen werden Konsensprobleme lautet, der Mensch dürfe sein Selbstverständnis nicht durch die Technik bestimmen lassen; er müsse gegen die
gespalten in Probleme der Zwecke und Probleme der Mittel bzw. Kosten. Dann kann man relationale daraus folgenden Abhängigkeiten rebellieren wie gegen Herrschaft schlechthin; er müsse, wolle er seine
Rationalisierungsstrategien entwickeln, also prüfen, ob der Zweck den Aufwand lohnt. Der Evolution von Menschlichkeit und seine Selbstbestimmung retten, sich aus einer durch Technik und Herrschaft bedingten
Technik folgt eine darauf eingestellte Strukturierung von Rationalität, und Rationalisierung ist nichts anderes Entfremdung lösen, sich "emanzipieren". Noch heute wird auf vielfältige Weise geklagt, daß die Technik nicht
als eine Form der Lösung der offen gebliebenen, gleichsam marginalen Konsensfragen. genügend kontrolliert werde (wobei bemerkenswerterweise der Markt als Kontrolle unberücksichtigt bleibt
808 812
Aber: was ist Technik? Eine Durchsicht der Begriffsgeschichte ergibt zunächst, daß das Problem (und oder für nicht ausreichend befunden wird) , aber der Klage von rechts und von links liegt keine klare
damit der Begriff) von Technik immer durch Gegenbegriffe bestimmt war, denen die Aufgabe zufiel, das zu Vorstellung des Problems zugrunde. Die seit einiger Zeit laufenden Bemühungen um
erfassen, wogegen technische Vollzüge ausdifferenziert sind; und wie immer, wenn Bezeichnungen durch Technikfolgenabschätzung verlagern dieses Problem, ohne es gelöst zu haben, in die Zukunft.
Gegenbegriffe bestimmt sind, verrät das die Präsenz eines Beobachters, nach dessen Interessen man fragen Auch die inzwischen klassischen geisteswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Bemühungen
813 814
kann. Das gilt zum Beispiel besonders deutlich für die Definition von Technik als Organersatz (Gehlen im um den Gegenstand "Technik" haben sich aus diesen Vorgaben nicht herauslösen können. Sie sind
809
Anschluß an Kapp ). In einer noch religiös und kosmologisch verstandenen Welt wurde Technik von Natur entweder von einem Begriff der Kultur oder von einem Begriff der Handlung ausgegangen und haben das
unterschieden. Technik hatte im griechischen Verständnis denn auch Züge des Verletzens einer natürlichen Phänomen der Technik damit auf dinghafte Substrate beschränkt bzw. externalisiert. Die Zuspitzung des
815
Ordnung an sich, Insistieren auf menschlichem Können gegen die an sich und von selbst werdende Natur. Das Begriffs der Technik auf Energieverwendung (und Energie im neuen Sinne verstanden = Arbeit ) hat das
konnte durch Fortschrittskonzepte religiös entproblematisiert werden. Seit dieser Zeit wird Technik als etwas Auflösevermögen der Begrifflichkeit gesteigert, hat aber an der Gegenbegrifflichkeit im Verhältnis zu
810
"Artifizielles" verstanden. Im christlichen Denken wurde der Naturbegriff auf eine andere humanen Anliegen nichts geändert. Auch und gerade die modernen elektronischen
Gegenbegrifflichkeit umgesetzt. Natur wurde von Gnade unterschieden mit der Möglichkeit, die Einheit der Kommunikationstechnologien beruhen auf einer klaren Trennung der technischen Netzwerke von der
Unterscheidung als Gott zu denken. Damit wurde der Technikbegriff frei gegeben mit der Möglichkeit, Information und damit von der kulturellen Semantik, die mit ihrer Hilfe kommuniziert wird. Die Forschungen
Technik nun gerade als Imitation einer immer besser zu erkennenden Naturgesetzlichkeit zu entwickeln.
Damit korrespondiert eine seit dem Spätmittelalter zunehmende Umstellung von Was-Fragen auf
Wie-Fragen, die durch den Buchdruck, selbst eine als Technik gefeierte Errungenschaft, universell verbreitet 811
Vgl. Wilfried Seibicke, Technik: Versuch einer Geschichte der Wortfamilie um in Deutschland vom 16.
Jahrhundert bis etwa 1830, Düsseldorf 1968, S. 99 ff. Der heutige Gebrauch von Technologie stammt aus dem Englischen
805 und hat mit dieser Tradition nichts mehr zu tun. Damit sind auch die klaren begrifflichen Konturen von "Technologie"
Vgl. nur Wiebe E. Bijker / Thomas P. Hughes / Trevor J. Pinch (Hrsg.), The Social Construction of Technological
verloren gegangen. Vielleicht kann man aber sagen, daß "Technologie" es mit der Anwendung von Techniken auf das
Systems: New Directions in the Sociology and History of Technology, Cambridge Mass. 1987. Zu Zusammenhängen auf
Gewinnen und Verwenden von Energie zu tun hat.
organisatorischer (und personaler) Ebene siehe Henry Etzkowitz, Academic-Industrial Relations: A Sociological Paradigm
812
for Economic Development, in: Loet Leydesdorff / Peter van den Besselaar (Hrsg.), Evolutionary Economics and Chaos Siehe für viele: Manfred Mai, Technikblindheit des Rechts — Technikignoranz der Juristen?, Zeitschrift für
Theory: New Directions in Technology Studies, London 1994, S. 139-151. Rechtssoziologie 13 (1992), S. 257-270.
806 813
Nathan Rosenberg, Perspectives on Technology, Cambridge Engl. 1975, S. 5; näher S. 260 ff. Siehe etwa Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955; ders., Gedanken zur
807 Industriegesellschaft, Mainz 1970; Friedrich Georg Jünger, Die Perfektion der Technik, Frankfurt 1953; Arnold Gehlen,
Siehe dazu Gerald Wagner, Vertrauen in Technik, Zeitschrift für Soziologie 23 (1994), S. 145-157.
Die Seele im technischen Zeitalter, Hamburg 1957; Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation,
808
Für einen Überblick siehe Friedrich Rapp, Analytische Technikphilosophie, Freiburg 1978, S. 30 ff. Köln-Opladen 1961; Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962.
809 814
Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik (1877), Düsseldorf 1978. Für einen gerafften Überblick siehe Bernward Joerges, Soziologie und Maschinerie — Vorschläge zu einer
810 "realistischen" Techniksoziologie, in: Peter Weingart (Hrsg.), Technik als sozialer Prozeß, Frankfurt 1989, S. 44-89 (insb.
Das gilt auch und erst recht (aber keineswegs nur) für die neuzeitliche Tradition — und erspart dann weitgehend die
S. 48 ff. zu Weber, Marx, Sombart und Freyer).
Suche nach einer theoretisch ausgearbeiteten Begrifflichkeit. "Im Zentrum (der zeitgenössischen Literatur über Technik,
815
N.L.) steht ..... der Begriff des Artefakts, der (das?, N.L.) als Werkzeug, Maschine oder Automat Mittel zur Erreichung Vgl. Herbert Breger, Die Natur als arbeitende Maschine: Zur Entstehung des Energiebegriffs in der Physik 1840-1850,
nichttechnischer Ziele ist", liest man bei Wolfgang Krohn, Die Verschiedenheit der Technik und die Einheit der Frankfurt 1982. Zusätzlich müßte auch die Beziehung von Energie und Ökonomie in Betracht gezogen werden, die zum
Techniksoziologie, in: Peter Weingart (Hrsg.), Technik als sozialer Prozeß, Frankfurt 1989, S. 15-43 (15). Beispiel für Freuds Theorie eines psychischen Energiehaushaltes grundlegende Bedeutung hatte.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 237 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 238

über "Künstliche Intelligenz" befassen sich mit der Manipulation von "Symbolen", nicht mit der Formierung wissen kann, was daraufhin zu geschehen hat. In jedem Falle geht es um einen Vorgang effektiver Isolierung;
von Sinn. um Ausschaltung der Welt-im-übrigen; um Nichtberücksichtigung unbestrittener Realitäten — seien dies
Inzwischen mehren sich jedoch Anzeichen dafür, daß auch diese Kontrastierung von Technik und Natur andere Ursachen und Wirkungen, seien es andere Informationen; also um aus der Realität der Welt nicht
821
oder Technik und Humanität (Technik und Vernunft, Technik und "Lebenswelt" usw.) verbraucht ist. Wenn ableitbare Einschränkungen. Das Funktionieren kann man feststellen, wenn es gelingt, die ausgeklammerte
die Naturwissenschaft selbst den (beobachterunabhängigen) Naturbegriff aufgelöst hat und sich im Welt von Einwirkungen auf das bezweckte Resultat abzuhalten. Die maßgebende Unterscheidung, die die
ökologischen Kontext Technik und Natur auf untrennbare und unprognostierbare Weise mischen, macht es Form "Technik" bestimmt, ist nun die zwischen kontrollierbaren und unkontrollierbaren Sachverhalten.
816
keinen Sinn mehr, Phänomene nach der Unterscheidung Technik/Natur zu ordnen. Technik wird wieder zur Extrem abstrakt formuliert, geht es also um gelingende Reduktion von Komplexität. Es mag im übrigen
Natur, zur zweiten Natur, weil kaum jemand versteht, wie sie funktioniert, und weil man dies Verständnis in geschehen was will: die Technik liefert die beabsichtigten Ergebnisse. Allerdings wissen wir auch und hatten
822
der Alltagskommunikation auch nicht mehr voraussetzen kann. Wie (und warum?) sollte man gentechnisch es oben schon notiert, daß die Komplexität selbst sich in keine Reduktion einfangen, in keinem Modell
produzierte Organismen von anderen unterscheiden? Nur, um kommunizieren zu können, daß man dagegen repräsentieren läßt. Auch wenn es funktioniert, muß man immer damit rechnen, daß etwas übrig bleibt.
ist? Zu den Wundern, die Amerika dem 19. Jahrhundert zu bieten hat, zählt Henry Adams Niagara Falls, the "Gelingende" Reduktion läuft also auf unschädliches Ignorieren hinaus. Auch soll mit diesem Begriff von
817
Yellowstone Geysirs, and the whole railway system. Technik keineswegs bestritten sein, daß der Einsatz von Technik zahlreichen sozialen und kulturellen
Auch in anderen Hinsichten sind technische Artefakte einerseits etwas Besonderes, das speziell die Bedingungen unterworfen ist. Das hat die neuere Techniksoziologie auf vielfache Weise nachgewiesen.
moderne Gesellschaft auszeichnet, andererseits aber auch Errungenschaften, die nicht aus sich selbst heraus Eine etwas andere, hiermit aber kompatible Technikbeschreibung benutzt die Unterscheidung strikter
zu erklären sind. Zahlreiche Detailforschungen über technologische Entwicklungen im 19. und 20. und loser Kopplung, die wir bereits dem Begriff des Mediums zugrundegelegt hatten. Man sieht heute (im
Jahrhundert zeigen, daß das Herausfinden der Formen, die sich endgültig durchsetzen, keineswegs einer Logik Unterschied zu älteren Vorstellungen über "Naturgesetze"), daß die Stabilität von Organismen ebenso wie von
der technikimmanenten Verbesserung folgt, sondern sich nur durch die Responsivität des sozialen Umfeldes, ökologischen "Gleichgewichten" eine Vermeidung strikter Kopplungen voraussetzt; oder in anderen Worten:
818 823
durch Inanspruchnahme und Nutzung der Technik erklären läßt. Das besagt zugleich, daß nicht etwa die Robustheit beim Absorbieren von Störungen. Für Technik gilt dagegen die Bedingung strikter Kopplung.
Technik wie eine anonyme Macht die Gesellschaft beherrscht, sondern daß die Gesellschaft sich selbst in einer Wir beobachten also eine Neuformulierung des alten Problems der Beziehungen von Natur und Technik, und
nicht rational vorausgeplanten Weise von der Technik abhängig macht, indem sie sich auf sie einläßt. Wenn der Vorteil (wie wohl auch das Motiv) dieser Neufassung ist: die Probleme der technischen Intervention in
aber das Leben und Überleben der Menschheit überdeutlich von Technik abhängen (und dies im positiven wie natürliche Systeme bzw. Systemzusammenhänge zu beleuchten. Überspitzt formuliert legt dies die Vermutung
im negativen, destruktiven Sinne) wird es unplausibel, das eigentlich Menschliche auf die andere Seite der nahe, daß die Vermehrung des Wissens über die Natur nur noch zur Vermehrung des Nichtwissens über die
Unterscheidung zu bringen, die den Begriff der Technik definiert. Vor allem die risikoreichen Auswirkungen technischer Interventionen führen kann; und das gilt explizit auch für die Auswirkungen der
Hochtechnologien, aber auch die Grenzen der Prognosemöglichkeiten von vermeintlich technisch gesicherten modernen Medizin.
Vollzügen verändern das Problembewußtsein. Sie erfordern Sicherungstechnologien, die nur in begrenztem Stellt man auf strikte (im Unterschied zu loser) Kopplung ab, ist es zunächst unerheblich, auf welcher
und nicht ausreichendem Umfange maschinell realisiert werden können. Also braucht man einen weiter Materialbasis die Technik funktioniert, wenn sie nur funktioniert. Es mag sich um physikalische, chemische,
gefaßten Begriff von Technik, der nicht ausschließlich auf Berechenbarkeit und auf Rationalität in diesem biologische, neurophysiologische oder auch bewußte Abläufe handeln, sofern nur sie so eingerichtet sind, daß
engen Verständnis abstellt. Das gilt erst recht, wenn man Handlungsformalisierungen allgemeinerer Art, nicht laufend Zwischenentscheidungen erforderlich werden. Man denke an den Zusammenhang der
Regulierungstechniken, konditionale Programmierungen, Kalkulationstechniken etc. einbezieht. Gerade die am Druckpresse und der Lesetechnik mit ihrer unbemerkt ablaufenden, enorm schnelle Verzahnung von
Geld orientierte Kalkulationstechnik macht die Entwicklung der Wirtschaft, und zwar schon ihre allernächste Wahrnehmung und Minimotorik der Augenbewegungen. Gerade Lesen ist ein gutes Beispiel dafür wie sehr
Zukunft unvorhersehbar. Die auf neues Wissen abzielende Forschung wird, gerade wenn sie auf technische die Unterscheidung Materie/Geist oder Technik/Mensch in die Irre führt. Das Problem ist vielmehr, wie man
Realisationen abzielt, in ihren Effekten unprognostizierbar. Das Problem scheint nun mehr und mehr in der in einen automatisierten Prozeß Alternativen und damit Entscheidungsnotwendigkeiten wiedereinführt — wie
Frage zu liegen, ob und wie bei zunehmendem Technikbedarf die typischen Merkmale von Technik immer man zum Beispiel einen Leser dazu bringt, zu merken, daß er gar nicht versteht, was er liest. Eine möglichst
noch und immer wieder gesichert sein können. Oder stößt die Technik als Form evolutionärer störungsfrei geplante und eingerichtete Technik hat genau darin ihr Problem, wie sie wieder zu Störungen
819
Errungenschaften an unüberwindbare Grenzen? kommt, die auf Probleme aufmerksam machen, die für den Kontext des Funktionierens wichtig sind. Und
Sucht man einen Begriff, der auf diese Situation und dieses Interesse paßt, dann könnte man daran immer, wenn man in technisierte Abläufe Entscheidungsnotwendigkeiten hineinkonstruiert, unterbricht man
denken, Technik als funktionierendeSimplifikation zu begreifen. Dabei kann es sich um Kausaltechnik oder die strikte Kopplung durch lose Kopplungen.
um Informationsverarbeitungstechnik handeln. Bei Kausaltechniken geht es nicht nur darum, daß man die Technik ermöglicht also (immer unter dem Vorbehalt, daß sie funktioniert) eine Kopplung völlig
Wirkungen von irgendwie eintretenden Ursachen erkennen und eventuell voraussehen kann; sondern die heterogener Elemente. Ein physikalisch ausgelöstes Signal mag Kommunikation auslösen. Eine
Ursachen selbst müssen "de-randomisiert", also dem Zufall entzogen und bei nahezu jedem Weltzustand Kommunikation mag ein Gehirn dazu bringen, die Betätigung von Schalthebeln zu veranlassen. Und all dies
820
produzierbar sein. Bei Informationsverarbeitungstechnik ist im Grenzfalle an Kalküle, jedenfalls an geschieht in (fast) zuverlässig wiederholbarer Weise. Technik wirkt mithin orthogonal zur operativen
Konditionalprogramme zu denken, die soweit redundant sind, daß man bei vorgesehenen Informationen Schließung autopoietischer Systeme. Das mag erklären, daß die gesellschaftliche Evolution auf Technik
rekurriert, um Kopplungen zwischen dem Gesellschaftssystem und seiner Umwelt sicherzustellen, an die dann
816
interne Prozesse der Informationsverarbeitung und die soziale Technisierung anschließen können. Darin liegt
Es soll natürlich nicht bestritten werden, daß die Unterscheidung alltagsweltlich nach wie vor Sinn gibt. Ein Bauer, der
versuchen wollte, eines seiner Felder mit Pellkartoffeln anzubauen, würde einen Kategorienfehler begehen.
817
The Education of Henry Adams: An Autobiography, Boston 1918, S. 339 f. 821
Vgl. auch Niklas Luhmann, Technology, environment and social risk: a systems perspective, Industrial Crisis Quarterly
818
Siehe neben Bijker et al. a.a.O. auch Alain Gras, Grandeur et Dépendence: Sociologie des macro-systèmes techniques, 4 (1990), S. 223-231.
Paris 1993. 822
Kap. 1 ...
819
Eine Art der Thematisierung dieser Fragestellung läuft heute unter dem Warntitel "Chaos". Danach sind technische 823
Siehe z.B. Robert B. Glassman, Persistence and Loose Coupling in Living Systems, Behavioral Science 18 (1973), S.
Vollzüge, oder auch mathematische Berechnungen von nichteliminierbaren Ungenauigkeiten abhängig, die, langfristig
83-98. Für soziale Systeme und sogar für Organisationen gilt Dasselbe. Vgl. Karl E. Weick, Der Prozeß des Organisierens,
gesehen, Abweichungen vom erstrebten Verlauf erzeugen.
dt. Übers. Frankfurt 1985, insb. S. 163 ff.; ders., Management of Organizational Change Among Loosely Coupled
820
Es leuchtet dann auch ein, wie sehr Technikentwicklung von Marktentwicklung abhängt, das heißt von einer Umwelt, in Elements, in: Paul S. Goodman et al. (Hrsg.), Change in Organizations: New Perspectives on Theory, Research, and
der man alles, was man braucht, kaufen kann und insofern zur Disposition (wenn auch nicht: auf Lager) hat. Practice, San Francisco 1982, S. 375-408. Die ältere Kybernetik (Ashby) hatte von Ultrastabilität gesprochen.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 239 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 240
827
kein Widerspruch zu den Theoremen der Theorie autopoietischer Systeme, denn auch Technik läßt sich nur beeinflußt. Es werden artifizielle Redundanzen geschaffen (es funktioniert oder es funktioniert nicht) mit
beobachten und nur einrichten, wenn ein System bestimmt, welche der unzähligen Elemente zu koppeln daran anschließender Varietät. Es werden neue Ziele, neue Werte, neue Kalkulationen, neue Fehler möglich.
824
sind. Technik ist nach all dem ein guter Beleg für unsere Ausgangsthese, daß operative Schließung Mehr und mehr Kommunikation kann sich auf ein Ausloten dieser spezifischen Art der Steigerung von
keineswegs kausale Isolierung bedeutet, wohl aber die Möglichkeit gewährt, systemintern durch Disposition Redundanz und von Variation beziehen und an den entsprechenden Erfolgen inspirieren. Aber die Urteile über
über eigene Elemente Kopplungen mit der Umwelt zu realisieren. Und darin liegt zugleich auch die Rationalität bleiben gebunden an genau diese Steigerungsform und können nicht auf gesamtgesellschaftliche
Möglichkeit, die eigene Empfindlichkeit gegenüber Störquellen aus der Umwelt zu dirigieren mit dem Risiko, Rationalität hochgerechnet werden. Das mag immer wieder eine Technikkritik motivieren, die jedoch ihrerseits
daß Wichtiges unbeachtet bleibt. hilflos wirkt, wenn die Gesellschaft Gründe (zum Beispiel militärische und wirtschaftliche) hat, die
Im Unterschied zum überlieferten, am Können, Handeln, Entscheiden orientierten Technikbegriff wird Exploration technischer Möglichkeiten zu bevorzugen.
damit nicht so sehr der Gewinn neuer Möglichkeiten und im Konzept der technischen Rationalität nicht so In den letzten beiden Jahrhunderten ist die Technikentwicklung enorm beschleunigt worden, vor allem
sehr die Wahl zwischen Alternativen betont; sondern es geht um Isolierung eines solchen Wahlbereichs. Die aber ist sie durch eine Zäsur markiert, die der Einsatz von Computern mit sich bringt. Das Maschinenkonzept
Welt — das sind nicht nur die Alternativen, innerhalb derer man annehmen und ablehnen kann. Sondern des 19. Jahrhunderts war an Energieeinsparung und Zeitgewinn orientiert gewesen. Ihm lag ein erweitertes
zunächst ist sie die Wildnis dessen, was gleichzeitig — und schon deshalb unkontrollierbar - geschieht: andere Handlungsschema zugrunde. Es beruhte auf der Vorstellung des menschlichen Körpers als Arbeitsenergie und
gleichzeitig reale Ursachen und Wirkungen, andere Quellen für Informationen. Gleichzeitigkeit ist Chaos. Die auf der Möglichkeit, den Transport von Dingen und Körpern zu beschleunigen. Das hat, wie oft gezeigt, in der
825
Ablösung von diesem Chaos erfordert daher immer zeitliche und räumliche Distanzierungen. Und vor aller zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung einer maschinenbasierten Großindustrie geführt. Der
Bildung technischer Formen, die in diese zeitlich-räumlich konstruierte (entchaotisierte) Welt eingelassen Computer hat, wie erst in jüngster Zeit deutlich wird, dies Konzept grundlegend geändert. Er hat die Technik
werden können, kommt es darauf an, Systeme zu bilden, die sich von jenen anderen Realitäten distanzieren, von Körpern und Dingen auf Zeichen verlagert, deren Sinn darin besteht, andere Zeichen zugänglich zu
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die sie als Umwelt behandeln können. machen. Das Zeitproblem liegt nicht mehr in der Notwendigkeit von Transporten, sondern in der
Dieser Begriff von Technik scheint auf den ersten Blick zu weit zu sein. Zum Beispiel läßt sich Notwendigkeit einer Sequenz von Befehlen, die erforderlich sind, um die unsichtbare Maschine im Computer
passionierte Liebe unschwer als funktionierende (aber dann dem Chaos ausgesetzte) Simplifikation begreifen. arbeiten zu lassen und ihre Ergebnisse sichtbar zu machen. Auf der Ebene eines universellen
Aber: dies war ja in einer Art mitlaufender Thematisierung immer schon mitgesehen worden; man denke nur Maschinenverbundes gibt es dann eine Gleichzeitigkeit, die aber durch Benutzeranfragen in Orte und
an das Don Juan Thema. Man muß nur den Begriff der Technik von jeder humanistischen Zeitpunkte aufgelöst werden muß. Die Eindeutigkeit der maschinellen Schaltvorgänge wird in die
Gegenbegrifflichkeit ablösen, denn diese Veränderung des Begriffs soll ja gerade die Möglichkeit bieten, neue Mehrdeutigkeit (Sinnhaftigkeit) der Verwendungszusammenhänge zurücktransformiert. Damit verlieren die
826
Zusammenhänge zu sehen. Mit der Form von Technik sind verschiedene Vorteile verbunden. Dazu alten Probleme des Energiesparens und des Zeitgewinns nicht jede Bedeutung, aber sie sind weder für die
gehören: Erweiterung des Bereichs möglicher Optionen; Vergleichbarkeit und Wiederholbarkeit Desselben in weitere Technikentwicklung noch für deren gesellschaftliche Auswirkungen entscheidend.
verschiedenen Situationen; damit verbunden: Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, zu lernen, zu verfeinern, Zumeist abhängig von Computern, aber auch unabhängig von ihnen, gibt es außerdem Tendenzen, die
also die Möglichkeit, eine Anfangsentdeckung in eine nicht mehr verbesserbare Form zu bringen; ferner: die Simplifikationen der Technik zu benutzen, um hochkomplexe technische Systeme zu bauen, die zwar
Bestimmbarkeit von Fehlern — sei es im design, sei es in der Operation; weiter: die Beschränkbarkeit des konstruiert sind, aber im Falle von Störungen schwierige Probleme der Analyse und Interpretation des
Input auf das Benötigte, also die Planbarkeit und Rationalisierbarkeit der Ressourcenzuweisung; und Vorfalls aufwerfen. Da die Technik kontinuierlich funktioniert, treten die Folgen einer Störung oft an ganz
schließlich vor allem: ein gewisses Maß der systemeigenen Kontrolle über die Außenbeziehungen, die das anderen Stellen im System auf und können sich kaskadenhaft vermehren. Die Kontrolle der technisierten
System sieht, mit der Umformung von Risiken der Ausdifferenzierung in Risiken der Technik. Durch Abläufe kann sich dann nicht auf Korrektur fehlerhaften Verhaltens oder auf Aussonderung fehlerhafter
Technisierungen werden mithin Generalisierungen und Spezifikationen in spezifischer Weise kombiniert, Produkte beschränken; es wird daher auch immer schwieriger, sie in der Form hierarchischer Aufsicht zu
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nämlich die Verwendbarkeit in sehr verschiedenen Situationen und in oft sehr verschiedenen organisieren. Es braucht mehr Intelligenz, und vor allem bei unerwarteten Vorfällen rasch verfügbare
Zweckzusammenhängen bei hoher Genauigkeit der Spezifikation von Funktionsbedingungen, Intelligenz, um Schäden abzuwenden. Weder über komplexe Regelsysteme, die dann extrem selten zum Zuge
Reparaturmöglichkeiten, Ersatznotwendigkeiten. Die Reichweite einer technischen Entwicklung — man denke kommen, noch über Anfrage höheren Orts sind diese Probleme zu lösen. In die Systeme müssen von vorherein
etwa an den Computer oder an die Laser-Technik — kann dann bestimmt werden durch das Ausmaß der Fehlertoleranzen oder, wenn es um Gefahren geht, redundante Sicherungen eingebaut werden.
Generalisierung und Diversifikation bei noch bestehender Spezifikation und Funktionssicherheit. Die universelle Verbreitung und die konkrete Präsenz von Technologien bieten die beste Erklärung
830
Wir wollen nicht von Evolution der Technik sprechen. Die technischen Entwicklungen orientieren sich dafür, daß heute so viel von "Innovation" geredet wird. Die Beobachtung funktionierender Technik ist eine
an vermeintlichen Verbesserungen und kommen sehr viel schneller zustande, als es für Evolution typisch wichtige Quelle für Ideen, was und wie man es anders machen könnte. Das erklärt zum Beispiel den oft
wäre. Man denke an den gegenwärtigen Gebrauch gentechnisch veränderter Organismen. Zur Evolution im festgestellten Einfluß von Praktikern und Kunden auf technische Entwicklungen. Selbst Organisationen
strengen Sinne kommt es erst, wenn die technischen Errungenschaften in eine natürliche oder gesellschaftliche werden, wenn es um Innovation geht, wie funktionierende Technologien betrachtet. Die konsolidierte
Umwelt eingefügt werden, ohne daß man voraussehen kann, was daraufhin geschieht. Vergangenheit ist als durchsichtige Gegenwart präsent und regt dazu an, zu überlegen, wie man durch
Die Bedeutung der Technik für die gesellschaftliche Evolution läßt sich zurückführen auf ein sehr
spezifisches Verhältnis von Redundanz und Varietät, das seinerseits die gesellschaftliche Kommunikation
827
Nicht zwingend, wird man zugeben müssen, wenn man den Ideenreichtum der griechischen Intellektuellen,
Mathematiker und Philosophen vergleicht mit dem sehr selektiven Ausmaß technischer Realisierungen (Architektur,
Theaterbau, der Tunnel des Eupalinos, Militärmaschinen mit zum Teil heute unbekannten Formen der Berechnung).
828
Üblicherweise spricht man nicht von Zeichen, sondern von Symbolen. Im Grunde paßt weder der eine noch der andere
824
Siehe von ganz anderen, netzwerktheoretischen und sozialkonstruktivistischen Ausgangspunkten her auch John Law, Begriff, wenn man die traditionellen Bedeutungen beibehält. Auch das zeigt die Reichweite der Veränderung an. Vielleicht
Technology and Heterogeneous Engineering: The Case of Portuguese Expansion, in Bijker et al. a.a.O. S. 111-134 (131): sollte man von Formen sprechen.
"... 'nature' reveals its obduracy in a way that is relevant only to the network when it is registered by the system builders." 829
"Obtrusive controls", liest man bei Karl E. Weick, Technology as Equivoque: Sensemaking in New Technologies, in:
825
Vielleicht im Sinne von time-space-distantiation — einen Begriff, den Anthony Giddens gern benutzt, allerdings nur zur Paul S. Goodman / Lee S. Sproull et al., Technology and Organizations, San Francisco 1990, S. 1-44 (34), ... require more
Charakterisierung der Moderne. Siehe: The Consequences of Modernity, Stanford Cal. 1990, insb. S. 14 f., 17 ff. observables than are ordinarily present with new technologies."
826 830
Und um nochmals daran zu erinnern: man kann natürlich die sich ergebenden Ähnlichkeiten durch hinzugesetzte Norman Clark / Calestous Juma, Long-Run Economics: An Evolutionary Approach to Economic Growth, New York
Unterscheidungen (hier: von Kommunikationsmedien) wieder auflösen. 1987, benutzen zum Beispiel die Begriffe innovation und technological change gleichsinnig.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 241 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 242

Änderungen bessere Ergebnisse erzielen könnte. Über den Begriff der Innovation wird diese Möglichkeit in Ausgeschlossenen, die von etwaigen Folgen betroffen sind. Denn was für die Entscheider ein Risiko ist, ist für
eine allgemeine gesellschaftliche Empfehlung hochtransformiert. Retrospektiv behandelt man dabei die die gegebenenfalls Betroffenen eine von außen kommende Gefahr, die aber in der Gesellschaft selbst, eben in
vorhandenen Abläufe wie eine realisierte Technologie, die noch gewisse Defekte oder der Entscheidung, ihren Ursprung hat und darauf zugerechnet wird.
Verbesserungsmöglichkeiten aufweist. Wenn man von technologischen Realisierungen abstrahiert, verliert Solange Solidarität benötigt wird und gefragt ist, orientiert man sich an absoluten Kriterien, deren
zugleich der Begriff der Innovation seinen Halt und nimmt eine ideologische Form an, die meint, Neues sei soziale Bedingtheit nicht thematisiert wird. Das sind Kriterien mit religiösem, moralischem oder tribalem
besser als Altes. (ethnischen) Gehalt. Auch sie wirken sozial diskriminierend, aber so, daß nach konform und abweichend
Inzwischen hat sich die Gesellschaft an Technik gewöhnt. Damit ist nicht gesagt, wie man zuweilen unterschieden wird und Abweichende als ungläubig, als Barbaren, als Heiden, als "saraceni" oder später dann
831
liest , daß die Gesellschaft selbst zu einer Art Technologie geworden ist. Eine solche These wäre empirisch als unvernünftig ausgeschlossen und ausgestoßen werden können. Ihnen gegenüber gibt es weder Solidarität
leicht zu widerlegen. Sie widerspricht auch jeder Alltagserfahrung. Nur die Abhängigkeit von funktionierender noch moralische Verpflichtungen. Die Umstellung auf Risikoperspektiven ändert diese Form der
Technik hat zugenommen mit der Folge, daß ein Zusammenbruch der Technik (insbesondere der Diskriminierung radikal. Jetzt liegen die Perspektivendivergenzen in der Gesellschaft. Sie spalten im Hinblick
Energieversorgung) auch zu einem Zusammenbruch der uns vertrauten Gesellschaft führen würde. Die auf die Zukunft die Gesellschaft mit jeweils wechselnden Besetzungen in Entscheider und Betroffene; und was
Technikentwicklung hat, anders gesagt, zu zahllosen nichtnatürlichenSelbstverständlichkeiten geführt. Wir für die einen rational ist, ist für die anderen ein überzeugender Grund für Protest und Widerstand. Auch jetzt
gehen davon aus, daß das Wasser nachläuft, wenn wir die Toilettenspülung betätigen. Das wiederum hat gibt es noch neu sich bildende Solidaritäten, aber sie nehmen fundamentalistische Züge an. Sie entstehen im
eigentümliche Abhängigkeiten zur Folge. "Je mehr Optionen wir uns erschließen, desto weniger steht das Bewußtsein des eigenen religiösen oder ethnischen Anderssein; aber dies in einer Weltgesellschaft, von der
institutionelle (und hier wäre einzufügen: vor allem das technische) Gerüst, mit dessen Hilfe man sich, was Kommunikation, Versorgung und eben auch Technik angeht, abhängig weiß.
832
wir sie uns erschließen, selbst zur Option". Genauer kann dieser Sachverhalt mit Hilfe des Begriffs der Außerdem sprengen technische Verkettungen in Massenproduktion, Verkehr und Versorgung mit
strukturellen Kopplung beschrieben werden. Das heißt: in allen gegenwärtigen Operationen muß die Energie und Information die traditionellen regionalgesellschaftlichen Grenzen. Neben und im
gesellschaftliche Kommunikation Technik voraussetzen und sich auf Technik verlassen können, weil in den Zusammenwirken mit Raumgrenzen auflösender funktionaler Differenzierung gehören Technikentwicklungen
Problemhorizonten der Operationen andere Möglichkeiten nicht mehr zur Verfügung sind. Und der Zeitbedarf zu den wichtigsten Bedingungen, die ein "global system" in der Form einer Weltgesellschaft unausweichlich
835
der Ablösung von Technik durch Einleitung regredierender Entwicklungen wäre derart groß und die gemacht haben. Das heißt in unserem Zusammenhang, daß man bei der Bewältigung von
sachlichen Konsequenzen wären derart gravierend und im einzelnen unabschätzbar, daß eine Umstellung auf Technikfolgenproblemen immer weniger auf ethnische oder nationale Solidaritäten oder
andere Außenhalte der Gesellschaft praktisch ausgeschlossen ist. Interessenbündelungen rechnen kann. Politisch gesehen gibt es völlig neue Droh- und Sanktionspotentiale, die
Diese Abhängigkeit von Technik hat zur Folge, daß die strukturelle Kopplung von physikalischer Welt darin bestehen, daß Regionen von den Vorteilen technischer Versorgung abgeschnitten oder umgekehrt: die
und Gesellschaft nicht mehr mit dem Begriff der Natur erfaßt werden kann, so als ob es eine in der Natur Mitwirkung an ökologisch kontrollierten oder weniger riskanten Technikentwicklungen verweigern.
fundierte analogia entis gäbe. An die Stelle des Naturbegriffs treten in diesem Zusammenhang die Wohlwollende Beschreibungen sprechen von Pluralismus oder von postmoderner Vielfalt der Diskurse.
Doppelbegriffe Energie/Arbeit und Energie/Ökonomie. Die Technik konsumiert Energie und leistet Arbeit und Aber damit wird nur die Sozialdimension thematisiert. Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß die Wurzeln des
verbindet auf diese Weise die physikalischen Gegebenheiten mit der Gesellschaft. Wie immer so dient auch Problems in der Zeitdimension und speziell in unterschiedlichen Formen der Vergegenwärtigung von
diese strukturelle Kopplung der Kanalisierung von Irritationen. Die Technik selbst definiert und verändert die Zukunftsungewißheit liegen. Die Technik ermöglicht und erzwingt Entscheidungen, die über eine ungewisse
Grenzen der Umwandlung von Energie in Arbeit. Die Risiken, auf die man sich dabei einlassen muß, nehmen Zukunft disponieren, und es ist nicht zu erwarten, daß man dafür Solidarität oder auch nur gemeinsame
zu, und die Zukunft hängt von Techniken ab, die derzeit noch nicht zur Verfügung stehen. Wertorientierungen gewinnen könnte.
Die sozialen Konsequenzen dieser durch Technik ausgelösten und durch organisiertes Entscheiden Im evolutionstheoretischen Kontext entspricht diesem Technikverständnis ein Verzicht auf
verstärkten Umstellung auf Risiken lassen sich kaum überschätzen. Die evolutionäre Errungenschaft Technik adaptionistische Konzepte. Technik ermöglicht keine immer bessere Anpassung der Gesellschaft an ihre
wird in eine Gesellschaft eingeführt, die darauf weder strukturell noch semantisch vorbereitet ist. In allen Umwelt, wie sie ist. Sie dient mit der Vermehrung von Optionsmöglichkeiten der Entfaltung der
Gesellschaften ist zwar die Zukunft in der jeweiligen Gegenwart noch ungewiß. In älteren Gesellschaften Eigendynamik des Gesellschaftssystems. Deshalb bleibt der Begriff völlig offen für die Frage, wie es
konnte diese Ungewißheit jedoch als von außen kommende Gefahr vergegenwärtigt werden. Das führte zur weitergeht. Warnzeichen im Bereich der riskanten Hochtechnologien sind nicht mehr zu verkennen. Erst recht
833
Prämiierung sozialer Solidarität , die gleichsam ein Sicherheitsnetz für die Bewältigung etwaiger Gefahren bleibt fraglich, ob sich angesichts der durchgehenden Energieabhängigkeit der gesamten Technik immer
834 836
bot. Wenn es dagegen um Risiken geht , die die Gesellschaft sich durch Entscheidungen einhandelt, die als wieder Techniken finden werden, die eine ausreichende Energieversorgung garantieren. Und es ist nicht
rational gelten, weil sie notwendig sind, um Gelegenheiten zu nutzen oder um Schlimmeres zu verhüten, auszuschließen, daß bei einer weiteren Evolution der Technik das Chaos die Technik einholen wird.
kommt es zu genau entgegengesetzten Konsequenzen. Es kommt dann zu Konflikten zwischen Entscheidern Deshalb führen Technikbegriffe, die im Gegenbegriff auf Natur oder auf Geist oder Mensch abstellen,
und Betroffenen, zwischen den zumeist in Organisationen errechneten Risikokalkulationen und den davon heute nicht weiter. Die eigentlich spannende Frage ist vielmehr, ob die Errungenschaften der Technik nach
einer Logik der Evolution irreversibel sind und jeder Ausfall daher nur durch neue Techniken kompensiert
831 werden kann; oder ob Technik wie ein Vorrat von Möglichkeiten zu begreifen ist, auf die man bei Bedarf
Siehe z.B. Kurt Klagenfurt, Technologische Zivilisation und transklassische Logik: Eine Einführung in die
Technikphilosophie Gotthard Günthers, Frankfurt 1995, S. 19 zum Stichwort "technologische Zivilisation". Vgl. auch Ernst
jederzeit wieder zurückgreifen kann. Unter derzeit gegebenen ökonomischen Bedingungen spricht viel für
Kotzmann (Hrsg.), Gotthard Günther — Technik, Logik, Technologie, München 1994, insb. S. 33 f. Irreversibilität, gegeben die Knappheit der Ressourcen und die unübersehbar hohen Kosten einer
832
Rückentwicklung (im Vergleich zu besser kalkulierbaren Chancen und Kosten einer Neuentwicklung). Aber
So Claus Offe, Die Utopie der Null-Option: Modernität und Modernisierung als politische Gütekriterien, in: Johannes
Berger (Hrsg.), Die Moderne — Kontinuität und Zäsuren, Sonderband 4 der Sozialen Welt, Göttingen 1986, S. 97-117
dies sind ökonomische Argumente, von denen heute niemand sagen kann, ob sie einer künftigen Evolution des
(104).
833
wenngleich nicht unter diesem Begriff, der erst im 19. Jahrhundert in Mode kommt. Dazu Giuseppe Orsi et al. (Hrsg.),
Solidarität, Rechtsphilosophische Hefte IV, Frankfurt 1995. In der alteuropäischen Semantik hätte man eher von
835
philía/amicitia gesprochen. Vgl. (noch im Sinne größerer regionaler Komplexe) James D. Thompson, Technology, Polity, and Societal
834 Development, Administrative Science Quarterly 19 (1974), S. 6-21.
Zur Unterscheidung Gefahr/Risiko ausführlicher Niklas Luhmann, Risiko und Gefahr, in ders., Soziologische
836
Aufklärung Bd. 5, Opladen 1990, S. 131-169; ders., Soziologie des Risikos, Berlin 1991, insb. S. 9 ff. Vgl. auch Klaus Diese Frage wurde schon im 19. Jahrhundert diskutiert. Siehe W. Stanley Jevons, The Coal Question: An Inquiry
Peter Japp, Soziologische Risikotheorie: Funktionale Differenzierung, Politisierung und Reflexion, Weinheim 1996, S. 61 Concerning the Progress of the Nation, and the Probable Exhaustion of our Coal-mines (1865), zit. nach der 3. Aufl.
ff. u.ö. (1906), Nachdruck New York 1965, insb. S. 158 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 243 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 244

Gesellschaftssystems standhalten oder durch Notwendigkeiten ausgeschaltet werden, wenn die Energie zur ihrer Gegenstände, die entweder wahr oder unwahr, entweder zutreffend oder unzutreffend beobachtet und
837
Versorgung der Technik nicht mehr ausreicht. beschrieben werden. Sie liegt vielmehr ausschließlich in der Realität der Beobachtungsoperationen selbst,
Im Zeitalter der Dampfmaschine war nicht der Dampf das Problem gewesen, sondern die Maschine. das heißt im Austesten eines Widerstandes, der nicht in einer gegenständlichen Außenwelt liegt, sondern
Dies scheint sich zu ändern, wenn mehr und mehr die Betriebsbedingungen der Technik und mit ihnen die ausschließlich in der rekursiven Vernetzung der Systemoperationen selbst. Man könnte auch sagen: im
Erzeugung von Energie zum Problem werden wird. Die jetzt erforderliche Kosmologie war schon mit dem erfolgreichen Abarbeiten von Irritationen, die als solche noch keine Informationen über die Umwelt enthalten.
Entropiegesetz angezeigt. Für die Gesellschaftstheorie und ihren Begriff der Evolution liegt das entsprechende So wie Beobachtungen Operationen besonderer Art sind und darin ihre Realität haben, so sind
Problem in der Reproduktion unwahrscheinlicher Strukturen. Semantiken Strukturen besonderer Art. Man muß deshalb, im Anschluß an die Unterscheidung zwischen
Operation und Beobachtung, die entsprechenden Strukturen unterscheiden: die Strukturen der
Systemdifferenzierung und die semantischen Strukturen, die bewahrenswerten Sinn identifizieren, festhalten,
erinnern oder dem Vergessen überlassen. Als Beobachtungen sind die Operationen, die Semantiken
X. Ideenevolutionen kondensieren und konfirmieren, für ihr eigenes Operieren blind. Denn sie können nicht sich selbst beobachten,
841
ohne damit auf die Paradoxie der Einheit des Differenten aufzulaufen. Andererseits kann die Tatsache, daß
Bisher hatten wir von gesellschaftlicher Evolution im Singular gesprochen, ungeachtet der Tatsache, daß Operationen Differenzen produzieren, von einem Beobachter beobachtet und beschrieben werden; und das gilt
842
es in älteren Zeiten viele Gesellschaften gegeben hat, die nach der Art einer Spezies oder Population auch für Differenzen, die durch andere Beobachtungsoperationen erzeugt werden. Das Verhältnis von
miteinander evoluierten und gleichsam den variety pool für die gesellschaftliche Evolution darstellten. Davon Operation und Beobachtung ist mithin doppelt zirkulär, und die beiden Zirkel bleiben durch Latenzen
zu unterscheiden ist die Frage, ob es innerhalb eines Gesellschaftssystems noch weitere Evolutionen geben getrennt. Einerseits sind Beobachtungen Operationen, die die operierende Systeme autopoietisch
kann, also weitere Anwendungsfälle von ungeplanten Strukturänderungen mit Hilfe einer Differenz von reproduzieren, sich aber nicht selbst beobachten können. Und andererseits lassen sich alle Operationen durch
Variation, Selektion und Restabilisierung. Wenn es solche Evolutionen gibt, müßte man, da sie in der darauf abzielende Beobachtungen beobachten, denn sonst wüßten wir nichts von ihnen.
Gesellschaft nicht unabhängig von der Gesellschaft stattfinden können, ein Verhältnis der Co-evolution Dieser Doppelzirkel wirkt sich bei der Morphogenese, beim evolutionären Aufbauen, Diversifizieren und
annehmen und die Theorie der gesamtgesellschaftlichen Evolution auf diese weitere Komplikation Abbauen von Strukturen aus. Auf operativer Ebene entstehen Systemdifferenzierungen, die die
einstellen.
838 Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems im Inneren fortsetzen und mit Komplexität anreichern. Auf
Die Unterscheidung von Verbreitungsmedien der Kommunikation und Formen der semantischer Ebene entstehen Strukturen, die das Beobachten und Beschreiben dieser Resultate von Evolution
Systemdifferenzierung führt dazu, diese Frage in zwei verschiedene Unterfragen zu spalten. Das Thema dieses steuern, das heißt: mit Unterscheidungen versorgen. Die Semantik benötigt Latenzen. Ihre eigene
Abschnittes ist: ob die Absonderung schriftlicher Kommunikation Anlaß zu einer eigenständigen Evolution Selbstbeschreibung muß das, was sie beschreibt, unterscheiden, ohne dabei die Einheit des Unterschiedenen in
839
der schriftlich fixierten, tradierten und eben dadurch variablen Semantik gibt. Wir wollen dies als die Beschreibung einbeziehen zu können. Dies hat zur Folge, daß sich Divergenzen einstellen zwischen der
840
"Ideenevolution" bezeichnen. Im nächsten Abschnitt werden wir dann der Frage nachgehen, ob es eine Evolution der Systemdifferenzierung und der Beschreibung ihrer Resultate. Die Strukturbrüche, die die
eigenständige Evolution auch auf der Ebene gesellschaftlicher Teilsysteme geben kann. Für beide Fragen ist Evolution neuer Formen von Systemdifferenzierung erzeugt, werden im Umbruch selbst nicht beobachtet und
der gegenwärtige Wissensstand mehr als dürftig. beschrieben, weil nicht miterfaßt werden kann, wie sich das Neue unterscheidet. Die Semantik gewährt der
Die Abspaltung einer besonderen Ideenevolution geht, ungeachtet der konkreten historischen strukturellen Innovation eine gewisse Schonzeit, bis sie soweit gefestigt ist, daß sie als Ordnung aus eigenem
Bedingungen ihrer Ermöglichung, letztlich auf den Unterschied zwischen Operation und Beobachtung zurück. Recht behauptet werden kann. Und auch sonst gibt es zahlreiche zeitliche Inkongruenzen zwischen
Da alle Beobachtungen sich nur in der Form des faktischen Operierens (hier: Kommunizierens) verwirklichen systemstruktureller und semantischer Evolution — unter anderem auch der Art, daß in der Semantik
können, kommt es auf dieser Ebene zu einer operativen Schließung des Gesellschaftssystems mit der Ideenerfindungen gelernt und getestet werden, bevor sie im strukturellen Kontext von Ausdifferenzierungen
843
Möglichkeit von evolutionär divergierenden Strukturbildungen. Diese werden durch weitere operative eingesetzt werden.
Schließungen innerhalb des operativ geschlossenen Gesellschaftssystems in Gang gebracht. Wir werden das Dieser Überlegungsgang führt zu der Frage, ob man auch im Bereich der semantischen Strukturen von
unter dem Gesichtspunkt der Systemdifferenzierung im nächsten Kapitel ausführlicher behandeln. Evolution sprechen kann und was die gesellschaftsgeschichtlichen Bedingungen gewesen sind, die eine
Andererseits ist Kommunikation nur als beobachtende Operation möglich. Sie ist darauf angewiesen, daß der Eigendynamik von Ideenevolution freigesetzt haben.
Sinn der Differenz von Mitteilung und Information verstanden und damit für weitere Kommunikation Geht man davon aus, daß im Kontext des autopoietischen Sozialsystems Gesellschaft Kommunikation
aufbereitet wird. Auch Beobachtungen sind durchaus reale Ereignisse, also Operationen. Sie können sich nur dazu dient, Kommunikation zu reproduzieren, muß man mit Situationen rechnen, in denen die bisherige
in operativ geschlossenen Systemen anschlußfähig realisieren. Andernfalls kämen sie gar nicht vor. Ihr Weise, dies geschehen zu lassen, nicht mehr genügt. Strukturen werden als Tradition reproduziert, aber die
Realitätswert liegt deshalb nicht, wie die gesamte an Erkenntnis interessierte Tradition annahm, in der Realität aktuellen Bedingungen lassen erkennbar werden, daß die traditionsbestimmten Strukturbeschreibungen nicht
mehr passen. Es entsteht eine Diskrepanzerfahrung: Die Möglichkeiten gegenwärtiger Reproduktion tragen
844
nicht mehr das, was zu reproduzieren ist. Zeitbrüche führen zu einer sachlichen Differenzierung. Aus
837
Die Voraussetzungen und Grenzen einer wirtschaftswissenschaftlichen Analyse werden sichtbar bei Richard L. Gordon,
solchen Anlässen werden Unterschiede zwischen Sozialstruktur und Semantik sichtbar. Die Semantik gerät
An Economic Analysis of World Energy Problems, Cambridge Mass. 1981.
838
Anhand konkreter Fallstudien sind solche Probleme der Co-evolution behandelt in: Niklas Luhmann,
Gesellschaftsstruktur und Semantik, 4 Bde., Frankfurt 1980, 1981, 1989, 1995. 841
Vgl. Heinz von Foerster, Das Gleichnis vom blinden Fleck: Über das Sehen im allgemeinen, in: Gerhard Johann Lischka
839
Es geht also nicht, das sei zur Klarstellung angemerkt, um die allgemeine Bedeutung von "Kultur" für gesellschaftliche (Hrsg.), Der entfesselte Blick: Symposion, Workshops, Ausstellung, Bern 1993, S. 14-47.
Evolution. Dazu hatten wir bereits oben .... Stellung bezogen. Und es geht auch nicht um die Entwicklung von kulturellen 842
Hierzu Niklas Luhmann, Wie lassen sich latente Strukturen beobachten? in: Paul Watzlawick / Peter Krieg (Hrsg.), Das
Artefakten schlechthin, etwa von Markierungen, die wir heute als Stile bezeichnen würden. Speziell hierzu (mit dem
Auge des Betrachters — Beiträge zum Konstruktivismus: Festschrift Heinz von Foerster, München 1991, S. 61-74.
Ausdruck Evolution, aber ohne evolutionstheoretischen Apparat) Margaret W. Conkey, Style and Information in Cultural
843
Evolution: Toward a Predictive Model of the Paleolithic, in: Charles L. Redman et al. (Hrsg.), Social Archeology: Beyond Ein Beispiel dafür habe ich vorgestellt in: Niklas Luhmann, Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität, Frankfurt
Subsistence and Dating, New York 1978, S. 61-85. 1982.
840 844
Im 19. Jahrhundert hätte man eher von kultureller Evolution gesprochen und diese von der Evolution von Populationen Eine gute Fallstudie hierzu ist Aldo Schiavone, Nacita della Giurisprudenza: Cultura aristocratica e pensiero giuridico
unterschieden. Siehe z.B. Edward B. Tyler, Primitive Culture, 2 Bde., London 1871. nella Roma tardo-repubblicana, Bari 1976.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 245 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 246

damit unter Anpassungsdruck, sie ermöglicht aber auch die vorzeitige Fixierung von Ideen, die erst später gerade hier ihre Verankerung und die Bedingung der Möglichkeit rhetorischer Verwendung gehabt hatte, aus
845
sozialen Funktionen zugeordnet werden. Prinzipien heraus neu formuliert werden muß. In der Theologie wachsen, je mehr sie publiziert, Zweifel an der
Das kann nur geschehen, wenn genügend Gedächtniskapazitäten gegeben sind, wenn also die alten Quaestionentechnik, das heißt an der Möglichkeit, bei einem Widerspruch von Meinung und
851
Gesellschaft in ausreichendem Maße über Schrift verfügt. In der Ideenevolution markierten die Erfindung und Gegenmeinung immer eine mit Autorität vertretbare Lösung angeben zu können. Auch die
Verbreitung von Schrift den Ausgangspunkt für eine eigenständige Evolution und der Buchdruck die Zäsur, Vergleichsmöglichkeiten nehmen zu. Man kann verschiedene Bücher nebeneinanderlegen und fast gleichzeitig
852
die tiefgreifende semantische Umstellungen auslöst. Vor der Einführung von Schrift ist Sinn so konkret lesen. Damit entsteht eine neue Unübersichtlichkeit und der Bedarf für methodischen Zugriff. Um 1600
instituiert, daß es die spezifische Form der Stabilität (eben schriftliche Fixierung) nicht gibt, an der eine beginnt das Wort "System" seine Karriere - zunächst als Buchtitel und zur Ankündigung der Absicht, ein
853
Sonderform von Variation ansetzen kann. Die semantischen Strukturen ändern sich durch Adaptierung ihres Buch mit einer ordentlichen Stoffgliederung zu verfassen. Wie immer, wenn die Kontrollkapazität gesteigert
Gebrauchs an Situationen und durch Vergessen. Soweit es schriftlich fixierte Ideen schon gibt, können diese wird, nimmt zunächst die Macht der Vergangenheit über die Gegenwart zu; denn "contrarotulare" heißt: in der
nur störend auf Institutionen, Rituale, interpretierte Situationen einwirken, die auf schriftlose Kommunikation Vergangenheit fixierte Texte mit gegenwärtigen Informationen zu vergleichen. Eben dies macht es aber auch
846
eingestellt sind. Nach der Erfindung der Schrift wird der Primat oraler Tradierung (vor allem in der Lehre) möglich, Neues zu erkennen und zu goutieren. Die Unterscheidung neu gegen alt (moderni/antiqui) wird aus
854
noch über Jahrtausende beibehalten, aber die Schrift selbst stellt so neuartige Anforderungen an die dem Kontext der Lobesreden, in dem sie beheimatet war , ausgegliedert und auf die Geschichte bezogen,
855
Explikation des (allein aus dem Text heraus zu verstehenden) Gedankenguts, daß sie neue Worte, neue also temporalisiert.
Begriffe, Ideen über Ideen (also "Philosophie") absondert. Trotz des Primats der oralen Tradierweise und Gerade die schriftliche, im Buchdruck für anonyme Leser erreichbare Fixierung von Gedankengut hat
obwohl man nicht wirklich (vor allem nicht: begrifflich!) realisiert, daß Schreiben und Lesen Kommunikation einerseits das Gewicht einer Tradition und hat die Macht des (zu unterstellenden) Bekanntseins für sich; sie
ist, sprengt diese Erfindung die Alleingewalt der mündlichen Rede. Die Auswirkungen lassen sich vor allem in bietet andererseits aber auch den Anreiz, andere Einstellungen zum selben Sachverhalt oder zum selben
847
der religiösen Ideenwelt verfolgen. Zunächst findet man jedoch noch wichtige Beschränkungen des Problem zum Ausdruck zu bringen. Man kann im Gedruckten latente Potentialitäten für andere Meinungen
Schriftgebrauchs, auch in der Oberschicht und in den Städten. Teils liegen sie in der Beschränkung auf entdecken und aktualisieren. Und dies vor allem dann, wenn zugespitzte (vor allem politisch zugespitzte)
848 856
Spezialrollen , teils in der Beschränkung auf sonst nicht mehr übliche Gelehrtensprachen (Sanskrit, im Situationen einen instrumentellen Gebrauch solcher Innovationen nahelegen. So fand man zum Beispiel in
Mittelalter: Latein), die für eine angemessene Ausdrucksweise unentbehrlich zu sein scheinen und so mit der der politischen Kritik der Ausnutzung parlamentarischer Souveränität durch das Londoner Parlament
Form der Ideen selbst zur Einheit verschmelzen. In einigen Gesellschaften entstehen daraufhin kulturelle Eliten hinreichenden Anlaß, das Wort "unconstitutional" in die Diskussion einzuführen mit unabsehbaren
mit einem problematischen (zumeist religiös abgesicherten) Verhältnis zu der vorherrschenden askriptiven Konsequenzen für die dann notwendige Unterscheidung von illegal und unconstitutional, für Gewaltenteilung,
849 857
Statusordnung. Nur in dem Maße, als diese sozialstrukturellen Beschränkungen des Schriftgebrauchs civil rights, Verfassungsgerichtsbarkeit (judicial review) und anderes mehr. Aber dabei mußte man ein aus
abgebaut werden, kann es zu steigenden Ansprüchen an die Plausibilität von Ideen und damit zu einer anderen Gründen bereits eingeführtes, vom römischrechtlichen Sprachgebrauch abweichendes Verständnis
intensiveren Co-evolution von Schriftgut und Systemdifferenzierungen kommen. von "constitution" voraussetzen.
Die damit angebahnten, aber durch jene Beschränkungen inhibierten Möglichkeiten werden durch die
Druckpresse abrupt freigegeben. Vor allem werden zusätzliche Kontroll- und Speicherkapazitäten gewonnen.
In weitestgehendem Ausmaß kann man nun erkennen, wieviel Wissen schon vorliegt. Nur wenige Jahrzehnte
noch wird man sich damit befassen, all die alten Hilfsmittel des Gedächtnisses, die Gemeinplätze, Zitate,
850
Redewendungen etc., also das was als Topik tradiert wurde, dem Druck zu übergeben ; nur um alsbald zu 851
Die Zweifel sind schon vor dem Buchdruck deutlich erkennbar, etwa bei William von Ockham. Im 16. Jahrhundert
erkennen, daß der Buchdruck dies unsinnig und überflüssig macht. Das heißt aber auch, daß die Moral, die gerinnen sie dann zur literarischen Form des Paradoxes, das heißt: der unaufgelösten Einheit von Meinung und
Gegenmeinung. Zu dieser Vorgeschichte der Renaissance-Lust am Paradoxieren vgl. A.E. Malloch, The Technique and
Function of the Renaissance Paradox, Studies in Philology 53 (1956), S. 191-203.
845
Vgl. das Kapitel über "seed-bed" societies in Talcott Parsons, Societies: Evolutionary and Comparative Perspectives,
Englewood Cliffs N.J. 1966, S. 95 ff.
852
846 Zu diesem Hintergrund der ihre Zeit sehr beeindruckenden "Dialektik" von Petrus Ramus vgl. Walter J. Ong, Ramus:
Eine glänzende Darstellung dieses Problems findet man in der "dichten Beschreibung" eines Begräbnisrituals und seiner
Method, and the Decay of Dialogue: From the Art of Discourse to the Art of Reason, Cambridge Mass. 1958. Inhaltlich
durch Ideen bedingten Störung bei Clifford Geertz, Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, dt.
geht es um eine Methode des Sequenzierens binärer Unterscheidungen, die man sich gerade heute noch einmal genauer
Übers. Frankfurt 1983, S. 96 ff. Ein anderes Beispiel: die Verlegenheit, die (in Platons Ion) der Philosoph dem Sänger
ansehen müßte.
bereitet, der noch eine auf Ergriffenheit, Besessenheit, Entrückung beruhende Schamanen-Kultur zu vertreten sucht. Und
853
merkwürdigerweise ist dies ein Philosoph, der der Schriftkultur skeptisch gegenübersteht. Siehe hierzu auch Heinz Siehe vor allem die Traktate zu verschiedenen Sachgebieten von Bartholomäus Keckermann, zugänglich in der
Schlaffer, Poesie und Wissen: Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philosophischen Erkenntnis, Frankfurt Gesamtausgabe Opera Omnia, Genf 1614.
1990. 854
Vgl. Robert Black, Ancients and Moderns: Rhetoric and History in Accolti's Dialogue on the Preeminence of Men of His
847
Hierzu wichtige Forschungen hat Walter J. Ong publiziert. Siehe: The Presence of the Word: Some Prolegomena for Own Time, Journal of the History of Ideas 43 (1982), S. 3-32. Siehe umfassender auch Elisabeth Gössmann, Antiqui und
Cultural and Religious History, New Haven 1967; ders., Communications Media and The State of Theology, Cross Moderni im Mittelalter: Eine geschichtliche Standortbestimmung, München 1974.
Currents 19 (1969), S. 462-480; ders., Interfaces of the Word: Studies in the Evolution of Consciousness and Culture, 855
Zu dieser viel diskutierten Wende vgl. etwa Richard F. Jones, Ancients and Moderns: A Study of the Rise of the
Ithaca 1977; ders., Orality and Literacy: The Technologizing of the Word, London 1982. Vgl. auch oben Kap. 2, ....
Scientific Movement in Seventeenth-Century England, 1936, 2. Aufl. St. Louis 1961; Herschel Baker, The Wars of Truth:
848
Talcott Parsons, Societies a.a.O., S. 51 f. spricht von "craft literacy". Zur gesellschaftlichen Rolle der "Schreiber" in Studies in the Decay of Christian Humanism in the Earlier Seventeenth-Century, Cambridge Mass. 1952, Nachdruck
Mesopotamien vgl. auch Gerdien Jonker, The Topography of Memory: The Dead, Tradition and Collective Memory in Gloucester Mass. 1969, insb. S. 79 ff.
Mesopotamia, Leiden 1965: sie übernehmen nach und nach die Pflege des sozialen Gedächtnisses und regulieren damit das 856
Dies Argument ist kennzeichnend für Quentin Skinner und seine Schule. Siehe methodologisch Quentin Skinner,
Verhältnis von Erinnern und Vergessen.
Meaning and Understanding in the History of Ideas, History and Theory 8 (1969), S. 3-53; ders., Motives, Intentions and
849
Darauf hat Eisenstadt verschiedentlich hingewiesen. Siehe z.B. Shmuel Noah Eisenstadt, Social Division of Labor, the Interpretation of Texts, New Literary History 3 (1972), S. 393-408; ferner z.B. James Farr, Conceptual Change and
Construction of Centers and Institutional Dynamics: A Reassessment of the Structural-Evolutionary Perspective, Constitutional Innovation, in: Terence Ball / J.G.A. Pocock (Hrsg.), Conceptual Change and the Constitution, Lawrence
Protosoziologie 7 (1995), S. 11-22 (16 f.). Kansas 1988, S. 13-34; ders., Understanding Conceptual Change Politically, in: Terence Ball / James Farr / Russell L.
850 Hanson (Hrsg.), Political Innovation and Conceptual Change, Cambridge, Engl. 1989, S. 24-49.
Siehe Joan Marie Lechner, The Renaissance Concepts of the Commonplaces, New York 1962, Nachdruck Westport
857
Conn. 1974; Ong a.a.O. (1967), S. 79 ff. Vgl. Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176-220.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 247 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 248
858
Diese Andeutungen haben hier vor allem den Zweck, erneut auf die Bedeutung der Zäsuren Ideenevolution auf Plausibilität und Evidenz ankommt. Trotzdem, und gerade stimuliert durch diese
hinzuweisen, die in der Einführung der Schrift und der Druckpresse liegen. Für eine Theorie der bemerkenswerte Autologie, müssen wir vorab fragen, warum dies so ist.
Ideenevolution (im Unterschied zu detaillierteren Untersuchungen zu ideengeschichtlichen Fragen) haben sie Plausibilität wird gewonnen durch Verwendung geläufiger Schemata oder Skripts im Sinne der heutigen
862
deshalb Bedeutung, weil sie die Trennbarkeit der evolutionären Funktionen und damit die Bedingungen der kognitiven Psychologie. Es handelt sich um Beschreibungen von etwas als etwas, aber auch um
Möglichkeit einer eigenständigen Ideenevolution betreffen. Dann bleibt aber noch zu klären, ob eine solche Kausalzuschreibungen, die bestimmte Wirkungen auf bestimmte Ursachen beziehen und dadurch moralische
Trennung von Variation, Selektion und Restabilisierung speziell für Ideenevolution überhaupt realisiert Urteile, Handlungsaufforderungen, Bewertungen provozieren. Schemata sind die Form, in die die
werden kann und welche Formen die einzelnen evolutionären Mechanismen in diesem Fall annehmen. Kommunikation Urteile gerinnen läßt und Gedächtnis kondensiert. Da aber Schemata ihren Gebrauch in der
Die Variation findet ihren Ansatzpunkt in der schriftlichen Fixierung des Materials und in den Kommunikation noch nicht determinieren, da sie jedenfalls nicht schematisch angewandt werden können,
Freiheiten, die man darin findet, daß man weder beim Schreiben noch beim Lesen der dichten Überwachung erklärt dieser Begriff noch nicht, wie in bestimmten historischen Lagen Plausibilität gewonnen und
durch ein Interaktionssystem ausgesetzt ist. Schrift ermöglicht sachbezogene, nahezu kränkungsfreie Kritik. gegebenenfalls umgearbeitet wird.
Beim Schreiben wie beim Lesen hat man außerdem mehr Zeit zur Verfügung als im Aktionsdruck der Vor dem Zeitalter der Massenmedien, die sich heute dieses Problems annehmen, hatte man in den
Interaktion. Im Verhältnis zum Text kommt es denn auch typisch zu seinem Aktivitätsüberschuß, der sich Denkformen der Skepsis und der Rhetorik hierfür bereits begriffsfähige Angebote entwickelt, die zugleich als
eher in kritische als in nur rezipierende Kommunikation entladen wird. Diese sehr hohe Argumente für die Evidenz der ontologischen Weltbeschreibung dienten. Die Skepsis galt als ausweglos, als
Abweichungswahrscheinlichkeit versickert allerdings rasch, da nur wenige, die lesen, darauf schriftlich oder scheiternd an ihrer eigenen Autologie. Die Rhetorik war die einzige Kommunikationsbeschreibung, deren
859 863
gar im Druck reagieren. Um so mehr wird dann die Erwartung, kritisch zu sein, an die herangetragen, die Selbstreflexion zugelassen war. Sie konnte sich als Rhetorik vorstellen und der praktischen Bewährung in
dazu berufen sind. Die Aufklärung wird von den gens de lettres getragen. der gegebenen Gesellschaft aussetzen. Es ist nach all dem kein Zufall, daß nach der Einführung des
Zu beachten ist ferner, daß sich bei schriftlicher Kommunikation die Bedingungen für die strukturelle Buchdrucks das Spiel mit Paradoxien, die Skepsis und die Rhetorik eine neue Blüte erfahren. Sie reicht vom
Kopplung von Bewußtseinsvorgängen und Kommunikationsvorgängen verändern. Da die Umwelt nur über 16. Jahrhundert bis ins 17. Jahrhundert hinein und verliert erst mit der beginnenden Selbsterfahrung der
Bewußtsein Kommunikation irritieren kann, kommt einer solchen Veränderung erhebliche Bedeutung zu. Sie modernen Gesellschaft im 18. Jahrhundert ihr Ansehen. Aber was ist an ihre Stelle getreten?
wirkt selektiv, denn die meisten Bewußtseinssysteme schalten sich beim Schreiben und Lesen von selber ab. Eine direkte semantische Nachfolge, und auch das ist für die Radikalität des Strukturbruchs
Sie wissen nicht weiter, sie ermüden, sie hören auf. Übrig bleiben auch hier Spezialisten, die das Umsetzen bezeichnend, ist nicht in Sicht. Statt dessen findet man eine Fülle von Unsicherheitsangeboten:
von Texten in Texte gekonnt betreiben, gleichsam als Annex des Kommunikationsprozesses, aber Mühe Kontingenzphilosophie, Relativismus, Historismus, ideologischer Unterscheidungsgebrauch sowie neuerdings
haben und inhaltliche wie stilistische Anstrengungen unternehmen müssen, um noch als Individuen erkennbar so desparate Angebote wie "Postmoderne" oder "Dekonstruktivismus", die zu belegen scheinen, daß es so
860
zu sein. nicht mehr geht und anders auch nicht. Man kann diese Auskünfte aber ersetzen durch die Unterscheidung
Es ist üblich, über diese Probleme im Schema von "Text und Interpretation" zu sprechen. Insbesondere von Paradoxie und Paradoxieentfaltung und durch die Analyse von historischen (=
seit dem Entstehen der neuen, nicht mehr im alten Sinne "grammatischen" Philologien im 18. Jahrhundert ist gesellschaftsgeschichtlichen) Bedingungen von Plausibilität und Evidenz.
das Verhältnis von Text und Interpretation Gegenstand einer eingehenden Sekundärreflexion geworden. Die Kognitive Schemata erfordern eine Abstimmung mit den ungeschriebenen Gegebenheiten der internen
darauf bezogenen Wissenschaftsansprüche firmieren als "Hermeneutik". Darauf können wir hier nicht in der und externen Umwelt des Gesellschaftssystems. So kann man in Adelsgesellschaften nicht gut bestreiten, daß
durch die Sache gebotenen Ausführlichkeit eingehen. Für das Problem der Variation im Bereich von der Adelige "besser lebt", also "besser ist" als der Bauer. Das sieht jedes Kind. Die Schranken technischer und
Ideenevolution ist jedoch wichtig, daß, darüber besteht Einverständnis, Text und Interpretation einander professioneller Kunstfertigkeit, die Unterschiede in den Arten der Dinge, der Himmel oben, die Erde unten —
wechselseitig stabilisieren. Auch nimmt man spätestens seit Gadamer an, daß hier eine immanente Zirkularität das alles wirkt als Rahmen, mit dem Plausibilitäten getestet und Extravaganzen abgeschnitten werden.
und nicht ein externes Subjekt den Ausschlag gibt. Wie in allen anderen Fällen evolutionärer Variation wird Plausibel sind Ideen, wenn sie unmittelbar einleuchten und im Kommunikationsprozeß nicht weiter begründet
also auch hier in erheblichem Maße für Stabilität abweichender Varianten vorgesorgt. Sie müssen, um werden müssen. Das gilt heute zum Beispiel für die jeweils kursierenden "Werte". Von Evidenz kann man
überhaupt in Frage zu kommen, dem Postulat der Einheit von Text und Interpretation genügen, sie müssen sprechen, wenn etwas unter Ausschluß von Alternativen einleuchtet. Wichtig ist, daß punktuelle
sich als Interpretationen des Textes ausweisen können. Zugleich läßt aber die Figur des hermeneutischen Bestätigungen dieser Art keineswegs zur Akzeptanz komplexerer Kommunikation zwingen. Den neuen,
Zirkels erkennen, daß damit noch nicht endgültig entschieden ist, ob und welche Ideen sich durchsetzen. Man industriebedingten Pauperismus konnte man am Anfang des 19. Jahrhunderts als fortschrittsbedingtes
kann darin einen Beleg dafür erkennen, daß sich auch hier eine Differenzierung der evolutionären Funktionen Naturgesetz akzeptieren, oder ihn als Konsequenz willkürlicher Herrschaft bekämpfen — aber nicht: ihn als
der Variation, Selektion und Restabilisierung durchgesetzt hat. Tatsache bestreiten. Ähnliches gilt für die heutige Diskussion ökologischer Probleme.
Während die Variation des Ideengutes weitgehend endogen geschieht durch Produktion von Texten aus In dem Maße, als die Zeit schneller läuft und strukturelle Änderungen sich häufen, werden nur situative
Texten, ist die evolutionäre Selektion auf Kriterien der Plausibilität oder, nochmals verstärkt, der Evidenz Evidenzen genügen. Der Prozeß gegen Galilei oder die Anlässe des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges,
861
angewiesen. Es erscheint zunächst als plausibel, ja geradezu als evident, daß es im Zusammenhang von das Erdbeben von Lissabon, das für Voltaire ein willkommener Anlaß ist, die Frage der Theodizee
aufzugreifen — ein Sichabstützen auf im Moment einsichtige Sachverhalte genügt der Selektion. Sie kann auf
858
Vgl. etwas ausführlicher oben Kapitel 2.....
dieser Grundlage dann allerdings nicht zugleich die Funktion der Restabilisierung mitübernehmen.
859
Infolge dieser Plausibilitätstests sind Selektionen in der Ideenevolution deutlich umweltabhängig und
Es fällt im übrigen auf, wie lange dies übersehen wurde und wie regelmäßig, auch und gerade im ersten Jahrhundert insofern Bedingungen unterworfen, die sie weder schriftlich noch argumentativ kontrollieren können. Aus
nach der Erfindung des Buchdrucks, der Leser vom Buch oder von dessen Autor angesprochen und aufgefordert wird, sich
zu äußern. Selbst im 18. Jahrhundert, selbst im Begriff der "öffentlichen Meinung" ist diese Erwartung noch gespeichert:
demselben Grund führt die Ideenevolution immer nur zu historischen Semantiken. Sie bleibt, wie wir
ein schlagender Beleg für die Radikalität der Veränderung, die sich dem Einblick entzieht und durch ein Kontinuieren von ausschnittsweise im 5. Kapitel zeigen wollen, von Sozialstrukturen abhängig, die durch die jeweils dominante
Erwartungen verdeckt wird, die nur für mündliche Kommunikation in Interaktionssituationen gelten können. Form der Systemdifferenzierung vorgegeben sind. Plausibilitäten vermitteln eine Art Realitätsindex, und wer
860 sich dem nicht fügt, hat wenig Chancen. Neuerungen müssen mit ihnen, nicht gegen sie, introduziert werden.
Gute Testmöglichkeiten bieten die Teilnahme an dem anonymisierten Gutachtersystem moderner (das heißt:
amerikanischer) Zeitschriftenredaktion. Gelegentlich, aber selten, kann ein Gutachter erraten, von wem der zugesandte
Beitrag stammt. Und fast immer sind es Zufallskenntnisse, die dazu verhelfen.
862
861 Siehe dazu Kap. 1 ....
Begriffsgeschichtliche Untersuchungen gibt es nur zu "Evidenz", aber es ist wohl fast überflüssig, darauf hinzuweisen,
863
daß hier die Licht- und Sichtmetaphorik und damit traditionelle Epistemologie eine Rolle gespielt haben. Vgl. W. Halbfaß Hier liegt übrigens einer der Gründe, weshalb der moderne textlinguistische Dekonstruktivismus eines Paul de Man sich
s.v. Evidenz, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2, Basel-Stuttgart 1972, Sp. 829-834. selbst als "Rhetorik" vorstellt. Denn das heißt: als autologiebereit.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 249 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 250

Immerhin steigert der Buchdruck die Komplexität des Möglichen so rasch und so weitreichend, daß Aussagen entwickeln sich bereits mit der Verbreitung von Schrift — aber das wirkt in beiden Richtungen:
869
Innovationen ihre Plausibilitäten ihrerseits seligieren können. Und außerdem kommt es in hohem Maße zur stabilisierend und bei Inkonsistenzen destabilisierend. Die darauf reagierende Bewegung der Skepsis, die
870
Selbstbefriedigung. Man zitiert und erweckt dadurch den Eindruck, daß bereits andere für Plausibilität gesorgt sich selber der Schrift verdankt , kann nur den Kopf schütteln, aber das nicht ändern. Erst nach dem
haben. Vor allem im 17. und 18. Jahrhundert vibriert die Literatur, die doch Neues anbieten soll, im Blick auf Buchdruck und erst im 17. Jahrhundert kommen die Dinge in Bewegung. Die Erfindung der Statistik hatten
dieses Problem. Die neue aphoristisch und fragmentarisch formulierte Moral ist deutlich auf das eingestellt, wir schon erwähnt. Sie macht deutlich, daß es im Unsicheren Formen der Gewißheit geben kann, die die alte
864 871
was in den Salons gefällt. Das gleiche gilt für die Manie der "portraits" und der "caractères". "Common Entgegensetzung von Dogma und Skepsis unterlaufen. Daraufhin werden (mit Aussparung der Religion)
865
sense" wird für eine Weile zum Wissenskriterium , und "Evidenz" wird zum Modewort, besonders der die Begriffe Dogma, Dogmatik, Dogmatismus, Dogmatizismus (man beachte die in der Reihe sich steigernde
872
Physiokraten. Entsprechend schlägt man vor, Lächerlichkeit als Kriterium einzusetzen, um plausible und Ablehnung) mit negativen Konnotationen besetzt. Parallel dazu relativiert man den gerade neu gefundenen
866 873
nichtplausible Kommunikation zu sortieren. Das alles sucht, wie man leicht erraten kann, noch eine Ordnungsbegriff des Systems und gibt ihm den Sinn einer rein subjektiven Projektion. Mit Shaftesbury
874
heimliche Rückversicherung in mündlicher Kommunikation. Erst die Parallelentwicklung von neuer kann man dann sagen: "The most ingenious way of becoming foolish is by a system". Besonders Ideen, die
Wissenschaftlichkeit und Romantik wird diese Diskussion beenden. "Fragment" hat für die Romantiker einen ihre Selektion nur situativ gegebenen Plausibilitäten verdanken, sind auf neuartige Formen der Stabilisierung
ganz neuen und prinzipiellen Sinn, nämlich den des Protestes gegen totalisierende Weltsichten. Und gerade die in beweglichen Systemen angewiesen. Sie überdauern die Gunst der Stunde — oder auch nicht. Jedenfalls
Romantik pflegt dann auch die Plausibilität des Unplausiblen. Damit wird die Disposition über Plausibilitäten können sie ihre Selektion nicht mehr auf eine stabile Weltordnung gründen. Aber dann liegt es nahe, das, was
der Schrift, dem Buchdruck und schließlich den Massenmedien überlassen. Die mündliche Kommunikation jeweils gilt, laufend auf Anlässe zu Neuerungen abzugreifen. Wie in der allgemeinen gesellschaftlichen
verliert mit der Oberschicht ihre Funktion als Kontrollinstanz. Evolution tendiert auch die Ideenevolution zum Kollaps, wenn sich zwar Variation, Selektion und
Plausibilität oder gar Evidenz läßt sich für semantische Strukturänderungen nur gewinnen, wenn Stabilisierung trennen lassen, aber eben deshalb die Differenz von Stabilisierung und Variation zu schwinden
hinreichend deutlich ist, auf welche Änderungen eine Änderung in der Begrifflichkeit reagiert. Zur Innovation beginnt.
867
ist ein nicht nur zeitliches, sondern auch sachliches Differenzbewußtsein erforderlich. Nur wenn diese Am Ende des 18. Jahrhunderts scheint auch die bisherige Form der Ideenevolution mit schriftbezogener
Voraussetzung erfüllt ist, lassen sich Diskontinuitäten markieren. Im Verlaufe rascher und tiefgreifender Varianz, plausibler oder evidenter Selektion und normativer bzw. dogmatisch-unbezweifelter Stabilität ihr
Strukturänderungen, wie sie etwa im Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung Ende erreicht zu haben. Die französische Revolution setzt ein überall sichtbares Signal; und obwohl sie
geschehen, ist eine dafür ausreichende Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung schwierig, wenn nicht gesellschaftsstrukturell wenig ändert, sind ihre Auswirkungen auf die Ideenwelt der folgenden Zeit kaum zu
875
unmöglich. Dann unterbleibt auch die Markierung der Diskontinuität. Statt dessen werden alte Namen überschätzen. In Königsberg und Berlin wird noch einmal versucht, die Welt der Ideen mit einem
weiterverwendet, zum Beispiel der Begriff des "Staates", eventuell mit Zusätzen wie "Verfassungsstaat" oder
"moderne Staaten", die die Substanz unangetastet lassen. Auf diese Weise kommt es zu Sinnanreicherungen,
869
die den Begriff schließlich undefinierbar machen. Die Ideenevolution kann der Strukturevolution nicht schnell Das unter dem Titel "Digesten" überlieferte römische Zivilrecht ist in beiden Hinsichten bemerkenswert. Es baut auf
genug folgen und verkraftet statt dessen eher Inkonsistenzen und, darauf bezogen, Unschärfen in der Referenz typisierten Fallentscheidungen auf, die sehr gut nebeneinander bestehen können, aber schließt die Fallentscheidung oft mit
der Begriffe. markigen Sprüchen oder allgemeinen Begründungsfloskeln, die im (mündlich arbeitenden) Ausbildungssystem des
Mittelalters dann gelernt und tradiert werden. Daraus ergeben sich neuartige Konsistenzsorgen, die die Legisten und
Die Stabilität von Ideen wird zunächst durch Normierung entsprechender Erwartungen an Dekretisten beschäftigen und zunächst wenig mit den gleichzeitigen Veränderungen in der Rechtspraxis selbst zu tun
Kommunikation und Verhalten ausgedrückt. Mit Hilfe von Normierungen kann man behaupten, daß etwas haben. Für Material siehe z.B. Rudolf Weigand, Irnerius bis Accursius und von Gratian bis Johannes Teutonicus, München
richtig ist, auch wenn es im Einzelfall nicht zutrifft oder verletzt wird. Gott und Teufel waren sich offenbar 1967.
868
darin einig, daß die Menschen anders nicht zurechtkommen. Selbst das, was die Natur fordert, wird 870
Vgl. dazu Jack Goody, Literacy, Criticism, and the Growth of Knowledge, in: Joseph Ben-David / Terry N. Clark
normativ vertreten, das heißt unbeirrt durch abweichende Fälle. Die Statistik, die Dasselbe auf andere Weise (Hrsg.), Culture and its Creators: Essays in Honor of Edward Shils, Chicago 1977, S. 226-243 (insb. 234).
leistet und es dadurch möglich macht, den normativen Naturbegriff aufzugeben, beginnt erst im 17. 871
Dies geschieht vor dem Hintergrund einer Wiederbelebung der antiken Skepsis seit der zweiten Hälfte des 16.
Jahrhundert in einer Gesellschaft, in der es zunehmend notwendig wird, mit künstlich erzeugten Plausibilitäten
Jahrhunderts. Vgl. hierzu Richard H. Popkin, The History of Scepticism from Erasmus to Descartes, 2. Aufl. New York
zu arbeiten. 1964; Henry G. van Leeuwen, The Problem of Certainty in English Thought, 2. Aufl. Den Haag 1970. Wichtige Beiträge
Wie in der allgemeinen gesellschaftlichen Evolution lassen sich auch in der Ideenevolution auch in: Benjamin Nelson, Der Ursprung der Moderne: Vergleichende Studien zum Zivilisationsprozeß, Frankfurt 1977.
Selektionsgesichtspunkte und Stabilitätsvorstellungen zunächst kaum trennen. Interessen an Konsistenz der Speziell zur Auflösung der Unterscheidung Dogma / Skepsis bei Hartley, Henry Home (Lord Kames), Condillac und
Condorcet Popkin a.a.O. S. 153.
872
864 Ein wichtiger Beitrag dazu ist ein Austausch des Gegenbegriffs. Bacon unterscheidet nicht mehr Dogma und Skepsis
Vgl. zu dieser bereits zeitgenössisch diskutierten Stilthematik Louis van Delft, Le moraliste classique: Essai de
(was zur Bestätigung des Dogmas führt), sondern Dogma und Erfahrung (was zur Ablehnung des Dogmas führt): "Those
définition et de typologie, Genf 1982, S. 235 ff.; Niklas Luhmann, Ethik als Reflexionstheorie der Moral, in ders.,
who have handled sciences have been either men of experiment or men of dogmas", heißt es in Novum Organum XCV, zit.
Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 358-447 (390 ff.).
nach Francis Bacon, Works Bd. 4, London 1860, S. 92.
865
Vgl. z.B. Claude Buffier, Traité des premières véritéz et de la source de nos jugemens, Paris 1724; Thomas Reid, An 873
Siehe Mario G. Losano, Sistema e struttura nel diritto Bd. 1, Torino 1968, S. 97 ff.; Friedrich Kambartel, "System" und
Inquiry into the Human Mind, sowie: Essays on the Intellectual Powers of Man, zit. nach: Philosophical Works, 8. Aufl.
"Begründung" als wissenschaftliche und philosophische Ordnungsbegriffe bei und vor Kant, in: Jürgen Blühdorn / Joachim
Edinburgh 1895, Nachdruck Hildesheim 1967, Bd. II, S. 742-803. Ferner, mit mondäner Weitschweifigkeit, Marquis
Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft: Zum Problem ihrer Beziehungen im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1969,
d'Argens, La Philosophie du bon-sens, ou réflexions philosophiques sur l'incertitude des connoissances Humaines, 3 Bde.,
S. 99-113. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß und wie der Systembegriff im Kontext eines neuen
zit. nach der Neuauflage Den Haag 1768.
Wissenschaftsverständnisses re-etabliert wird: als Konstruktion einer Vielheit aus einem einzigen Gesichtspunkt. So vor
866
Vgl. Jean Baptiste Morvan de Bellegarde, Réflexions sur le ridicule, et les moyens de l'éviter, 4. Aufl. Paris 1699. allem durch Johann Heinrich Lambert (siehe als neue Edition von Geo Siegwart: Johann Heinrich Lambert, Texte zur
Anthony, Earl of Shaftesbury, An Essay on the Freedom of Wit and Humour (1709), zit. nach ders., Characteristicks of Systematologie und zur Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis, Hamburg 1988) und dann mit größerer Breitenwirkung
Men, Manners, Opinions, Times, 2. Aufl. London 1714, Nachdruck Farnborough 1968, Bd. 1, S. 57-150. durch Kant.
867 874
Daß dies in der späteren linearen Geschichtsschreibung nicht miterinnert, sondern für sie rekonstruiert werden muß, Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, 2. Aufl. London 1714, Neudruck Farnborough 1968 Bd. 1, S. 290.
belegen mit vielen Einzeluntersuchungen Henk de Berg / Matthias Prangel (Hrsg.), Kommunikation und Differenz: 875
Die viel diskutierte Frage — vgl. z.B. R. Reichardt / E. Schmitt, Die Französische Revolution — Umbruch oder
Systemtheoretische Ansätze in der Literatur- und Kunstwissenschaft, Opladen 1993.
Kontinuität, Zeitschrift für historische Forschung 7 (1980), S. 257-320 - ob die französische Revolution etwas geändert hat
868
Vgl. den Epilogue in: Kenneth Burke, The Rhetoric of Religion: Studies in Logology (1961), zit. nach der Ausgabe und was, könnte von der Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur und Semantik und den entsprechenden Evolutionen
Berkeley Cal. 1970. profitieren.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 251 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 252

philosophischen Wissenschaftsbegriff neu abzusichern. Faktisch übernehmen jedoch die Ideenevolution dann wieder Phasen oder Epochen zu unterscheiden; jedenfalls nicht im Sinne einer
876
Reflexionsbemühungen der Funktionssysteme die Führung. Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Recht selbsterzeugten historischen Sequenz kultureller Epochen oder historischer Typen. Wenn man nachträglich
lassen jetzt, auch im historischen Rückblick, jeweils eigene Ideengeschichten schreiben. Wie weit diese dann geschichtliche Einteilungen dieser Art rekonstruieren kann, so liegt das ausschließlich an der
wieder innerhalb der Funktionssysteme einer eigenständigen Ideenevolution folgen, bedürfte besonderer sozialstrukturellen Evolution, und zwar genauer: an der Dominanz bestimmter Differenzierungstypen. Wir
881
Untersuchungen. Jedenfalls kann man auf gesamtgesellschaftlicher Ebene kaum noch von einer entsprechend werden noch sehen , daß sich diesen Differenzierungstypen bestimmte semantische Formen zuordnen lassen.
allgemeinen Ideenevolution sprechen. Aber das berechtigt nicht zu dem Schluß, daß eine eigenständige kulturelle Evolution parallel zur
Allgemeine Trendaussagen bleiben möglich. Vielleicht kann man mit Bernard Barber von Tendenzen zu sozialstrukturellen Evolution eine eigene Typensequenz erzeuge. Ideenevolution ist in ihrem
größerer Abstraktheit, stärkerer Systematisierung und größerer Umfassendheit der Ideenkomplexe Selektionsmechanismus ja auf "Plausibilität" angewiesen. Sie kann diese Plausibilität nur aus der
877
sprechen. Deutlich ist außerdem zu erkennen, daß die jetzt plausiblen Ideen und Begriffe mit mehr Beobachtung der Gesellschaft abziehen. Sie kann aus der Logik ihrer eigenen Festlegungen kritisches oder
Unordnung in der Umwelt des Gesellschaftssystems und in den gesellschaftsinternen Umwelten der innovatives Potential gewinnen und damit zu "preadaptive advances" führen. Oder sie kann ihren eigenen
Funktionssysteme des Gesellschaftssystems zurechtkommen müssen. Auf der Suche nach Festem und Traditionen noch folgen, wenn sie schon längst obsolet sind — so etwa die in der "bürgerlichen Gesellschaft"
Notwendigem werden immer neue Kontingenzen aufgedeckt bis hin zur Kontingenz der Naturgesetze selbst. nachhaltig gepflegte und mit Aufstiegshoffnungen verbundene Vorstellung, man lebe in einer stratifizierten
In vielen Bereichen, vor allem in Kunst und Literatur, gilt ein an sich selbst zweifelnder Individualismus Gesellschaft mit linearen Übergängen zwischen "unten" und "oben". Gerade diese zeitlichen Verschiebungen
geradezu als Symptom, wenn nicht als Wesen der Moderne, und entsprechend geraten Ideen unter den sind für eine hinreichend realistische Theorie der "soziokulturellen" Evolution wichtig. Aber das heißt nicht,
Anspruch, individuenfreundlich (unter anderem: nicht dogmatisch, konsenssuchend, lernbereit) formuliert zu daß die Semantik aus sich heraus, gewissermaßen "geistesgeschichtlich" oder ideenkausal, stark genug wäre,
sein. Referenzprobleme und Codeprobleme, also die Unterscheidungen Selbstreferenz/Fremdreferenz und Epocheneinteilungen zu produzieren. Sie beobachtet nur, was in der gesellschaftlichen Autopoiesis produziert
Unterscheidungen wie wahr/unwahr, gut/schlecht, Recht/Unrecht, lassen sich nicht mehr in Übereinstimmung wird — aber dies mit eigenen Unterscheidungen, konstruktiv und dekonstruktiv und darin eingeschlossen: mit
bringen — offensichtlich geworden am Scheitern des logischen Positivismus und dann auch der analytischen zeitbezogenen Begriffen wie "modern" oder Einteilungen wie Altertum/Mittelalter/Neuzeit.
Philosophie mit Versuchen, die Begriffsgruppen Referenz, Sinn und Wahrheit zu integrieren. Damit dürfe die
Annahme übereinstimmen, daß die Konvergenzpunkte, die Ideen zusammenhalten, in komplexer werdenden
878
Gesellschaften zunehmend in die Ferne rücken — oder, als Alternative, in die gesellschaftliche
Differenzierung eingebracht, also mitdifferenziert werden müssen. Wenn beide Wege zugleich beschritten XI. Teilsystemevolutionen
werden, kann im Vergleich zu älterer Literatur, mehr Universalität (vor allem unter Einbeziehung der
Geschichte) und mehr Genauigkeit zugleich realisiert werden. Auf ganz andere Probleme stoßen wir, wenn wir die Frage stellen, ob eine eigenständige
Seit kurzem haben diejenigen Strömungen, mit denen die Ideenevolution auf sich selber reagiert, den innergesellschaftliche Evolution mit Differenzierung von Variation, Selektion und Restabilisierung auch auf
nichtssagenden Titel der Postmoderne (Toynbee, dann Lyotard) erhalten. Das kann Verzicht auf umfassende der Ebene gesellschaftlicher Teilsysteme möglich ist. Auch hier wird unser Ergebnis historisch differenziert
Einheitsansprüche und Übergang zu radikal differentialistischen Konzepten bedeuten. Es dürfte sich damit ausfallen und gegenläufig zu dem Urteil über Ideenevolution. Teilsystemevolutionen beginnen erst mit der
bestätigen, daß das Ende der Dialektik auch durch eine negative Dialektik, die als Prinzip des Fortschritts das funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems, denn erst mit dieser Form von Differenzierung wird
879
Ende des Fortschritts verkündet, nicht aufgehalten werden kann. Auf die Überbietungslogik des Fortschritts auf der Ebene der Teilsysteme jene Kombination von operativer Geschlossenheit und hoher Eigenkomplexität
und seiner dies reflektierenden und desavouierenden Avantgarde kann zunächst einmal eine 882
erreicht, die der Differenzierung evolutionärer Funktionen einen ausreichenden Halt bietet.
Unterbietungslogik folgen. Das Vergangene wird seiner geschichtlichen Situierung und damit seinem Nur in wenigen Fällen, aber immerhin in einigen, hat man bereits versucht, die Begrifflichkeit der
Überwundensein, seiner Zeitgestalthaftigkeit entkleidet und spielerisch verwendbar, — in der Musik bei Evolutionstheorie auf Funktionssysteme der modernen Gesellschaft anzuwenden. Wissenschaftsgeschichtlich
Strawinski oder Schnittke, in der Sozialphilosophie bei den antikisierenden Antiliberalen (Carl Schmitt, Leo sind solche Versuche durch ein Zusammenbrechen älterer Theorievorstellungen ausgelöst worden, und zwar
880
Strauss, Alasdair MacIntyre) oder neuestens in so etwas wie civil society unter besonderer speziell durch Zweifel an der immanenten Rationalität des Gegenstandsbereiches. Das auffälligste Beispiel
Berücksichtigung der Frauen. Philosophen reagieren auf das Desaster aller neuzeitlichen Ethiken (Kant, bietet die evolutionäre Erkenntnistheorie für das Funktionssystem Wissenschaft. Schon am Ende des vorigen
Bentham, Scheler) — mit Aristoteles. Man könnte darin eine Mode vermuten, deren Höhepunkt vielleicht Jahrhunderts entwickelt sich hier, zusammen mit dem gleichzeitigen Pragmatismus, eine Alternative zum
schon hinter uns liegt. Aber es könnte auch sein, daß im ständigen Dekonstruieren und Rekonstruieren von Neokantianismus und zu logisch-methodologischen, auf Möglichkeiten der Deduktion abstellenden
Formen sich ein Sinn für Grenzen kombinatorischer Möglichkeiten, für ein Durchkonstruieren von 883
Theorien. Attraktiv scheint vor allem gewesen zu sein, daß die Legitimation des "Zufalls" Gelegenheit bot,
Zusammenhängen entwickelt. Und genau das würde erneut auf Evolution verweisen. Denn wer könnte sagen, Innovationen einzubeziehen und dem Korsett einer Methodologie zu entrinnen, die auf Kontrolle und nicht auf
wie das und was dann geschehen soll? Entdeckung eingestellt war. Infolgedessen richtete sich die Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf die
Im Unterschied zur älteren Unterscheidung von Populationsevolution (anwendbar auf Menschen wie auf Variationsfunktion. Auch bot die Evolutionstheorie mit ihrem Schema von Variation und Selektion eine
Tiere) und kultureller Evolution (nur menschliche Artefakte) erliegen wir nicht der Versuchung, innerhalb der Möglichkeit, den allen Erkenntnistheorien drohenden Begründungszirkel zu durchbrechen, ohne auf eine
fraglos selbstsichere Instanz, ohne also auf Vernunft rekurrieren zu müssen.
876
Auf die Entstehung solcher Reflexionstheorien kommen wir in Kapitel 5, .... zurück.
877
So in: Toward a New View of the Sociology of Knowledge, in: Lewis A. Coser (Hrsg.), The Idea of Social Structure: 881
Vgl. Kapitel 5 ...........
Papers in Honor of Robert K. Merton, New York 1975, S. 103-116.
882
878 Vorsorglich sei noch angemerkt, daß man diese Frage auch für stratifizierte Gesellschaften prüfen müßte im Blick auf
So in Anlehnung an den von Egon Brunswik entwickelten Begriff des "distal knowledge" Donald T. Campbell, Natural
die Möglichkeit einer eigenständigen Evolution des Teilsystems Adel. Ich traue mir in dieser Frage mangels ausreichender
Selection as an Epistemological Model, in: Raoul Naroll / Ronald Cohen (Hrsg.), A Handbook of Method in Cultural
Untersuchungen kein Urteil zu und kann, anders als im Falle einiger Funktionssysteme, auch nicht auf bereits laufende
Anthropology, Garden City N.Y. 1970, S. 51-85.
Forschungen zurückgreifen.
879
Siehe dazu David Roberts, Art and Enlightenment: Aesthetic Theory after Adorno, Lincoln Nebr. 1991. 883
Vgl. z.B. Georg Simmel, Über eine Beziehung der Selektionslehre zur Erkenntnistheorie, Archiv für systematische
880
Speziell hierzu Stephen Holmes, The Anatomy of Antiliberalism. Allerdings ist das leichte Spiel, das man mit diesen Philosophie 1 (1895), S. 34-45. Auch viele verstreute Bemerkungen von Charles S. Peirce gehören in diesen
Figuren hat, noch kein Beweis dafür, daß nicht auch der Liberalismus selbst dekonstruiert werden kann — sofern man nur Zusammenhang, z.B. in: Die Architektonik von Theorien, zit. nach: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus,
davon absieht, ihn "überwinden" zu wollen. Frankfurt 1976, S. 266-287.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 253 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 254

Nachdem die evolutionäre Erkenntnistheorie jahrzehntelang das Auf und Ab des "Darwinismus" Die neuere Theoriediskussion in den Wirtschaftswissenschaften, die evolutionstheoretischen
891
mitgemacht hat und selber ums Überleben kämpfen mußte, ist sie heute eines der wenigen übriggebliebenen Überlegungen starken Auftrieb gegeben hat, läuft auf eine Kritik der neoklassischen "Orthodoxie" hinaus.
Theorieangebote auf diesem Gebiet. Allerdings reicht die Ausführung von biologisch inspirierten Gerügt wird die Fixierung der herrschenden Meinung auf einen Zusammenhang von Gleichgewichtsmodellen
Erkenntnistheorien (die wir außer Acht lassen) über Theorien vom Typ Popper oder Kuhn, die nicht mit dem und Optimierungsstrategien, die ökonomisches Entscheidung nur als Reaktion, aber nicht als Innovation
Variation/Selektion-Schema arbeiten, bis zu den nicht sehr ausgearbeiteten Fällen von angewandter begreifen können. Daraus ergibt sich ein enger Zusammenhang zwischen Evolutionstheorie und Forschungen
884
allgemeiner Evolutionstheorie. Der Engpaß liegt im Augenblick sowohl in der unzureichenden Ausarbeitung über technologischen Wandel, der in der traditionellen Neoklassik nicht zufriedenstellend behandelt werden
einer allgemeinen Evolutionstheorie als auch in ungelösten Problemen des "Konstruktivismus" und, als konnte. Dabei kommt es zu einer Neufassung der alten Kritik an den gängigen Prämissen rationalen
885
Soziologe darf man das sagen, im ungeklärten Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft. Verhaltens. Auch der Verlust der historischen Dimension wird beklagt. Andererseits findet man bisher nicht
886
Auch für das Wirtschaftssystem gibt es seit etwa 40 Jahren Versuche, mit Mitteln der zu einer einheitlichen Gegenposition, zumal die Anlehnung an die neodarwinistischen Theorievorstellungen der
892
Evolutionstheorie zu arbeiten. Auch hier ist deutlich zu erkennen, daß der Zusammenbruch einer älteren Biologie überwiegend abgelehnt wird. Eine Diskussion zwischen nur reaktiven oder primär proaktiven
Theorie den Anstoß gegeben hatte, nämlich der Theorie der Preisbestimmung durch den Markt mit (kreativen) Theorieinteressen dürfte jedoch kaum ergiebig sein, denn beides bestätigt letztlich die
887
(quasi-)perfekter Konkurrenz. Dieser Ausgangspunkt erklärt, daß man nicht beim Wirtschaftssystem selbst Unprognostizierbarkeit von Evolution. Besonders überzeugt jedoch, daß Diversifikation der Interessenlagen
ansetzt, sondern bei den einzelnen Unternehmen und ihren Entscheidungen und deshalb Voraussetzung ist für Transaktionen, also für die Operationsform der Wirtschaft, und daß genau dies als
populationstheoretische Vorstellungen benutzt. Wenn ökonomische Entscheidungen nicht mehr im Ergebnis Resultat von Evolution zu erwarten ist.
durch den Markt festgelegt werden, sondern in den Unternehmen unter der Bedingung von mangelnder Für weitere Funktionssysteme sind evolutionstheoretische Forschungsansätze kaum aufzutreiben.
888 893
Information und Unsicherheit, drängt es sich auf, Entscheidungen wie Zufallsvariationen zu behandeln und Allenfalls das Rechtssystem wäre noch zu nennen , und auch hier liegt der Anlaß im Scheitern deduktiver,
die Selektion des Unternehmenserfolgs, das heißt der überlebenden Population, dem "natural selection" durch sei es naturrechtlicher, sei es analytischer, sei es "begriffsjuristischer" Vorgängertheorien. Es fehlt eine
889 894
den Markt zuzurechnen. Inzwischen sieht man allerdings, daß adaptive Strategien innerhalb der Firmen und evolutionstheoretische Behandlung des politischen Systems der modernen Gesellschaft , obwohl die
Selektion durch den Markt keine sinnvolle theoretische Alternative bilden, sondern daß immer beides Entwicklung zum und im Wohlfahrtsstaat hierfür gute Möglichkeiten bieten könnte.
zusammenwirkt. Diese Einsicht hat sich sowohl in der "population ecology" als auch in einem engeren Bei diesem Forschungsstand ist es schwierig zu bilanzieren. Wir müssen uns daher mit einigen Fragen
890
(spätdarwinistischen) Verständnis von ökonomischer Evolution durchgesetzt. Damit stößt man jedoch auf begnügen, die sich stellen, wenn man sich ernstlich mit Untersuchungen über eine Co-evolution des
Probleme des "structural drift", die mit den herkömmlichen Forschungsperspektiven, die mit Eintritt und Gesellschaftssystems und der in ihm ausdifferenzierten Funktionssysteme befassen würde. Und wir müssen
Ausscheiden von Firmen in die Population befaßt waren, nicht zureichend bearbeitet werden können. dabei auf Analysen über Systemdifferenzierung vorgreifen, die wir erst im folgenden Kapitel durchführen
können.
Der theoretische Ausgangspunkt hätte im Problem der gesellschaftlichen Verschachtelung operativ
geschlossener autopoietischer Systeme zu liegen, also in der Frage, wie es möglich ist, daß ein soziales System
884 in einem anderen eine eigene autopoietische Reproduktion auf der Basis operativer Geschlossenheit einrichten
Vgl. an Neueren zum Beispiel Stephen Toulmin, The Evolutionary Development of Natural Science, American Scientist
57 (1967), S. 456-471; ders., Human Understanding Bd. 1, Princeton 1972; James A. Blachowitz, Systems Theory and
kann. Nur soweit dies möglich und soweit auf dieser Grundlage in den Teilsystemen hinreichende
Evolutionary Models of the Development of Science, Philosophy of Science 38 (1971), S. 178-199; Donald T. Campbell, Eigenkomplexität entsteht, kann eine Differenzierung von Variation, Selektion und Restabilisierung Halt
Evolutionary Epistemology, in: Paul Arthur Schilpp (Hrsg.), The Philosophy of Karl Popper, La Salle Ill. 1974, Bd. 1, S. finden. Wir vermuten, daß der Variationsmechanismus auch hier zunächst in der Beobachtung von
412-463; ders., Unjustified Variation and Selective Retention in Scientific Discovery, in: Francisco Jose Ayala / Theodosius Kommunikation als (provozierender) Negation liegt und erst mit in Gang gebrachter funktionaler
Dobzhansky (Hrsg.), Studies in the Philosophy of Biology, London 1974, S. 133-161. Für eine Überblick siehe auch Gerard Differenzierung durch binäre Codierungen systematisiert wird, und zwar jetzt in der Codierung
Radnitzky / W. W. Bartlett (Hrsg.), Evolutionary Epistemology, Rationality, and the Sociology of Knowledge, La Salle Ill. funktionsspezifischer Operationen mit Hilfe von Unterscheidungen wie: wahr/unwahr, Eigentum
1987.
haben/nichthaben, Recht/Unrecht, Herrschende/Unterworfene, ästhetisch stimmig/unstimmig (schön/unschön).
885
Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1960, zu Evolution S. 549-615.
886
Eine frühe Diskussion der Gründe (taxonomische Struktur, hedonistischer Handlungsbegriff), die die
Wirtschaftswissenschaften dazu bringen, Evolutionstheorie abzulehnen, findet man bei Thorstein Veblen, Why is
Economics not an Evolutionary Science, The Quarterly Journal of Economics 13 (1898), S. 373-397. Der eigentliche Grund 891
Siehe z.B. Norman Clark / Calestous Juma, Long-Run Economics: An Evolutionary Approach to Economic Growth,
wird gewesen sein, daß man noch genug Vertrauen in den Markt als Bedingung der Möglichkeit rationaler Entscheidungen
London 1987; Ulrich Witt (Hrsg.), Explaining Process and Change: Approaches to Evolutionary Economics, Ann Arbor
hatte.
1992; Geoffrey M. Hodgson, Economics and Evolution: Bringing Life Back into Economics, Ann Arbor 1993; Loet
887
Vgl. unter anderem Armen A. Alchian, Uncertainty, Evolution, and Economic Theory, Journal of Political Economy 58 Leydesdorff / Peter van den Besselaar (Hrsg.), Evolutionary Economics and Chaos Theory: New Directions in Technology
(1950), S. 211-221, neu gedruckt in ders., Economic Forces at Work, Indianapolis 1977, S. 15-35; ferner Edith T. Penrose, Studies, London 1994; Richard W. England (Hrsg.), Evolutionary Concepts in Contemporary Economics, Ann Arbor 1994;
Biological Analogies in the Theory of the Firm, American Economic Review 42 (1952), S. 804-819; Joseph Spengler, Giovanni Dosi / Richard R. Nelson, An Introduction to Evolutionary Theories in Economics, Journal of Evolutionary
Social Evolution and the Theory of Economic Development, in: Herbert Barringer / George I. Blanksten / Raymond W. Economics 4 (1994), S. 153-172.
Mack (Hrsg.), Social Change in Developing Areas: A Reinterpretation of Evolutionary Theory, Cambridge Mass. 1965, S. 892
Siehe zu Rückgriffen auf Lamarck Band 7, Heft 5 (1993) der Revue internationale de systémique.
243-272.
893
888 Siehe die wenig bekannte Arbeit von Huntington Cairns, The Theory of Legal Science, Chapel Hill N.C. 1941, insb. S.
Die ganz vorherrschende Theorieentwicklung sucht statt dessen mit einer Reduzierung der Rationalitätsansprüche
29 ff.; ferner Niklas Luhmann, Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt 1981, S. 11-34;
durchzukommen. Siehe führend: Herbert A. Simon, Models of Man, Social and Rational: Mathematical Essays on Rational
Ernst-Joachim Lampe, Genetische Rechtstheorie: Recht, Evolution und Geschichte, Freiburg 1987 (auf anthropologischen
Human Behavior in a Social Setting, New York 1957.
Grundlagen); Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, Frankfurt 1989, S. 61 ff. (mit Hinweisen auf die neuere
889
Am eingehendsten haben Richard Nelson und Sidney Winter sich mit dieser Theorieversion befaßt. Siehe jetzt Literatur, die den Evolutionsbegriff jedoch sehr verschiedenartig verwendet).
zusammenfassend: An Evolutionary Theory of Economic Change, Cambridge Mass. 1982. 894
Die knappe und steckenbleibende Rekonstruktion spätmarxistischer "Staatsableitungen" bei Philippe von Parijs,
890
Vgl. die Beiträge zu Jitendra V. Singh (Hrsg.), Organizational Evolution: New Directions, Newbury Park Cal. 1990. Für Evolutionary Explanation in Social Science: An Emerging Paradigm, London 1981, S. 174 ff. kann bestenfalls als Beleg für
die Entwicklungen innerhalb der population ecology siehe auch Michael T. Hannan / John Freeman, Organizational den typischen Entstehungsanlaß dienen: das Scheitern anspruchsvollerer Vorgängertheorien. Siehe jetzt, in enger
Ecology, Cambridge Mass. 1989; Joel Baum / Jitendra Singh (Hrsg.), Evolutionary Dynamics of Organizations, New York Anlehnung an Gesellschaftstheorie, auch Hannes Wimmer, Evolution der Politik: Von der Stammesgesellschaft zur
1994. modernen Demokratie, Wien 1996.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 255 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 256

Diese Sondercodes besorgen die Ausdifferenzierung und erleichtern zugleich das codespezifische auf der Ebene der Programme anpassungsfähig. Theorien und Rechtgesetze oder Verträge, Investitions- oder
Überwechseln von der einen zur anderen Seite. Genau das läßt es zur täglichen Routine werden, den Gegenfall Konsumprogramme, politische Agenden sind in Bezug auf die gesellschaftliche Umwelt mehr oder weniger
mit im Blick zu haben. Genau das macht es aber auch unprognostizierbar und abhängig von den sensibel. Auch hier bleiben die Systeme strukturdeterminiert und geschlossen, denn nur sie selbst können ihre
systemeigenen Programmen, ob der eine oder der andere Codewert, ob zum Beispiel wahr oder unwahr Programme festlegen und anwenden. Aber in der Selektion von Programmen, die der Selektion von
gewählt wird, um die eigenen Operationen zu bezeichnen. Operationen dienen, können sie durch die Umwelt irritiert und beeinflußt werden. Oft spricht man, um dies
Formal besagt binäre Codierung zwar keineswegs, daß externe Rücksichten ausgeschlossen wären. Die zum Ausdruck zu bringen, von "Interessen". Die Stabilität schließlich liegt hier, wie immer, in der Autopoiesis
binäre Struktur der Codewerte steht orthogonal zur Unterscheidung von Selbstreferenz/Fremdreferenz, selbst. Es ist also keine statische, sondern eine dynamische Stabilität. Die Fähigkeit, Strukturen (vor allem:
präjudiziert also auch die Kriterien nicht, nach denen die Codewerte zugeordnet werden. Anders könnte sich Programme) zu ändern, oft gegen den Widerstand der eigenen Organisationen, ist hier das Einlaßtor für die
keine Gesellschaft auf das Risiko einlassen, auf bestimmte Problemlagen mit binären Codierungen zu Restabilisierung von Innovationen; und damit wiederholt sich auf dieser Ebene jener Kurzschluß, den wir für
reagieren. Aber in dem Maße, als die Codes den Bedarf für Kriterien inaugurieren, kann und wird sich auch das funktional differenzierte Gesellschaftssystem festgestellt hatten: daß die Einrichtungen der Stabilisierung
zeigen, daß solche Kriterien erst gefunden werden müssen. Selbst wenn es nur um Dekoration von derart dynamisiert sind, daß sie zugleich die Funktion der evolutionären Variation bedienen. Eben das scheint
Alltagsobjekten geht: was schön und was unschön ist, muß erst noch ausprobiert werden. Selbst wenn sich in das Resultat der Co-evolution von gesellschaftlicher Evolution und Teilsystemevolutionen zu sein: Die
tribalen oder religiösen Kontexten Situationen mit überlegener Macht ergeben und ihrem gesellschaftlichen Gesellschaft kann sich gegen das Tempo nicht wehren (sie hat dafür in der Gesellschaft kein Organ), das ihr
Bedingungskontext gerecht werden müssen, ist damit noch nicht festgelegt, wie die Macht ausgeübt wird. durch die Funktionssysteme diktiert wird.
Oder: selbst wenn es um Normprojektionen geht, die sich auf Üblichkeiten berufen, entsteht ein Die eigene Codierung und Programmierung von Funktionssystemen ist Resultat und zugleich Bedingung
Entscheidungsspielraum, sobald es zu kontroversen Auffassungen kommt. Die strenge Codierung unter ihrer Evolution. Solch ein zirkuläres Verhältnis ist für evolutionstheoretische Darstellungen typisch und
Ausschluß dritter Werte erzeugt offene Kontingenzen, die einen Bedarf für Sinngebungen entstehen lassen und unvermeidbar, befriedigt aber nicht als eine historische Erklärung. Hierfür muß man zusätzlich auf die
an genau diesem Punkte evolutionsempfindlich werden. Wenn hier eine Variation eingreift, ist es auch Einsicht zurückgreifen, daß Evolution auf vorübergehende Lagen angewiesen ist, die für einen take-off genutzt
wahrscheinlich, daß sie für Selektion in Betracht gezogen wird. Die Übernahme externer Selektionskriterien werden können, auch wenn sie später entfallen oder an tragender Bedeutung verlieren.
wird dann mehr und mehr als methodisch unangemessen erfahren — eine teils kontinuierliche, teils auch Einzelheiten könnten nur in historischen Detailuntersuchungen geklärt werden. Wir müssen uns mit
abrupte Umstellung, die von der gesellschaftlichen Reichweite der Kriterien und von den schon bewährten Beispielen begnügen. Für den Übergang zum modernen Theater in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
Eigenwerten des Bereichs der Sonderevolution abhängt und dadurch verzögert bzw. gefördert wird. könnte der Buchdruck, die dadurch verbreiterte Informationslage des lesenden Publikums und die religiöse,
Binäre Codes scheinen mithin diejenigen Scharniere zu bilden, an denen sich die Tore zu politische und humanistische Propaganda, also die irreversibel werdenden Veränderungen im Verhältnis von
Teilsystemevolutionen in der Gesellschaft öffnen, wenn begünstigende Umstände hinzutreten, und Schrift wird nicht mehr nur am Hof partizipierenden Individuen und territorialstaatlicher Politik von Bedeutung gewesen
895
hier, wie bereits ausgeführt , eine wichtige Rolle gespielt haben. Binäre Strukturen haben Tempovorteile: sie sein. Jedenfalls simuliert das Theater diese Situation mit einer jetzt festen, baulichen Trennung von Bühne und
bieten die schnellste Möglichkeit zum Aufbau von Komplexität und zugleich die einfachste Form der Ordnung Zuschauerraum und mit politischen Themen und Personen auf der Bühne, die ihrem Schicksal ausgeliefert
von Gedächtnisleistungen. Sie lassen sich, da schon die Sprache binär codiert ist, leicht aktualisieren. sind. Für die mit der Renaissance beginnende Eigendynamik der bildenden Kunst nennt man die soziale
898
Einerseits kommen binäre Entscheidungssituationen häufig genug vor und haben genügend lebenspraktische Aufwertung der Künstler durch höfische Kontakte als wichtigen Auslöser. Das amerikanische System der
Relevanz, um nicht darauf angewiesen zu sein, daß entsprechende Funktionssysteme in autopoietisch Massenmedien beginnt seine historische Karriere mit Anzeigenblättern mit hinzugesetzten und deshalb
899
geschlossener Form schon existieren. Andererseits haben sie einen hinreichend spezifischen Kriterienbedarf ideologisch neutralen "news" ; es muß dafür also zunächst einmal einen Markt ohne weitergehende
zur Folge, so daß sich Sonderevolutionen abheben können, sobald sich rekursive Bezugnahme auf Kriterien gesellschaftspolitische Interessen gegeben haben. Die europäischen Universitäten profitieren in der frühen
gleicher Art einspielen. Daß künstlerische Kriterien sich, selbst im Falle von Poesie, nicht zur Entscheidung Neuzeit von der Umstellung von einem religiös bestimmten auf ein politisches, territorialstaatliches
900
von Wahrheitsfragen eignen, wird man spätestens in der Frühmoderne sehen. (Daß Rechtsfragen nicht in der Abnehmersystem, das größere Freiheitsgrade in der fachlichen Ausbildung gewähren kann ; und dann
Form von Vasenmalerei entschieden werden können und künstlerische Abbildung von Gerichtsszenen kein nochmals im 19. Jahrhundert von der Umstellung auf "Einheit von Forschung und Lehre" also auf
896
juristisches Argument ist, wird man schon vorher gewußt haben ). Eigentum wird noch lange als Wissenschaft. Das Rechtssystem erreicht schon im 11./12. Jahrhundert eine bemerkenswerte Unabhängigkeit
Machtinstrument behandelt, während die territorialstaatlich konsolidierte politische Amtsmacht schon seit dem vom Feudalsystem, das die Politik noch beherrscht, und von den dogmatischen Prämissen der Religion, weil
Spätmittelalter nicht mehr in der Lage war, Geschehnisse auf dem Wirtschaftsmarkt wirksam zu beherrschen. es als Instrument der Differenzierung von Religion (kanonischem Recht) und Politik (Landrecht, Stadtrechte,
Schon um 1200 kommt es in England zu einer Inflation, die Rechtsentwicklungen beeinflußt und vor allem zur Feudalrechte) und für den Aufbau einer territorial weiträumigen Herrschaftsorganisation sowohl der Kirche
Brechung der komplexen Feudalstrukturen des Grundbesitzes im Interesse von eindeutigen, für Kredit und als auch der neu sich bildenden Territorialstaaten (England, Sizilien) eingesetzt wird und den damit gegebenen
897 901
Haftung geeigneten Eigentumsverhältnissen führt. Aber die Inflation selbst ist kein Problem, über das Anforderungen an Präzision und Änderbarkeit genügen muß.
Gerichte entscheiden könnten; Wirtschaftsevolution und Rechtsevolution nehmen, weil die Codes und die Daß die Evolution Gelegenheiten rekrutieren kann, die später wieder entfallen können, wenn ein neues
ihnen zuarbeitenden Programme sich unterscheiden, getrennte Wege. Format von Autopoiesis und Selbstorganisation gesichert ist, bricht mithin die Zirkularität der
Während auf der Ebene des Codes, also im Mechanismus der Selbstvariation, die Systeme durch evolutionstheoretischen Erklärung und leitet in eine historische Analyse über. Das heißt natürlich nicht, daß
Eigenwerte bestimmt sind, denn das definiert ihren Unterschied im Verhältnis zu anderen Systemen, sind sie ein Automatismus besteht, der alle Gelegenheiten nutzt; und es heißt auch nicht, daß man zu einer rein

898
895 So jedenfalls Klaus Disselbeck, Die Ausdifferenzierung der Kunst als Problem der Ästhetik, in: Henk de Berg /
Vgl. Kapitel ...
Matthias Prangel (Hrsg.), Kommunikation und Differenz: Systemtheoretische Ansätze in der Literatur- und
896
Gerade dieses Beispiel lehrt jedoch, daß man die Trennung der Mediencodierungen nicht unbedingt als evolutionsfeste Kunstwissenschaft, Opladen 1993, S. 137-158. Siehe in weiteren Zusammenhängen auch Niklas Luhmann, Die Kunst der
Errungenschaft voraussetzen darf. Zu denken ist vor allem an die Auswirkungen der modernen Massenmedien, besonders Gesellschaft, Frankfurt 1995, insb. S. 256 ff.
des Fernsehens, auf die Rechtsfindung der Gerichte. Neben einigen Vorläuferprozessen (Rodney King beating trial) gibt 899
Siehe Michael Schudson, Discovering the News: A Social History of American Newspapers, New York 1978.
vor allem das spektakuläre Verfahren gegen O.J. Simpson zu denken, dessen Auswirkungen auf die amerikanische
900
Schwurgerichtspraxis kaum zu überschätzen sind. Siehe Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität: Zur Interaktion von Politik und
897 Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.-18. Jahrhundert), Frankfurt 1991.
Vgl. Robert C. Palmer, The Origins of Property in England, Law and History Review 3 (1985), S. 1-50; ders., The
901
Economic and Cultural Impact of the Origin of Property 1180-1220, Law and History Review 3 (1985), S. 375-396. Siehe Harold J. Berman, Recht und Revolution: Die Bildung der westlichen Rechtstradition, dt. Übers., Frankfurt 1991.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 257 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 258

narrativen Sequenz zurückkehren könnte. Man benötigt eine Theorie selbstreferentieller Systeme und XII. Evolution und Geschichte
selbstevoluierender Evolutionen schon, um das Problem zu formulieren.
In dem Maße, als Teilsystemevolutionen auf der Basis besonderer Funktionen und Codierungen in Gang Die Evolutionstheorie beschreibt Systeme, die sich in vielen einzelnen Operationen von Moment zu
gekommen sind und dann innerhalb dieser Systeme für evolutionäre Strukturänderungen sorgen, die im Moment reproduzieren und dabei Strukturen benutzen oder nicht benutzen, ändern oder nicht ändern. Das
Verhältnis der Systeme zueinander nicht mehr koordiniert sind, verändern sich die Bedingungen, auf die die alles geschieht in einer Gegenwart und in einer gleichzeitig (und insofern unbeeinflußbar) vorhandenen Welt.
Evolution des Gesellschaftssystems reagiert. Daß die gesellschaftliche Evolution mehr und mehr zum Resultat Ein solches System braucht für seine operative Reproduktion zunächst keine Geschichte. Ich, der ich beim
von Teilsystemevolutionen wird, muß erhebliche Auswirkungen haben. Es bedeutet sicher nicht, daß man Schreiben dieses Buches an dieser Stelle angelangt bin, brauche nur den nächsten Satz zu finden. Hier ist er.
nicht mehr von gesellschaftlicher Evolution sprechen könnte, denn die Teilsysteme vollziehen ja selbst die Die Evolutionstheorie geht also mit der Systemtheorie davon aus, daß ungezählte Operationen (Zählen
(abweichende) Reproduktion der Gesellschaft. Auch geht es, in der Systemreferenz Gesellschaft gesehen, nach wäre eine weitere Operation) gleichzeitig ablaufen und dadurch, daß sie weitere Operationen produzieren, das
wie vor um Sprache, um symbolisch generalisierte Medien und um das Verhältnis von System und Umwelt. System reproduzieren. Die Spezialinteressen der Evolutionstheorie richten sich auf abweichende Reproduktion
Was man beobachten kann, sind jedoch Veränderungen in der semantischen Selbstbeschreibung der als Bedingung für eine Strukturänderung. Das hat zunächst nichts mit Geschichtsschreibung zu tun, und das
902
Gesellschaft. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts traut man sich nicht mehr, Fortschritt zu unterstellen. macht es verständlich, daß, wissenschaftsgeschichtlich gesehen, Evolutionismus und Historismus im Streit
Evolution selbst wird bei allem Streit über "Sozialdarwinismus" zunächst noch mit positiv konnotierten 904
lagen. Die Unterschiedlichkeit der Perspektiven ist zuzugeben, der Streit aber ist unnötig. Die Arbeitsweise
Strukturmerkmalen beschrieben (etwa: Überleben des am besten Angepaßten), aber gerade dies läßt sich nur der Historiker ist zunächst dadurch geprägt, daß sie in der Vergangenheit neues Wissen suchen (statt nur
noch ideologisch, nur noch kontrovers behaupten. Und hinter der zunehmenden Zukunftsunsicherheit zeichnet durch rituelle Kontaktpflege die Erinnerung zu erhalten). Sie verbinden Erzählung mit Kausalerklärung unter
sich schon die Vorahnung ab, daß eine Evolution der Evolutionen schlechthin unvorhersehbare Zustände der Bedingung, den erreichbaren Quellen gerecht zu werden. Damit kann und will keine Theorie
ergeben wird. gesellschaftlicher Evolution konkurrieren. Für die soziologische Betrachtungsweise und besonders für
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts läßt sich die Gesamtgesellschaft dann nur noch durch die systemtheoretische Analysen sind Kausalerklärungen so schwierig, daß sie auf der Ebene allgemeiner
spezifischen Probleme charakterisieren, die auf dieser Systemebene mit der außergesellschaftlichen Umwelt theoretischer Aussagen nicht ratsam sind, und für Erzählungen fehlt dem Soziologen das Improvisationstalent.
entstehen: mit den ökologischen Bedingungen der laufenden Restabilisierung und mit den zunehmend Das gilt besonders, weil das Gesellschaftssystem als ein selbstreferentielles System (als eine nicht-triviale
eigensinnigen, entfremdeten Individuen. Von der Evolution wird jetzt nicht mehr laufend bessere Anpassung 905
Maschine im Sinne Heinz von Foersters begriffen werden muß, in dem Transformationen nicht nur einfach
erwartet. Die Fakten sprechen für das Gegenteil. Die Frage kann daher nur sein, wie die Gesellschaft den stattfinden, sondern auch beobachtet, also darüber kommuniziert wird, daß sie stattfinden; und dies mit der
Zustand des vorausgesetzten Angepaßtseins halten kann, den sie benötigt, um ihre eigene Autopoiesis unter Folge, daß sich (wie immer unangemessene) Intentionen bilden, die versuchen, die Veränderung zu verhindern
Bedingungen hoher Komplexität und Unwahrscheinlichkeit fortzusetzen. Die Teilsystemevolutionen können 906
oder zu befördern. Entsprechend kann die Theorie gesellschaftlicher Evolution keine Theorie sein, die es
auf diese Fragen keine Antwort geben. Sie machen es eher wahrscheinlich, daß die Wissenschaft immer mehr sich vornimmt, den Verlauf der Geschichte oder auch nur bestimmte Ereignisse kausal zu erklären. Die
Wissen erzeugt, das zu noch mehr Unsicherheit führt; daß die Wirtschaft immer mehr anlagebereites Kapital Zielvorstellung ist nur, ein theoretisches Schema für historische Untersuchungen bereitzustellen, das unter
erzeugt, das aber nicht investiert wird; daß in der Politik im Zuge von Demokratisierung und thematischer günstigen Umständen zur Einschränkung der möglicherweise kausal relevanten Ursachen führen kann. Doch
Universalisierung der Anteil der Entscheidungen, nicht zu entscheiden, zunimmt; daß das Recht in eine Hypothesen für solche Übergänge müßten im Hinblick auf bestimmte historische Sachlagen erst noch
Einrahmung eingebettet wird, in der nochmals verhandelt und "abgewogen" wird, wie es bestimmt und ob es entwickelt werden. Sie können weder aus der Evolutionstheorie abgeleitet werden noch, entsprechend
überhaupt angewandt werden soll oder nicht. In all diesen Fällen nehmen Beschleunigungen und generalisiert, die Evolutionstheorie "verifizieren". Das Unterscheidungsschema der Evolutionstheorie
Verzögerungen gleichzeitig zu und reiben sich aneinander, so daß Synchronisationen immer schwieriger "Variation-Selektion-Restabilisierung" ist ja zirkulär konstruiert. Alle historischen Analysen müssen jedoch
werden. Für eine junge Generation mit langen Lebenserwartungen verschwimmen die Perspektiven. von bestimmten Situationen ausgehen und für Zwecke einer evolutionstheoretischen Erklärung herausarbeiten,
Jedenfalls muß man die Vorstellung aufgeben, die die Modernisierungsforschung nach dem zweiten wie in diesen Situationen Gelegenheiten und Beschränkungen ineinandergreifen.
Weltkrieg zunächst beherrscht hatte, die Vorstellung nämlich, daß die Modernisierungstrends in den einzelnen Um dies an einem Beispiel zu illustrieren: In der historischen und der sozialwissenschaftlichen Literatur,
Funktionssystemen, sprich: politische Demokratie, marktorientierte Geldwirtschaft, Rechtsstaat, dogmatisch die sich mit dem Sonderweg Europas seit dem Mittelalter, also mit der Entstehung der modernen Gesellschaft
unbehinderte wissenschaftliche Forschung, unzensierte Massenmedien, Schulbesuch der gesamten befaßt, liegen Faktortheorien im Streit, die sich auf die Auszeichnung entweder der Religion oder der
Bevölkerung nach Maßgabe ihrer individuellen Fähigkeiten etc., einen Entwicklungsschub auslösen würde, in Wirtschaft oder der politischen Staatsbildung oder des Rechts konzentrieren. Offenbar setzt sich im Rückblick
dem die Errungenschaften der einzelnen Funktionssysteme einander wechselseitig stützen und bestätigen auf das Mittelalter das Schema der Differenzierung von Funktionssystemen durch. Wenn ein Primärfaktor
903
würden. Eher ist das Gegenteil wahrscheinlich. Wir hatten im Anschluß an Norgaard bereits von behauptet wird, wird die Relevanz anderer anerkannt und ihm zugeordnet. Wallerstein etwa berücksichtigt die
"coevolution of unsustainability" gesprochen. Man könnte auch sagen, daß die Evolution sich nur selber Segmentierung der europäischen Staatenwelt als Folge der internationalen Arbeitsteilung der Wirtschaft.
907
bestätigen kann. Weber leitet den Primat religiöser Orientierung aus einem Legitimationsbedarf freigesetzter ökonomischer
Das alles verstärkt den Eindruck, daß es nur über Evolution weitergehen kann, aber die Frage ist: wie
und wohin. Wenn aber diese Frage nicht beantwortet werden kann, und zwar nicht einmal in einem so
einfachen Schema wie besser/schlechter, wird die daraus entstehende Unsicherheit zu einem Faktor, der auf
die gleiche unvorhersehbare Weise auf die Evolution zurückwirkt, und zwar möglicherweise ganz verschieden
je nach dem, um welche Teilsystemevolution es sich handelt.
904
Die Abgrenzung ist vor allem ein Anliegen der Theorie der Geschichte gewesen. Siehe nur Robin G. Collingwood, The
Idea of History, Oxford 1946, mit einem subjektiven, neokantianischen Geschichtsverständnis. Für einen Überblick vgl.
auch Ingold a.a.O. S. 74 ff.
905
Siehe insb. Heinz von Foerster, Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich, in
ders., Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke, Frankfurt 1993, S. 233-268 (247 ff.).
906
Siehe hierzu auch Dirk Baecker, Nichttriviale Transformation, Ms. 1994.
902
Wir müssen hier auf ein Thema vorgreifen, das erst im 5. Kapitel ausführlich zur Sprache kommt. 907
So Immanuel Wallerstein, The Modern World-System: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-
903
Vgl. oben Anm. ..... Economy in the Sixteenth Century, New York 1974.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 259 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 260
908
Motive ab. Neuere Autoren geben der Politik den Primat zurück und sehen den entscheidenden Faktor in zusammenschließt. Das dokumentiert der Beginn der abendländischen Geschichtsschreibung. Mehr und mehr
der Verhinderung einer Reichsbildung und in der segmentären, territorialstaatlichen Ordnung politischer können Ereignisse, die Geschichte machen, dann auch Strukturänderungen im System sein — etwa die großen
909
Gewaltkontrolle. Mit ebenso guten Gründen wird auch die frühzeitige Ausdifferenzierung einer politisch-ökonomischen Reformen im frühen Griechenland und in Rom, oder die Verkündung einer religiösen
systematisierten Rechtskultur als spezifisch europäische Eigenart mit Abweichung erzeugender Wirkung Reform, was bei Widerstand dann im geschichtlichen Rückblick zur Offenbarung einer neuen Religion wird.
910
genannt. Solange solche Primat-Theorien aufgestellt werden, wird es diese Kontroversen geben. Methodisch Jeweils macht die Differenz des vorher und nachher es möglich, die Einheit des Differenten zu feiern. Selbst
ist dazu zu bemerken, daß sich viele gute Argumente, aber eben nicht die Hypothese eines besonders die "Revolutionen" der Neuzeit können auf diese Weise Geschichte machen, als Erfolg für den Menschen oder
wichtigen Faktors, aus den Quellen entnehmen lassen. Und theoretisch wäre die Frage, ob es überhaupt als Erfolg von Ideen.
sinnvoll ist, den Übergang zu funktionaler Differenzierung (wenn es denn darum geht) auf den wie immer In der alten Welt gab es die Möglichkeit, diese Einheit der Differenz von vorher und nachher im
historisch relativen Vorrang eines der Funktionssysteme zurückzuführen. Horizont der Zeit selbst abzusichern, und zwar mit Hilfe der Unterscheidung von flüchtiger Zeit und
913
Eine Theorie der gesellschaftlichen Evolution verzichtet auf kausale Erklärungen (oder beschränkt sie Ewigkeit. Mit Ewigkeit konnte die allen Zeiten gleichzeitige Position bezeichnet werden, von der aus Gott
auf Kleinstausschnitte der gesamtgesellschaftlichen Evolution). Sie ersetzt das Kausalschema durch die die Menschen und ihre Geschichte beobachtet, wobei die Entstehung der Differenz (also die Entstehung der
911 914
Annahme zirkulärer evolutionärer Bedingungen. In jeder historischen Situation ist die Gesellschaft sich Zeit als der einen Seite dieser Differenz) mit dem Abfall von Gott, dem Sündenfall erklärt wurde. In der
selbst als nicht-triviale, als historische Maschine gegeben, die Variation, Selektion und Restabilisierung nach zeitlosen Zeit, der Ewigkeit, lag dann der eigentliche Sinn der Geschichte und zugleich die Gewißheit, daß
dem im Moment gegebenen Sachstand einsetzt. Es kommt nur darauf an, daß diese evolutionären alles so läuft, wie Gott es will.
Mechanismen getrennt werden können, und das erfordert eine Mindestkomplexität des Systems. Im Ergebnis Im Übergang zur neuzeitlichen Gesellschaft zerbricht diese Absicherung des Sinns der Ereignisse in
entsteht dadurch ein Trend zur Abweichungsverstärkung, in dem sich, um bei unseren Beispieln zu bleiben, einer zeitlosen Ewigkeit. Im 17. Jahrhundert findet man an dieser Stelle die Vorstellung einer "conservatio" als
die frühen territorialstaatlichen Organisationen (etwa die normannischen Staaten von England und Sizilien naturales Resultat naturaler Prozesse. In anderen Augen, in Miltons Paradise Lost, kommt es zu der
oder die Republiken Italiens) von Rechtsinstrumenten Gebrauch machen können, die zugleich von der Kirche Annahme, daß der Sinn der Geschichte mitten in der Geschichte dem Menschen (Adam, dem Leser) erklärt
im Kampf gegen die theokratischen Ambitionen der Reichskaiser benutzt werden und die ihre wesentliche werden muß; denn Adam hatte den Anfang nicht beobachten können und kann das Ende noch nicht
Anregung dem Zufallsfund der römischen Texte und ihrer Glossierung für Lehrzwecke verdanken. Die beobachten, aber er muß jetzt schon orientiert sein. Das 18. Jahrhundert reagiert darauf mit einem neuen
Entwicklung der Geldwirtschaft (etwa des Kreditwesens) benutzt dieselben Instrumente, die aber zugleich im Denken über historische Zeit und Geschichte, wobei die Geschichte in die Geschichte selbst eintritt und in
915
Zuge der ersten Geldinflation in England (um 1200) den Eigentumsbegriff von feudalrechtlichen Grundlagen jeder Zeit neu geschrieben werden muß. Der Raum der Geschichte ist jetzt zu klein für das, was man
912
ablösen. Viel hängt dabei von einer nicht nur in den Städten funktionierenden, territorialstaatlichen gegenwärtig tun möchte, ja tun muß, um in der Zukunft bestehen zu können. Das 19. Jahrhundert findet sich
Gerichtsbarkeit ab (was zum Beispiel durch Landbesitz gesicherte Kredite angeht) und damit von der demselben Problem konfrontiert und löst es teils über die Vorstellung einmaliger historischer Prozesse bzw.
916
Konsolidierung politischer Kontrolle über ein Territorium, die ihrerseits aber nicht weiträumig genug wirkt, "Individualgesetze" der Geschichte , teils über Evolutionstheorie. Über diesen Sachstand ist man auch am
um auch den Handel regulieren zu können. Typisch für diese Frühformen funktionaler Differenzierung scheint Ende unseres Jahrhunderts nicht hinausgelangt.
daher zu sein, daß sich evolutionäre Errungenschaften sehr spezifischer Art im Attraktionsbereich einzelner Wir kommen im Zusammenhang mit einer Diskussion der Selbstbeschreibung der modernen
Funktionen entwickeln und auf andere Evolutionsmöglichkeiten wie Zufälle wirken, die in der geschichtlichen Gesellschaft (Kapitel 5) ausführlicher auf diese Fragen zurück. Im Augenblick muß es genügen, auf die
Situation genutzt werden können. Probleme hinzuweisen, die entstehen, wenn die Evolutionstheorie als Geschichtstheorie in Anspruch
Die Evolutionstheorie betont, mit anderen Worten, die eher unwahrscheinliche, Gelegenheiten nutzende genommen wird. Mit der Erwartung, die Einheit der Differenz sinngebend deuten zu können, ist die
Tendenz zu Strukturänderungen, die, aufs Ganze gesehen, unwahrscheinliche Anlässe durch ihren Einbau in Evolutionstheorie wissenschaftlich überfordert. Ihre eigentlichen Leistungen liegen in der theoretischen
Systeme in Wahrscheinlichkeiten der Erhaltung und des Ausbaus ihrer Möglichkeiten transformieren. Spezifikation des Problems der Strukturänderung. Sie bietet nicht einmal eine Theorie des historischen
Jedenfalls wird keine Geschichtsschreibung ohne die Vorstellung von Strukturänderungen auskommen. Sie Prozesses, geschweige denn eine inhaltsreiche Richtungsangabe — etwa im Sinne von Fortschritts- oder
wird also die Evolutionstheorie konsultieren müssen, und die Frage kann nur sein, ob das Auflösevermögen Verfallskonzepten. Sie gibt keine Auskunft über die Zukunft — weder in einem beruhigenden noch in einem
der Evolutionstheorie den Quellenbedarf der Geschichtsforschung und ihre Neigung, empirisch beunruhigenden Sinne. Wenn sie trotzdem einen Beitrag zur Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft zu
unbeantwortbare Fragen zu stellen, so weit treibt, daß die Darstellung einer sinnvollen, kohärenten, das leisten vermag, und darauf werden die Analysen des 5. Kapitels hinauslaufen, dann kann dies nur in einem
Spätere durch das Frühere erklärende Geschichte auf diesem Umweg nicht erreicht werden kann. Aber engen Theorieverbund mit Systemtheorie und Kommunikationstheorie geschehen. Erst eine solche
ohnehin sind ja auch Historiker von der Vorstellung einer "Universalgeschichte" abgerückt. Theoriekombination kann historisch fruchtbare Fragestellungen entwickeln. Nur so können Ansprüche an ein
Geschichte entsteht, wenn gesellschaftswichtige Ereignisse im Hinblick auf die Differenz von vorher und hinreichend komplexes Analyseinstrumentarium und an begriffliche Genauigkeit eingelöst werden. Und nur so
nachher (also als Ereignisse, und schärfer: als Zäsuren) beobachtet werden. Sie setzt weiter voraus, daß die
damit sichtbare Differenz in der Zeit nicht einfach durch Desidentifikation aufgelöst werden kann in dem
Sinne, daß die Gesellschaft vorher eine andere ist als die nachher. So machten die Perserkriege den Griechen 913
Keineswegs alle Hochkulturen haben diese für Europa wichtige Zeitunterscheidung ausgebildet. Auch lohnt es sich,
ihre Identität vorher und nachher bewußt — und zwar eine Identität, die die Vielzahl der Städte daran zu erinnern, daß das griechische Wort aión ursprünglich so viel wie Lebenskraft bedeutet hatte. Vgl. Enzo Degani,
AION da Omero ad Aristotele, Padova 1961. In der Renaissance kommt dieser Sinn wieder zum Vorschein. "Chi ha tempo
908 ha vita", heißt es bei Giovanni Botero, Della Ragion di Stato, Venezia 1589, zit. nach der Ausgabe Bologna 1930, S. 62;
Siehe Max Weber, Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus, Archiv für Sozialwissenschaft und
hier dann allerdings bezogen auf die Notwendigkeit des Zeitgewinns für eine kluge Disposition über die Umstände. Das
Sozialpolitik 20 (1904), S. 1-54, und 21 (1905), S. 1-110, um nur den Ausgangstext einer unüberschaubaren Diskussion zu
Identischbleiben im Wechsel der Ereignisse und Umstände hat also nicht zwangsläufig den religiösen Bezug von
zitieren.
"aeternitas".
909
Vgl. z.B. John A. Hall, Powers and Liberties: The Causes and Consequences of the Rise of the West, Berkeley 1986; 914
Man beachte die kosmologische, keineswegs nur moralische Dimension dieses ersten Ereignisses, dieser ersten,
Michael Mann, States, War and Capitalism: Studies in Political Sociology, Oxford 1988.
geschichtemachenden Differenz von vorher und nachher. Das erklärt im übrigen auch, daß es Erbsünde sein muß, so
910
So von Berman a.a.O. 1991. unverständlich dies für die individualmoralisch denkende Neuzeit dann sein wird. (Siehe dazu Mark Twains Letters From
911 the Earth).
Wir sprechen absichtlich nicht von "Wechselwirkung", weil dies beide Theoriefiguren vermischen würde und im
915
übrigen dazu zwänge, von Zeit zu abstrahieren. Hierzu Reinhart Koselleck, Geschichte, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 593-717.
912 916
Belege oben Anm. Vgl. z.B. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz, zit. nach der Ausgabe von Michael Landmann, Frankfurt 1968.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 261 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 262
917
kann ein spezifisch wissenschaftlicher Beitrag zur Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft geleistet durch sie Unterschiedene wiedereintreten , wird das System für sich selbst intransparent. Es kann sich selbst
werden, der auch in der Wissenschaft selbst, also auch forschungsmäßig, auf die Probe gestellt werden kann. mit den Operationen, die seinen eigenen Zustand erzeugen und verändern, nicht mehr angemessen beobachten.
Ob nun Evolutionstheorie oder nicht: jede Theorie der Geschichte führt zu einer Neuorganisation des Das gilt besonders dramatisch in der Zeitdimension, und zwar gerade deshalb, weil Komplexität nun
Bedarfs für Daten. Dieser Bedarf ist zunächst unabhängig von der Quellenlage, denn er ergibt sich aus der zunehmend "temporalisiert", das heißt: sukzessiv aufgebaut und reduziert werden muß. Das ist nur eine
Theorie. Das mag Historiker zur Verzweiflung treiben oder zum Verzicht auf Theorie. Für die Soziologie der andere Formulierung für die uns bereits geläufige These, daß kein System seine eigene Evolution kontrollieren
Gesellschaftsgeschichte stellt sich das Problem anders. Sie beabsichtigt keine Geschichtsschreibung, auch kann. Statt dessen benutzt das System in seinen jeweils aktuellen (jeweils gegenwärtigen) Operationen eine
918
nicht die Herstellung einer ausreichenden Kohärenz im Zusammenhang der Ereignisse. Ihr Problem ist, daß Zusatzeinrichtung, die wir (im Anschluß an Spencer Brown ) Gedächtnis nennen können. In jedem Falle
die Zeitdimension des Gesellschaftssystems von keiner Gesellschaftstheorie ausgeklammert oder benötigt ein System, das historische Ursachen für seinen gegenwärtigen Zustand feststellen oder sich im
vernachlässigt werden kann. Sie weiß, daß alle Systeme, die ein "re-entry" der Unterscheidung von System Unterschied zu früheren Zuständen als verschieden, zum Beispiel als "modern" charakterisieren will, ein
919
und Umwelt ins System vollziehen, eine "memory function" benötigen, die ihnen die Gegenwart als Resultat Gedächtnis, um die Unterscheidungen prozessieren zu können. Aber: aber was ist ein Gedächtnis?
einer unabänderlichen Geschichte bekanntmacht. Ihr geht es daher nicht um Kohärenz von Ereignissen, Von Gedächtnis soll hier nicht im Sinne einer möglichen Rückkehr in die Vergangenheit, aber auch nicht
sondern um Konsistenz im Theorieapparat der Gesellschaftstheorie. Ein Beispiel für diese Problemstellung im Sinne eines Speichers von Daten oder Informationen die Rede sein, auf die man bei Bedarf zurückgreifen
920
haben wir in der Erörterung der Zusammenhänge von Evolutionstheorie und Systemtheorie gegeben. Die kann. Vielmehr geht es um eine stets, aber immer nur gegenwärtig benutzte Funktion, die alle anlaufenden
Konsequenz ist ein erhebliches Datendefizit mit entsprechenden Verifikationsschwierigkeiten. In Operationen testet im Hinblick auf Konsistenz mit dem, was das System als Realität konstruiert. In unserem
beträchtlichem Umfange wird damit aber auch eine Möglichkeit geschaffen, die Quellen neu zu interpretieren. Themenbereich handelt es sich bei diesen Operationen um Kommunikationen; also nicht um neurobiologische
Veränderungen von Gehirnzuständen und auch nicht um das, was ein einzelnes Bewußtsein sich bewußt
macht. Die Funktion des Gedächtnisses besteht deshalb darin, die Grenzen möglicher Konsistenzprüfungen zu
gewährleisten und zugleich Informationsverarbeitungskapazitäten wieder frei zu machen, um das System für
XIII. Gedächtnis neue Irritationen zu öffnen. Die Hauptfunktion des Gedächtnisses liegt also im Vergessen, im Verhindern der
921
Selbstblockierung des Systems durch ein Gerinnen der Resultate früherer Beobachtungen.
Die im vorstehenden benutzte Evolutionstheorie ist so gearbeitet, als ob eine Beobachtung der Vergessen sollte nicht als eine Art Verlust des Zugangs zu Vergangenem aufgefaßt werden; denn das
Gesellschaft von außen möglich wäre. Das mag an ihrer Entstehung im Forschungsbereich der Biologie würde ja prinzipielle Reversibilität von Zeit voraussetzen. Die positive Funktion des Vergessens ergibt sich
922
liegen. Aber auch Soziologen vertreten den Wissenschaftsanspruch ihrer Disziplin oft so, als ob sie die daraus, daß Zeit sowohl irreversibel als auch kumulativ wirkt. Der Zusammenhang dieser beiden
Gesellschaft von außen beobachten könnten und allenfalls auf "intersubjektive" Übereinstimmung und Eigenarten von Zeit muß sowohl bewahrt als auch unterbrochen werden, und eben das ist die Funktion des
außerdem darauf achten müßten, daß und wie die Kommunikation ihrer Beobachtungen in der Gesellschaft Gedächtnisses oder, genauer gesagt, die Doppelfunktion von Erinnern und Vergessen. Ohne Vergessen gäbe
sich auswirkt. Historiker erkennen prinzipiell an, daß alle Geschichtsschreibung in der laufenden und es weder Lernen noch Evolution. In der laufenden Reimprägnierung (Psychologen sagen oft "reinforcement")
weiterlaufenden Geschichte stattfindet; aber ihr Begriff für Selbstreferenz ist und bleibt Geschichte, nicht ist diese Doppelfunktion immer schon eingebaut: Einerseits wird durch Wiederholung der Kommunikation,
Gesellschaft. Daher können sie sich damit begnügen, mit provisorischen Geschichtsdarstellungen zu arbeiten, ihres Wortgebrauchs, ihrer Referenzen ein Kompakteindruck des Bekanntseins, des Vertrautseins mit...
die zwar nicht vom Ende der Geschichte, wohl aber vom augenblicklichen Wissensstand ausgehen. Eine aufgebaut und andererseits wird genau dadurch dem Vergessen überlassen, wie es vorher war, als bestimmte
gesellschaftstheoretische Soziologie wird diese Annahmen revidieren, das heißt sie nochmals beobachten Eindrücke oder Anforderungen und Irritationen neu, überraschend, unvertraut anfielen. Die Wiederholung
müssen. Wir werden im fünften Kapitel noch ausführlich darüber sprechen, daß und wie die Gesellschaft sich selbst erzeugt Erinnern und Vergessen. Immer geht es dabei aber um Voraussetzungen des jeweils aktuellen
selbst beobachtet und beschreibt. Im Moment geht es nur um die Frage, wie die Gesellschaft ihre Evolution in Operierens, also nicht um ein Hin- und Herspringen in der Zeit. So kann man beim Schachspiel von der
die Evolution wiedereinführt; das heißt: welche Rolle es bei evolutionären Transformationen spielt, daß die gegenwärtigen Stellung der Figuren auf dem Brett ausgehen und braucht nicht zu erinnern, wie sie in ihre
Transformation beobachtet und kommentiert wird. Position gelangt sind. So findet man Schachaufgaben in den Zeitungen ohne Angabe der Geschichte des
Daß die Evolutionstheorie keine kausalen Sequenzen nachweist (obwohl sie nicht ausschließt, daß
Beobachter auftreten, die meinen, Zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkungen feststellen zu können), 917
"Re-entry" im Sinne von George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck 1979, S. 56 f.
hatten wir schon mehrfach betont. Jetzt kommt hinzu, daß auch eine weitere Form der üblichen historischen 918
So a.a.O. S. 61. Auf komplementäre Überlegungen zur Funktion des Gedächtnisses bei Heinz von Foerster kommen wir
Darstellung von Kontinuität durch die Evolutionstheorie nicht bestätigt werden kann, nämlich daß sich gleich zurück.
Neuerungen explizit gegen vorhandene Strukturen durchsetzen und dadurch einen historischen Prozeß 919
mobilisieren. Denn auch das würde ja voraussetzen, daß es einen Beobachter gibt, der bestimmte Für Kausalität siehe z.B. Francis Heylighen, Causality as Distinction Conversation: A Theory of Predictability,
Reversibility, and Time Order, Cybernetics and Systems 20 (1989), S. 361-384. Wir erinnern im übrigen daran, daß auch
Unterscheidungen vor anderen auszeichnet, also zum Beispiel von einer aufsteigenden sozialen Schicht der Maxwellsche Dämon, der Entropie in Negentropie umkehrt, ein Gedächtnis haben muß, weil er ja erinnern muß, wie er
spricht, die sich selbst nach oben und nach unten unterscheidet. Es soll keineswegs bestritten werden, daß sortiert hatte, wenn er fortfährt zu sortieren.
zeitbezogene Unterscheidungen, etwa von alt und neu oder von vorher und nachher, vorkommen. Aber zu 920
Diese Kritik an Speichertheorien scheint sich auch auf der Ebene der neurobiologischen und der psychologischen
klären wäre zunächst einmal, weshalb bestimmte Unterscheidungen überhaupt bevorzugt werden — und Gedächtnisforschung durchzusetzen. Siehe dazu verschiedene Beiträge in Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), Gedächtnis:
andere nicht. Wir benötigen dafür eine Theorie, die über das bloße Beobachten und Erklären von Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt 1991. Dagegen scheint die sozial- und
Kontinuitäten und Diskontinuitäten, von nachhaltigen Einflüssen oder markierten Umbrüchen hinausgehen kulturwissenschaftliche Forschung am Begriff des Speichers trotz Halbwachs festzuhalten. Siehe nur Aleida Assmann / Jan
und die Frage stellen kann, wie es möglich ist, in einem schon evoluierenden System solche Unterscheidungen Assmann, Das Gestern im Heute: Medien und soziales Gedächtnis, in: Klaus Merten et al. (Hrsg.), Die Wirklichkeit der
zu treffen und wovon es abhängen mag, daß Unterscheidungen in bestimmter und nicht in anderer Weise Medien: Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 114-140.
getroffen werden. 921
Siehe Heinz Förster, Das Gedächtnis: Eine quantenphysikalische Untersuchung, Wien 1948. Vgl. auch Gerdien Jonker,
Das setzt zunächst einmal voraus, daß das System sich selbst unterscheiden kann. Wenn dann die The Topography of Remembrance: The Dead, Tradition and Collective Memory in Mesopotamia, Leiden 1995, S. 36: "...
Komplexität des Gesellschaftssystems es erlaubt, daß die Unterscheidungen, die das System benutzt, in das the collective picture of the past can take shape only through a collective forgetting". Das kollektive Vergessen kann im
übrigen noch weniger individualpsychologisch erklärt werden als das kollektive Erinnern.
922
Siehe dazu Bernard Ancori, Temps historique et évolution économique, Revue internationale de systémique 7 (1993), S.
593-612 (602 ff.).
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 263 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 264

Spiels. Das Spiel wäre viel zu komplex, wenn es für das weitere Spielen notwendig wäre, die Geschichte des wiederholenswert konfirmiert werden können, während sich konkrete Situationen nie wiederholen. Und all
Spiels zu erinnern, obwohl es vorteilhaft sein mag, die letzten Züge des Gegners in ihrer Sequenz zu erinnern, dies, obwohl es ohne Unterscheidung keine Bezeichnung, kein Hervorheben, keine Beobachtung geben kann.
um seine Strategie besser erraten zu können. Das Beispiel zeigt, daß weithin die Gegenwart als Repräsentation Dies Ausleuchten des Hintergrundes von Unterscheidungen, mit deren Hilfe ein System beobachtet,
der Vergangenheit genügt. Aber dies ist ein hochstilisierter Grenzfall, an dem man erkennen kann, wie sehr macht verständlich, wie das daran mitwirkende Gedächtnis Vergangenheit und Zukunft unterscheidet und
Vergessen Komplexitätsbewältigung ermöglicht. Schon bei einfachsten Sprachspielen ist dies anders. Man verknüpft. Während im Bereich des Vergangenen die Unterscheidung selbst unmarkiert bleibt (was, wie
kann bei einer laufenden Konversation nicht hinzutreten und mitmachen, ohne in die Interaktionsgeschichte gesagt, auch für die Unterscheidung von Unterscheidungen gilt), wird im Bereich, der als Zukunft fungiert, die
925
eingeführt zu werden oder sie erraten zu können. Ein Gespräch kann nicht ständig sich selbst vergessen; aber Unterscheidung benutzt, um ein Oszillieren, ein Kreuzen der inneren Grenze zu ermöglichen. Wenn zum
dies hat Konsequenzen für die Komplexität und, vielleicht kann man sagen: für die relative Regellosigkeit des Beispiel bisher in außerhäuslichen ("politischen") Angelegenheiten explizit oder implizit immer nur von
Systems. Männern die Rede war, kann eine Zukunft entworfen werden, in der erinnert wird, daß Männer von Frauen zu
Wenn Gegenwart als geronnene Vergangenheit hingenommen werden muß, so genügt das im unterscheiden sind und daß innerhalb dieser Unterscheidung ein Kreuzen der Grenze hin und zurück, also ein
allgemeinen — vorausgesetzt, daß genügend Identitäten (in unseren Beispielen: die Zugmöglichkeiten der Oszillieren möglich ist. In der Gegenwart fungiert das Gedächtnis dann als Erinnern der Unterscheidung oder
verschiedenen Figuren; die Verwendungsmöglichkeiten der Worte) garantieren, daß eine vergessene, nur als als Auswechseln der Unterscheidung Mann/unmarked gegen die Unterscheidung Mann/Frau oder als
Gegenwart präsente Vergangenheit mit der Zukunft verknüpft werden kann. Identitäten sind Gedächtnis Ausgliederung dieser Unterscheidung aus dem Kontext der Unterscheidung polis/oikos (siehe Platons
entlastende Sonderleistungen. Nur ausnahmsweise werden Identitäten so kondensiert, daß sie für wiederholten "Weibergemeinschaft"), um eine Vergangenheit zu gewinnen, die für die Zukunft einen Spielraum für
Gebrauch zur Verfügung stehen. Nur ausnahmsweise entstehen im rekursiven Operieren des Systems Oszillationen bereitstellt.
"Objekte" als systemspezifische "Eigenwerte", an denen entlang das System Stabilität und Wechsel Das Gedächtnis ist nicht das System, denn das System muß schon am Laufen sein, um etwas erinnern zu
923
beobachten kann. Nur ausnahmsweise wird also das Vergessen inhibiert. Und wiederum ausnahmsweise können; und folglich ist auch die erinnerte Vergangenheit nicht die Vergangenheit des Systems. Ein externer
werden Erinnerungen mit Zeitindex versehen, wodurch verhindert wird, daß zu viel heterogenes Material als Beobachter kann immer eine andere Vergangenheit hinzukonstruieren oder auch die im System erinnerte
beständige Eigenschaft von Objekten zu viele Inkonsistenzen erzeugt. Nur ausnahmsweise also werden die Vergangenheit als Fiktion behandeln. Logiker und Linguisten werden (als externe Beobachter) versucht sein,
Eigenwerte des Systems über Zeitmarkierungen wie vergangen/zukünftig oder sogar über Datierungen so hier "Ebenen" zu unterscheiden und ein Nichtverwechslungsgebot aufzustellen; und das hat, mehr als sonst,
aufgelöst, daß temporäre Objekte, zeitbegrenzte Einheiten, Episoden usw. entstehen, deren gegenwärtige gerade hier eine gewisse Plausibilität, da das Gedächtnis selbst durch seine Leistung des Vergessens von der
Relevanz dann nochmals gefiltert werden kann. Ebene der Systemoperationen abhebt.
Gegenwart ist aber nichts anderes als die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. Sie ist keine Wir benötigen eine derart allgemeine, auch für mathematische, neurobiologische und psychologische
eigenständige Zeitetappe, sondern nimmt nur so viel Operationszeit in Anspruch, wie benötigt wird, um Zwecke geeignete Theorie des Gedächtnisses, um die Frage zu stellen, wie das Gedächtnis der Gesellschaft
Unterschiede in den Zeithorizonten der Vergangenheit und der Zukunft (in welcher sachlichen Hinsicht auch und ihrer Teilsysteme funktioniert. Es geht dabei nicht um das sogenannte "Kollektivgedächtnis", das nur
immer) zu beobachten. Wenn das Gedächtnis seine Funktion nur im aktuellen Operieren, also nur in der darin besteht, daß Bewußtseinssysteme, wenn sie gleichen sozialen Bedingungen ausgesetzt sind, im großen
926
Gegenwart ausüben kann, so heißt dies: daß es mit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft zu tun hat; und ganzen dieselben Sachverhalte erinnern. Das soziale Gedächtnis ist keineswegs das, was
924 927
daß es diesen Unterschied verwaltet — und nicht etwa einseitig vergangenheitsbezogen operiert. Man kann Kommunikationen als Spuren in individuellen Bewußtseinssystemen hinterlassen. Sondern es geht um eine
daher auch sagen: das Gedächtnis kontrolliert den Widerstand der Operationen des Systems gegen die Eigenleistung kommunikativer Operationen, um ihre eigene, unentbehrliche Rekursivität. Allein dadurch, daß
Operationen des Systems. Es hält mit seinen Konsistenzprüfungen das fest, was dem System nach jede Kommunikation bestimmten Sinn aktualisiert, wird ein soziales Gedächtnis reproduziert; es wird
Bearbeitung dieses inneren, selbstorganisierten Widerstandes als "Realität" (im Sinne von "res") erscheint. vorausgesetzt, daß die Kommunikation mit dem Sinn etwas anfangen kann, ihn gewissermaßen schon kennt,
Und das wiederum heißt: es kontrolliert, von welcher Realität aus das System in die Zukunft blickt. und es wird zugleich durch wiederholten Gebrauch derselben Referenzen bewirkt, daß dies auch in künftigen
928
Kann man sich das etwas genauer vorstellen? Fällen so ist. Dies laufende Reimprägnieren von kommunikativ brauchbarem Sinn und das entsprechende
Wir gehen einen Schritt weiter mit der These, daß sich die Transferfunktion des Gedächtnisses sich auf Vergessen setzt eine Mitwirkung von Bewußtseinssystemen voraus, ist aber unabhängig davon, was einzelne
Unterscheidungen bezieht; oder genauer: auf Bezeichnungen von etwas im Unterschied zu anderem. Das Individuen erinnern und wie sie aus Anlaß der Mitwirkung an Kommunikation ihr eigenes Gedächtnis
Gedächtnis operiert dann mit dem, was erfolgreich bezeichnet worden ist und tendiert dazu, die andere Seite auffrischen. Den Individuen wird, anders gesagt, freistellt, identische Themen mit sehr verschiedenen
der Unterscheidung zu vergessen. Es kann zwar auch Unterscheidungen als Formen markieren, etwa die Erinnerungen zu verbinden und damit wie zufällig auf soziale Kommunikation einzuwirken. Das soziale
Unterscheidung von gut und böse; aber dann tendiert es dazu, zu vergessen, wovon diese Unterscheidung Gedächtnis würde zwar nicht funktionieren, gäbe es keine Bewußtseinssysteme mit Gedächtnis (so wie
unterschieden worden war. Diese Eigenart des Diskriminierens im Schema Vergessen/Erinnern ist nicht Bewußtseinssysteme ihrerseits auf neurophysiologisch reproduzierte Gedächtnisleistungen angewiesen sind);
zuletzt sprachlich bedingt und insofern eine Besonderheit sozialer Systeme. Durch die Subjekt/Prädikat-
Struktur unserer Sprache ist zwar nicht ausgeschlossen, aber mit erheblichen Umständlichkeiten belastet, 925
wenn man bei allen Komponenten eines Satzes immer miterwähnen wollte, wovon sie unterschieden werden. Spencer Brown behandelt den "oscillator function" a.a.O. S. 60 f. nur in Bezug auf die Unterscheidung
marked/unmarked im Kontext von Gleichungen zweiter Ordnung. Für eine semantische Theorie des Gedächtnisses müssen
Schon das wahrnehmende Bewußtsein erinnert präferenziell Dinge oder Ereignisse, aber weniger deutlich die wir den Begriff des Oszillierens auf jede zum Beobachten verwendete Unterscheidung ausdehnen, auch auf solche zwischen
Umgebungen, in die sie eingebettet waren, als man sie wahrnahm; oder wenn, dann erinnert man zwei markierten Items wie Adel und Volk oder Schlösser und Kirchen oder Domkirchen und Stadtkirchen; wobei die
Komplexarrangements, für die dann aber die weiteren Anschlüsse fehlen. Das ist nicht zuletzt deshalb zweiseitig markierten Unterscheidungen ihrerseits einen unmarkierten Raum voraussetzen, da Beobachten nur in der Welt
bewährt, weil die Dinge, die man bewußt erinnert, oder die Themen, auf die die Kommunikation möglich ist, die immer unmarkiert bleibt.
zurückkommen kann, durch Identifikation aus ihren Kontexten herausgezogen und für sich als 926
Berühmt hierfür die Unterscheidung Individualgedächtnis/Kollektivgedächtnis bei Maurice Halbwachs, Les cadres
sociaux de la mémoire, Paris 1925, 2. Aufl. 1952; ders., La mémoire collective, Paris 1950.
927
So z.B. James Fentress / Chris Wickham, Social Memory, Oxford 1992. Daß es das auch gibt, soll natürlich nicht
bestritten werden, aber wir müssen uns daran erinnern, daß wir Kommunikation überhaupt nicht, wie Fentress und
923
Siehe Heinz von Foerster, Gegenstände: greifbare Symbole für (Eigen-)Verhalten, in ders., Wissen und Gewissen: Wickham, als Transmission auffassen, sondern als autopoietische Reproduktion eigener Art.
Versuch einer Brücke, Frankfurt 1993, S. 103-115. 928
"Jeder Satz muß schon einen Sinn haben; die Bejahung kann ihn nicht geben, denn sie bejaht ja gerade den Sinn. Und
924
Siehe auch Heinz von Foerster, Was ist Gedächtnis, daß es Rückschau und Vorschau ermöglicht, in ders., Wissen und dasselbe gilt von der Verneinung. etc." (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 4.064, zit. nach: Schriften Bd.
Gewissen a.a.O. S. 299-336. 1, Frankfurt 1969, S. 31.).
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 265 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 266
934
aber es baut nicht auf die Gedächtnisleistungen der Bewußtseinssysteme auf, denn diese sind viel zu Sozialfunktionen zu unterscheiden. Ohne über eine ausreichende Theorie des Gedächtnisses zu verfügen,
verschieden und in der Kommunikation nicht auf einen Nenner zu bringen. Man darf zwar annehmen, daß der hatte Talcott Parsons an dieser Stelle eine wegweisende Intuition. In seiner Theorie des allgemeinen
Variationsspielraum sozialer Evolution beschränkt ist, wenn Individuen über ein stark ausgeprägtes Handlungssystems war eine Funktion des "latent pattern maintenance" vorgesehen, wobei latency heißt, daß
Kollektivgedächtnis verfügen und die Kommunikation hinreichend ähnliche Erinnerungen bei allen Ordnungsmuster auch dann erhalten und tradiert werden müssen, wenn sie momentan nicht aktualisiert
Teilnehmern voraussetzen kann. Aber das erklärt gerade nicht, wie evolutionäre Variation überhaupt möglich werden. Dies zu leisten ist nach Parsons die Aufgabe des kulturellen Subsystems des Handlungssystems. Es
ist und wie die soziale Kommunikation Erinnerung (Vergangenheit) und Oszillation (Zukunft) trennt. muß danach seit Beginn menschlicher Gesellschaftsbildung Kultur gegeben haben, und das Problem ist nur,
Jede Gesellschaft ist auf ein eigenes, selbstproduziertes, an allen Operationen mitwirkendes Gedächtnis daß und wie es im Laufe der Evolution zu einer Differenzierung von Kultursystem und Sozialsystem mit
935
angewiesen; denn keine Gesellschaft könnte den Fortgang der eigenen Operationen davon abhängig machen, verschiedenen Beiträgen zur Ermöglichung von Handeln gekommen ist. Der Begriff der Kultur erklärt
daß zunächst einmal klargestellt wird (und wie denn, wenn nicht durch Kommunikation?), was den Beteiligten jedoch nicht genau genug, wie diese Überbrückungsfunktion erfüllt wird. Eben dafür muß man auf eine
neurophysiologisch und psychisch als bekannt, als vertraut bzw. als Tatsache der Vergangenheit gegeben ist. Theorie des Gedächtnisses zurückgehen, und es fragt sich dann, was man zusätzlich gewinnt, wenn man das
929
Schriftlose Gesellschaften halten sich an "Objekte" oder "Quasi-Objekte". Damit sind weder Themen der soziale Gedächtnis als Kultur bezeichnet.
Kommunikation gemeint, über die von Fall zu Fall ausdrücklich gesprochen wird, noch die bloße Materialität Deshalb ändern wir die Problemstellung und fragen, weshalb die Gesellschaft einen Begriff der Kultur
936
von Sachverhalten der Außenwelt. Es handelt sich vielmehr um Festlegungen des Sinns und der richtigen erfindet, um ihr Gedächtnis zu bezeichnen. Der Begriff der Kultur ist nämlich ein historischer Begriff , und
Form von Gegenständen (Häusern, Werkzeugen, Plätzen und Wegen oder Namen von Naturobjekten, aber die moderne Gesellschaft müßte sich vergegenwärtigen, wann und weshalb sie diesen Begriff eingeführt hat.
auch von Menschen), auf die sich die Kommunikation beziehen kann, ohne daß Zweifel darüber aufkommen, Vermutlich doch wohl: um ihr Gedächtnis umzustrukturieren und es den Erfordernissen der modernen,
was gemeint ist und wie damit umzugehen ist. Die Gedächtnisfunktion wird markiert durch die Annahme, daß hochkomplexen, eigendynamischen Gesellschaft anzupassen.
es "richtige" Formen und "richtige" Namen gebe und daß das Kennen der Namen Macht über die Objekte Denn von "Kultur" als einem eigenständigen Gegenstandsbereich im Unterschied zu "Natur" spricht man
937
gebe. Ornamente können diese Auszeichnung verstärken und eine Brücke bilden zur Dirigierung psychischer erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts , und zwar in Reaktion auf zunehmend universalistische,
Aufmerksamkeit. Außerdem gibt es "Quasi-Objekte", das sind Riten oder Feste oder erzählbare Mythen, also historische und regionale Vergleiche, die Extremfälle (die "Wilden", vorbiblische Zeiten) einbeziehen und das
Inszenierungen, deren Funktion speziell darin liegt, die Operationen des Systems in einer im einzelnen nicht Material unter dem Gesichtspunkt von für Menschen notwendiger "Kultur" aufbereiten. Bis heute ist keine
voraussehbaren Weise mit Gedächtnis zu versorgen. Die heute gründlich erforschten Erzähltraditionen klare Abgrenzung des damit gemeinten Phänomenbereichs gelungen, etwa semiotisch im Verhältnis zu
938
schriftloser Gesellschaften dienen dann auch nicht der Übertragung von Wissen, sondern der "Zeichen" im allgemeinen oder soziologisch im Verhältnis zu "Handlung". Das könnte ein Hinweis darauf
redenden/hörenden Einstimmung auf etwas, was man schon weiß und als Erinnerung reaktualisiert. Die dazu sein, daß Kultur in der Tat nichts anderes ist als das Gedächtnis der Gesellschaft, also der Filter von
erforderlichen Gedächtnisleistungen der Sänger sind ihrerseits an die Form der Kommunikation gebunden, an Vergessen/Erinnern und die Inanspruchnahme von Vergangenheit zur Bestimmung des Variationsrahmens der
Rhythmik, Musik, Formalismen, vorgefertigte, dem Rhythmus schon eingepaßte Phrasen, Inszenierungen Zukunft. Das könnte auch erklären, daß Kultur sich nicht als beste aller Möglichkeiten begreift, sondern eher
usw. und könnten unabhängig von Kommunikation nicht einmal bewußt gemacht werden. die Vergleichsmöglichkeiten dirigiert und damit zugleich den Blick auf andere Möglichkeiten verstellt. Kultur
930
Gedächtnis dieser Art gibt es also längst vor der Erfindung von Schrift. Das Gedächtnis früher verhindert, anders gesagt, die Überlegung, was man anstelle des Gewohnten anders machen könnte. Die
931
Gesellschaften ist vor allem ein topographisches Gedächtnis. Ein topographisches Gedächtnis genügt, Erfindung eines besonderen Begriffs der Kultur wäre demnach einer Situation verdankt, in der die
solange das Problem darin liegt, Szenen für wiederholbares Handeln (zum Beispiel heilige Plätze oder Tempel Gesellschaft so komplex geworden ist, daß sie mehr vergessen und mehr erinnern und dies reflektieren muß
932
für Kulte) bereitzuhalten. Es stellt Orte, darunter Bauten, bereit, die Interaktionen ermöglichen und trennen. und deshalb einen Sortiermechanismus benötigt, der diesen Anforderungen gewachsen ist.
939
Darin liegt die als bekannt vorauszusetzende Struktur, die Begegnungen (und Vermeidung von Begegnungen) Das läßt sich auch an dem von Bourdieu eingeführten Begriff des "kulturellen Kapitals" ablesen. Denn
reguliert. Damit ist zugleich eine Abgrenzung eines Eigenbereichs, einer bewohnten "Zivilisation" gegenüber Kapital ist doch nichts anderes als angesammelte Vergangenheit, die als verfügbare Ressource behandelt
einer unbekannt bleibenden, deshalb "wilden" Umwelt gegeben, und das nichtobjektivierte Geschehen kann werden kann, ohne daß die Lern- und Aneignungsprozesse selbst erinnert werden müßten. Der Begriff des
vergessen werden. Da dies Bekanntsein (wie Gedächtnis überhaupt) unbemerkt funktioniert, bleibt das Kapitals verdeckt zwar die Vergleichsmöglichkeiten, auf die es im Kulturbegriff ursprünglich angekommen
Sonderproblem nur der persönliche Wunsch, nicht vergessen zu werden. Er wird in Mesopotamien zunächst war, und ersetzt sie durch den sozialen Vergleich von Prestigewerten der symbolischen Güter. Insofern bringt
933
an die Götter, später an die Nachkommen gerichtet. Schrift ergänzt nur das objektgebundene Gedächtnis der Begriff des kulturellen Kapitals nur ein schmales Segment dessen heraus, was das kulturell geformte
durch ein mobileres Gedächtnis, das laufend neu erzeugt werden kann, aber im Aufschreiben auch Gedächtnis für die Gesellschaft bedeutet.
Entscheidungen zwischen Erinnern und Vergessen erfordert, für die Kriterien und Kontrollen nachentwickelt
werden müssen.
934
Weder die schriftlosen noch die literaten Gesellschaften haben ihre Abhängigkeit von einem Auch historische Analysen von Gedächtnisleistungen arbeiten heute mit diesem Begriff. Siehe vor allem Jan Assmann,
selbstproduzierten Gedächtnis voll erfassen können, obwohl es einen hochentwickelten Kult des Gedächtnis Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.
und entsprechende Techniken des Erinnern-Lernens gegeben hat. Erst in der modernen Gesellschaft entsteht 935
Wir haben darüber bereits im Abschnitt über Ideenevolution gehandelt und auf Schrift als Bedingung dieser Trennung
ein hinreichend allgemeiner Begriff von Kultur, der sich dazu eignet, das soziale Gedächtnis von anderen hingewiesen.
936
Ausführlicher: Niklas Luhmann, Kultur als historischer Begriff, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 4,
Frankfurt 1995, S. 31-54.
937
Ausnahmen für das 17. Jahrhundert seien zugestanden. Das Historische Wörterbuch der Philosophie erwähnt s.v. Kultur
929
im Sinne von Michel Serres, Genèse, Paris 1982, S. 146 ff. — dort im Unterschied zu konsenspflichtigen Themen eines (Bd. 4, Basel 1976, Sp. 1309 f.) Pufendorf. Ein anderes Beispiel wäre Baltasar Gracián, El discreto XVIII, zit. nach der
Sozialvertrags. Ausgabe Buenos Aires 1960, S. 156 ff. im Kapitel De la cultura y aliño.
930 938
Dazu Mary Douglas, How Institutions Think, Syracuse N.Y. 1986, S. 69 ff.; Jan Assmann, Lesende und nichtlesende Der Vorschlag von Parsons, Kultur als konstitutive Bedingung von Handlung zu berücksichtigen, bezieht sich auf den
Gesellschaften, in: Almanach (des Deutschen Hochschulverbandes) Bd. VII (1994), S. 7-12. Vgl. auch oben Kap. II, ... Begriff der Handlung und dient der Ausarbeitung einer Theorie, die methodisch bewußt nur analytische Ansprüche erhebt.
931 939
So auch für heute Pierre Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire, 3 Bde. (mit Teilbänden), Paris .... Vgl. zuerst Pierre Bourdieu / Jean Claude Passeron, La reproduction: Eléments pour une théorie du système
932 d'enseignement, Paris 1970. Die anschließende amerikanische Diskussion befaßt sich leider fast nur mit institutionellen
Vgl. für das frühe Mesopotamien Jonker a.a.O. (1995).
Korrelaten. Siehe z.B. Paul DiMaggio, Social Structure, Institutions and Cultural Goods: The Case of the United States, in:
933
Vgl. Jonker a.a.O. S. 95 f. Pierre Bourdieu / James S. Coleman (Hrsg.), Social Theory for a Changing Society, Boulder - New York 1991, S. 133-155.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 267 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 268

Der Einfluß des Gedächtnisses auf Strukturentwicklungen bleibt weitgehend unbemerkt. Das Gedächtnis Vergleichsgesichtspunkten und der Frage nach der sozialen Bedingtheit dieser Entscheidung. Zunächst hat
wird nicht als deren Ursache genannt. So mag der beginnende politische Zentralismus im frühen man offenbar Selbstvertrauen genug, um die Vergleiche regional (europazentriert, wenn nicht von einer
Mesopotamien darauf zurückzuführen sein, daß hauptsächlich über die Taten der Könige berichtet und diese Nation ausgehend) oder historisch zu lokalisieren, was einen besonderen Begriff des Zeitgeistes bzw. der
940
Berichte tradiert werden ; aber die Selektivität dieser Berichte gilt natürlich nicht als die Ursache der Moderne erfordert. Oder man bearbeitet die Fülle des Materials strikt "wissenschaftlich" (ethnologisch,
Königsherrschaft. Das Problem des Gedächtnisses wird statt dessen hauptsächlich in Erinnerungsverlusten geschichtswissenschaftlich, geisteswissenschaftlich) und muß dabei in Kauf nehmen, daß der
gesehen. Zunächst möchten vor allem Personen verhindern, daß sie vergessen werden. Erst später kommt Wissenschaftsstatus dieser Bemühungen von den etablierten Naturwissenschaften unterschieden werden muß.
hinzu, daß man vorhandenes Sachwissen und -können nicht vergessen möchte. Schon in der alten memoria- Mit all dem gerät man in Begründungsprobleme, die sich nicht (oder anders) stellen würden, wenn man
Lehre war es das Zentralproblem gewesen, wie man das Vergessen verhindern könne, jedenfalls das systemtheoretisch ansetzt und die Gesellschaft selbst als Differenz begreift.
Vergessen von Wahrheiten. Die sogenannte Renaissance und ihre gepflegte Gedächtnislehre hatte entdeckt, Die auf Vergleiche bezogene, aus Vergleichen entwickelte Unterscheidungstechnik der Kultur hat
daß es in dieser Welt (!) in den Künsten und Wissenschaften schon einmal besser gewesen war und daß man erhebliche Konsequenzen für die Art und Weise, in der die Gesellschaft auf ihre eigene Evolution reagiert.
das schon einmal erreichte Niveau wiedererreichen müsse. Der Möglichkeitsbeweis lag in der Kulturvergleiche inhibieren in einem zuvor unbekannten Umfange das Vergessen. Es werden nicht mehr nur
941
Vergangenheit. Dieses traditionsabhängige Konzept zerbricht jedoch an Überforderung. Die Neuformierung Wahrheiten dem Sog des Vergessens entrissen, sondern — man kann fast sagen: alles Mögliche. Mehr als
942
des Problems beginnt mit Vico und läuft gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf den neu konzipierten Begriff zuvor wird als gleich erkennbar, aber das gibt jetzt kaum noch Orientierungsgewißheit. Damit verliert das
der Kultur zu. Gedächtnis die Funktion, Anhaltspunkte zu bieten. Es verliert die Funktion der Konsistenzprüfung in den
Man stellt sich darunter eine besondere Gegenstandssphäre vor, die wissenschaftlich (und sei es nur laufenden Operationen (Kommunikationen) der Gesellschaft. Diese Aufgabe muß den Spezialgedächtnissen
947
"geisteswissenschaftlich") faßbar sei. Die Diskussion darüber hält an. Geht man jedoch davon aus, daß das der Funktionssysteme überlassen bleiben, die untereinander nicht mehr integriert werden können. Damit
948
Interesse am "interessanten" Vergleich der Auslöser gewesen war, dann erhellt, daß eine neue Art von bleibt auch die gesamtgesellschaftliche Realitätskonstruktion unbestimmt. Sie wird, wie wir noch sehen
Unterscheidungstechnik ins Spiel kommt. Man benötigt dafür dreistellige Relationierungen, wenn nicht werden, ihrerseits einem Funktionssystem, dem System der Massenmedien übertragen. Was jetzt als
dreiwertige Logiken, nämlich einen Vergleichsgesichtspunkt, der bei großen, oft extrem großen Gesamtformel für Realitätskonstruktionen angeboten werden kann, ist: daß es eine solche Gesamtformel nicht
949
Verschiedenheiten trotzdem noch Gleiches erkennen kann, und dies nicht mehr im Schema der naturalen mehr gibt. Hegel hatte, wie man weiß, keine Erben.
Ähnlichkeiten von Arten und Gattungen, sondern im Schema funktionaler Äquivalenzen. Es gibt jetzt zum Das besagt nun aber keineswegs, daß jeder Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft
Beispiel eine Funktion der Religion, die auf sehr verschiedene Weise erfüllt werden kann. Und es gibt eine abreißt; denn das müßte ja auch heißen, daß beide Zeithorizonte nicht mehr unterschieden werden können, da
943 950
kulturelle Symptomatologie , die Kulturphänomene als Symptome für etwas anderes liest. Die Weite des sie wechselseitig füreinander "unmarked states" wären. So etwas scheint der Legende vom "Ende der
944
Vergleichsradius stimuliert eine Kultur des Verdachts, an die dann die Soziologie anschließen kann. Und Geschichte" vorzuschweben; aber es steht im krassen Widerspruch zu dem, was die Gesellschaft alltäglich in
Tradition ist jetzt nicht mehr die Selbstverständlichkeit dessen, was das Gedächtnis präsentiert, sondern eine ihren Kommunikationen voraussetzt und reproduziert. An diesem Punkte könnte die vorstehend skizzierte
945
Form der Beobachtung von Kultur. Theorie des gesellschaftlichen Gedächtnisses weiterhelfen.
Mit dieser neuen Semantik von "Kultur" erscheint ein neu formiertes Differenzdenken — neu formiert in Anscheinend operiert unsere Kultur so, daß sie in die Vergangenheit Unterscheidungen hineinliest, die
der Form von Vergleichen. Auch ältere Gesellschaften hatten ihre Institutionen auf Urteile über gleich und dann Rahmen liefern, in denen die Zukunft oszillieren kann. Die Unterscheidungen geben Formen an, die
946
ungleich gegründet und damit kognitiv abgesichert. Das konnte, je nach der Eingewöhnung in den bestimmen, was von etwas Bestimmtem aus die "andere Möglichkeit" wäre. Die Konkretion der jeweils
jeweiligen Gesellschaften, auf sehr verschiedene Weise geschehen und ohne einen Begriff von Kultur. Durch verwendeten Unterscheidungen bleibt variabel; aber um sie variieren zu können, muß man Unterscheidungen
den Begriff der Kultur wird die Orientierung von Gleichheit auf Vergleichbarkeit umgestellt und damit unterscheiden, sie als Formen markieren und sich damit denselben Bedingungen des Oszillierens innerhalb
mobilisiert. Das läßt es noch zu (zunächst jedenfalls), von einer Mehrheit von Gesellschaften auszugehen, die von implizit oder explizit vorausgesetzten Unterscheidungen überlassen. Es scheint keine verbindliche
951
man in ihrer regionalen und/oder historischen Diversität vergleichen kann. Dieses Vergleichen hat "primary distinction" mehr zu geben — weder die von Sein und Nichtsein, noch die der logischen
952
weitreichende Effekte. Es ruiniert im Laufe der Zeit — zum Beispiel in den empirischen Forschungen der Wahrheitswerte, weder die der Wissenschaft, noch die der Moral. Aber das heißt nicht, daß es ohne
Ethnologie, aber auch in den Forschungen der Durkheim-Schule über Klassifikationen — die Annahme, daß Unterscheidungen ginge. Die Konsequenz ist nur: daß man genötigt ist, zu beobachten, wer welche
es für Urteile über gleich und ungleich überhaupt naturale, im Wesen der Dinge liegende Grundlagen geben Unterscheidungen verwendet, um seine Vergangenheit seiner Zukunft vorzugeben.
könne. Formal belastet sich dieses Interesse am Vergleichen mit der Vorwegbestimmung von Während wir annehmen, daß Evolution geschieht, wie sie geschieht, und dies in einer Weise, die die
Kopplung von Vergangenheit und Zukunft in den Formen Variation/Selektion/Restabilisierung dem Zufall
940 überläßt, ist das operative Gedächtnis des Systems gerade mit der Kopplung von Vergangenheit und Zukunft
Siehe Jonkers a.a.O. (1995), S. 105 und passim.
941
Die Gedächtnislehre selbst war entsprechend weitgehend eine Wiederaufnahme antiken Gedankenguts; sie erinnerte
947
sich also selbst an die schon einmal bekannt gewesene Technik des Sich-Erinnerns. Vgl. Frances A. Yates, The Art of Siehe zum Beispiel Dirk Baecker, Das Gedächtnis der Wirtschaft, in: ders. et al. (Hrsg.), Theorie als Passion, Frankfurt
Memory, Chicago 1966. 1987, S. 519-546; Niklas Luhmann, Das Gedächtnis der Politik, Zeitschrift für Politik 42 (1995), S. 109-121; ders., Zeit
942 und Gedächtnis, Ms. 1995.
Vgl. Patrick H. Hutton, The Art of Memory Reconceived: From Rhetoric to Psychoanalysis, Journal of the History of
948
Ideas 48 (1987), S. 371-392. Vgl. unten ...
943 949
Diese Formulierung bei Matei Calinescu, From the One to the Many: Pluralism in Today's Thought, in: Ingeborg So bekanntlich und viel diskutiert: Jean-François Lyotard, La condition postmoderne: Rapport sur le Savoir, Paris 1979.
Hoesterey (Hrsg.), Zeitgeist in Babel: The Postmodernist Controversy, Bloomington 1991, S. 156-174 (157). 950
So bekanntlich Augustin, aber nur für die Fernhorizonte der Zeit, die in der Vergangenheit ebenso wie in der Zukunft
944
Dazu Niklas Luhmann, Was ist der Fall, was steckt dahinter? Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie, "in occulto" verschwindet. Vgl Confessiones XI, 17/18, wo das "Sein" von inaktuellen Zeithorizonten mit verbleibenden
Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), S. 245-260. Zweifeln darauf zurückführt, daß "ex aliquo procedit occulto, cum ex futuro fit praesens, et in aliquod recedit occultum,
945 cum ex praesenti fit praeteritum", wobei (unausgesprochen) das Verborgene des Herkommens und Verschwindens der Zeit
Das wird im Anschluß an Karl Mannheim diskutiert. Siehe die erst spät veröffentlichte Habilitationsschrift: Karl
(tempus) als eine Art Platzhalter der Ewigkeit in der Zeit gedacht werden könnte. Zitat nach der lateinisch-deutschen
Mannheim, Konservatismus: Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt 1984. Auch Aleida und Jan Assmann a.a.O.
Ausgabe München 1955, S. 636.
(1994), S. 117 schlagen vor, den Begriff der Tradition durch den (analytisch flexibleren) Begriff des sozialen
951
Gedächtnisses zu ersetzen. Dazu Philip G. Herbst, Alternatives to Hierarchies, Leiden 1976, S. 88.
946 952
Mary Douglas, How Institutions Think, Syracuse N.Y. 1986, S. 55 meint sogar: "Similarity is an institution". Wir kommen auf dieses Auslaufen der Voraussetzungen der alteuropäischen Metaphysik unten (Kap. ...) zurück.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 269 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 270

beschäftigt; aber dies so, daß es diese Zeithorizonte zunächst einmal unterscheiden muß, um sie koppeln zu
können. Die Evolution kennt keine Anfänge. Das Gedächtnis (und eventuell: die Evolutionstheorie, wenn sie
als Systemgedächtnis dient), mag in der Konstruktion von Anfängen (Homer zu Beispiel) Ordnung und Kapitel 4 Differenzierung
Befriedigung finden. Zäsuren dienen dann als Unterscheidungen, die es ermöglichen, Vorheriges für
unbeachtlich zu halten. Das Gedächtnis ist seinerseits ein Produkt von Evolution; aber das kann es nicht
erinnern. Es baut in das, was geschehen ist, eine selbstkonstruierte Zeitdifferenz ein, mit der es umgehen kann. I. Systemdifferenzierung
Die Formen, in denen das geschieht, also die Unterscheidungen, mit denen das Gedächtnis arbeitet, evoluieren
953
mit der Evolution und wirken dann in ihr mit. Aber sie erzeugen kein Abbild der Evolution, sie repräsentieren Seitdem es Soziologie gibt, befaßt sie sich mit Differenzierung. Schon dieser Begriff verdient einige
sie nicht; sie können sie daher auch nicht kontrollieren. Die Zukunft bleibt evolutionär unbestimmt und Aufmerksamkeit. Er steht für die Einheit (oder die Herstellung der Einheit) des Differenten. Auch ältere
unvorhersehbar. Aber das Gedächtnis kann immerhin die Zukunft als Bereich möglicher Oszillationen Gesellschaften hatten natürlich Unterschiede beobachtet, sie unterschieden Städter von Landbewohnern oder
vorgeben und damit die Operationen des Systems abhängig machen von den Unterscheidungen, die jeweils Adelige von Bauern oder Angehörige einer Familie von denen einer anderen; aber es genügte ihnen, auf die
benutzt werden, um die eine (aber nicht die andere) Seite zu bezeichnen, und die eben damit angeben, welche verschiedenen Qualitäten der Wesen und der Lebensformen zu achten und entsprechende Erwartungen zu
Grenze jeweils gekreuzt werden kann. bilden, so wie im Umgang mit Dingen auch. Mit dem Begriff der Differenzierung wird ein abstrakterer
Evolution ist und bleibt unvorhersehbar. Daran kann das Gedächtnis nichts ändern. Es kann sich nur Zugriff ermöglicht, und man darf vermuten, daß dieser Abstraktionsschritt ausgelöst wurde durch die Neigung
darauf einstellen, und zwar je nach den Irritations- und Beschleunigungskoeffizienten, die sich aus der des 19. Jahrhunderts, Einheiten und Differenzen als Resultat von Prozessen zu begreifen — sei es von
Evolution ergeben, mit verschiedenen Formen. Eine ontologisch nicht mehr faßbare, sich selbst in sich selbst evolutionären Entwicklungen, sei es (wie zum Beispiel im Fall der politisch geeinten "Nationen") von
verortende Kultur scheint die Form zu sein, die das Gedächtnis der Gesellschaft erfunden und angenommen gezieltem Handeln.
hat, um die Geschichtskonstruktionen und die Zukunftsperspektiven der Gesellschaft den Bedingungen Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnte man mit diesem Konzept der Differenzierung von
anzupassen, die sich aus dem Übergang zu einer an Funktionen orientierten Primärdifferenzierung und aus Fortschrittstheorien auf Strukturanalysen umschalten und trotzdem die positive Einschätzung der
dem drohenden Kollaps der Unterscheidung von Stabilität und Variation ergeben haben. So ist es denn auch Fruchtbarkeit von Arbeitsteilung aus den Wirtschaftswissenschaften übernehmen. Noch Parsons' Theorie des
berechtigt und begründbar, einen bereits eingeführten Sprachgebrauch beizubehalten und gesellschaftliche allgemeinen Handlungssystems ist auf dieses Konzept gebaut. Es bot eine Zentralformel sowohl für
Evolution auch als "soziokulturelle Evolution" zu bezeichnen. Entwicklungsanalysen (zunehmende Differenzierung) als auch eine Erklärung des modernen Individualismus
als Resultat von Rollendifferenzierung. Georg Simmel wird von da aus zu einer Analyse des Geldes geführt,
Durkheim zu seinen Überlegungen über Veränderungen der Formen moralischer Solidarität und Max Weber
zu seinem Begriff der Rationalisierung unterschiedlicher Lebensordnungen wie Religion, Wirtschaft, Politik,
Erotik. Die Dominanz des Differenzierungskonzepts bewährt sich gerade darin, daß es scheinbar andersartige
Theorieansätze — solche der Entwicklung, solche der Individualität, solche der Wertkriterien nicht
ausschließt, sondern gerade zugänglich macht. Differenzierung ist notwendig, könnte man resümieren, zur
Erhaltung von Kohäsion unter der Bedingung von Wachstum.
An Hand des Begriffs der Differenzierung konnte die moderne Gesellschaft sich bewundern und
kritisieren. Sie konnte sich als irreversibles Resultat der Geschichte auffassen und mit viel Skepsis in die
Zukunft blicken. Hochentwickelte "Form" ist bei Simmel wie bei Weber eines der Korrelate von
Differenzierung, Hervortreten von Individualität bei wohl allen Klassikern ein anderes. Zugleich ist aber Form
nicht ohne bedenkliche Sinnverluste zu haben, sie ist immer auch Einschränkung und Verzicht; und
Individualität gibt dem Individuum nicht das, was es sein möchte, sondern produziert die Erfahrung der
Entfremdung. Mit der individuellen Eigenart wächst auch das Bewußtsein dessen, was ihr nicht gegeben ist,
und das Resultat wird seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Theorien eines pluralen Selbst,
eines Konfliktes zwischen personaler und sozialer Identität oder einer widerspruchsvollen Sozialisation
abgelegt.
Diese Überdetermination durch Anschlußmöglichkeiten mußte freilich mit einer Unschärfe des Begriffs
954
bezahlt werden. Wir schränken den Begriff deshalb auf den Sonderfall der Systemdifferenzierung ein.
Damit erschweren wir den leichtgängigen Schluß von Strukturproblemen gesellschaftlicher Differenzierung
auf individuelles Verhalten. Das soll es selbstverständlich nicht ausschließen, auch von Rollendifferenzierung
oder von differenziertem Geschmack, von begrifflichen Differenzierungen oder von terminologischen
Differenzierungen in einem ganz allgemeinen Sinne zu sprechen. Alles, was unterschieden wird, kann, wenn

953
Als klassische Monographien siehe Georg Simmel, Über sociale Differenzierung: Soziologische und psychologische
Untersuchungen, Leipzig 1890; Emile Durkheim, De la division du travail social, Paris 1893. Für Ausschnitte aus der
Ideengeschichte Niklas Luhmann (Hrsg.), Soziale Differenzierung: Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985. Für neuere
Beiträge unter anderen Renate Mayntz et al., Differenzierung und Verselbständigung: Zur Entwicklung gesellschaftlicher
Teilsysteme, Frankfurt 1988; Jeffrey C. Alexander / Paul Colomy (Hrsg.), Differentiation Theory and Social Change:
Comparative and Historical Perspectives, New York 1990.
954
Siehe dazu die Kritik von Charles Tilly, Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons, New York 1984, insb.
Kap. 2 und 3.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 271 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 272

man das Ergebnis dieser Operation meint, auch als Differenz bezeichnet werden. Die These der folgenden Im Kontext von Systemdifferenzierung ist mithin jede Veränderung eine doppelte, ja eine vielfache
Untersuchungen ist jedoch, daß andere Differenzierungen sich als Folge von Systemdifferenzierungen Veränderung. Jede Änderung eines Teilsystems ist zugleich eine Änderung der Umwelt anderer Teilsysteme.
960
einstellen, also durch Systemdifferenzierungen erklärt werden können; und dies deshalb, weil jede operative Was immer passiert, passiert mehrfach — je nach Systemreferenz. So mag eine rasche Verringerung des
(rekursive) Verknüpfung von Operationen eine Differenz von System und Umwelt erzeugt. Bedarfs an Arbeitskräften in der Wirtschaft aus konjunkturellen oder aus Konkurrenzgründen einen
Wenn ein soziales System in dieser Weise entsteht, werden wir von Ausdifferenzierung sprechen, Rationalitäts- und Rentabilitätszuwachs bedeuten, zugleich aber im politischen System, in den betroffenen
bezogen auf das, was als Folge der Ausdifferenzierung dann als Umwelt erscheint. Eine solche Familien, im Erziehungssystem der Schulen und Hochschulen oder auch als ein neues Forschungsthema der
Ausdifferenzierung kann, und das ist der Fall des Gesellschaftssystems, im nicht bezeichneten (erst durch die Wissenschaft ("Zukunft der Arbeit") auf Grund einer Veränderung in der Umwelt dieser Systeme ganz andere
Ausdifferenzierung dann bezeichenbaren) Bereich sinnhafter Möglichkeiten erfolgen, also in der nicht weiter Kausalreihen auslösen. Und dies, obwohl es für alle Systeme dasselbe Ereignis ist! Daraus resultiert eine
eingeschränkten Welt. Sie kann aber auch innerhalb von bereits gebildeten Systemen erfolgen. Nur diesen Fall enorme Dynamisierung, ein geradezu explosiver Reaktionsdruck, gegen den die einzelnen Teilsysteme sich nur
wollen wir als Systemdifferenzierung oder, wenn es auf den genannten Unterschied ankommt, als interne durch ein Hochmauern von Schwellen der Indifferenz schützen können. Differenzierung bewirkt deshalb
Differenzierung des betreffenden Systems bezeichnen. zwangsläufig: Zunahme von Abhängigkeiten und von Unabhängigkeiten zugleich unter Spezifikation und
Systemdifferenzierung ist somit nichts anderes als eine rekursive Systembildung, die Anwendung von systemeigener Kontrolle der Hinsichten, in denen man abhängig bzw. unabhängig ist. Und als Resultat
961
Systembildung auf ihr eigenes Resultat. Dabei wird das System, in dem weitere Systeme entstehen, formieren die Teilsysteme sich schließlich als operativ geschlossene autopoietische Systeme.
rekonstruiert durch eine weitere Unterscheidung von Teilsystem und Umwelt. Vom Teilsystem aus gesehen, Die Umstellung der Gesellschaftsanalyse von Schema Ganzes/Teil auf das Schema System/Umwelt
962
ist der Rest des umfassenden Systems jetzt Umwelt. Das Gesamtsystem erscheint für das Teilsystem dann als ermöglicht eine bessere Koordination von Systemtheorie und Evolutionstheorie. Sie gibt bessere Einblicke
Einheit der Differenz von Teilsystem und Teilsystemumwelt. Die Systemdifferenzierung generiert, mit in die Morphogenese von Komplexität. Sie zeigt genauer, wie die Einheit in sich selbst durch
anderen Worten, systeminterne Umwelten. Es handelt sich also, um einen schon oft benutzten Begriff Unterscheidungen wiedereingeführt werden kann; und sie läßt völlig offen, wieviele solcher Möglichkeiten es
wiederzuverwenden, um ein "re-entry" der Unterscheidung von System und Umwelt in das durch sie gibt und ob und in welchen Formen sie koordiniert werden können.
955
Unterschiedene, in das System. Auch in vielen anderen Hinsichten bietet die Systemtheorie, verglichen mit der Tradition des Denkens in
Es ist wichtig, diesen Vorgang mit der nötigen Genauigkeit zu begreifen. Es geht nicht um eine Ganzheiten und Teilen, einen größeren logischen Strukturreichtum an. Sie kann (und muß) zum Beispiel
Dekomposition eines "Ganzen" in "Teile", und zwar weder im begrifflichen Sinne (divisio) noch im Sinne unterscheiden zwischen System/Umwelt-Beziehungen und System-zu-System-Beziehungen. (Die Tradition
956
einer Realteilung (partitio). Das Schema Ganzes/Teil entstammt der alteuropäischen Tradition und würde, kennt nur den zuletzt genannten Fall). Nur mit der Unterscheidung von System und Umwelt erfaßt das System
957
hier angewandt, den entscheidenden Punkt verfehlen. Systemdifferenzierung heißt gerade nicht, daß das die Welteinheit bzw. die Einheit des umfassenden Systems, und zwar mit einer jeweils selbstbezüglichen
Ganze in Teile zerlegt wird und, auf dieser Ebene gesehen, dann nur noch aus den Teilen und den Unterscheidung. Mit System-zu-System-Beziehungen (zum Beispiel solchen von Familie und Schule) erfaßt
"Beziehungen" zwischen den Teilen besteht. Vielmehr rekonstruiert jedes Teilsystem das umfassende System, es nur Welt- bzw. Gesellschaftsausschnitte. Gerade diese Ausschnitthaftigkeit ermöglicht es dann aber, das
dem es angehört und das es mitvollzieht, durch eine eigene (teilsystemspezifische) Differenz von System und jeweils andere System als System-in-einer-eigenen-Umwelt zu beobachten und damit die Welt bzw. die
Umwelt. Durch Systemdifferenzierung multipliziert sich gewissermaßen das System in sich selbst durch Gesellschaft aus der Perspektive des Beobachtens von Beobachtungen (Beobachtungen zweiter Ordnung) zu
immer neue Unterscheidungen von Systemen und Umwelten im System. Der Differenzierungsvorgang kann rekonstruieren. In der Umwelt der anderen Systeme kommt dann auch dasjenige System, das sie beobachtet,
spontan einsetzen; er ist ein Resultat von Evolution, die Gelegenheiten benutzen kann, um strukturelle wieder vor. Das Gesamtsystem, das diese Perspektiven eröffnet, erpreßt sich damit gleichsam selbst zur
963
Veränderungen zu lancieren. Er setzt keine Koordination durch das Gesamtsystem voraus, wie das Schema Reflexion.
des Ganzen und seiner Teile suggeriert hatte. Und er setzt auch nicht voraus, daß alle Operationen, die im In den System-zu-System Beziehungen, die eine gesellschaftliche Ordnung der Differenzierung zuläßt,
Gesamtsystem vollzogen werden, auf Teilsysteme verteilt werden, so daß das Gesamtsystem nur noch in den kann es nur strukturelle Kopplungen geben, die die Autopoiesis der Teilsysteme nicht aufheben. Das gilt zum
Teilsystemen operieren kann. Auch eine hochdifferenzierte Gesellschaft kennt viel "freie" Interaktion. Als Beispiel für das Verhältnis von Dörfern zu Dörfern in segmentären Gesellschaften, aber auch für das
Konsequenz ergibt sich dann eine Differenzierung von Gesellschaftssystem und Interaktionssystemen, die mit Verhältnis der Kasten oder Geburtsstände in hierarchischen Ordnungen und, in viel komplexeren und
958
der Differenzierungsform der Gesellschaft variiert. unübersichtlichen Formen, auch für das Verhältnis der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft
Der Differenzierungsvorgang kann also irgendwo und irgendwie beginnen und dann die eingetretene zueinander. Was im Verhältnis der Teilsysteme zueinander als strukturelle Kopplung fungiert, ist zugleich
959
Abweichung verstärken. Unter vielen Siedlungen bildet sich ein bevorzugter Ort, an dem aber eine Struktur des umfassenden Systems der Gesellschaft. Das rechtfertigt es, Gesellschaftssysteme vor
Zentralisierungsvorteile sich wechselseitig stützen, so daß schließlich eine neue Differenz von Stadt und Land allem durch die Form ihrer Differenzierung zu charakterisieren, denn das ist die Form der Strukturbildung, die
entsteht. Erst dadurch werden die übrigen Siedlungen zu "Dörfern" im Unterschied zur Stadt und richten sich jeweils bestimmt und einschränkt, welche strukturellen Kopplungen im Verhältnis der Teilsysteme zueinander
allmählich darauf ein, daß es auch eine Stadt gibt, in der ein anderes Leben gelebt werden kann als im Dorf möglich sind.
und die als Umwelt des Dorfes dessen Möglichkeiten verändert.
960
Von theoretisch formulierenden Biologen wird dieser Sachverhalt und mit ihm das die Tatsache, daß alles, was
geschieht, gleichzeitig geschieht, oft übersehen. Anders kann man es sich nicht erklären, wenn John Maynard Smith,
955 Evolution and the Theory of Games, Cambridge England 1982, S. 8, schreibt: "Evolution is a historical process; it is a
Im Vorgriff auf spätere Analysen sei noch angemerkt, daß hier von Operationen die Rede ist, die System und Umwelt
unique sequence of events."
trennen. Soweit es um Beobachtungen geht, führt ein entsprechendes re-entry zur systeminternen Unterscheidung von
961
Selbstreferenz und Fremdreferenz. Siehe vor diesem Theoriehintergrund für das Verhältnis von Änderungen im Wirtschaftssystem und Änderungen im
956 Rechtssystem, die einander wechselseitig dynamisieren, Michael Hutter, Die Produktion von Recht: Eine selbstreferentielle
Wir kommen darauf in Kapitel 5 ausführlicher zurück.
Theorie der Wirtschaft, angewandt auf den Fall des Arzneimittelpatentrechts, Tübingen 1989, insb. S. 43 ff.
957
Das hatte bekanntlich auch Jacques Derrida moniert und deshalb einen zeitbezogenen Begriff der différance 962
Die Tradition, die mit dem Schema Ganzes/Teil gearbeitet hatte, kennt denn auch keine Evolutionstheorie, sondern
vorgeschlagen. Auch für unsere folgenden Analysen geht es nicht um Dekomposition einer ursprünglichen Einheit, sondern
benutzt zur Darstellung der Zeitdimension des gesellschaftlichen Werdens Vorstellungen wie Kreation oder Emanation der
um die Emergenz von Unterschieden in einem als unmarkiert vorauszusetzenden Weltzustand.
Vielheit aus der Einheit.
958
Siehe dazu unten .... 963
Das erste Mal scheint eine solche Analyse in der Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts durchgeführt worden zu sein.
959
Die Kybernetik behandelt dies mit dem Begriff des "positiven feedback". Siehe Magoroh Maruyama, The Second Aber hier ging es um Personen, und die Zielrichtung der Analyse lag in der Relativierung der Unterscheidung von
Cybernetics: Deviation-Amplifying Mutual Causal Processes, General Systems 8 (1963), S. 233-241. Egoismus und Altruismus, zum Beispiel durch den Begriff der Sympathie in Adam Smith's Theory of Moral Sentiments.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 273 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 274
972
Die Umstellung vom Schema Ganzes/Teil auf das Schema System/Umwelt verändert schließlich die damit abgegrenzten internen Umwelt dieses Systems verdanken. Jede Ausdifferenzierung autopoietischer
Stellung des Begriffs der "Integration". In der alteuropäischen Denkweise gab es dafür keinen besonderen Systeme erzeugt ja interne Unbestimmtheiten, die durch Strukturentwicklungen noch ausgeweitet, aber auch
Begriff, denn die Integration der Teile war in der Ganzheitlichkeit des Ganzen als ordinata concordia eingeschränkt werden können. Integration ist nach diesem Begriffsvorschlag also ein Aspekt des Umgangs
mitvorgesehen und wurde an den Einzelphänomenen dann als ihre Natur oder ihr Wesen zum Ausdruck mit, oder der Nutzung von, internen Unbestimmtheiten auf der Ebene des Gesamtsystems wie auf der Ebene
964
gebracht. Die klassische Soziologie reformuliert das Problem als eine quasi gesetzmäßig Beziehung seiner Teilsysteme.
zwischen Differenzierung und Integration. Die Differenzierung könne nicht ins Extrem völliger Indifferenz Im Unterschied zum Gesellschaftssystem gibt es für dessen Teilsysteme ja zwei Umwelten: die
965 973
getrieben werden. "Quelques rapports de parenté", meint Durkheim , folgten allein aus dem Umstand, daß es gesellschaftsexterne und die gesellschaftsinterne. Integration ist, so verstanden, kein wertgeladener Begriff
sich um die Differenzierung eines Systems handele. Und Parsons macht daraus: "Since these differences are und ist auch nicht "besser" als Desintegration. Sie bezieht sich auch nicht auf die "Einheit" des differenzierten
conceived to have emerged by a process of change in a system.... the presumption is that the differentiated Systems (was rein begriffslogisch schon darauf folgt, daß es zwar mehr oder weniger Integration, aber nicht
parts are comparable in the sense of being systematically related to each other, both because they still belong mehr oder weniger Einheit geben kann). Integration ist also nicht Bindung an eine Einheitsperspektive und
966
within the same system and, through their interrelations, to their antecedents." Dabei bleibt der Begriff der schon gar nicht eine Sache des "Gehorsams" der Teilsysteme im Verhältnis zu Zentralinstanzen. Sie liegt nicht
967 968
Integration zumeist jedoch undefiniert und wird, wie man kritisch angemerkt hat, mehrdeutig verwendet. in der Beziehung der "Teile" zum "Ganzen", sondern in der beweglichen, auch historisch beweglichen
969
Häufig fließen in ihren empirischen Bedingungen nicht weiter reflektierte Konsensprämissen ein. Das hatte Justierung der Teilsysteme im Verhältnis zueinander. Die Einschränkung der Freiheitsgrade kann in
zur Konsequenz, daß der Begriff der Integration nach wie vor benutzt wird, um Einheitsperspektiven oder Bedingungen der Kooperation liegen, sie findet sich aber noch viel stärker im Konflikt. Der Begriff meint also
sogar Solidaritätserwartungen zu formulieren und entsprechende Einstellungen anzumahnen, — im gerade nicht die Differenz von Kooperation und Konflikt, sondern ist dieser Unterscheidung übergeordnet.
alteuropäischen Stil! Der Geschichtsprozeß wird wie ein Vorgang der Emanation beschrieben: Aus Das Problem des Konflikts ist die zu starke Integration der Teilsysteme, die immer mehr Ressourcen für den
Homogenität wird Heterogenität, wobei die Heterogenität die Homogenität dadurch ersetzt, daß sie Streit mobilisieren und sonstiger Verfügung entziehen müssen, und das Problem einer komplexen Gesellschaft
970
Differenzierung und Integration zugleich erfordert. Unter solchen Umständen, wird oft gesagt, kommt der ist es dann, für hinreichende Desintegration zu sorgen.
Mobilität die Funktion der Integration zu, und "Mobilisierung" galt deshalb als eines der entscheidenden Eine solche Einschränkung kann dadurch zustandekommen, daß sich Anschlüsse einspielen —
Rezepte einer Modernisierungspolitik für Entwicklungsländer (solange die chaotischen Folgen der Anschlüsse von Operationen an Operationen oder Anschlüsse von Operationen an Strukturen —, ohne daß
974
Wanderungsbewegungen und Verstädterungen nicht eines besseren belehrten). dafür Konsens erforderlich wäre. Man spart dadurch Aufmerksamkeit in den psychischen Systemen und
Ein normativer, Integration fordernder oder doch gutheißender Begriff muß jedoch in Gesellschaften, die Koordination von Intentionen im sozialen System. Man registriert auch die "Einschränkung" nicht. Das
komplexer werden, auf zunehmenden Widerstand stoßen. Wenn man ihn beibehält, sieht man sich zu entlastet. Andererseits wird dadurch eine Änderung der "tacit collective structure", wie dies oft bezeichnet
971
paradoxen oder tautologischen, selbstimplikativen Formulierungen gezwungen. Die Kommunikation des wird, erschwert. Oft machen erst Unfälle oder Mißerfolge bewußt, daß man eine Koordination vorausgesetzt
Gebots (und wie anders sollte es Realität werden?) wird mehr "Neins" als "Jas" auslösen, so daß die Hoffnung hatte, die nicht in jedem Falle gegeben sein muß.
auf Integration schließlich zu einer Ablehnung der Gesellschaft führt, in der man lebt. Und dann? Fragt man nach den Bedingungen für Integration/Desintegration, dann stößt man letztlich auf ein
Um solche Überdeutungen zu vermeiden, wollen wir unter Integration nichts anderes verstehen als die Zeitverhältnis. Denn alles, was geschieht, geschieht (wenn man es auf Zeit hin beobachtet) gleichzeitig. Die
Reduktion der Freiheitsgrade von Teilsysteme, die diese den Außengrenzen des Gesellschaftssystems und der Konsequenz ist zunächst, daß gleichzeitig Ereignisse einander wechselseitig nicht beeinflußen und nicht
kontrollieren können; denn Kausalität erfordert eine Zeitdifferenz zwischen Ursachen und Wirkungen, also ein
Überschreiten der Zeitgrenzen des Gleichzeitig-Aktuellen. Andererseits kann die Einheit eines Ereignisses,
eines Unfalls, einer Handlung, einer Sonnenfinsternis oder eines Gewitters, nach Beobachterinteressen sehr
964
So spricht Edward Reynolds, A Treatise of the Passions and Faculties of the Soule of Man, London 1640, Nachdruck verschieden zugeschnitten werden. Dabei ist es nicht erforderlich, Systemgrenzen zu beachten. Die Vorlage
Gainesville Fla. 1971, S. 76, "of the generall care of the Creator; whereby he hath fastened on all creatures, not only his eines Haushaltsplans im Parlament kann ein Ereignis im politischen System, im Rechtssystem, im System der
private desire to satisfie the demands of their owne nature, but has also stamp'd upon them a generall charitie and feeling of Massenmedien und im Wirtschaftssystem sein. Dadurch findet ständig Integration statt im Sinne einer
Communion, as they are sociable parts of the Universe or common Body; wherein cannot be admitted (by reason of the wechselseitigen Einschränkung der Freiheitsgrade der Systeme. Aber dieser Integrationseffekt bleibt auf die
necessarie mutuall connexion betweene the parts thereof) any confusion or divulsion without immediate danger to all the
Einzelereignisse begrenzt. Sobald man Vorgeschichten und Konsequenzen mitbeachtet, sobald man also die
members."
Zeitgrenzen des gleichzeitig Aktuellen überschreitet und Rekursionen in Betracht zieht, wirkt sich das
965
De la division de travail social (1893), zit. nach der Ausgabe der zweiten Auflage Paris 1973, S. XX. Magnetfeld der Systeme auf die Identifikation aus; und dann ist der Rechtsakt der Einbringung des
966
So Talcott Parsons, Comparative Studies and Evolutionary Change, in: Ivan Vallier (Hrsg.), Comparative Methods in Haushaltsentwurfs etwas anderes als der Anlaß für Nachrichten und Kommentare in den Medien, etwas
Sociology: Essays on Trends and Applications, Berkeley 1971, S. 97-139 (101 f.), neu gedruckt in Talcott Parsons, Social anderes auch als die politische Symbolisierung von Konsens und Dissens und etwas anderes schließlich als
Systems and the Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 279-320. das, was die Börsen wahrnehmen. Im Pulsieren der Ereignisse integrieren und desintegrieren die Systeme sich
967
Als einen Definitionsvorschlag siehe etwa Walter L. Bühl, Ökologische Knappheit: Gesellschaftliche und technologische von Augenblick zu Augenblick. Das mag, wenn wiederholt und dann antezipiert, die Strukturentwicklungen
Bedingungen ihrer Bewältigung, Göttingen 1981, S. 85: " 'Integration' meint den Grad der funktionalen Verbundenheit der der beteiligten Systeme beeinflußen. In diesem Sinne spricht Maturana von "structural drift". Aber die
differenzierten Teile oder Komponenten, so daß die eine Komponente nicht ohne die andere wirksam werden kann".
Dagegen wäre zu bedenken, daß "funktionale Verbundenheit" unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung gerade
972
darin besteht, daß die Einzelsysteme nicht dieselbe Funktion erfüllen. Eine sehr ähnliche Formulierung benutzt in einem kulturanthropologischen Kontext Robert Anderson, Reduction of
968 Variants as a Measure of Cultural Integration, in: Gertrude E. Dole / Robert L. Carneiro (Hrsg.), Essays in the Science of
Für einen aktuellen Überblick siehe Helmut Willke, Systemtheorie, 3. Aufl. Stuttgart 1991, S. 167 ff.
Culture in Honor of Leslie A. White, New York 1960, S. 50-62. Siehe auch Helmut Willke, Staat und Gesellschaft, in:
969
Dazu kritisch bereits Kapitel 1, ... Klaus Dammann / Dieter Grunow / Klaus P. Japp (Hrsg.), Die Verwaltung des politischen Systems, Opladen 1994, S. 13-
970 26 (20): Reduktion der durch die Gesellschaft selbst geschaffenen Optionen sei die Überlebensfrage der modernen
Anzumerken wäre noch, daß es mit Gabriel Tarde auch einen ganz andersartigen Ansatz gegeben hat, der von Differenz
Gesellschaft.
ausgeht und die darauf folgenden Entwicklungen als Imitation bzw. Diffusion beschreibt. Aber er hat sich nicht durchsetzen
973
können. Vgl. dazu André Béjin, Différenciation, complexification, évolution des sociétés, Communications 22 (1974), S. Darauf stellt auch Helmut Willke ab in: Zum Problem der Integration komplexer Systeme: Ein theoretisches Konzept,
109-118. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 30 (1978), S. 228-252.
971 974
"Soziale Integration meint ein gelungenes Verhältnis von Freiheit und Bindung", liest man bei Bernhard Peters, Die Vgl. Lloyd A. Allport, A Structuronomic Conception of Behavior: Individual and Collective, Journal of Abnormal and
Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt 1993, S. 92. Social Psychology 64 (1962), S. 3-30.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 275 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 276

operative Basis für Integration/Desintegration bleibt immer das Einzelereignis, das für den Moment in Verhältnis Gesellschaft/Organisation einen langfristigen und schwer reversiblen Effekt der Evolution
979
mehreren Systemen zugleich identifiziert wird. Keine Handlung kann adäquat geplant, keine Kommunikation gesellschaftlicher Differenzierungsformen. Wir finden uns hier an der Stelle, an der die soziologische
erfolgreich lanciert werden, wenn man diesen komplizierten Mechanismus nicht beherrscht, wie immer Klassik (Michels, Weber) "Bürokratie" als Bedingung moderner Gesellschaftsordnung analysiert hatte.
einseitig die interessengeleiteten und systemisch konditionierten Beiträge dann ausfallen mögen. Abschließend ist daran zu erinnern, daß die hier skizzierte, im Folgenden auszuarbeitende Theorie der
Integration ist also ein mit der Autopoiesis der Teilsysteme voll kompatibler Sachverhalt. So gibt es Systemdifferenzierung sich auf Kommunikationen bezieht und nicht auf Handlungen. Wer Handlungen
zahllose ereignishafte operative Kopplungen, die ein ständiges Herstellen und Wiederauflösen von beobachtet, wird typisch mehrfache Systemzugehörigkeiten feststellen können, allein schon deshalb, weil der
Systemzusammenhängen bewirken. Geldzahlungen etwa sind und bleiben stets Operationen des Handelnde selbst körperlich und mental als Zurechnungspunkt fungiert und außerdem eine Handlung sich,
975
Wirtschaftssystems im rekursiven Netzwerk vorheriger und späterer Zahlungen. Aber sie können in nach Motiven und Wirkungen, an mehreren Funktionssystemen beteiligen kann. Wer von Handlungen
gewißem Umfange zu politischer Konditionierung freigegeben werden im rekursiven Netzwerk politischer ausgeht, wird daher Mühe haben, die Theorie der Systemdifferenzierung überhaupt zu verstehen und, zum
980
Vorgaben und politischer Konsequenzen. Auf diese Weise werden Systeme kontinuierlich integriert und Beispiel mit Richard Münch, nur "Interpenetrationen" feststellen können. Nur wenn man von Handlung auf
desintegriert, nur momenthaft gekoppelt und sofort für eigenbestimmte Anschlußoperationen wieder Kommunikationen umstellt, wird es notwendig, die Elementareinheiten der Systembildung rekursiv durch
freigestellt. Eine solche Temporalisierung des Integrationsproblems ist die Form, die hochkomplexe Bezug auf andere Operationen desselben Systems zu definieren. Ein Handlungstheoretiker kann sich mit der
Gesellschaften entwickeln, um Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten zwischen den Teilsystemen zugleich Feststellung einer Intention, eines "gemeinten Sinnes" Handlung begnügen.
prozessieren zu können.
Auf operativer Ebene mutet deshalb gesellschaftliche Differenzierung ein ständiges Signalisieren von
Unterscheidungen zu. In tribalen Gesellschaften versteht sich das zum Teil durch den Siedlungsraum, zu dem
man gehört, von selbst; aber man benutzt auch eine hochentwickelte Verwandtschaftsterminologie, die immer II. Formen der Systemdifferenzierung
auch abgrenzt gegen entferntere Verwandte oder Nichtverwandte. Auch der Sonderstatus, der Fremden
gewährt wird, kommuniziert Grenzen. In Adelsgesellschaften wird sehr auf die Distinktionsmerkmale adeliger Der geschichtliche Reichtum und die empirische Verschiedenartigkeit vormoderner Gesellschaften läßt
Lebensführung geachtet, und die Unterscheidungen werden so gewählt, daß immer auch die negative Seite, jede Klassifikation und damit erst recht jeden Versuch einer Epochenbildung scheitern. Und doch gibt es
das "Gemeine", "Bäuerische" mitgemeint ist. Erst recht müssen in den Kommunikationen der funktional unbestreitbar so etwas wie Typenunterschiede und ganz ohne Zweifel Entwicklungssequenzen, die auf
differenzierten Gesellschaft laufend Zuordnungs- und Abgrenzungsgesichtspunkte mitkommuniziert werden; vorherigen Errungenschaften aufbauen und in der modernen Gesellschaft — wie immer man das verstehen
aber hier kann das nicht mehr, oder nur noch sehr begrenzt, durch wahrnehmbare Zeichen geschehen. Wenn will — noch einmal überboten werden. Der Begriff der Systemdifferenzierung, den wir im vorigen Abschnitt
etwa, wie häufig in technologischen Fragen, das Fehlen wissenschaftlich gesicherten Wissens zum Risiko des vorgestellt haben, soll uns den Zugang zu diesem schwierigen Terrain erschließen. Deshalb haben wir den
Kapitaleinsatzes wird, muß man, will man adäquat entscheiden, ein Verständnis für genau diesen Unterschied Struktur- und Perspektivenreichtum des Konzepts und seine Aufgeschlossenheit für evolutionäre
voraussetzen. Es genügt nicht, sich am Anderssein des anderen zu orientieren. Die Differenz selbst verlangt Veränderungen besonders betont. Ergänzend benötigen wir für konkretere Analysen jetzt noch den Begriff der
Beachtung. Die Unterscheidung selbst muß die Operation definieren, und zwar diese und keine andere. Formen der Differenzierung.
Daraus wird häufig auf Entdifferenzierung geschlossen oder auf mangelnde Realitätsnähe der Von "Form" sprechen wir auch hier in dem in Kapitel 1 eingeführten Sinne. Eine Form ist eine
976
Differenzierungstheorie. Und es ist richtig, daß die Kommunikation einer Unterscheidung den Unterscheidung, die zwei Bereiche trennt. Der Systembegriff selbst bezeichnet die Unterscheidung von System
Zusammenhang des Unterschiedenen zum Ausdruck bringt. Aber eben: den Zusammenhang des und Umwelt. Von Differenzierungsform wollen wir sprechen, wenn es darum geht, wie in einem
Unterschiedenen. Einheit (der Operation) und Differenz (des Beobachtungsschemas) müssen in einem Zuge Gesamtsystem das Verhältnis der Teilsysteme zueinander geordnet ist. Wir müssen also zunächst noch einmal
aktualisiert werden. Nur so kann Differenzierung reproduziert werden. Entsprechend unterscheiden sich System/Umwelt-Beziehungen und System-zu-System-Beziehungen unterscheiden. In System/Umwelt-
Formen der gesellschaftlichen Differenzierung danach, welche Unterscheidungen den Beobachtungen auferlegt Beziehungen stehen Systeme, also jeweils die Innenseite der Form "System", einem "unmarked space"
sind, wenn sie als Operationen anschlußfähig bleiben wollen. (Spencer Brown) gegenüber, der vom System aus nicht erreicht und nicht — es sei denn inhaltsleer —
Wie bereits mehrfach betont, kann das Gesellschaftssystem Kommunikationen nur als systeminterne bezeichnet werden kann. Die Referenz auf "die Umwelt" trägt nichts zu den Systemoperationen bei. "Die
Operationen verwenden, also nicht mit der gesellschaftsexternen Umwelt kommunizieren. Dies gilt aber nicht Umwelt" gibt keine Information. Sie ist nur ein Leerkorrelat für Selbstreferenz. Geht es dagegen um System-
für die durch Differenzierung geprägten gesellschaftsinternen Verhältnisse. Es gibt also durchaus zu-System-Beziehungen, tauchen in der Umwelt bezeichnungsfähige Einheiten auf. Auch hier kann das
Kommunikationen, die systeminterne Systemgrenzen überschreiten. Daraus ergibt sich ein im Laufe der System seine eigenen Grenzen nicht operativ überschreiten (denn sonst müßte es in der Umwelt operieren),
gesellschaftlichen Evolution zunehmender Bedarf für Organisation. Denn nur als Organisation, das heißt nur aber es kann beobachten, das heißt bezeichnen, welche spezifischen Sachverhalte in der Umwelt (hier: andere
977
in der Form der Repräsentation seiner eigenen Einheit, kann ein System mit seiner Umwelt kommunizieren. Systeme) für es in spezifischer Weise relevant sind. In der System/Umwelt-Beziehung operiert das System
Dieser Prozeß des Nahelegens von Organisationsbildung setzt sich unter den Bedingungen funktionaler universalistisch, das heißt in der Form eines Schnitts durch die Welt. In System-zu-System-Beziehungen
Differenzierung innerhalb der Funktionssysteme fort, etwa für Firmen, die ihre Produkte am Markt anbieten operiert es spezifisch, das heißt in bestimmten kontingenten Beobachtungsweisen.
bzw. sich die dafür notwendigen Ressourcen am Markt beschaffen müssen; oder für alle möglichen Der Begriff der Differenzierungsform bezieht sich auf den zuletzt genannten Fall. Er betrifft also nicht
gesellschaftlichen Gruppierungen, die, wenn der Staat einmal organisiert ist, ihm gegenüber spezifische die Art und Weise, wie aus der Sicht eines Systems die Welt oder aus der Sicht eines Teilsystems das
978
Interesse zu vertreten suchen. Ähnlich wie im Verhältnis Gesellschaft/Interaktion gibt es also auch im Gesamtsystem rekonstruiert wird. Er bezeichnet nicht diese, wenn man so sagen darf: Retotalisierung des
Systems in sich selbst. Aber er betrifft einen sehr ähnlichen Sachverhalt (und eben deshalb ist Genauigkeit in
975
Vgl. für eine ausführlichere Darstellung Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988.
den Unterscheidungen wichtig).
976
Von Form der Systemdifferenzierung sprechen wir mithin, wenn von einem Teilsystem aus erkennbar
Siehe zum Beispiel Karin Knorr Cetina, Zur Unterkomplexität der Differenzierungstheorie: Empirische Anfragen an die ist, was ein anderes Teilsystem ist, und das Teilsystem sich durch diesen Unterschied bestimmt. Die Form der
Systemtheorie, Zeitschrift für Soziologie 21 (1992), S. 406-419.
977
Parsons würde an dieser Stelle nicht von Organisation sondern von "collectivity" sprechen als einer besonderen Ebene
979
im hierarchischen Aufbau des sozialen Handlungssystems, die kollektive Handlungsfähigkeit und verdichteten Siehe dazu unten ....
Wertkonsens voraussetzt. 980
Siehe z.B. Richard Münch, Theorie des Handelns: Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile
978
Siehe oben .... und unten .... Durkheim und Max Weber, Frankfurt 1982, und seitdem in vielen Publikationen.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 277 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 278

Differenzierung ist also nicht nur eine Einteilung des umfassenden Systems, sie ist vielmehr die Form, mit der Nur wenige Differenzierungsformen haben sich in der bisherigen Gesellschaftsgeschichte ausgebildet.
982
Teilsysteme sich selbst als Teilsysteme beobachten können — als dieser oder jener clan, als Adel, als Offensichtlich gibt es auch hier ein "Gesetz begrenzter Möglichkeiten" , auch wenn es nicht gelungen ist, sie
Wirtschaftssystem der Gesellschaft. Und dabei vertritt die so geformte (unterschiedene) Differenz zugleich die logisch geschlossen (etwa über eine Kreuztabelle) zu konstruieren. Wenn man einmal davon absieht, daß die
Einheit des umfassenden Systems der Gesellschaft, das man dann nicht gesondert beobachten muß. Aber wie frühesten Gesellschaften vermutlich nur an den naturalen Unterschieden des Alters und des Geschlechts
wird die andere Seite der Unterscheidung der Beliebigkeit, dem "alles, was es sonst noch gibt" entzogen? Wie orientiert waren und im übrigen in Horden lebten, lassen sich vier verschiedene Differenzierungsformen
kommt es zur Bestimmbarkeit anderer Teilsysteme durch eine Unterscheidung, die sich dann ihrerseits in die nachweisen, nämlich:
Welt des sonst noch Vorhandenen einkerbt? Adel und Volk oder Politik und Wirtschaft. (1) segmentäre Differenzierung unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit gesellschaftlicher Teilsysteme, die
Um zu erkennen, wie dies geschieht, bedarf es eines Rückgriffs auf das differenzierte entweder auf Grund von Abstammung oder auf Grund von Wohngemeinschaften oder mit einer
Gesellschaftssystem, das die Einheit der Unterscheidung, die Teilsysteme trennt, garantiert und sich in dieser Kombination beider Kriterien unterschieden werden.
Strukturvorgabe selbst verwirklicht. Die Beziehungen zwischen den Teilsystemen haben eine Form, wenn das (2) Differenzierung nach Zentrum und Peripherie. Hier wird ein Fall von Ungleichheit zugelassen, der
Gesamtsystem festlegt, wie sie geordnet sind. Aus der Theorie der Systemdifferenzierung läßt sich nicht zugleich das Prinzip der Segmentierung transzendiert, also eine Mehrheit von Segmenten (Haushalten) auf
ableiten, daß es eine solche Formfestlegung geben muß; und erst recht nicht, daß für diese Funktion jeweils beiden Seiten der neuen Form vorsieht. (Der Fall ist noch nicht realisiert aber gewißermaßen vorbereitet,
nur eine einzige Form vorgesehen ist. Aber es kann sein und kommt, wie wir zeigen werden, ganz regelmäßig wenn es innerhalb einer tribalen Struktur Zentren gibt, die nur von einer prominenten Familie bewohnt
vor, daß solche Formen gefunden werden, um die Differenzierungsverhältnisse in einer für alle Teilsysteme werden, etwa die "strongholds" der schottischen clans).
gleichen Weise zu ordnen. Die Gesamtheit der internen System/Umwelt-Beziehungen, mit der die Gesellschaft (3) Stratifikatorische Differenzierung unter dem Gesichtspunkt der rangmäßigen Ungleichheit der
sich selber multipliziert, wäre dafür viel zu komplex. Die Formbestimmung des Verhältnisses der Systeme Teilsysteme. Diese Form hat ihre Grundstruktur ebenfalls in einer Zweierunterscheidung, nämlich von
983
zueinander ist dafür eine vereinfachte Fassung, die dann als Struktur des Gesamtsystems dient und auf diese Adel und gemeinem Volk. Sie wäre in dieser Form aber relativ instabil, weil leicht umkehrbar. Stabile
Weise die Kommunikation orientiert. Hierarchien wie das indische Kastensystem oder die spätmittelalterlichen Ständeordnung bilden, wie
Ohne behaupten und begründen zu können, daß es in jedem Gesellschaftssystem eine dominante artifiziell auch immer, mindestens drei Ebenen, um den Eindruck der Stabilität zu erzeugen.
Differenzierungsform geben müsse, sehen wir darin doch die wichtigste Gesellschaftsstruktur, die, wenn sie (4) Funktionale Differenzierung unter dem Gesichtspunkt sowohl der Ungleichheit als auch der Gleichheit
sich durchsetzt, die Evolutionsmöglichkeiten des Systems bestimmt und auf die Bildung von Normen, der Teilsysteme. Funktionssysteme sind in ihrer Ungleichheit gleich. Darin liegt ein Verzicht auf alle
weiteren Differenzierungen, Selbstbeschreibungen des Systems usw. Einfluß nimmt. Die Bedeutung von gesamtgesellschaftlichen Vorgaben für die Beziehungen zwischen ihnen. Weder gibt es jetzt nur eine
Differenzierungsformen für die Evolution von Gesellschaft geht auf zwei miteinander zusammenhängende einzige Ungleichheit, wie im Falle von Zentrum und Peripherie, noch gibt es eine gesamtgesellschaftliche
Bedingungen zurück. Die erste besagt, daß es innerhalb vorherrschender Differenzierungsformen begrenzte Form für die transitive Relationierung aller Ungleichheiten unter Vermeidung zirkulärer Rückbeziehungen.
Entwicklungsmöglichkeiten gibt. So können in segmentären Gesellschaften größere, wiederum segmentäre Gerade diese sind nun ganz typisch und normal.
Einheiten gebildet werden, etwa Stämme oberhalb von Haushalten und Familien; oder in stratifikatorisch Der Formenkatalog ist mit Hilfe der Unterscheidung von gleich und ungleich gewonnen. Diese
differenzierten Gesellschaften innerhalb der Grunddifferenz von Adel und gemeinem Volk weitere Unterscheidung paßt nur auf Vergleichbares, also nur auf Systeme, nicht aber auf
Ranghierarchien. Solche Wachstumsmöglichkeiten finden jedoch, fast ist man versucht zu sagen: organische System/Umwelt-Beziehungen (denn es hat keine Sinn, die Umwelt im Verhältnis zum System als "ungleich"
Schranken. Weitere Evolution ist dann unmöglich, oder sie erfordert den Übergang zu einer anderen zu bezeichnen). Eben deshalb mußten wir die Theorie der Differenzierungsformen auf
Differenzierungsform. Es kommt nicht vor, daß ein Teilsystem innerhalb einer Differenzierungsform durch ein System-zu-System-Beziehungen beschränken.
Teilsystem aus einer anderen Differenzierungsform ersetzt wird; denn das würde die Form, das heißt: die Wie leicht ersichtlich gibt es keine theoretische Begründung für diesen Katalog. Noch kann man
Markierung der Differenz, zerstören. Ein Familienhaushalt kann innerhalb segmentärer Ordnungen besondere zwingend ausschließen, daß sich im weiteren Verlauf der Evolution andere Formen bilden werden. Man kann
Prominenz, auch erbliche Prominenz gewinnen (etwa als Priesterfamilie oder als Häuptlingsfamilie), kann aber einsichtig machen, daß die evoluierenden Gesellschaften nur wenige stabile Formen der
aber nicht durch Adel ersetzt werden, weil dies Übergang von Exogamie zu Endogamie, also ganz andere Systemdifferenzierung finden und dazu tendieren, einer einmal bewährten Form den Primat zu geben. Dies
Größenordnungen erfordern würde. Und ebensowenig kann der Adel durch den Staat oder die Wissenschaft läßt sich damit begründen, daß rekursive Verfahren (hier: die Anwendung von Systembildung auf das Resultat
984
als Teilsysteme einer funktional differenzierten Gesellschaft ersetzt werden. Evolution erfordert an solchen von Systembildung) zur Erzeugung von "Eigenzuständen" tendieren. Weder daß dies gelingt noch wieviele
Bruchstellen eine Art latente Vorbereitung und eine Entstehung neuer Ordnungen innerhalb der alten, bis sie Eigenzustände gefunden werden, läßt sich theoretisch deduzieren oder empirisch prognostizieren. Man muß es
ausgereift genug sind, um als dominierende Gesellschaftsformation sichtbar zu werden und der alten Ordnung ausprobieren, und eben das hat die gesellschaftliche Evolution getan. Wenn bestimmte Systembeziehungen
die Überzeugungsgrundlagen zu entziehen. Das heißt nicht zuletzt, daß Gemengelagen mehrerer bereits vorhanden sind, ist ihr weiterer Ausbau wahrscheinlicher als der Übergang zu einer anderen
Differenzierungsformen typisch, ja geradezu evolutionsnotwendig sind, wenngleich es zu spektakulären Differenzierungsform. Neben vorhandenen Siedlungen wird dann vermutlich eine weitere Siedlung enstehen,
Typenveränderungen nur kommt, wenn dominierende Formen abgelöst werden. und nicht so leicht ein Adelshof oder ein Postamt. Diese Überlegung macht es zumindest wahrscheinlich, daß
Von Primat einer Differenzierungsform (und auch das ist keine Systemnotwendigkeit) soll die Rede sein, die Evolution an Hand solcher Anschluß- und Kompatibilitätsprobleme zum Ausbau gefundender Muster
wenn man feststellen kann, daß eine Form die Einsatzmöglichkeiten anderer reguliert. In diesem Sinne sind tendiert, die dann von sich her die Chancen für andere Differenzierungsformen regulieren. Man kann daher
Adelsgesellschaften primär stratifikatorisch differenziert, aber sie behalten eine segmentäre Differenzierung in auch fragen: unter welchen Bedingungen akzeptiert die Gesellschaft die Rekonstruktion ihrer eigenen Einheit
Haushalte bzw. Familien bei, um dem Adel Endogamie zu ermöglichen und Adelsfamilien von anderen durch eine interne Differenz? Und man darf vermuten, daß eine durchgehende Verwendbarkeit der
Familien unterscheiden zu können. Bei funktionaler Differenzierung findet man auch heute noch Stratifikation entsprechenden Unterscheidung in allen Systemperspektiven, die Möglichkeiten der Reduktion der damit
in der Form von sozialen Klassen und auch noch Zentrum/Peripherie-Unterschiede, aber das sind jetzt
981
Nebenprodukte der Eigendynamik der Funktionssysteme.
982
Im Sinne von Alexander Goldenweiser, The Principle of Limited Possibilities in the Development of Culture, Journal of
American Folk-Lore 26 (1913), S. 259-290.
981
Wird diese Frage des Primats von Differenzierungsformen vernachlässigt, kommt es zur Überschätzung der historischen 983
Man mag sich hier an den Marxschen Trick mit den "zwei Klassen" erinnern unter Weglassen aller nichtpassenden
Kontinuität der Folgeprobleme bestimmter Typen; so gegenwärtig in den sog. Weltsystem-Analysen im Hinblick auf die
Schichten, etwa des Kleinbürgertums oder des Beamtentums.
Differenz von Zentrum und Peripherie. Siehe z.B. Christopher Chase-Dunn, Global Formation: Structures of the World-
984
economy, Oxford 1989, insb. S. 201 ff., und Christopher Chase-Dunn / Thomas D. Hall (Hrsg.), Core/Periphery Relations Vgl. Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside Cal. 1981, insb. den Beitrag: Objects: Token for
in Precapitalist Worlds, Boulder Cal. 1991 und vor allem die Arbeiten von Immanuel Wallerstein. (Eigen-)Behaviors, S. 274-285.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 279 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 280

verbundenen Komplexität, aber sicher auch, wenn es um eine neue, eine emergente Differenz geht, das Einheiten segmentärer Differenzierung gibt es dann in der Umwelt bereits kein genaues Äquivalent mehr, auch
Ausreichen dafür geeigneter, bereits vorentwickelter Strukturen ausschlaggebend sind. wenn man Wohnstätten, Dörfer, Felder usw. zuordnen kann. In dem Maße, als die interne Differenzierung von
Unser Formenkatalog macht außerdem einsichtig, daß die Evolution der Gesellschaft keine beliebigen gleich auf ungleich umgestellt wird, nehmen die intern ausgelösten Kontroll- und Folgelasten zu und die
Sequenzen wählen kann. Regressive Entwicklungen kann man nicht ausschließen (etwa bei der darauf bezogene Kommunikation zwingt die Gesellschaft erst recht, sich von ihrer Umwelt zu unterscheiden.
Retribalisierung der mittel- und südamerikanischen Hochkulturen nach der spanischen Eroberung). Jedenfalls Mehr und mehr Aktivitäten beziehen sich auf andere Aktivitäten desselben Systems, während
987
dürfte aber ein sprunghafter Übergang von segmentären zu funktional differenzierten Gesellschaften nicht Umweltabhängigkeiten abgebaut oder von internen Dispositionen abhängig gemacht werden. Stratifizierte
985
möglich sein. Auf Grund solche Anbahnungsbedingungen entsteht der Eindruck einer Epochensequenz von Gesellschaften rühmen ihre spezifisch menschliche Ordnung, grenzen sich gegen die Welt der Tiere und der
986
archaisch-tribalen Gesellschaften, Hochkulturen und moderner Gesellschaft. Im europäischen Rückblick Primitivmenschen ab, legen der Unterscheidung aber noch ein religiös-kosmologisch begründetes
mag das eine plausible Rekonstruktion gelten, aber wir werden sehen, wie stark man vereinfachen muß, um zu Sinnkontinuum zu Grunde. Darauf muß die funktional differenzierte Gesellschaft der Moderne dann auch
einer solchen Beschreibung zu kommen. noch verzichten, und die Konsequenz ist, daß sie sich weder mit Regionen noch mit den konkreten,
Daß die genannten Typen keine lineare Sequenz bilden, ergibt sich schon daraus, daß seit dem Beginn körperlich-mental existierenden Menschen mehr identifizieren kann. Ein Maximum an interner Ungleichheit
der Hochkulturen weltweit verschiedene Differenzierungsformen realisiert worden sind und voneinander und Autonomie der Teilsysteme bedingt zugleich ein Maximum an Verschiedenheit von Gesellschaft und
wissen. So kennen die Nomadenvölker im Norden Chinas das chinesische Reich — und umgekehrt. Die Umwelt. Überzeugen kann jetzt nur noch eine scharfe und operativ unüberschreitbare Grenze zwischen
tribalen Strukturen Schwarzafrikas standen schon lange vor der Kolonisierung unter islamischem Einfluß. System und Umwelt. Daß das nicht bedeuten kann, daß die Gesellschaft von ihrer Umwelt unabhängig
Von wenigen, gerade erst entdeckten Ausnahmen abgesehen findet man kaum Gesellschaften, die völlig geworden ist und sie mehr und mehr "beherrscht", beginnt man allmählich einzusehen.
autochton entstanden sind. Trotzdem muß man auf die unterschiedlichen Differenzierungsformen Formen der Differenzierung sind nach all dem Formen der Integration der Gesellschaft. Die Gesellschaft
zurückgehen, um sie in den Grenzen ihrer Möglichkeiten zu erkennen. Wir ersetzen somit die allzu einfache wird nicht durch ein Einheitsgebot, nicht durch Reformulierung ihrer Einheit als Postulat integriert, sondern in
(und rasch widerlegbare) These zunehmender Differenzierung durch die These eines Wandels von der Form der Rekonstruktion ihrer Einheit als Differenz. Die jeweils dominante Form der Differenzierung
Differenzierungsformen, der bei geeigneten Gelegenheiten zu komplexeren (insbesondere Ungleichheiten regelt dann zugleich, wie die Einheit der Gesellschaft in der Gesellschaft gesehen werden kann und welche
einbauenden) Formen führt, die mit stärkerer Differenzierung kompatibel sind, aber dafür auch strukturelle Einschränkungen der Freiheitsgrade der einzelnen Teilsysteme sich daraus ergeben. Während vom
Entdifferenzierungen einsetzen, also keineswegs mehr Differenzierung in allen Hinsichten erreichen. (Man Klassikerbegriff der Integration her die moderne Gesellschaft als desintegriert beschrieben werden müßte, weil
denke nur an den Abbau von Verwandtschaftsrollen und Verwandtschaftsterminologien im Laufe einer sie sich intern nicht mehr auf irgendein inhaltliches Einheitskonzept verständigen kann, führt die hier
solchen Entwicklung). Eine solche Entwicklung steigert die Komplexität des Gesellschaftssystems. Sie vorgeschlagene Begriffsbildung zur gegenteiligen Diagnose. Die moderne Gesellschaft ist überintegriert und
ermöglicht mehr und verschiedenartigere Kommunikationen in dem Maße, als unwahrscheinlichere dadurch gefährdet. Sie hat in der Autopoiesis ihrer Funktionssysteme zwar eine Stabilität ohne gleichen; denn
Differenzierungsformen die Integration des Systems übernehmen. Entsprechend müssen evolutionäre alles geht, was mit dieser Autopoiesis verträglich ist. Zugleich ist sie aber auch in einem Maße durch sich
Errungenschaften vorgegeben sein oder nachentwickelt werden, die höhere Komplexität reduzieren können: so selbst irritierbar wie keine Gesellschaft zuvor. Eine Vielzahl struktureller und operativer Kopplungen sorgen
Schrift, Geldwesen, bürokratische Organisation, um nur einige Beispiele zu nennen. Zugleich wachsen interne für wechselseitige Irritation der Teilsysteme, und das Gesamtsystem hat, das liegt in der Form funktionaler
Distanzen mit entsprechenden Erfahrungsverlusten. Denn während in segmentären Gesellschaften jeder zu Differenzierung begründet, darauf verzichtet, regulierend in dieses Geschehen einzugreifen.
hause sich ein Bild davon machen kann, wie es woanders zugeht, geht diese Möglichkeit in dem Maße
verloren, als man die Gesellschaft über interne Ungleichheiten rekonstruiert. Entsprechend steigt der interne
Informationsbedarf. Es werden, mit anderen Worten, strukturelle Beschränkungen abgebaut, um höhere
Komplexität zu gewinnen mit der Folge, daß Intransparenzen, Deutungsbedarf und Selbstbeschreibungen des III. Inklusion und Exklusion
Systems entstehen, ohne daß man damit wiedergewinnen könnte, was vorher selbstverständlich gewesen war.
Formen erfordern ihren Tribut, erfordern Beachtung der strukturellen Beschränkungen dessen, was unter Im Zusammenhang mit einer verbreiteten Skepsis in bezug auf die Reichweite von Systemtheorie hat
ihrer Aegide kompatibel ist. Als Bedingungen der Stabilität machen sie zugleich destabilisierende Tendenzen David Lockwood vorgeschlagen, zwischen Systemintegration und Sozialintegration zu unterscheiden. Im
988

sichtbar — etwa Reichtumsbildung außerhalb der vorgesehenen Einteilungen. Normalerweise entwickelt sich einen Fall geht es um den inneren Zusammenhalt differenzierter Systeme, im anderen Falle um das Verhältnis
ein normativer Apparat zur Unterdrückung von Abweichungen. Sie können nur in der Form des Auffälligen, von psychischen Systemen (Individuen) und sozialen Systemen. Die Unterscheidung ist sicher berechtigt, hat
Nichtnormalen, nicht Konsensfähigen, religiös und moralisch Problematischen erscheinen. Aber das ist kein aber in der vorliegenden Form nicht sehr weit geführt. Sie hat auf den Unterschied aufmerksam gemacht —
zuverlässiger Mechanismus der Verhinderung. Das Destabilisierende kann unter exzeptionellen Umständen so mehr nicht.
normal werden, daß sich eine neue Form von Stabilität abzuzeichnen beginnt und eine andere Form der Wir haben das Thema Systemintegration überführt in eine Unterscheidung von Formen der
Differenzierung aus einer früheren hervorgeht. In der Systemtheorie nennt man ein solches Auswechseln der Systemdifferenzierung, die jeweils kontrollieren, wie Teilsysteme aufeinander verweisen und voneinander
Form der Stabilität eines Systems auch Katastrophe. abhängig sind. Das Thema Sozialintegration wollen wir durch die Unterscheidung Inklusion/Exklusion
Ferner kann mit Hilfe dieses Formenkatalogs die These gestützt werden, daß veränderte,
anspruchsvollere Formen der Systemdifferenzierung zur stärkeren Ausdifferenzierung des
Gesellschaftssystems führen. Eine erste Differenzierung wird sich auf natürlich vorgegebene Unterschiede des 987
Gelegentlich ist dies auch als zunehmende "Insulation" des Gesellschaftssystems beschrieben worden. So z.B. von Colin
Alters und des Geschlechts gestützt und dabei mit anderen Möglichkeiten experimentiert haben — etwa mit Renfrew, The Emergence of Civilization: The Cyclades and The Aegean in the Third Millennium B.C., London 1972, insb.
Familienbildung auf Grund des naheliegenden Bedürfnisses, Kinder mit Vätern zu versorgen. Für die S. 12 ff.
988
Siehe Social Integration and System Integration, in: George K. Zollschan / Walter Hirsch (Hrsg.), Social Change:
985 Explorations, Diagnoses and Conjectures (1964), New York 1976, S. 370-383. Anscheinend unabhängig, jedenfalls ohne
Man kann dies an den Schwierigkeiten testen, in die tribale Gesellschaften (mit oder ohne ethnische Differenzierung)
Zitierung, unterscheidet auch Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 2, Frankfurt 1981, S. 179
geraten, wenn sie durch die Weltgesellschaft zur Staatenbildung genötigt werden: Somalia, Afganistann als Beispiele.
zwischen sozialer und systemischer Integration. Theoriegeschichtlich ist diese Unterscheidung zu verstehen vor dem
986
Ähnliche Reihungen findet man auch unter anderen Namen — zum Beispiel: primitive Gesellschaften / traditionale Hintergrund von Unklarheiten in Parsons' Theorie des allgemeinen Handlungssystems, die einerseits "Integration" als
Gesellschaften / Industriegesellschaften im Hinblick auf die Organisation von Arbeit bei Stanley H. Udy, Jr., Work in Spezialfunktion im Handlungssystem ausweist, andererseits aber auch den Zusammenhang der verschiedenen
Traditional and Modern Society, Englewood Cliffs N.J. 1970. Vgl. auch Eric R. Wolf, Europe and the People Without Funktionssysteme, darunter auch: personales System und soziales System, zu erläutern hat. Parsons selbst unterscheidet
History, Berkeley 1982. aber zwischen Integration (als Spezialfunktion) und Interpenetration.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 281 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 282

ersetzen. Nach wie vor legen wir dabei die Systemreferenz "Gesellschaft" zugrunde. Es geht also nicht um nicht heißen, daß Teile oder Prozesse oder einzelne Operationen eines Systems in einem anderen ablaufen.
989
Zugang zu Interaktionen oder Organisationen. Gemeint ist vielmehr, daß das Gesellschaftssystem Personen vorsieht und ihnen Plätze zuweist, in deren
Auch hier läßt sich an eine soziologische Tradition anknüpfen. Parsons hat unter Ausnutzung von Rahmen sie erwartungskomplementär handeln können; etwas romantisch könnte man auch sagen: sich als
990
Analysen, die T.H. Marshall zur Entwicklung von Bürgerschaftsrechten vorgelegt hatte , einen allgemeinen Individuen heimisch fühlen können.
Begriff der Inklusion gebildet. Formal heißt es: "This refers to the pattern of action in question, or complex of Parsons sieht soziokulturelle Evolution als Zunahme von adaptive upgrading, differentiation, inclusion
996
such patterns, and the individuals and/or groups who act in accord with that pattern coming to be accepted in und value generalization. Ohne Einsichten dieser Art bestreiten zu wollen, setzen wir an die Stelle eines
991
a status of more or less full membership in a wider solidary social system." Hauptsächlich interessiert sich allzu linearen Konzeptes die Frage, wie die Variable Inklusion/Exklusion mit Formen der
Parsons für den evolutionären Prozeß der Substitution von Inklusionen in immer größere und komplexere Systemdifferenzierung der Gesellschaft zusammenhängt. Differenzierungsformen sind, so gesehen, Regeln für
992
Einheiten, die er als Erfordernis evolutionär zunehmender Differenzierung versteht. Inklusionsbedingungen die Wiederholung von Inklusions- und Exklusionsdifferenzen innerhalb der Gesellschaft, aber zugleich
variieren mit gesellschaftlicher Differenzierung. Sie müssen in der modernen Gesellschaft mehr Möglichkeiten Formen, die voraussetzen, daß man an der Differenzierung selbst und ihren Inklusionsregeln teilnimmt, und
vorsehen als in traditionalen Gesellschaften und lassen sich nicht mehr hierarchisch, das heißt linear ordnen. nicht auch davon noch ausgeschlossen wird.
Danach sieht es so aus, daß die zunehmende Komplexität der Gesellschaft (bei Parsons als Folge der In segmentären Gesellschaften ergibt sich die Inklusion aus der Zugehörigkeit zu einem der Segmente.
politischen Revolution, der industriellen Revolution und der pädagogischen Revolution) auch die klassischen Es gab begrenzte Möglichkeiten der Mobilität, kaum aber Überlebenschancen als Einzelner außerhalb jeder
997
festen Inklusionsmuster auflöst und Inklusionen stärker individualisiert. sozialen Zuordnung. Die Inklusion war folglich segmentär differenziert und schloß Exklusion mehr oder
Dabei gewinnt man den Eindruck, daß die Gesellschaft für alle Menschen Inklusionsmöglichkeiten weniger effektiv aus. In stratifizierten Gesellschaften geht die Regelung der Inklusion auf die soziale
bereitstellt und die Frage nur ist, wie sie konditioniert sind und wie gut sie ausfallen. Das heißt: wie Gleichheit Schichtung über. Man findet seinen sozialen Status in der Schicht, der man angehört. Dadurch wird Inklusion
993
(für alle) und Ungleichheit je nach Anerkennung und Erfolg vermittelt werden. Damit wird die differenziert. Die Regelung von Inklusion/Exklusion findet dagegen nach wie vor auf segmentärer Ebene statt.
Selbsteinschätzung der modernen Gesellschaft im Schema gleich/ungleich nachvollzogen. Die Ausarbeitung Sie obliegt den Familien bzw. (für Abhängige) den Familienhaushalten. Irgendwo war man danach durch
des Begriffs der Inklusion läßt jedoch zu wünschen übrig. Vor allem fehlt es bei Parsons, wie typisch in seiner Geburt oder Aufnahme zu Hause. Exklusion war, zum Beispiel aus Gründen der wirtschaftlichen Not oder
Theorie, an einer ausreichenden Berücksichtigung des Negativfalles der Kategorien. Wir formulieren das mangelnder Heiratschancen möglich. Es gab zahlreiche Bettler. Auch konnten je nach Schichtlage die Klöster,
998
Problem deshalb mit Hilfe der Unterscheidung von Inklusion und Exklusion. die "unehrlichen" Berufe oder die Handels- und Kriegsmarine im Exklusionsbereich ihr Personal
Inklusion muß man demnach als eine Form begreifen, deren Innenseite (Inklusion) als Chance der rekrutieren. Als Letztabnehmer blieben die Piratenschiffe der mittelamerikanischen Inselwelt. Es wird sich,
994
sozialen Berücksichtigung von Personen bezeichnet ist und deren Außenseite unbezeichnet bleibt. Also gibt schon im Mittelalter und erst recht in der Frühmoderne, um eine beträchtliche Personenzahl gehandelt
999
es Inklusion nur, wenn Exklusion möglich ist. Erst die Existenz nichtintegrierbarer Personen oder Gruppen haben. Der Exklusionsbereich ist vor allem an der Unterbrechung von Reziprozitätserwartungen zu
995
läßt soziale Kohäsion sichtbar werden und macht es möglich, Bedingungen dafür zu spezifizieren. In dem erkennen. Die Solidarität mit den Ausgeschlossenen konnte nur artifiziell, nämlich über religiöse Pflichten und
Maße, als die Inklusionsbedingungen als Form sozialer Ordnung spezifiziert werden, läßt sich aber auch der Seelenheilschancen erreicht werden, und umgekehrt werden die Ausgeschlossenen zu allen möglichen Tricks
Gegenfall der Ausgeschlossenen benennen. Er trägt dann als Gegenstruktur den Sinn und die Begründung der und Täuschungen motiviert, deren Beobachtung in die Literatur über Simulation und Dissimulation und in ein
1000
Form sozialer Ordnung. Das deutlichste Beispiel hierfür bilden die "Unberührbaren" der indischen sich im Buchdruck ausbreitendes Mißtrauen gegenüber dem bloßen Schein eingeht. Das konnte zunächst
Kastenhierarchie. Es handelt sich nicht um eine besondere Kaste, auch nicht um Proleten, die nichts anderes nur den Eindruck verstärken, daß Leute ohne Stand und ohne Disziplin, ohne Herrn und ohne Haus eine
produzieren als Nachwuchs, und auch nicht um eine für Ausbeutung zur Verfügung stehende Unterschicht. Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Daraus entstand in der beginnenden Neuzeit ein kaum lösbares
Vielmehr bilden die Unberührbaren ein symbolisches Korrelat für den Aufbau der Inklusionsordnung über politisches Problem der Städte und der Territorialstaaten. Wie bekannt, hat man versucht, darauf mit
Reinheitsgebote und -rituale. Zahlenmäßig braucht es sich deshalb auch nicht um eine große Gruppe zu Organisation von Arbeit zu reagieren. Das Grundmuster blieb jedoch erhalten: die Systemdifferenzierung
handeln; es genügen Mengen, die sicherstellen, daß die Ausgeschlossenen überall präsent sind und zeigen, wie sorgte für Unterschiede im Bereich der Inklusion. Was damit nicht erfaßt war, blieb undifferenzierter
notwendig die Reinheitsgebote sind. Restbestand.
So unterschiedlich die Form Inklusion/Exklusion in verschiedenen historischen und kulturellen Diese Ordnung hinterläßt bei all ihren Problemen doch den Eindruck, daß die soziale Differenzierung
Kontexten institutionalisiert sein und dann als normal empfunden werden mag: in jedem Falle sind auch hier von Familien nach Schichten die Situation kontrolliert. Selbst die explizite oder sich einfach ergebende
die allgemeinen Vorgaben unserer Theorie operativ geschlossener Systeme zu beachten. Inklusion kann daher Zuweisung von Personen zu Auffangpositionen ohne Familie bzw. Familienhaushalt regelt sich noch nach der
Schichtung, und eine religiöse bzw. arbeitsorganisatorische Sinngebung sorgt dafür, daß die soziale Ordnung
989
Zu einer auf Interaktionen bezogenen Analyse von Inklusion (mit ganz anderen Perspektiven) vgl. Bernhard Giesen, Die
Entdinglichung des Sozialen: Eine evolutionstheoretische Perspektive auf die Postmoderne, Frankfurt 1991, S. 176 ff.
996
990 A.a.O. S. 26 ff.
Siehe T.H. Marshall, Class, Citizenship, and Social Development, Garden City N.Y. 1964, besonders die Studie
997
Citizenship and Social Class S. 65-122. Immerhin berichtet man selbst im unwirtlichen Island von langen Überlebensmöglichkeiten vertriebener Verbrecher als
991 Räuber im schwer zugänglichen Bergland. Es gab offenbar hinreichend Schafe.
So Talcott Parsons, Commentary on Clark, in: Andrew Effrat (Hrsg.), Perspectives in Political Sociology, Indianapolis
998
o.J. S. 299-308 (306). Speziell hierzu Werner Danckert, Unehrliche Leute: Die verfemten Berufe, Bern 1963.
992 999
Vgl. Talcott Parsons, The System of Modern Societies, Englewood Cliffs N.J. 1971, S. 11, 27, 88 f., 92 ff. Darauf deuten im übrigen auch die gildenförmigen Zusammenschlüsse der Bettler in China hin. Für Europa siehe etwa
993 Christian Paultre, De la répression de la mendicité et du vagabondage en France sous l'ancien régime, Paris 1906,
Speziell hierzu Talcott Parsons, Equality and Inequality in Modern Society, or Social Stratification Revisited, in ders.,
Nachdruck Genf 1975; Geremek a.a.O. (1976); John Pound, Poverty and Vagrancy in Tudor England, London 1971; Ernst
Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 321-380.
Schubert, Mobilität ohne Chance: Die Ausgrenzung des fahrenden Volkes, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Ständische
994
"Personen" hier wie auch sonst verstanden als Identitätsmarken, auf die im Kommunikationsprozeß bezug genommen Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988, S. 113-164; sowie für die sehr speziellen Verhältnisse in Spanien als
wird, im Unterschied zu den jeweils faktisch in der Umwelt ablaufenden zellulären, organischen und psychischen Folge einer religiös bestimmten Exklusionspolitik Augustin Redondo (Hrsg.), Les problèmes de l'exclusion en Espagne
Prozessen. Siehe Niklas Luhmann, Die Form "Person", Soziale Welt 42 (1991), S. 166-175. Es geht also nicht um (XVIe-XVIIe siècles), Paris 1983.
Inkorporation im Sinne einer Vermischung völlig heterogener Autopoiesen, sondern nur um Interpenetration im Sinne eines 1000
Speziell hierzu und zu Zusammenhängen mit den Verstehensvoraussetzungen des Bühnentheaters Jean-Christophe
Pauschalreferierens auf hochkomplexe, im einzelnen unkontrollierbare (gleichzeitig aktuelle) Umweltprozesse.
Agnew, Worlds Apart: The Market and the Theater in Anglo-American Thought 1550-1750, Cambridge Engl. 1986, insb.
995
So z.B. Bronislaw Geremek, Les marginaux parisiens aux XIVe et XVe siècles, Paris 1976, S. 11. S. 57 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 283 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 284

von ihren Exklusionseffekten her nicht in Frage gestellt wird. Während aber in einfachen tribalen Zeitlogik hinauszulaufen. Man kann Unterschiede in den Lebensbedingungen nicht ignorieren, aber sie werden
Gesellschaften im Exklusionsfalle durch Vertreibung oder Freigabe zur Tötung jeder Kontakt unterbunden als Problem auf Zeit bezogen. Einerseits hofft man auf dialektische Entwicklungen, eventuell mit
werden konnte, ist das in Hochkulturen mit Stadtbildung und Adelsherrschaft nicht mehr der Fall. Die revolutionären Nachhilfen; andererseits bemüht man sich um Wachstum in der Annahme, daß ein
Differenz Inklusion/Exklusion wird jetzt innergesellschaftlich rekonstruiert. Für soziale Kohäsion bleibt man quantitatives Mehr bessere Verteilungen ermöglichen würde; oder man verstärkt Bemühungen um
auf Sesshaftigkeit, auf reguläre Interaktion zur Bildung verläßlicher Erwartungen angewiesen; aber eben das "Entwicklungshilfe" oder "Sozialhilfe", um den Zurückbleibenden ein Aufholen zu ermöglichen. Innerhalb der
erfordert Exklusionen, die man in der Gesellschaft nicht ignorieren und nicht ganz aus einer marginalen totalitären Inklusionslogik machen sich Exklusionen als "Rest"probleme bemerkbar, die so kategorisiert sind,
1002
Kommunikation ausschließen kann. Teils rekrutiert man aus diesem Bereich; teils hat das Unterwegssein, das daß sie die totalitäre Logik nicht in Frage stellen.
Umherziehen, die Wanderschaft durchaus soziale Funktionen und kann nicht mehr eo ipso als Indikator für Die neue Ordnung der Inklusionen führt zu einer dramatischen Veränderung im Selbstverständnis der
Exklusion gelten. Die wandernden Handwerksgesellen sind kein Fall von Exklusion, sondern vergrößern den Individuen. In der alten Welt war die Inklusion durch die soziale Position konkretisiert, deren normative
Arbeitsmarkt bei hoher Differenzierung der Berufe und Zünfte. Daneben nimmt die Kategorisierung auch im Vorgaben dann nur noch die Möglichkeit boten, den Erwartungen mehr oder weniger gerecht zu werden. Man
Exklusionsbereich zu. geriet nicht in Situationen, in denen man noch zu erklären hätte, wer man ist. In der Oberschicht genügte die
Zusätzlich zu den Inklusions-/Exklusionsregulativen, die im System der stratifizierten Haushalte Nennung des Namens, in den unteren Schichten war man an den Orten bekannt, an denen man lebte.
verankert sind, gibt es seit der Christianisierung des römischen Reiches auch einen reichsrechtlichen Anständige Lebensführung mochte ein Problem sein, und in dieser Hinsicht hatte wohl jeder zu beichten. Aber
Exklusionsmechanismus aus Gründen der Religion. In den Einleitungssätzen des Codex Iustiniani (C 1.1.1.) das war bekannt — nicht zuletzt durch die öffentliche Institution der Beichte. Man mußte jedenfalls nicht mit
wird genau festgelegt, wer den Namen eines katholischen Christen führen darf. Alle Häretiker werden für Situationen rechnen, in denen die Existenz selbst auf Schein gegründet war. Die Thematisierung des Scheins,
wahnsinnig und für töricht gehalten und mit Ehrlosigkeit (infamia) belegt. Das Gesetz läßt zwar Gott den der vorgetäuschten Qualität und der Heuchelei (hypocrisy) erfolgt erst im 16. und vor allem im 17.
Vortritt in ihrer Behandlung (divina primum indicta), aber da dies anscheinend nicht zuverlässig genug Jahrhundert, stimuliert (in der Literatur) durch das Theater, durch den die gesamte Wirtschaft
funktioniert, wird mit Mitteln des Reichsrechts nachreguliert (post etiam motus nostri, quem ex caelesti durchdringenden Markt und die Promotoren-Mechanismen des höfischen Zentralismus. Seit dem Don Quijote
arbitrio sumpserimus, ultione plectendos). Nach dem Zerfall der Reichsgewalt übernimmt die juristisch übernimmt es der Roman, die daraus entstehende Lage zu reflektieren. Das Individuum führt sein Leben nach
1003
durchorganisierte Kirche selbst die Entscheidung über "Exkommunikation" mit gravierenden weltlichen Maßgabe seiner Lektüre. Es erreicht Inklusion, indem es Gelesenes copiert.
Konsequenzen. Die in der normalen Lebensführung leicht zu vermeidende religiöse Exklusion setzt dann die Heute sind Situationen eher typisch, in denen man erklären muß, wer man ist; in denen man Testsignale
Rahmenbedingung, unter welcher die praktisch wirksame innergesellschaftliche Inklusion/Exklusion aussenden muß, um zu sehen, wie weit andere in der Lage sind, richtig einzuschätzen, mit wem sie es zu tun
"christlich" gehandhabt werden kann. haben. Deshalb braucht man "Bildung" oder Signale, die auf das Vermögen hinweisen, über das man verfügt.
Der Übergang zu funktionaler Differenzierung nutzt diese innergesellschaftliche Relevanz der Deshalb wird "Identität", wird "Selbstverwirklichung" ein Problem. Deshalb unterscheidet die Literatur
Unterscheidung Inklusion/Exklusion mitsamt den elaborierten Unterscheidungen im Bereich der körperlich-psychische Existenz und "soziale Identität". Deshalb kann man nicht eigentlich wissen, wer man
Nichtsesshaftigkeit; aber er führt weit darüber hinaus und löst Veränderungen aus,deren Ausmaße erst heute ist, sondern muß herausfinden, ob eigene Projektionen Anerkennung finden. Und deshalb sucht und schätzt
sichtbar werden. Wie bei jeder Form der Differenzierung wird die Regelung der Inklusion den Teilsystemen man soziale Beziehungen der Intimität, in denen man rundum mit Neigungen und Schwächen bekannt ist und
überlassen. Das heißt aber jetzt, daß die konkreten Individuen nicht mehr konkret placiert werden können. Sie akzeptiert wird.
müssen an allen Funktionssystemen teilnehmen können je nach dem, in welchen Funktionsbereich und unter Auf die damit korrespondierenden Veränderungen in der Semantik, die sich mit der Stellung des
welchem Code ihre Kommunikation eingebracht wird. Allein schon die Sinngebung bestimmter Individuums in der Gesellschaft befaßt, werden wir in Kapitel V zurückkommen. Hier ist nur zu notieren, daß
Kommunikationen, allein schon die Tatsache, daß es sich um eine Zahlung handelt oder daß man eine die Semantik, das gleichsam offizielle Gedächtnis der Gesellschaft, die Inklusionsbedingungen thematisiert
Entscheidung in staatlichen Ämtern beeinflußen möchte oder daß die Frage aufgeworfen wird, was in einem und die Exklusionen allenfalls als warnende Beispiele vorführt, sie aber nicht als Teil der gesellschaftlichen
bestimmten Falle Recht und was Unrecht ist, ordnet die Kommunikation einem bestimmten Funktionssystem Wirklichkeit mit entsprechender Sorgfalt beschreibt. Das zeigt sich noch heute an der anfallenden
ein. Individuen müssen sich an all diesen Kommunikationen beteiligen können und wechseln entsprechend ihre Vernachlässigung dieser Unterscheidung Inklusion/Exklusion in der soziologischen Theorie.
Kopplungen mit Funktionssystemen von Moment zu Moment. Die Gesellschaft bietet ihnen folglich keinen In der alten Ordnung wird der Mensch als soziales Wesen begriffen, und "privatus" folglich als
sozialen Status mehr, der zugleich das definiert, was der Einzelne nach Herkunft und Qualität "ist". Sie macht "inordinatus" (also als Exklusionsbereich) angesehen. Er hat als Mensch (oder jedenfalls als Christ) eine Seele
die Inklusion von hochdifferenzierten Kommunikationschancen abhängig, die untereinander nicht mehr sicher und er ist, im Unterschied zu anderen Lebewesen, mit Vernunft ausgestattet. Dies sind alle Differenzierungen
und vor allem nicht mehr zeitbeständig koordiniert werden können. Im Prinzip sollte jeder rechtsfähig sein und übergreifende Attribute, die ihn befähigen, seinen sozialen Status als seine durch Geburt bestimmte Natur zu
über ausreichendes Geldeinkommen verfügen, um an Wirtschaft teilnehmen zu können. Jeder sollte als erkennen und die es ihm ermöglichen, auf Ausgleichsgerechtigkeit im Jenseits zu hoffen. In der ersten Hälfte
Teilnehmer an politischen Wahlen auf seine Erfahrungen mit Politik reagieren können. Jeder durchläuft, des 18. Jahrhunderts wird diese Semantik durch eine funktional äquivalente Metaphysik des Glücks
1004
soweit er es bringt, zumindest die Elementarschulen. Jeder hat Anspruch auf ein Minimum an ersetzt. Die gesellschaftliche Inklusion ist damit, ungeachtet aller Differenzierungen ihrer Realisation,
Sozialleistungen, Krankenpflege und ordnungsgemäße Beerdigung. Jeder kann, ohne von Genehmigungen durch Schöpfung und Natur vorab gesichert. Und da dies dank der Natur des Menschen so ist, kann man auch
abzuhängen, heiraten. Jeder kann einen religiösen Glauben wählen oder es lassen. Und wenn jemand seine entsprechende Forderungen stellen. Der Einzelne kann sich nicht damit herausreden, es nicht zu können.
Chancen, an Inklusion teilzunehmen, nicht nutzt, wird ihm das individuell zugerechnet. Auf diese Weise
erspart die moderne Gesellschaft, zunächst jedenfalls, es sich, die andere Seite der Form, die Exklusion, als 1002
Die semantische Karriere von "Rest"begriffen (z.B. Restrisiko) in der jüngsten Zeit wäre eine besondere Untersuchung
sozialstrukturelles Phänomen wahrzunehmen. wert. Sie verdankt sich einer mangelnden Reflexion der Differenz, in bezug auf die der Rest ein Rest ist.
Wenn daraufhin zunächst Inklusion ohne Exklusion, Inklusion "des" Menschen in "die" Gesellschaft 1003
konzipiert wird, so erfordert das eine totalitäre Logik, die die alte Einteilungslogik nach Arten und Gattungen Siehe dazu Hans-Georg Pott, Literarische Bildung: Zur Geschichte der Individualität, München 1995.
1001
(wie Griechen und Barbaren) ersetzt. Die totalitäre Logik verlangt, daß ihr Gegenteil ausgemerzt wird. Sie 1004
Vgl. Robert Mauzi, L'idée du bonheur dans la littérature et la pensée française au XVIIIe siècle, Paris 1960; oder als
fordert Herstellung von Einheitlichkeit. Jetzt erst müssen alle Menschen zu Menschen gemacht, mit typischen Einzelbelag das Kapitel Conversation avec un laboureur in Jean Blondel, Des hommes tels qu'ils sont et doivent
Menschenrechten versehen und mit Chancen versorgt werden. Solche eine totalitäre Logik scheint auf eine être: Ouvrage de sentiment, London - Paris 1758, S. 119 ff., das an Hand der Glücksmöglichkeiten eines Landarbeiters die
Oberschichten zur Reflexion über ihre eigenen Chancen, glücklich zu sein, anregt. Oder, mit einer Stimme aus England,
Alexandre Pope, Essay on Man (zit. nach: The Poems of Alexander Pope Bd. III, London 1950, Epistel 3, 50-52: "Some are,
and must be, greater than the rest more rich, more wise; but who infers from hence that such are happier shocks all
1001
Vgl. dazu Philip G. Herbst, Alternatives to Hierarchies, Leiden 1976, S. 69 ff. common sense."
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 285 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 286

Die Funktion einer Inklusionssemantik wird noch im 18. Jahrhundert durch das Postulat der Systeme Exklusionseffekte, die auf dieser Ebene zu einer negativen Integration der Gesellschaft führen. Denn
Menschenrechte übernommen. Deren Stoßrichtung geht gegen die alten Differenzierungen, und zugleich die faktische Ausschließung aus einem Funktionssystem — keine Arbeit, kein Geldeinkommen, kein Ausweis,
werden damit die Inklusionsbedingungen aller Funktionssysteme zusammengefaßt, wird also wiederum ein keine stabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Verträgen und zu gerichtlichem Rechtsschutz, keine
differenzneutrales "menschliches" Prinzip vertreten. Freiheit und Gleichheit nun deshalb, weil alle Möglichkeit, politische Wahlkampagnen von Karnevalsveranstaltungen zu unterscheiden, Analphabetentum
Beschränkungen und alle Ungleichheiten erst durch Codes und Programme der einzelnen Funktionssysteme und medizinische wie auch ernährungsmäßige Unterversorgung — beschränkt das, was in anderen Systemen
1005
festgelegt werden und es dafür keine gesamtgesellschaftlichen Direktiven mehr gibt ; und wohl auch erreichbar ist und definiert mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung, die häufig dann auch wohnmäßig
deshalb, weil niemand dem anderen vorab sagen kann, wozu sein Handeln letztlich gut ist. Auch hier wird die separiert und damit unsichtbar gemacht werden.
Exklusion, die andere Seite der Form, unbeleuchtet mitgeführt. Folgt man der Ideologie der Menschenrechte, Soziologen tendieren typisch dazu, dies Problem der Exklusion großer, ja der überwiegenden
so scheint das einzige Problem der Moderne darin zu bestehen, daß diese Rechte noch nicht und vor allem Bevölkerungsanteile von Teilnahme an den Funktionssystemen als Problem der Klassenherrschaft oder der
noch nicht überall auf dem Erdball ausreichend realisiert sind. Aber die Härte der Lebensbedingungen in den sozialen Schichtung zu definieren. Sie bleiben damit in der üblichen Schußrichtung ihrer eigenen
Zucht- und Arbeitshäusern des 18. Jahrhunderts, die rapide Zunahme der Strafgesetzgebung und der Voreingenommenheit. Aber auch das verharmlost, ebenso wie die Menschenrechtssemantik, das Problem und
Todesstrafen kontrastiert auf eigentümliche Weise mit der Gemütsstimmung der Aufklärer und Moralisten. läuft letztlich auf eine Klage ohne Ende und ohne Adressat hinaus. Schichtung hatte ihre eigenen Inklusions-
Man sieht deutlich, daß diese Kombination von Extremen nur eine Übergangslösung sein kann. und Exklusionsmechanismen, und sie konnte bei sehr weitgehender und akzeptierter, wenn auch differenter,
Zugleich werden Exklusionsgründe und normative Semantiken entkoppelt. Weder religiöse Häresien Inklusion für Marginalisierung des Exklusionsproblems sorgen, was immer an Heimatlosen, Bettlern,
noch Rechtsverstösse noch sonstige Abweichungen führen jetzt zum Ausschluß aus der Gesellschaft. Die Vaganten, amtslosen Klerikern oder entlaufenen Soldaten herumlief. Schon rein quantitativ haben die
Gesellschaft belastet sich selbst mit diesem Problem. Das 18. und 19. Jahrhundert kennen noch Exklusionsprobleme heute ein anderes Gewicht. Sie haben auch eine andere Struktur. Sie sind direkte Folgen
1006
Mischlösungen: man vermehrt die Straftatbestände und erarbeitet sich eine Diagnostik für Pathologien, der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems insofern, als sie auf funktionsspezifische Formen
1007
und man tötet oder exportiert die Verbrecher. Der Trend geht aber dahin, Normabweichungen angesichts der Abweichungsverstärkung, auf positiven feedback, und auch darauf zurückgehen, daß
zunehmend legitimationsbedürftiger Kriterien als gesellschaftsinternes Problem anzusehen, sie vor allem als Mehrfachabhängigkeit von Funktionssystemen den Exklusionseffekt verstärkt. Wer keine Adresse hat, kann
Problem der Therapierung und der Folgenkontrolle zu behandeln und Exklusion als normativ nicht zu nicht zur Schule angemeldet werden (Indien). Wer nicht lesen und schreiben kann, hat kaum Chancen auf dem
rechtfertigende Tatsache — geschehen zu lassen. Arbeitsmarkt, und man kann ernsthaft diskutieren (Brasilien), ihn vom politischen Wahlrecht auszuschließen.
Eine bemerkenswerte Ausnahme von dieser durchgehenden Nichtreflexion der Exklusion findet man im Wer keine andere Möglichkeit findet, unterzukommen als auf dem illegal besetzten Land der favelas, genießt
1008
Calvinismus und, daran anschließend, in der Rassenideologie Südafrikas. Weltweit werden diese im Ernstfall keinen Rechtsschutz; aber auch der Eigentümer kann seine Rechte nicht durchsetzen, wenn die
Vorstellungen als obsolet empfunden, sowohl in ihren religiösen als auch in ihren politischen Konnotationen, Zwangsräumung solcher Gebiete politisch zu viel Unruhe erzeugen würde. Die Beispiele ließen sich
und sie werden unter dem Druck von Menschenrechtspostulaten gegenwärtig aufgegeben. Aberdamit ist das vermehren, und sie ziehen Querverbindungen zwischen allen Funktionssystemen. Die Exklusion integriert viel
Problem der Exklusion eher verdeckt als gelöst. Sicher kann man es nicht mehr als ursprüngliche Differenz stärker als die Inklusion — Integration im Sinne des oben definierten Begriffs verstanden als Einschränkung
von Gerechtfertigten und Verdammten formulieren, aber daß es als ein strukturelles Problem auch und gerade der Freiheitsgrade für Selektionen. Die Gesellschaft ist folglich — genau umgekehrt wie unter dem Regime
der modernen Gesellschaft besteht, kann schwerlich bestritten werden. Jeder unvoreingenommene Blick in der Stratifikation — in ihrer untersten Schicht stärker integriert als in ihren oberen Schichten. Sie kann nur
Regionen der Weltgesellschaft, die man euphemistisch als Entwicklungsländer bezeichnet, kann davon "unten" auf Freiheitsgrade verzichten. Ihre Ordnung beruht hingegen auf Desintegration, auf Entkopplung der
überzeugen; und dies auch, wie der Fall Brasilien zeigt, bei weit fortgeschrittener Industrialisierung. Funktionssysteme. Und das könnte auch der Grund sein, weshalb Schichtung für die gesellschaftliche
Die Idealisierung des Postulats einer Vollinklusion aller Menschen in die Gesellschaft täuscht über Ordnung nichts mehr besagt, sondern nur noch individuelle Lebensschicksale formt.
gravierende Probleme hinweg. Mit der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems ist die Regelung Das reichlich verfügbare Material legt den Schluß nahe, daß die Variable Inklusion/Exklusion in
des Verhältnisses von Inklusion und Exklusion auf die Funktionssysteme übergegangen, und es gibt keine manchen Regionen des Erdballs drauf und dran ist, in die Rolle einer Meta-Differenz einzurücken und die
Zentralinstanz mehr (so gern die Politik sich in dieser Funktion sieht), die die Teilsysteme in dieser Hinsicht Codes der Funktionssysteme zu mediatisieren. Ob die Unterscheidung von Recht und Unrecht überhaupt zum
beaufsichtigt. Ob und wieviel Geld dem Einzelnen zur Verfügung steht, wird im Wirtschaftssystem Zuge kommt und ob sie nach rechtssysteminternen Programmen behandelt wird, hängt dann in erster Linie
entschieden. Welche Rechtsansprüche man mit welchen Aussichten auf Erfolg geltend machen kann, ist eine von einer vorgängigen Filterung durch Inklusion/Exklusion ab; und dies nicht nur in dem Sinne, daß
Angelegenheit des Rechtssystems. Was als Kunstwerk gilt, wird im Kunstsystem entschieden, und das Ausgeschlossene auch vom Recht ausgeschlossen sind, sondern auch in dem Sinne, daß andere, und
Religionssystem gibt die Bedingungen vor, unter denen der Einzelne sich als religiös verstehen kann. Was als insbesondere Politik, Bürokratie und Polizei, vom Militär ganz zu schweigen, nach eigenem Ermessen
1009
wissenschaftliches Wissen dem Einzelnen zur Verfügung steht und in welchen Formen (zum Beispiel in der entscheiden, ob sie sich ans Recht halten wollen oder nicht. Zwar führt das nicht zu einer gänzlichen
Form von Tabletten) ergibt sich aus den Programmen und den Erfolgen des Wissenschaftssystems. Da Ausschaltung der Autopoiesis des Rechts, das wäre unter heutigen Verhältnissen undenkbar, wohl aber zu
Teilnahme unter all diesen Bedingungen möglich ist, kann man sich der Illusion eines nie zuvor erreichten einer erheblichen Erwartungsunsicherheit und zu einer laufenden Orientierung auch an anderen Faktoren.
Standes der Inklusion hingeben. Faktisch ist dies jedoch nicht nur eine Frage des Mehr oder Weniger oder Ähnliches gilt für den Code Regierung/Opposition des politischen Systems, über den nicht (oder jedenfalls
einer unvermeidlichen Diskrepanz von Erwartungen und Realitäten. Vielmehr bilden sich an den Rändern der nicht nur) in den politischen Wahlen entschieden wird, sowie für die Vielzahl von marktunabhängigen
Einkommensquellen oder Vermögenssicherungsmöglichkeiten angesichts von Inflation, die ebenfalls von der
Inklusions/Exklusions-Differenz abhängen mit der Folge, daß auch eine wohlberatene Anti-Inflationspolitik
1005
Hierzu auch Niklas Luhmann, Die Homogenisierung des Anfangs: Zur Ausdifferenzierung der Schulerziehung, in: oft wirkungslos bleibt, weil sich die Einstellungen zur Wirtschaft nicht über den Markt und über Eingriffe in
Niklas Luhmann / Karl Eberhard Schorr (Hrsg.), Zwischen Anfang und Ende: Fragen an die Pädagogik, Frankfurt 1990, S. Parameter des Marktgeschehens regulieren lassen.
73-111. Während im Inklusionsbereich Menschen als Personen zählen, scheint es im Exklusionsbereich fast nur
1006
Besonders drastisch in England. Siehe dazu David Lieberman, The Province of Legislation Determined: Legal Theory auf ihre Körper anzukommen. Die symbiotischen Mechanismen der Kommunikationsmedien verlieren ihre
in Eighteenth-Century England, Cambridge Engl. 1989. spezifische Zuordnung. Physische Gewalt, Sexualität und elementare, triebhafte Bedürfnisbefriedigung
1007
Auf diese Epoche beziehen sich die Arbeiten Michel Foucaults. Siehe in deutscher Übersetzung Wahnsinn und
Gesellschaft, Frankfurt 1969; Die Geburt der Klinik, München 1973; Überwachen und Strafen, Frankfurt 1976. 1009
Dazu mit viel Material aus Brasilien Marcelo Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne:
1008
Siehe hierzu die Analyse von Jan J. Loubser, Calvinism, Equality, and Inclusion: The Case of Africaner Calvinism, in: Eine theoretische Betrachtung und eine Interpretation des Falls Brasilien, Berlin 1992. Vgl. auch Volkmar Gessner, Recht
S.N. Eisenstadt (Hrsg.), The Protestant Ethic and Modernization: A Comparative View, New York 1968, S. 363-383. und Konflikt: Eine soziologische Untersuchung privatrechtlicher Konflikte in Mexiko, Tübingen 1976.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 287 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 288
1012
werden freigesetzt und unmittelbar relevant, ohne durch symbolische Rekursionen zivilisiert zu sein. das System sich durch Teilung und Aussiedlung reproduzieren. Auch die Neubildung solcher Formen
Voraussetzungsvollere soziale Erwartungen lassen sich dann nicht mehr anschließen. Man orientiert sich an angesichts von Überlebenskatastrophen ist ohne Schwierigkeiten möglich, und darin liegt für Gesellschaften
kurzfristigen Zeithorizonten, an der Unmittelbarkeit der Situationen, an der Beobachtung von Körpern. Das mit geringer Naturbeherrschung und geringen Abwehrkräften eine Art Reproduktionsgarantie. Größere
heißt auch, daß die im Inklusionsbereich seit eh und je geltenden, Zeit ausdehnenden Reziprozitätserwartungen Einheiten, die schon dreistufig gebaut sind, also Familien, Dörfer und Stämme bilden, haben die Wahl, ihre
entfallen bis hin zum Zerfall familialer Bindungen. Das mag von ferne an sehr altertümliche Ordnungen Einheiten primär von der Verwandtschaft oder primär vom bewohnten Raum her zu definieren. Alle
1013
erinnern. Aber faktisch ist es heute ein Nebeneffekt der funktional differenzierten Gesellschaft und irritiert vor Versuche, Segmentierung auf eines dieser Prinzipien zurückzuführen, können als gescheitert gelten.
allem deshalb, weil die gesellschaftsuniversalen Zuständigkeitsansprüche der Funktionssysteme dadurch auf Vorherrschend trifft man auf Mischformen, und entsprechend findet man Erdkulte und Ahnenkulte sowie
auffällige Weise in ihren Schranken sichtbar werden. mehr räumliche Mobilität von Verwandtschaftsgruppen oder Verwandtschaftsmobilität, etwa in der Form von
Man kann nicht erwarten, daß dies Problem innerhalb der einzelnen Funktionssysteme gelöst werden Adoption und Namengebung, je nach Dominanz von Territorialprinzip bzw. Verwandtschaftsprinzip. Da
kann; denn einerseits ist eine Inklusion nur vor dem Hintergrund möglicher Exklusionen denkbar, und Verwandtschaft (im Unterschied zur faktischen Residenz) symbolisch manipulierbar ist, sind Kombinationen
andererseits läßt sich das Problem der wechselseitigen Verstärkung von Exklusionen keinem einzelnen leicht möglich, und auch die Nachkommen von Zugewanderten werden sich nach einiger Zeit in die
Funktionssystem zuordnen. Deshalb wäre eher damit zu rechnen, daß sich ein neues, sekundäres Verwandtschaftsgruppe hineinfingieren können. Konstant bleibt bei all dem die Form segmentärer
Funktionssystem bildet, daß sich mit den Exklusionsfolgen funktionaler Differenzierung befaßt — sei es auf Differenzierung, und Abstammung ist, soweit sie über die in Wohngemeinschaft zusammenlebende Familie
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der Ebene der Sozialhilfe, sei es auf der Ebene der Entwicklungshilfe. Die Ressourcenabhängigkeit dieser hinausgeht, nicht viel mehr als eine symbolische Konstruktion der Zugehörigkeit/Nichtzugehörigkeit zu den
Bemühungen — wirtschaftlich, politisch und auch religiös gesehen — ist jedoch so stark, daß man zweifeln Segmenten der Gesellschaft.
kann, ob sich ein gesellschaftliches Subsystem schon gebildet hat oder ob es sich um weit verstreute Segmentäre Differenzierung setzt voraus, daß die Position von Individuen in der sozialen Ordnung fest
1014
Bemühungen auf der Ebene von Interaktionen und Organisationen handelt. Deutlich erkennbar ist, daß es zugeschrieben ist und nicht durch Leistung verändert werden kann. Das ist die Grundlage für eine
nicht mehr um caritas oder um Armenpflege im Sinne der Tradition geht, sondern um Bemühungen um Multiplikation sozialer Einheiten, die immer ohne Zweifel auf Individuen umgerechnet werden können. Es gibt
strukturelle Veränderungen (Stichwort: Hilfe zur Selbsthilfe). Vielleicht können wir hier ein Funktionssystem in diesem Rahmen aber trotzdem Unterschiede des individuellen Ansehens und selbst Wechsel der Clan- und
im Entstehen beobachten. Familienzugehörigkeit durch Adoption. Was ausgeschlossen ist, ist jedoch eine karriereförmige Integration der
Die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit und Riskiertheit einer Form gesellschaftlicher Differenzierung Individuen. Der fest zugeschriebene Status ist vielmehr Voraussetzung für alle weiteren Ausarbeitungen, für
zeigt sich, so können wir diese Überlegungen zusammenfassen, unter anderem an der Art und Weise, wie sie Symmetrien und Asymmetrien, für dualistische Oppositionen, für rituelle Funktionen und für alle möglichen
mit der Differenz von Inklusion und Exklusion zurechtkommt und ihre eigenen Formen zur Stabilisierung luxurierenden Ergänzungen, die auf diese Weise immer einen festen Bezug auf Individuen bewahren. Ascribed
differenter wenig integrierter Inklusion nutzen kann. Nicht zuletzt geht es dann darum, ob und wie eine status ist eine Regel für eine Ordnung, in der man sich kennt.
Rückkopplung aus dem Exklusionsbereich in den Inklusionsbereich vermieden oder in normale Segmentäre Differenzierung dürfte eine Voraussetzung gewesen sein für den Übergang zu regulär
Evolutionstrends, in den structural drift der Teilsysteme überführt werden kann. betriebener Landwirtschaft, für die sogenannte neolithische Revolution. Diese wohl wichtigste Veränderung in
der Menschheitsgeschichte hat "äquifinal" an vielen Stellen des Erdballs stattgefunden. Die Gründe für diesen
Übergang von einem Leben in Überfluß in ein Leben mit Arbeit und Risiko sind unbekannt, denn man wird
kaum annehmen wollen, daß die Möglichkeit, mehr Menschen zu ernähren, als "Attraktor" gedient hat. Schon
IV. Segmentäre Gesellschaften in Gesellschaften ohne deutliche Familienbildung findet man eine Art Gartenwirtschaft, aber Landwirtschaft
größeren Stils wird vorausgesetzt haben, daß die Einteilung von Land und Arbeit sich auf entsprechende
Über primitive, archaische Gesellschaften sind wir nur sehr unzureichend unterrichtet. Unser Wissen soziale Strukturen stützen konnten. Erst die politisch erzwungene Arbeit späterer Gesellschaften macht davon
1015
über tribale (oder: segmentäre) Gesellschaften stammt im wesentlichen aus kolonialisierten Territorien oder zum Teil wieder unabhängig ; aber dies setzt landwirtschaftliche Überschußproduktion voraus.
1011
aus Gebieten, die auf andere Weise durch Hochkulturen beeinflußt worden waren. So viel kann jedoch als Der Prozeß segmentärer Differenzierung kann auf sein eigenes Resultat angewandt, also rekursiv
gesichert gelten, daß segmentäre Differenzierung weder die Anfangsform menschlichen Zusammenlebens wiederholt werden. Dann bilden sich über den Familien und Siedlungen noch Stämme und eventuell
gewesen sein muß noch ausnahmslos die überblickbare Geschichte beherrscht. Es handelt sich um eine Stammesverbände. Mit dieser Wachstumsrichtung, die schließlich mehrere hunderttausend Personen
evolutionäre Errungenschaft besonderen Typs, nämlich um den durchgesetzten Primat einer bestimmten Form einbeziehen kann, verringert sich aber die Kommunikationsdichte der jeweils umfassenden Einheit. Sie
der Systemdifferenzierung. operiert schließlich nur noch okkasionell, vor allem aus Anlaß von Konflikten zwischen ihren Untereinheiten,
Segmentäre Differenzierung entsteht dadurch, daß die Gesellschaft in prinzipiell gleiche Teilsysteme und ist im übrigen nur symbolisch präsent. Für die Erfüllung aller Normalbedürfnisse des täglichen Lebens
gegliedert wird, die wechselseitig füreinander Umwelten bilden. Dies setzt, in welchen Formen immer,
Familienbildung voraus. Die Familie bildet eine künstliche Einheit über den natürlichen Unterschieden des 1012
Das setzt natürlich voraus, daß die ökologischen Bedingungen die Vermehrung auffangen können, daß also genug Land
Alters und des Geschlechts, und dies durch Inkorporation dieser Unterschiede. Es gibt immer schon zur Verfügung steht. Daraus folgt jedoch nicht, daß ökologische Beschränkungen der einzige Grund für das Entstehen
Gesellschaft, bevor es Familien gibt. Die Familie wird als Differenzierungsform der Gesellschaft konstituiert, größerer Systeme mit entsprechenden Konsequenzen (Hierarchiebildung, Rollenteilung, Ritualisierungen) sind. Es mag
und nicht umgekehrt die Gesellschaft aus Familien zusammengesetzt. auch sozialstrukturelle Gründe dafür geben, zum Beispiel bessere Informationsbeschaffung und Risikoverteilung in
In einfachster Form genügt dafür ein System mit zwei Ebenen: den getrennt wohnenden Familien und der Jägergesellschaften.
Gesellschaft, die man in diesem Fall auch als Horde bezeichnet. Für Entstehen und Reproduktion genügen 1013
Vgl. hierzu Isaac Schapera, Government and Politics in Tribal Societies, London 1956, Neudruck 1963, S. 2 ff. Zu
einfache demographische Prozesse. Wenn die Bevölkerungsvermehrung zu viel Menschen produziert, kann neueren Kontroversen über Abgrenzungsfragen vgl. Richard B. Lee, !Kung Spatial Organization: An Ecological and
Historial Perspective, in: Richard B. Lee / Irven DeVore (Hrsg.), Kalahari Hunter-Gatherers: Studies of the !Kung San and
Their Neighbors, Cambridge Mass. 1976, S. 73-97.
1010 1014
So Dirk Baecker, Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft, Zeitschrift für Soziologie 23 (1994), S. 93-110; Wir benutzen hier die bekannte Unterscheidung ascribed/achieved status von Ralph Linton, The Study of Man: An
Peter Fuchs / Dietrich Schneider, Das Hauptmann-von-Köpenick-Syndrom: Überlegungen zur Zukunft funktionaler Introduction, New York 1936. Parsons hatte sie in quality/performance umgetauft. Beide Bezeichnungen sind
Differenzierung, Soziale Systeme 1 (1995), S. 203-224. terminologisch mißlungen, weil natürlich auch ein Leistungsstatus zugerechnet wird bzw. als Qualität der Person erscheint.
1011 Diese Unklarheit verdeckt den Mangel einer theoretischen Klärung.
Wichtigste Ausnahme: Neuguinea. Vgl. vor allem Fredrik Barth, Ritual and Knowledge Among the Baktaman of New
1015
Guinea, Oslo 1975. Vgl. Stanley H. Udy, Work in Traditional and Modern Society, Englewood Cliffs N.J. 1970.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 289 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 290

und für die Aufrechterhaltung der Kooperation mit Nachbarn sind nach wie vor die kleinsten Einheiten dominieren das Erleben und die Erinnerung. Die Fälle sind dann so verschieden, daß sich keine übergreifenden
zuständig. Das hat den Vorteil, daß auch größere Zusammenschlüsse nach dem Muster der täglich Entscheidungsregeln herausabstrahieren lassen. So lassen sich nicht einmal diejenigen Strukturen, die die
erfahrbaren Differenz von Kleinsteinheiten beschrieben werden können. Sie mögen einen Namen haben und Differenzierung der Gesellschaft beherrschen, (also vor allem: Abstammung), in feste Bestimmung von
1022
einen auf Land oder Ahnen hinweisenden Entstehungsmythos; aber eine darüber hinausgehende strukturelle Rechtspositionen umsetzen. Das liegt nicht etwa an der "Unzulänglichkeit" der primär auf opportunistische
Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystem ist angesichts der bloßen Wiederholung des Streitbeilegung ausgerichteten Verfahren. Vielmehr sind gerade diese Verfahren adäquat für eine Gesellschaft,
Differenzierungsprinzips überflüssig. Es kommt nicht zu einem Wechsel des Ordnungsprinzips für größere die sich wegen jener multifunktionalen Kontextierungen keine strukturell adäquaten Entscheidungsregeln
Aggregate. Entsprechend nehmen die Funktionen der Zusammenschlüsse mit deren Umfang ab. Im ausdenken kann. Der Weg zur Ausdifferenzierung eines Rechtssystems ist blockiert und hier wie auch sonst
Grenzfalle ist schon der "Stamm" nichts weiter als der Gesamtbereich sprachlicher jede weitere Evolution unwahrscheinlich.
1016 1017
Verständigungsmöglichkeiten. Die ethnischen Bezeichnungen bleiben unscharf und schwankend. In Die Schwierigkeit, Regeln zu abstrahieren und zwischen Regeln und Handlungen zu unterscheiden, sind
Notfällen kann die Gesellschaft übergreifende Zusammenfassungen aufgeben und auf ein kleineres Format Teil einer viel allgemeineren Kommunikationsbedingung. Solange keine Schrift zur Verfügung steht, muß alle
schrumpfen, ohne ihre Überlebenfähigkeit zu verlieren; und ebenso kann sie den Ausfall vieler ihrer Segmente Kommunikation unter Anwesenden stattfinden. Sie kann sich dabei auf Situationsmerkmale stützen, die allen
durch Hungerkatastrophen, kriegerische Vernichtung oder Sezession verkraften. Die Restbestände haben Anwesenden sichtbar und geläufig sind, also nicht eigens erwähnt werden müssen; ja nicht einmal eigens
1018
immer noch die Möglichkeit eines fast voraussetzungslosen Neubeginns. Southall hat, um diesen erwähnt werden können, weil dies keine Information brächte, also als überflüssig erkennbar wäre. Man wird
1023
Sachverhalt zu bezeichnen und ihn von Hierarchien zu unterscheiden, den Begriff der "pyramidalen" sich Ausdrucksweisen bedienen, die, wie die Linguisten sagen, mit "indexical expressions" durchsetzt sind.
1019
Gesellschaftsstruktur gebildet. Das erspart und verhindert dadurch Verallgemeinerungen. Die Situationen, die man nacheinander durchlebt,
Größere Zusammenschlüsse haben vor allem die Funktion, Unterstützung im Konfliktfalle zu sind jeweils als solche gemeinsam verständlich. Die Schemata oder Skripts können von Situation zu Situation
1024
organisieren — und abzuschwächen. Normative Erwartungen sind ja kontrafaktische Erwartungen, sind wechseln, ohne daß damit die Erfahrung von Inkonsistenzen verbunden wäre.
1020
Erwartungen, die etwaigen Enttäuschungen nicht angepaßt, sondern aufrechterhalten werden. Das ist ohne Auch segmentäre Gesellschaften zeigen zwar Tendenzen zur Erhöhung von Eigenkomplexität. Diese
Aussicht auf Unterstützung im Konfliktfalle kaum möglich. Diese Bindung der Erwartungsnormierung an zielen aber in eine andere Richtung. Das bisher gezeichnete Bild, das nur Unterschiede der Größe und des
Unterstützungsaussichten zieht jedoch der Spezifikation von Erwartungen (und damit der Rechtsbildung) enge Fundierungsprinzips (Verwandtschaft bzw. Territorium) vorsieht, wird sehr viel komplexer, sobald man
Grenzen. Denn wie sollte man für hochspezifische Erwartungen und entsprechend seltene Situationen bei zugeordnete Differenzierungen mitberücksichtigt. Hierbei kann es sich zum Beispiel um
anderen Unterstützungsbereitschaft erwarten können? Das zwingt einerseits zur Generalisierung des Sinns der Heiratsbeschränkungen und deren Rahmen handeln. Die Gesellschaft erträgt keine Ungewißheit über die
Erwartungen, andererseits zur Entwicklung von Unterstützungsmotiven bei Nichtbetroffenen. Letzteres Familienbildung in der nächsten Generation. Außerdem kann es zur Ausdifferenzierung von Altersgruppen,
geschieht durch Appell an Gruppensolidarität und durch deren Erweiterung durch die geschilderte pyramidale Männerhäusern oder anderen quasi korporativen Organisationen kommen und zu Formen institutionalisierter
1021
Verschachtelung der Gesellschaft. Damit läuft die Evolution aber erneut in eine Sackgasse, in eine für Konfliktbehandlung oder auch zu Rollendifferenzierungen, unter Umständen mit Erblichkeit bestimmter
weitere Evolution nicht mehr ausreichende Normalisierung des Unwahrscheinlichen. Denn diese Ordnung der Rollen (Priester, Häuptling) in bestimmten, dadurch ausgezeichneten Familien. Solche
Unterstützungsbereitschaft ist mehr auf Streitschlichtung als auf Rechtsevolution hin angelegt, also mehr mit Zusatzdifferenzierungen ändern nichts an der Grundstruktur segmentärer Differenzierung, sondern passen sie
unmittelbaren als mit langfristigen Konsequenzen der Konfliktlösung befaßt; und sie blockiert ihrerseits dann ihren eigenen Folgeproblemen an. Sie bleiben auf Kompatibilität mit ihr angewiesen, aber sie machen das
die Spezifikation normativer Erwartungen durch Eigeninteresse und Indifferenz derjenigen, die zur Gesamtmuster tribaler Gesellschaften im Vergleich außerordentlich komplex. Man gewinnt den Eindruck, als
Unterstützung verpflichtet sind. Aus dieser Sackgasse kommt man nur auf einem anderen Wege, nämlich ob hier in Abhängigkeit von demographischen und anderen Umweltbedingungen mit Formen experimentiert
durch Organisation politischer Unterstützung enttäuschter Rechtserwartungen heraus. wird, von denen nur wenige den Übergang zu andersartigen Differenzierungsformen überdauern werden.
Diese Schwierigkeit der Bildung von Rechtsnormen in der Form feststehender Entscheidungsregeln Da segmentäre Differenzierung die Gesellschaft in gleichartige Teilsysteme einteilt, muß deren
scheint mit der multifunktionalen Inanspruchnahme der vorhandenen Institutionen zusammenzuhängen. Abgrenzung ein besonderes Problem gewesen sein; denn auf der anderen Seite, in anderen Familien oder
Multifunktionalität bedeutet ja: Mitwirkung in ganz verschiedenartigen Situationen. Das wiederum verhindert anderen Dörfern lebt man ja nicht prinzipiell anders, sondern so ähnlich wie bei uns. Das könnte erklären, daß
Universalisierung und Spezifikation der die Situationen definierenden Merkmale. Die Situationsmerkmale auf Symbolisierung von Grenzen besonderer Wert gelegt wird — teils durch Markierungen, teils durch
Auszeichnung besonderer Plätze (zum Beispiel für Tausch), teils durch symbolische Ausgestaltung von
Übergängen oder auch durch Anerkennung eines Sonderstatus für Fremde als Gäste. Die Verwendung von
1016
Siehe für einen solchen Fall Alfred R. Radcliffe-Brown, The Social Organization of Australian Tribes, Oceania 1 Raum- und Zeitstellen zur Symbolisierung von Differenzen bleibt auch dann erhalten, wenn sich schon
(1930-31), S. 34-63, 206-256, 322-343, 426-456. Stratifikation oder Stadt/Land-Unterschiede eingestellt haben, sofern nur das Grundgerüst für alle Formen der
1017
Ein Problem vor allem für Ethnologen. Siehe dazu Raoul Naroll, On Ethnic Unit Classification, Current Anthropology 5
Differenzierung in Familienökonomien (Haushalten) liegt. Selbst inder älteren griechischen Kultur findet man
(1964), S. 283-291; Michael Moerman, Ethnic Identification in a Complex Civilization: Who are the Lue?, American noch eine ausgearbeitete Grenzsymbolik und einen dafür zuständigen Gott, den Hermes, der auf dem Olymp
Anthropologist 67 (1965), S. 1215-1230; Morton H. Fried, The Evolution of Political Society: An Essay in Political und in der Unterwelt zu Hause ist und Grenzen erinnert, indem er sie als Gott der Händler und der Diebe
Anthropology, New York 1967, S. 154 ff. überschreitet. Die Symbolik des Ansässigseins bzw. Grenzüberschreitens definiert zugleich die Grenzen des
1018
Vgl. Schapera a.a.O. (1963), S. 153 ff., 175 ff., 200 f.; David Easton, Political Anthropology, in: Bernard J. Siegel Sakralen, und sie wird mit ihrer öffentlichen Sichtbarkeit und ihrer sozialen Akzeptanz Funktionen erfüllt
(Hrsg.), Biannual Review of Anthropology 1959, S. 210-262 (232 ff.); Marshall D. Sahlins, The Segmentary Lineage: An
Organization of Predatory Expansion, American Anthropologist 63 (1961), S. 322-345. Bemerkenswert ist, daß vor allem 1022
Siehe hierzu Sally Falk Moore, Descent and Legal Position, in: Laura Nader (Hrsg.), Law in Culture and Society,
die politische Anthropologie sich mit diesem Phänomen beschäftigt hat, weil sie nach Vorläufern des modernen Staates
Chicago 1969, S. 374-400, besonders die Begründung S. 376.
sucht und sie nicht finden kann.
1023
1019 Siehe zur Herkunft des Begriffs Charles S. Peirce in verschiedenen Beiträgen — z.B. Semiotische Schriften Bd. 1,
Siehe Aidan W. Southall, Alur Society: A Study in Processes and Types of Domination, Cambridge o.J. (1956).
Frankfurt 1986, S. 206 ff. Soziologen zitieren zumeist Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs
1020
Aufrechterhalten werden sollen, könnte man sagen, wenn man in Rechnung stellt, daß das normative Erwarten N.J. 1967, S. 4 ff. Vgl. auch Bernhard Giesen, Die Entdinglichung des Sozialen: Eine evolutionstheoretische Perspektive
seinerseits normativ erwartet wird. auf die Postmoderne, Frankfurt 1991, S. 25 ff.
1021 1024
Eine Alternative sind Dichotomisierungen eines Stammes in Hälften, deren Differenz den Konflikt strukturiert. Vgl. für Daran finden im übrigen auch Vorstellungen wie Kollektivgeist oder Kollektivbewußtsein ihre Grenzen, die mit der
ein Beispiel P.H. Gulliver, Structural Dichotomy and Jural Conflict Among the Arusha of Northern Tanganyika, Africa 31 Soziologie Durkheims verknüpft sind. Man mag sich darauf eher einlassen, je weniger die nächste Situation damit
(1961), S. 19-35. präjudiziert ist.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 291 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 292
1030
haben, die später von den bürgerrechtlichen Institutionen des Eigentums und des Vertrags übernommen angewiesen zu sein. Das Gedächtnis stützt sich zunächst auf einen bekannten Raum. Es nimmt
1031
wurden. topographische Formen an und benutzt erst später auf eigens dafür geschaffene symbolische Formen. Es
So wie die Teilsysteme dieser Gesellschaften über Verwandtschaftszusammenhänge und/oder beruht vornehmlich auf Objekten und auf Inszenierungen wie Riten oder Festen, die hinreichend typisiert sind,
Territorialität definiert sind, so verstehen auch die Gesellschaften selbst ihre eigenen Grenzen mit Bezug auf um in einer über die Situation hinausreichenden Bedeutung erkennbar zu sein. Oft dienen besondere
zugehörige Menschen und zugehörige Gebiete. In diesem Sinne besteht die Gesellschaft aus Menschen, deren Ausschmückungen (Ornamente, Ablaufregulierungen) dazu, die Objekte oder Quasi-Objekte auszuzeichnen.
individuelle Eigenart bekannt ist und, wie besonders neuere Forschung zeigt, in hohem Maße respektiert Wiederholungen geben Anlaß zur Ausmalung, zur involutiven und monotonen Elaborierung. Feste geben
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wird. Personalität wird mit Namen, Ansprechbarkeit und Verpflichtungsfähigkeit verliehen. Sie ist eine Anlaß zur Erzählung von Mythen. Legenden, Genealogien und Abenteuern der Vorzeit — immer unter der
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Funktion sozialer Beziehungen und nimmt zu in dem Maße, als kleinere Segmente dazu beitragen. Man Voraussetzung, daß es sich um bekanntes und vertrautes Gedankengut handelt. Wenn diese Funktion des
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kann einen Dinka erkennen, ohne eine Vorstellung über die Gesamtheit aller Dinkas zu besitzen , so wie Erinnerns und Konfirmierens entfällt, verlieren auch die vertrauten Formen der Objekte, etwa der Häuser oder
man ja auch ein Rotweinglas von einem Weißweinglas unterscheiden kann ohne jede Vorstellung von der der Werkzeuge, ihren Verpflichtungsgehalt; und Feste verlieren ihre Form und degenerieren zu Anlässen für
Gesamtheit aller Rotweingläser. Ein sozial nicht bestimmbares Wesen ist keine Person, ist ein fremdartiges, individuelle Eskapaden.
vermutlich feindliches Wesen, und es gibt keinen Gruppenbegriff der Menschheit, der das dann noch Das soziale Gedächtnis ist nicht ohne weiteres mit modernen Begriffen wie Religion oder Kunst zu
auffangen könnte. Man sieht das Problem noch an den Gründen, aus denen spätere Gesellschaften eine Art erfassen. Es entsteht aber auch nicht ohne Verankerung in sozialen Funktionen, die wiederholt bedient werden
Gastrecht, ein Fremdenrecht, schließlich ein ius gentium entwickeln mußten. müssen; und dies oft aus Anlaß von unvorhersehbaren Einzelfällen, die, gerade weil sie unregelmäßig anfallen,
Personalität wird anscheinend immer dort verliehen, wo doppelte Kontingenz wahrgenommen wird und Regelmäßigkeit in der Behandlung, also Gedächtnis erfordern. Die Entstehung von Stilmarkierungen gehört
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zu regulieren ist. Weitgehend heißt dies, daß Personalität mit Kommunikationsmöglichkeiten korreliert. Aber zu den frühesten, wohl schon parallel zu kognitiven Symbolisierungen auftretenden Errungenschaften.
es gibt einerseits Fremde, gegenüber denen man keine Erwartungen bilden, also auch nicht kommunizieren Schon in sehr frühen Gesellschaften kommen anspruchsvollere Formen dazu. Aus der Fülle des Materials
kann. Dann ist alles möglich und alles erlaubt. Und andererseits gibt es Kommunikationspartner, also auswählend, beschränken wir uns auf zwei Beispiele: auf Magie und auf Normen der Reziprozität. Im einen
Beziehungen doppelter Kontingenz, in Bereichen, die wir heute ausschließen würden: Götter und Geister, Tote Fall geht es um externe Beziehungen, im anderen um interne; im einen Fall geht es um einen Sinnbereich, der
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(vor allem: Verwandte), bestimmte Pflanzen und Tiere, ja sogar unbelebte Dinge. Personalität entsteht, wo in Hochkulturen dann Religion heißen wird; im anderen geht es, wenn eine Unterscheidung von Regeln und
immer das Verhalten anderer als gewählt vorgestellt wird und durch eigenes Verhalten kommunikativ zu Verhalten möglich wird, um Recht. Die Wahl der Beispiele soll im übrigen auch dokumentieren, daß man
beeinflußen ist. Offenbar experimentieren frühe Gesellschaften mit dem Verhältnis von Gesellschaftsgrenzen nicht von einer ursprünglich rein sakralen Rechtskultur ausgehen kann. Neben fas gibt es immer auch ius.
und kommunikativ manipulierbarer Kontingenz, und erst die moderne Gesellschaft setzt beides kongruent. Tribale Gesellschaften bilden sich innerhalb eng gezogener Grenzen, in einer kleinen Welt mit überall
Alle Gesellschaften kennen nicht nur Sprache, sondern auch in der Sprache nochmals kondensierte spürbarer Differenz von vertraut und unvertraut. Hinter den Bergen und in Spatentiefe beginnt bereits eine
Ausdrucksweisen, besondere Namen oder Worte, Redensarten, Situationsdefinitionen und Rezepte, andere Welt, in der die bekannten Gewißheiten versagen können. Auch die geringe Reichweite sprachlicher
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Sprichwörter und Erzählungen, mit denen bewahrenswerte Kommunikation zur Wiederverwendung Verständigungsmöglichkeiten spielt eine Rolle. Religion bildet sich als ein erster Versuch, dem
aufbewahrt wird. Wir nennen solche Kondensierungen Semantik. In segmentären Gesellschaften findet man Unvertrauten im Vertrauten einen Platz zu geben — und seien es einige Knochen im Männerhaus, an denen
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dafür besondere Formen, teils weil es keine Schrift gibt oder sie nicht benutzt wird und die orale Tradierung die Vorfahren identifiziert und deaktiviert werden können. Man hat zu solchen sakralen Dingen ein
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besondere Probleme aufgibt ; teils weil die segmentäre Differenzierung besondere Formbedingungen ziemlich pragmatisches, situationsbezogenes Verhältnis. Zunächst scheinen Sozialtechniken der
vorgibt, die in Kommunikation überführt werden müssen. Auch schriftlose tribale Gesellschaften müssen, Geheimhaltung, der Beschränkung des Zugangs, der Beschränkung von Kommunikation zu genügen, um
anders gesagt, ein soziales Gedächtnis ausbilden, das ein Wiedererkennen Desselben und Wiederholungen Sakralobjekte oder -namen zu identifizieren. Erst allmählich schließen sich Situationen verschiedener Art zu
ermöglicht, ohne dabei auf die viel zu labilen neurophysiologischen und psychologischen Mechanismen mythischen Erzählungen zusammen; und erst sehr spät entsteht ein explizit symbolisches, auf die Einheit einer
1035
Differenz (etwa von Statue und Sinn) bezogenes Verständnis heiliger Dinge. Noch die Christen hatten ja
1025 damit ihre bekannten Schwierigkeiten.
Damit ist zugleich die These von einer im Laufe der Entwicklung zunehmenden Individualisierung des Menschen
zurückgewiesen. Vgl. hierzu die Fallstudie von Eleanor Leacock, Status Among the Montagnais-Naskapi of Labrador,
Ethnohistory 5 (1958), S. 200-209.
1026
Hierzu lohnt ein etwas ausführlicheres Zitat, entnommen aus Edward E. Evans-Pritchard, The Nuer: A Description of
the Modes of Livelihood and Political Institutions of a Nilotic People, Oxford 1940, S. 136 f.: "A man is a member of a
1030
political group of any kind in virtue of his nonmembership of other groups of the same kind. He sees them as groups and Vgl. Kap. 3......
their members see him as a member of a group, and his relations with them are controlled by the structural distance 1031
Vgl. für schon entwickeltere zivilisatorische Verhältnisse Gerdien Jonker, The Topography of Remembrance: The
between the groups concerned. But a man does not see himself as a member of that same group in so far as he is a member
Dead, Tradition and Collective Memory in Mesopotamia, Leiden 1995.
of a segment of it, which stands outside of it and is opposed to other segments of it". Vgl. auch S. 147 f. Das würde, in
1032
unsere Verhältnisse übersetzt, heißen: ein Römer ist als Römer kein Italiener, ein Italiener als Italiener kein Europäer, ein Hierzu Margaret W. Conkey, Style and Information in Cultural Evolution: Toward a Predictive Model for the
Weißer als Weißer kein Mensch. In segmentären Gesellschaften gehört der Einzelne einem umfassenden System nicht Paleolithic, in: Charles L. Redman et al. (Hrsg.), Social Archeology: Beyond Subsistence and Dating, New York 1978, S.
deshalb an, weil er einer dazugehörigen Familie angehört, sondern deshalb, weil er zu anderen Familien und Gruppen, 61-85.
denen er nicht angehört, Beziehungen unterhalten muß und in diesen Beziehungen nicht durch die eigene Familie allein 1033
Alfred R. Radcliffe-Brown, The Andaman Islanders (1922), Neudruck New York, S. 23 f., hat Sprachdifferenzen schon
gehalten werden kann. Deutlicher kann kaum zum Ausdruck kommen, daß die Einheit der Gesellschaft durch
zwischen Stämmen von einige hundert Mitgliedern beobachtet, wobei die Namen der Stämme auf die Sprachunterschiede
Differenzierung konstituiert wird und nicht primär durch Außenabgrenzung.
anspielen. Für Baktamanen sind nach den Feststellungen von Barth a.a.O. (1975), S. 16, etwa 1000 Menschen sprachlich
1027
Dieses Beispiel bei Godfrey Lienhardt, The Western Dinka, in: John Middleton / David Tait (Hrsg.), Tribes Without erreichbar. Darüber hinaus kann man auch Verständigungsbereitschaft und gute Absichten kaum noch kommunizieren.
Rulers: Studies in African Segmentary Systems, London 1958, S. 97-135 (107). Fremde sind unverständlich, sind Feinde, sind eßbar.
1028 1034
Siehe etwa A. Irving Hallowell, Ojibwa Ontology, Behaviour and World View, in: Stanley Diamond (Hrsg.), Culture in Dies Beispiel entnehmen wir Barth a.a.O. (1975).
History: Essays in Honor of Paul Radin, New York 1960, S. 19-52. 1035
Wie Jan Assmann, Ägypten: Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur, Stuttgart 1984, am Falle Ägyptens
1029
Hierzu gibt es heute umfangreiche Forschungen. Siehe nur Ruth Finnegan, Oral Poetry: Its Nature, Significance and zeigt, ist ein solches Zusammenschließen und Symbolisieren erst innerhalb einer langen hochkulturellen Entwicklung
Social Content, Cambridge 1977; Jan Vansina, Oral Tradition as History, London 1985; D.P. Henige, Oral History, London gelungen. Das zeigt eindrucksvoll, wie problematisch es ist, von heute beobachtbaren Tribalkulturen auf archaische
1988. Verhältnisse zurückzuschließen.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 293 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 294
1036 1043
Mit einer Figur aus dem Arsenal des Formenkalküls von George Spencer Brown kann man Religion zweiter Ordnung hinzufügt , belegt die Persistenz der ganz andersartigen Unterscheidung von
1037
auch als "re-entry" der Unterscheidung von vertraut und unvertraut in das Vertraute beschreiben. Dann vertraut/unvertraut. Erst der Buchdruck wird dem ein langsames Ende bereiten; denn er gewöhnt die
fällt es leicht, die Magie diesem Bereich zuzuordnen. Denn bei Magie handelt es sich nicht, wie oft Gesellschaft an die Einsicht, daß viel mehr gewußt und dem einen oder anderen vertraut ist, als irgendjemand
angenommen, um eine Art Zusatzkausalität, mit der unvollständiges technologisches Wissen (im Bewußtsein wissen kann.
seiner Unvollständigkeit!) ergänzt wird. Sondern Magie bietet die Möglichkeit, die vertrauten Kausalitäten im Eine ganz ähnliche Funktion hat die Erzählung der Mythen. Man kann für schriftlose segmentäre
1038
Unvertrauten zu parallelisieren durch Praktiken, die ihrerseits als vertraut zur Verfügung stehen. Gesellschaften streng genommen noch nicht von Selbstbeschreibungen sprechen, weil das gewohnte Leben zu
1044
Entsprechend wird magisches Handeln oft durch entsprechendes Reden begleitet, so als ob dies die Form sei, selbstverständlich ist für eine zusammenfassende Thematisierung. Aber Mythen ersetzen und erübrigen die
in der das Unvertraute behandelt werden könne; aber das heißt natürlich nicht, daß der Magier meint, die Kommunikationsform der Selbstbeschreibung, indem sie etwas anderes erzählen, etwas Befremdliches, nie
1039
Worte seien eine Ursache für die Wirksamkeit der Mittel. Es geht nicht um Symbolisierung dieser Erlebtes, das gleichsam die andere Seite der vertrauten Formen darstellt und sie in diesem Sinne komplettiert.
Differenz, es geht um ihren operativen, lebenspraktischen Vollzug. Es handelt sich um Kommunikation, aber nicht um eine Kommunikation, die Informationen vermittelt und
Magie bezieht sich also nicht auf eine bestimmte Art von Zwecken oder von Wirkungen, die man mit etwas Unbekanntes bekannt macht. Das Wesentliche ist gerade die Erinnerung an das Vertrautsein mit dem
dafür geeigneten Mitteln, also mit einer Art Spezialtechnologie zu erreichen sucht; sondern das Problem liegt Unvertrauten, also eine wiederholende Erneuerung des Erstaunens. Deshalb gibt es zwar Variationen, die sich
in der Ungewöhnlichkeit von Ereignissen, die die Nähe des Unvertrauten anzeigen und entsprechend behandelt im Wiederholen des Erzählens ergeben; aber es gibt keine Abnutzung in dem Sinne, daß man die Information
werden müssen. Dabei wird die Erklärung und Behandlung durch natürliches Kausalwissen keineswegs bereits kennt und die Wiederholung deshalb keinen Informationswert mehr hat. So wird zugleich verständlich,
ausgesetzt, sondern nur ein Zusatzsinn des Ungewöhnlichen, Überraschenden, Unverdienten usw. daß Mythen die Form der Paradoxie — zum Beispiel: die Einheit erzeugt sich selbst und anderes —
mitabgedeckt. Auch moralische Zurechnungen und Verantwortungen liegen im Bereich des gesellschaftlich bevorzugen, weil genau dies das Erstaunen reaktualisiert und die Frage gar nicht erst aufkommen läßt, ob die
1040
Kontrollierten und damit außerhalb der Reichweite von Magie. Man kann sich für Untaten nicht mit der Information stimmt oder nicht stimmt.
1041
Ausrede entschuldigen, man sei verzaubert worden. Mythen berichten zwar von einer Gründungszeit, in der die jetzt gültige Ordnung geschaffen und
Die Annahme magischer Kompetenz ist daher, wenn semantisch ausgearbeitet, verbunden mit der verbindlich gemacht wurde. Aber diese Urzeit ist eine andere Zeit als die Zeit der Gegenwart und sieht kein
Leugnung des Zufalls, wie er auf der Oberfläche der vertrauten Welt zunächst erscheinen mag. Es gibt keinen Verhältnis historischer Kontinuität und in diesem Sinne keine Geschichte vor. Ebenso wenig stellt sie eine
Sinn für Akzidentelles, keine Unfälle; denn wenn für Unerwartetes im Bereich des Vertrauten kein Grund zu andere Zukunft in Aussicht. Eher geht es um eine Absicherung des Nahen im Fernen und um Bestätigung
finden ist, dann liegt der Grund im Unvertrauten. Gerade die strukturelle Gleichheit der Segmente macht dafür, daß die Verhältnisse so sind, wie sie sind. Der narrative Duktus der mythischen Erzählungen stellt zwar
Unterschiede in dem, was ihnen widerfährt (zum Beispiel Tod oder Kinderlosigkeit, materielle Fehlschläge eine Sequenz dar, die aber keinen Kontakt mit der Gegenwart sucht. Ein Bedürfnis für die Ausfüllung einer
oder Verluste) unmittelbar sichtbar und deutungsbedürftig. Spätarchaische Gesellschaften werden dann das, Zwischenzeit zwischen der mythischen Zeit und der Gegenwart entsteht offenbar erst, wenn in der Gegenwart
1042
was magischer Korrektur widersteht, mit Schicksalsreligionen deuten , von denen erst der Monotheismus gravierende Konflikte auftauchen (zum Beispiel aus Anlaß von Wanderungen oder Eroberungen) und die
1045
erlösen wird. Vergangenheit als Folie für Legitimationen in Anspruch genommen wird. Und erst wenn Schrift zur
Demnach wäre es verfehlt, davon auszugehen, daß ein magisches Weltbild allmählich durch ein Verfügung steht, muß stärker auf Konsistenz der Berichte geachtet und für eine Gesellschaft eine Geschichte
rationales Weltbild mit wissenschaftlich kontrollierten Kausalitäten abgelöst wird. Daß die griechische oder für eine Familie eine Genealogie erzeugt werden.
Wissenschaft neben kontinuierendem Glauben an Magie entsteht und dem nur eine Technik des Beobachtens Während Magie und im Anschluß weitere religiöse Entwicklungen wie Mythen und Riten die Grenze
zum Unvertrauten bewachen, geht es bei der Grundnorm der Reziprozität um ein internes Regulativ
segmentärer Gesellschaften; und zwar um ein Regulativ, das sowohl den Fall der Kooperation als auch den
1036
Vgl. Laws of Form, Neudruck New York 1979, S. 56 f., 69 ff. Fall des Konfliktes erfaßt, also auch diesen lebenspraktisch so wichtigen Unterschied noch mit Normen für
1037
Vgl. Kap. 2 ...... Tausch und für Rachebeschränkung ausstattet.
1038 Offensichtlich korreliert die Vorstellung der Reziprozität mit der durch die Differenzierungsform
Das gleiche gilt für die aus archaischen Zeiten stammenden, aber erst in den Hochkulturen mit Hilfe von Schrift zu
Weisheitslehren rationalisierten divinatorischen Praktiken. Auch hier geht es weniger um Voraussagen, als vielmehr um gegebenen Gleichheit der Teilsysteme auf allen Ebenen der Inklusion. Wie groß auch immer die Einheiten:
eine Parallelaktion zur Ermittlung günstiger/ungünstiger Zeitpunkte und Bedingungen für ein Handeln, das sich von Beziehungen zwischen ihnen müssen symmetrisch und umkehrbar gebaut sein, denn anderenfalls würde die
undurchschaubaren Mächten abhängig weiß; und auch hier können die Divinationsregeln in Richtung auf komplexe, aber Asymmetrie im Laufe der Zeit Ungleichheiten generieren und die Differenzierungsform ändern. Asymmetrien,
vertraute Programme, also in Richtung auf lernbares Wissen durchrationalisiert werden, so daß es zu einem vertrauten zum Beispiel des Alters oder des Geschlechts, aber auch des ökonomisch-demographischen Schicksals werden
Umgang mit unvertrauten Bedingungen kommen kann. Siehe vor allem Jean-Pierre Vernant et al., Divination et schon in der kleinsten Einheit, der Familie, absorbiert oder in Zusatzinstitutionen (Heiratsregeln,
Rationalité, Paris 1974.
Korporationen, spendierfreudige Feste etc.) aufgefangen. Der Rest wird auf die Norm der Reziprozität
1039
Vgl. Edward Evans-Pritchard, Witchcraft, Oracles and Magic Among the Azande, Oxford 1937, z.B. S. 407, 411, 438 abgeleitet, die zeitbedingte Asymmetrien als Symmetrien erscheinen läßt.
f., 453 ff. Viele Belege für das ermunternde Reden mit Dingen findet man auch bei Homer. Und selbst nach der Einführung Die Anerkennung von Reziprozitätserfordernissen ist in segmentären Gesellschaften universell
der Schrift, ja selbst bis in die Zeit des Buchdrucks hinein gibt es die Gewohnheit, während einer Tätigkeit das Rezept 1046
aufzusagen oder zu lesen, ohne daß dies der Auffrischung des Gedächtnisses oder der Information diente. Vgl. dazu
verbreitet. Reziprozität dient, bevor es zur Entwicklung redistributiver Verwaltungssysteme kommt, dem
Michael Giesecke, Überlegungen zur sozialen Funktion und zur Struktur handschriftlicher Rezepte im Mittelalter,
Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51/52 (1983), S. 167-184. Offensichtlich geht es darum, sich zum
1043
Geheimnis der Dinge in ein Verhältnis zu setzen. Hierzu mit vielen Belegen G.E.R. Lloyd, Magic, Reason and Experience: Studies in the Origin and Development of
1040 Greek Science, Cambridge Engl. 1979.
Siehe sehr differenzierte Analysen zum Verhältnis von "morals" und "pollution" bei Mary Douglas, Purity and Danger:
1044
An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo, London 1966, S. 129 ff. Im Kapitel über Selbstbeschreibungen ist deshalb kein Abschnitt über tribale Gesellschaften vorgesehen.
1041 1045
Siehe Max Gluckman, Custom and Conflict in Africa, Oxford 1955, S. 85. Umgekehrt stellt die Identifikation von Siehe Klaus E. Müller, Prähistorisches Geschichtsbewußtsein, Mitteilungen 3/95 des Zentrums für interdisziplinäre
Hexen und Zauberern die Gesellschaft vor ein moralisches Problem (wenn nicht sogar, wie in der Frühmoderne, vor ein Forschung der Universität Bielefeld. Müller a.a.O., S. 11 spricht von "Überschichtungsgesellschaften".
Rechtsproblem); denn sie erscheinen innerhalb der vertrauten Welt und können sich daher der moralischen Beurteilung 1046
Das scheint, trotz mancher Kritik an Details älterer Untersuchungen, auch heute noch allgemein anerkannt zu sein. An
nicht entziehen.
klassischen Texten siehe vor allem Marcel Mauss, Essai sur le Don: Forme et Raison de l'échange dans les sociétés
1042
Vgl. z.B. William Chase Green, Moira: Fate, Good and Evil in Greek Thought, Cambridge Mass. 1944; Meyer Fortes, archaïques, zit. nach der Ausgabe in: Sociologie et Anthropologie, Paris 1950, S. 143-279; Bronislaw Malinowski,
Oedipus and Job in West African Religion, Cambridge England 1959. Argonauts of the Western Pacific, London 1922, insb. S. 176 ff.; Richard C. Thurnwald, Gegenseitigkeit im Aufbau und
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 295 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 296
1047 1050
"energy averaging" in sozialen Systemen. Dazu zählen auch Formen des Teilens (sharing) von werden. Bedarfsunterschiede lassen sich im Laufe der Zeit nivellieren. Insofern ist Reziprozität eine
1048
Gelegenheitsüberschüssen, mit denen Risiken zu starker Variation vermieden bzw. ausgeglichen werden. Gegeninstitution zu Knappheit und ein funktionales Äquivalent für Kredit.
Der semantische und der strukturerzeugende Vorteil von Reziprozität liegt in der inneren Unbestimmtheit Diese Kombination von zeitlichen und sozialen Asymmetrien zum Wiedergewinn der Symmetrie wird
verdoppelter Kontingenz, die für alle möglichen Konditionierungen empfänglich ist. Daher ist Reziprozität in als so wichtig empfunden, daß eine sofortige und genaue Gegenleistung (im Sinne unseres Bezahlens) als
einfachen Gesellschaften weder als Norm noch auf der Ebene des "Parteiwillens" zureichend zu begreifen. Ihre ungehörig gilt, und ebenso die Ablehnung einer Gabe zur Vermeidung von Folgeverpflichtungen.
Ausprägung zu normativen Erwartungen und zu rationalen Kalkulationen der Beteiligten ist nur die Entsprechend fehlen objektive Kriterien der Äquivalenz (wenn man von Ausnahmen wie zeremoniellen oder
1051
Konsequenz einer institutionellen Eignung, und diese liegt in der offenen Konditionierbarkeit. Daher geht es symbolischen Tauschbeziehungen und vom Frauentausch absieht). Auch dieses Problem wird in die Zeit
nicht nur um ein Mittel der Zukunftsgestaltung (eine Vorstellung, die sich juristisch überhaupt erst im 19. verschoben, wird aufgeschoben, und die Zeit dient so in gewißem Sinne als funktionales Äquivalent für die
Jahrhundert durchsetzt), sondern um eine Konstruktion von Bindungen und Beschränkungen für Problemfälle, Abstraktheit und Verwendungsunbestimmtheit des Geldes. Je dichter und näher die Beziehung gelebt wird,
die sich im Zusammenleben ergeben. Und mit den Beschränkungen werden zugleich Gelegenheiten sichtbar, etwa im Hause, desto unspezifischer wird das Verhältnis von Gabe und Erwiderung, desto wichtiger wird eine
die es ohne sie nicht geben würde. immer übrig bleibende Verpflichtung, desto unangemessener Summierung und Verrechnung. Bei
Gerade deshalb ist doppelte Kontingenz in der Interpretation als Reziprozität und in der Benutzung von zunehmender sozialer Distanz und Lebensunwichtigkeit können auch die Verrechnungsmodalitäten
1052
Reziprozität zur Legitimation der Verpflichtungskraft von Tauschverhältnissen bestens geeignet, bestimmter gehandhabt werden. Auch in dieser Hinsicht wirkt sich die "pyramidale" Struktur des
Konditionierungen zu gewinnen, die sich im Zeitlauf festhalten lassen. Reziprozität scheint das wichtigste Gesellschaftssystems aus.
Mittel der Bindung von Zeit zu sein. Mit der Gabe beginnt soziale Zeit. Sie teilt die Zeit in Erinnerung und Aus der universellen Verbreitung und aus der strukturellen Adäquität der Reziprozität kann man
Erwartung und kennt mittendrin vorläufig nichts: Aufschub, Verzögerung, Warten auf Gelegenheiten. Jede allerdings nicht schließen, daß dies Prinzip als Regel anerkannt und formuliert worden wäre. Man darf nicht
1053
Gabe schafft eine vorläufig unausgeglichene Situation. Reine Geschenke (ohne Auslösung von einmal voraussetzen, daß Regeln und Verhaltensweisen überhaupt unterschieden werden können.
Dankbarkeitsverpflichtungen) sind unbekannt. Und da die Gesellschaft keinen Anfang hat, sondern in einem Entsprechende Sachverhalte werden auf viel konkreteren Sinnebenen erfahren und dann auch unterschiedlich
1054
rekursiven Netzwerk von Erinnerungen und Erwartungen kommuniziert, gibt es streng genommen keine benannt. Es gibt, mit anderen Worten, keine begriffliche Formulierung, die eine Kritik des Prinzips, Fragen
"freiwillige" Leistung, die nicht schon Gegenleistung wäre und zur Gegenleistung verpflichtete. Dasselbe nach Bedingungen und Grenzen seiner Anwendbarkeit oder die Suche nach Alternativen suggerieren könnte.
1049
Prinzip wird, wenn es zu Konflikten kommt, im Negativen praktiziert. Es mag einen Anfang gegeben Das Geben und Helfen wird als sozial selbstverständlich praktiziert. Man wird unterstellen dürfen, daß dies
haben, aber dann generiert Rache Rache, und es gibt kein normatives Regulativ, das unabhängig davon, wer kalkulierendes oder sogar manipulierendes Bewußtsein keineswegs ausschließt; aber das Geben darf jedenfalls
anfängt und wer reagiert, eine Entscheidung über Recht und Unrecht auslösen könnte. Es gibt nur eine nicht offen als Mittel des Abhängigmachens dargestellt werden.
Einschränkung des vertretbaren Ausmasses der Gaben beziehungsweise Verletzungen. Segmentäre Gesellschaften sind mit all ihren Institutionen, mit Expansions- und mit
In beiden Richtungen, in positiven wie in negativen Beziehungen, hat das Prinzip der Reziprozität auch Schrumpfungsmöglichkeiten, mit magischer Parallelisierung der Kausalität und mit Reziprozität als Form der
eine kosmologische Dimension. Im Verhältnis zu Göttern, Geistern oder anderen jenseitigen Mächten nimmt Resymmetrisierung von zeitlichen und sozialen Asymmetrien darauf eingestellt, daß sie so bleiben, wie sie
es die Form des Opfers an. Das Opfer kann der Besänftigung der Götter dienen, wenn ein Verhalten ihren sind. Das gilt für ihre eigene Semantik, wird aber erst recht deutlich, wenn man sie auf das hin beobachtet,
Zorn erregt hatte, oder kann sie günstig stimmen für Vorhaben, die ihrer Unterstützung bedürfen. In beiden was sie selbst nicht beobachten können. Eine andere Ordnung ist für sie undenkbar, und Ansätze dazu müssen
Varianten setzt das Opfer voraus, daß die Maxime der Reziprozität auch für die Beziehungen zum Jenseits ihnen als Unrecht, als Abweichungen, als gefährlich, als zu vermeiden und zu bekämpfen erscheinen. So stößt
gilt und von den Göttern anerkannt und damit bestätigt wird. die Anmeldung von Führungsansprüchen (in Richtung auf politische Differenzierung) auf Widerstand,
In der Gesellschaft hat die auf Dauer gestellte Asymmetrie der Zeit die Funktion eines sozialen zumindest auf latente Feindseligkeit, die sich leicht organisieren läßt. Zwar läßt sich das Entstehen von
Ausgleichs und damit die Funktion der Bewahrung der Gleichheit der Teilsysteme. Jede Einheit kann in Not Reichtums- und Rangunterschieden zwischen den Familien nicht mit Sicherheit unterbinden, und wenn sie
geraten oder in besonderen Bedarfslagen (zum Beispiel Hausbau) Hilfe benötigen. Überschüsse können auf entstehen, können sie Anlaß sein für das Ankristallisieren von Patron/Klient-Beziehungen, die ihrerseits den
diese Weise in Dankbarkeit verwandelt, können in diesem Sinne zwar nicht natural aber sozial gespeichert Weg zur politischen Zentralisierung von Führungsrollen ebnen. Aber selbst wenn dies geschieht (und es gibt
dafür viele Belege), heißt das noch nicht, daß die Führungsrollen mit Entscheidungs- und Sanktionskompetenz
ausgestattet werden. Wenn dies in den sogenannten "Häuptlingsgesellschaften" erfolgt, könnte man vielleicht
von einer evolutionären Restabilisierung einer bereits vorbereiteten Differenzierung sprechen. Jedenfalls gibt

Funktionieren der Gesellungen und deren Institutionen, in: Festgabe für Ferdinand Tönnies, Leipzig 1936, S. 275-297;
Claude Lévi-Strauss, Les structures élémentaires de la parenté, Paris 1949, insb. S. 78 ff.; Marshall D. Sahlins, On the 1050
Diese Überlegung gibt allerdings Anlaß, auf die Bedeutung der Entwicklung von Möglichkeiten der Speicherung von
Sociology of Primitive Exchange, in: Michael Banton (Hrsg.), The Relevance of Models in Social Anthropology, London
Nahrung hinzuweisen. Dies läßt die Differenz von Jäger- und Sammlergesellschaften und agrarischen Gesellschaften
1965, S. 139-236; ders., Tribesmen, Englewood Cliffs N.J. 1968, S. 81 ff. Umstritten ist vor allem die normative Qualität
weniger scharf erscheinen, als man früher angenommen hatte.
oder genauer: wie weit eine Form der Reziprozität sich durch Leistungsentzug bei Verstössen von selbst sanktioniert.
1051
Kritisch hierzu E. Adamson Hoebel, The Law of Primitive Man, Cambridge Mass. 1954, S. 177 ff.; Isaac Schapera, Zum Fehlen objektiver Äquivalenzkriterien (nach der Art von "Preisen") vgl. Frederic C. Pryor / Nelson H.H. Graburn,
Malinowski's Theories of Law, in: Raymond Firth (Hrsg.), Man and Culture: An Evaluation of the Work of Bronislaw The Myth of Reciprocity, in: Kenneth J. Gergen / Martin S. Greenberg / Richard A. Willis (Hrsg.), Social Exchange:
Malinowski, London 1957, S. 139-155; siehe aber auch Raymond Firth, Primitive Polynesian Economy (1939), 2. Aufl. Advances in Theory and Research, New York 1980, S. 214-237 (224 ff.). Anzumerken bleibt jedoch, daß dies die
London 1965, insb. S. 314 ff.; Georg Elwert, Die Elemente der traditionellen Solidarität: Eine Fallstudie in Westafrika, Reziprozitätsregel keineswegs in Frage stellt, sondern im Gegenteil ihre Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32 (1980), S. 681-704. Bei allen Unterschieden im Sachlagen erhöht und damit ihre fraglose Geltung zusätzlich sichert.
Verrechtlichungsgrad wird man jedenfalls davon ausgehen müssen, daß nicht an ein strikt synallagmatisches Verhältnis 1052
Deshalb werden denn auch Märkte, soweit es sie als ausdifferenzierte Einrichtungen gibt, von der ursprünglichen
gedacht ist, das auch Leistungsunvermögen, Irrtümer oder Fehlleistungen mitreguliert.
Sphäre der Reziprozität ausgenommen; sie erzeugen keine symbolischen Dauerqualitäten, sondern dienen dem Ausgleich
1047
nach einer Formulierung von William H. Isbell, Environmental Perturbation and the Origin of the Andean State, in: von Überschüssen ad hoc. Vgl. Paul Bohannan / Laura Bohannan, Tiv Economy, London 1968, insb. S. 142 ff.
Charles L. Redman et al. (Hrsg.), Social Archeology: Beyond Subsistence and Dating, New York 1978, S. 303-313. 1053
Vgl. hierzu Leopold Pospisil, Kapauku Papuans and Their Law, New Haven 1958; Lorna Marshall, !Kung African
1048
Belege hierfür in Elisabeth Cashdan (Hrsg.), Risk and Uncertainty in Tribal and Peasant Economies, Boulder 1990. Bands, Africa 30 (1960), S. 325-355; Ronald M. Berndt, Excess and Restraint: Social Control Among a New Guinea
1049 Mountain People, Chicago 1962.
Zum Verhältnis positiver/negativer Reziprozität vgl. Karl Hutterer, Reciprocity and Revenge among the Ifugao,
1054
Philippine Quarterly of Culture and Society 1 (1973), S. 33-38. Eine Zusammenstellung solcher Ausdrücke findet man bei Firth a.a.O. (1965),S. 371 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 297 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 298

es in diesen Gesellschaften noch keine großen ranggleichen Gruppen, wie sie stratifizierte Gesellschaften daß es in weiträumigeren Zusammenhängen auch in segmentären Gesellschaften schon eine Art
auszeichnen werden. Zentrum/Peripherie-Differenzierung gibt, die sich über die Produktion von, und den Handel mit,
In systemtheoretischer Terminologie nennt man den relativ raschen Übergang eines Systems zu einem Prestigegütern auf die Peripherie auswirkt. Wir verzichten deshalb auf eine Kausalerklärung und setzen bei
1055
anderen Prinzip der Stabilität eine Katastrophe. In genau diesem Sinne führt Evolution, wenn sie die Form den Strukturproblemen segmentärer Gesellschaften an. Man sieht dann besser, wo die Ansatzpunkte für ein
der Differenzierung tangiert, zu einer gesellschaftlichen Katastrophe. Das Entstehen von Gesellschaften mit Kippen der Ordnung liegen, was immer die konkreten Ursachen sein mögen, die diese Möglichkeiten
einem Primat von Zentrum/Peripherie-Differenzierung und/oder von Stratifikation ist eine solche Katastrophe, aktivieren.
gemildert allerdings dadurch, daß auf dem Lande nach wie vor unter der Bedingung segmentärer Der vielleicht wichtigste Ansatzpunkt ist die Reversibilität der Lagen, die im Gleichheitsprinzip der
Differenzierung gelebt wird und nur einige Funktionen an die Stadt oder an die herrschende Schicht abgegeben Segmentierung und in der Reziprozitätsregel vorausgesetzt ist. Sie kann durch kriegerische Überlagerungen
werden. Man spricht in solchen Fällen von "peasant societies", und aus der Sicht der Landbewohner hat man aufgehoben, die dann zwei ethnische Schichten übereinanderschieben. Aber auch autochtone Entwicklungen
1056
sogar von Einklassengesellschaften gesprochen. sind denkbar. Einige Familien werden deutlich reicher an Land, Gütern und Anhängern. Wer von ihnen Hilfe
Nach dem heutigen Wissensstand ist es schwierig, eine schlüssige kausale Erklärung für die Entstehung erwartet, kann nicht mehr gut mit "Gleichem" entgelten. Er entgilt mit Anerkennung der Rangdifferenz,
von Stratifikation zu geben. Vermutlich wird es verschiedene, "äquifinal" wirkende Ausgangslagen gegeben gleichsam einer perpetuierten Dankesschuld, die dann zur Übernahme entsprechender Pflichten und
1062
haben; und die Frage müßte dann lauten, in welchen Hinsichten eine gegebene egalitäre, segmentär Gehorsamsbereitschaften motiviert. Mit Hilfe von fest zugeschriebenen Rangdifferenzen können steigende
differenzierte Sozialordnung empfindlich ist für Umbrüche. Die ältere Lehre hatte den Übergang von Informations- und Entscheidungslasten bewältigt werden, wobei die Tätigkeit in diesem Bereich zugleich die
1057
segmentären zu stratifizierten Gesellschaften mit demographischem Wachstum der Bevölkerung erklärt. Rangdifferenz sichtbar macht und restabilisiert. Das System überschreitet eine Schwelle, von der ab nicht
1058
Das läßt sich angesichts empirischer Befunde nicht halten. Auch wenn man nicht auf Bevölkerungsgröße, mehr negativer, sondern positiver feedback funktioniert. Das kann, wenn entsprechende Vorentwicklungen
1063
sondern auf Bevölkerungsdichte abstellt, läßt sich ein Entstehungszusammenhang zwischen diesem Faktor gegeben sind, sehr rasch geschehen. Abweichungen von der Gleichheit werden nicht mehr als störend
1059
und Stratifikation empirisch widerlegen. Ähnlich unsicher ist der Forschungsstand bei anderen vermeintlich empfunden und eliminiert (etwa durch "Feste" mit Vernichtung der Überschüsse), sondern sie werden in ihrer
1060
ausschlaggebenden Ursachen, die man erwogen hat, etwa ökologische Diversität oder Landwirtschaft. eigenen Vorteilhaftigkeit entdeckt und ausgebaut und durch Einschub einer Geschichte zwischen die
Neuerdings wird die Bedeutung von Handel mit Prestigegütern auswärtiger Produktion als Ursache und als mythische Zeit und die Jetztzeit legitimiert. Die Rangdifferenz selbst übernimmt den unspezifischen, auf viele
1061
Faktor der Stabilisierung von Rangunterschieden diskutiert. Dieser Gesichtspunkt schließt gut an die Frage Gelegenheiten anwendbaren Charakter der Dankesschuld. Gerade die "Unnatürlichkeit" der
an, in welchen Hinsichten die Stabilisierungsmechanismen segmentärer Gesellschaften ausgehebelt werden Gleichheitsprämisse, die durch Einflüsse der verschiedensten Art ständig auf die Probe gestellt wird, macht
können. Prestigegüter lassen sich nicht egalitär verteilen und auch nicht in rituellen Festen als Überschuß einen solchen Umschlag ins Gegenprinzip, wenn er nicht verhindert wird, wahrscheinlich. Der Übergang wird
vernichten. Außerdem sind sie nur über Fernhandel zu beschaffen, und der Zugang zu diesem Handel läßt sich durch
1064
leicht beschränken. Schließlich können sie gesellschaftsintern besser als eine größere Menge von Desinhibierung der Inhibierung einer natürlichen Entwicklung vollzogen und erhält auf diese Weise die
Eigenprodukten zur Symbolisierung von höherem Status verwendet werden. (Forschungspraktisch mag auch relativ drastische Form eines Strukturwandels.
eine Rolle gespielt haben, daß sie archaeologisch gut nachweisbar sind.) Dies Konzept setzt natürlich voraus, Auch segmentäre Gesellschaften kennen in reichem Maße Rangdifferenzen (zum Beispiel auf Grund von
Alter oder Ungleichgewichten in Reziprozitätsverhältnissen) und entwickeln mehr oder weniger
1065
stereotypisierte Formen, sie in der Interaktion zum Ausdruck zu bringen. Rangunterschiede, etwa zwischen
1055
Sozialwissenschaftliche Anwendungen der Katastrophentheorie von René Thom sind im allgemeinen in bloßer Häuptlingsfamilien und anderen Familien sind für sich allein jedoch keine stabilen evolutionären
Metaphorik stecken geblieben. Sinnvoll sind sie nur, wenn das Prinzip der Stabilität genau angegeben wird, dessen Errungenschaften. Sie mögen zum Beispiel durch Kontrolle des Handels mit Prestigegütern oder durch die
Änderung, weil sie alles ändert, als Katastrophe bezeichnet wird. In unseren Untersuchungen ist dies die primäre Form 1066
Produktionsverhältnisse bedingt sein und wieder aufgegeben werden, wenn diese Bedingungen sich ändern.
gesellschaftlicher Differenzierung. Ein anderes, begrenzteres Beispiel wäre der Zusammenbruch von Hierarchien, die sich Sie bilden jedenfalls keinen Schritt, der normalerweise zu stratifizierten Gesellschaften überleitet. Eher
auf Kontrolle des Prestigegüterhandels gestützt hatten, infolge der Ausweitung der Handelsbeziehungen. So Jonathan 1067
Friedman, Catastrophe and Continuity in Social Evolution, in: Colin Renfrew / Michael J. Rowlands / Barbara Abbott
bereiten sie die Ausdifferenzierung spezifisch politischer Rollen und Funktionen vor. Jedenfalls kann man
Segraves (Hrsg.), Theory and Explanation in Archaeology, New York 1982, S. 175-196. Für die biologische
Evolutionstheorie nutzt C. H. Waddington, A Catastrophe Theory of Evolution, Annals of the New York Academy of 1062
Die Ethnologie bildet hierfür die besondere Kategorie der "rank societies", die zwar bereits Generationen überdauernde
Sciences 231 (1974), S. 32-42, die Unterscheidung von Genotyp und Phänotyp.
Unterschiede von Familien an Rang und Reichtum kennen, aber den Unterschied noch nicht in der Form der Stratifikation
1056
So Peter Laslett, The World We Have Lost, 2. Aufl. London 1971. zu Unterschieden der Lebensform, der Ebenbürtigkeit etc. verfestigt haben. Siehe z.B. Morton H. Fried, The Evolution of
1057 Political Societies: An Essay in Political Anthropology, New York 1967.
Und dies deutlich unter dem Einfluß der ökonomischen Theorie der Arbeitsteilung, die ausreichende Größenordnungen
1063
erfordere. Vgl. etwa Thomas Hodgskin, Popular Political Economy, London 1827, Nachdruck New York 1966, S. 117 ff.; Auch anderen ist aufgefallen, daß die Geschichte der Entstehung von Zivilisationen gern mit dem Ausdruck "plötzlich"
Emile Durkheim, De la division du travail social, zit. nach dem Neudruck Paris 1973, S. 237 ff. beschrieben wird. Mit dieser Frage startet zum Beispiel Alexander Marshack, The Roots of Civilization: The Cognitive
1058 Beginnings of Man's First Art, Symbol and Notation, London 1972, S. 12 (bezogen auf einen breiteren Begriff von
Die deutlich stratifizierte Gesellschaft der Tikopia (British Solomon Islands) hatte im Zeitpunkt ihrer Untersuchung
Zivilisation).
durch Firth nur 1200-1300 Mitglieder. Siehe Raymond Firth, We, the Tikopia: A Sociological Study of Kinship in Primitive
1064
Polynesia, (1936), Nachdruck der 2. Aufl. 1965; Firth a.a.O. (1965), S. 187 ff. Für Africa zeigt die Tabelle bei Middleton / Wir beziehen uns hier auf einen ganz allgemeinen systemtheoretischen Mechanismus. Vgl. Alfred Gierer, Die Physik,
Tait a.a.O. (1958), S. 28 keinen Zusammenhang zwischen Größe und Ansätzen zur Rangdifferenzierung. das Leben und die Seele: Anspruch und Grenzen der Naturwissenschaft, 4. Aufl. München 1988, insb. S. 137 ff.
1059 1065
Vgl. Roy A. Rappaport, Ecology, Meaning, and Religion, Richmond Cal. 1979, S. 20 ff. Material zur Formenvielfalt in sehr verschiedenen Gesellschaften, also Nachweise für die Universalität der Form
1060 "Rangdifferenzen" findet man bei Barry Schwartz, Vertical Classification: A Study in Structuralism and the Sociology of
Hierzu Robert L. Winzler, Ecology, Culture, Social Organization and State Formation in Southeast Asia, Current
Knowledge, Chicago 1981.
Anthropology 17 (1976), S. 623-632. Ferner allgemein zum Verzicht auf monofaktorielle (zumindest statistisch haltbare)
1066
Erklärungen in Zusammenhängen der soziokulturellen Evolution Kent V. Flannery, The Cultural Evolution of Civilizations, Siehe z.B. Jonathan Friedman, Tribes, States, and Transformations, in: Maurice Bloch (Hrsg.), Marxist Analyses and
Annual Review of Ecology and Systematics 3 (1972), S. 399-426. Social Anthropology, London 1975, S. 161-202; Kristian Kristiansen, The Formation of Tribal Systems in Later European
1061 Prehistory: Northern Europe, 4000-500 B.C., in: Colin Renfrew / Michael J. Rowlands / Barbara Abbott Segraves (Hrsg.),
Die Diskussion hat sich aus einer Kritik der Unterschätzung der sozialstrukturellen Bedeutung dieses Handels in der
Theory and Explanation in Archaeology, New York 1982, S. 241-280.
Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein ergeben im Zuge von Versuchen, diese Theorie auf vorneuzeitliche
1067
Verhältnisse anzuwenden. Für Belege siehe z.B. Timothy C. Champion (Hrsg.), Centre and Periphery: Comparative Studies Dies ist die übliche Auffassung von "Häuptlingsgesellschaften". Siehe nur Hans Wimmer, Evolution der Politik: Von
in Archaelogy, London 1989. der Stammesgesellschaft zur modernen Demokratie, Wien 1996, S. 193 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 299 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 300

sagen, daß bereits tribale Gesellschaften mit der Anerkennung von Rangunterschieden und einer solche Möglichkeiten ergreifen. Es entsteht eine parasitäre Ordnung, die nahezu unbemerkt vom Zustand der
entsprechenden Deformierung von Reziprozitätsverhältnissen experimentieren. Solche Formen können in Ausnahme oder der Abweichung in die Position der Primärordnung übergleitet — nur um dann ihrerseits
stratifizierten Gesellschaften als preadaptive advances übernommen und weiterentwickelt werden. Man muß wieder parasitierbar zu sein. "Die Evolution bringt den Parasiten hervor, der wiederum die Evolution
1073
nicht etwa zunächst unverständliches Verhalten neu erfinden. Ein Übergang zur Verwendung von Rang als hervorbringt."
Form der Systemdifferenzierung setzt jedoch voraus, daß eine Oberschicht sich ausdifferenziert und ein Mit all dem sind nur strukturabhängige Möglichkeiten bezeichnet, gleichsam ein ständiges Rauschen an
Teilsystem der Gesellschaft bildet, in dem interne Interaktionen anders behandelt werden als Interaktionen mit den Rändern einer Gesellschaftsordnung, die fest im Gerüst der segmentären Differenzierung eingespannt ist.
der gesellschaftsinternen Umwelt des Systems. Wenn dies geschieht, werden zwischen Oberschicht und Für den Übergang zu einer anderen Differenzierungsform sind einerseits Vorentwicklungen (preadaptive
Unterschicht keine, auch nicht distanzierte Verwandtschaftsverhältnisse mehr anerkannt. Das wiederum macht advances) auf diesen Grundlagen nötig. Aber es muß auch andere Ursachen geben, wie sie in den (unglücklich
1074
es erforderlich, nur noch innerhalb der eigenen Schicht zu heiraten (Endogamie). Und dann können auch so genannten) "Staatsentstehungstheorien" diskutiert werden. Einer dieser Umstände könnte die mit der
1075
Formen der Ehrerbietung, der Anerkennung von Überlegenheit oder Vorrang nochmals differenziert werdenje Produktivität zunehmende Gewaltsamkeit in spätarchischen Gesellschaften sein , die die Schwäche der
nach dem, ob sie sich auf Angehörige der eigenen Schicht beziehen oder über Schichtgrenzen hinweg Konfliktlösungsmöglichkeiten segmentärer Gesellschaften und zugleich ihre Unterlegenheit im Vergleich zu
gehandhabt werden. (Es kann äußerst unpassend sein, wenn ein Bauer den Sohn seines Herrn so behandelt wie militärisch bereits organisierten Gesellschaften erkennbar werden ließ. Für die weitere Entwicklung, oder
dieser seinen Vater.) genauer: für die Auslese von evolutionsfähigen Gesellschaften, gibt es dann zwei prinzipiell verschiedene
Die Verwendung von Rangdifferenz als Form für Systemdifferenzierung revolutioniert in jedem Falle die Möglichkeiten: Im Anschluß an das Prinzip der Verwandtschaft kann es, wenn höhere Schichten Endogamie
Gesellschaft — auch dann, wenn die Ausdifferenzierung einer Oberschicht zunächst nichts an den durchsetzen können, zur Stratifikation kommen. Im Anschluß an das gleichermaßen verbreitete
Lebensformen der Unterschicht ändert. Mehrere Anlässe sind denkbar, die eine segmentäre Gesellschaft an Territorialitätsprinzip kann es zu Ungleichheiten in der Raumordnung kommen, also zur Differenzierung nach
den Rand eines solchen Strukturumbruchs bringen. Die eine beruht auf die in jeder, auch der kleinsten städtischem Zentrum und Peripherie. Alle Hochkulturen benutzen, mit sehr verschiedener
1068
Gesellschaft gegebenen Redundanz möglicher Kontakte. Daraus entstehen soziometrische Muster mit Schwerpunktbildung, beide Prinzipien, so wie auch die segmentären Gesellschaften weder auf die Ordnung
entsprechenden Ungleichheiten. Einige Mitglieder sind beliebter, sind leistungsfähiger, sind als Partner nach Verwandtschaftszusammenhängen noch auf eine räumlich-territoriale Bestimmung ihrer Einheiten
gefragter als andere und haben dann eher als andere die Chance, unter ihren Kontakten auszuwählen und verzichten konnten.
schon für ihre Kontaktbereitschaft etwas zu verlangen zu können, zum Beispiel: Anerkennung ihrer
Meinungen oder auch unerwiderte Hilfsbereitschaft. Die Führungsstrukturen sehr einfacher Gesellschaften
scheinen auf diesem "Star-Mechanismus" zu beruhen. Normalerweise wird dies eine kurzfristige Chance sein,
die schon dadurch sich gefährdet, daß sie genutzt wird. Aber auch lebenslange Häuptlingspositionen sind V. Zentrum und Peripherie
denkbar, und wiederum in selteneren Fällen bevorzugte Chancen des Rollenzugangs für den Sohn des
1069
Häuptlings bis hin zur Erblichkeit des Amtes in bestimmten Familien. Zuweilen wird der Status der Vormoderne Hochkulturen beruhen auf Differenzierungsformen, die an strukturell entscheidender Stelle
Häuptlingsfamilie dadurch festgelegt, daß sie den Anspruch durchsetzt, Alleinzugang zu dem bisher Ungleichheiten berücksichtigen und ausnutzen können. Sie verwenden, wenn voll ausgebaut, sowohl
unbesetzten Platz zu haben, der die Einheit der Stammesgesellschaft, etwa in der Form eines gemeinsamen stratifikatorische Differenzierung als auch Zentrum/Peripherie-Differenzierung. Sie können im Hinblick auf
1070
Ahnen oder Gründers, symbolisiert. Das kann zu den weit verbreiteten Häuptlingsgesellschaften führen, diese Errungenschaften als Adelsgesellschaften oder auch als städtische Gesellschaften bezeichnet werden,
die ein solches Amt dann auch mit Kompetenzen (aber in der Regel nicht: mit der Kompetenz zu kollektiv wobei aber diese Prominenzmerkmale jeweils nur auf einen kleinen Teil der Bevölkerung zutreffen.
bindenden Entscheidungen) ausstatten, ohne soziale Schichtung auszubilden. Die Zentrum/Peripherie-Differenzierung findet man ansatzweise bereits in segmentären Gesellschaften,
Ein zweiter Mechanismus kann als "parasitär" beschrieben werden. Gerade an den herrschenden 1076
vor allem, wene eine dieser Gesellschaften eine dominierende Rolle im Fernhandel übernimmt. Sie stellt
Gepflogenheiten und Praktiken kann man die Vorteile einer Abweichung entdecken. Jede Ordnung beruht auf hier aber noch nicht die segmentäre Differenzierung in Frage. Dies geschieht erst, wenn die dominierende
Ausschließungen, eine symmetrische Ordnung auf der Ausschließung von Asymmetrien. Das bietet eine
Chance, die ohne distinkte Ausschließungen gar nicht gegeben sein könnte, nämlich die Möglichkeit, im
Ausgeschlossenen Ordnungsvorteile zu entdecken und zu nutzen. Gerade gut strukturierte Ordnungen machen 1072
Le Parasite, Paris 1980.
das Gegenteil sichtbar — nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit — und bieten, wenn auf die Probe gestellt, 1073
Serres, zit. nach der deutschen Übersetzung, Frankfurt 1981, S. 282.
die Chancen einer Bifurkation, also die Chancen eines anderen Wegs, der, wenn begangen, dann seinerseits 1074
1071 1072 Vgl. z.B. Elman R. Service, Origins of the State and Civilization: The Process of Cultural Evolution, New York 1975;
irriversible Geschichte macht. So können sich, ganz im Sinne von Michel Serres , Parasiten bilden, die
Klaus Eder, Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften: Ein Beitrag zu einer Theorie sozialer Evolution,
Frankfurt 1976; Henry T. Wright, Recent Research on the Origin of the States, Annual Review of Anthropology 6 (1977),
S. 379-397; Ronald R. Cohen / Elman R. Service (Hrsg.), Origins of the State: The Anthropology of Political Evolution,
1068 Philadelphia 1978; Henri J.M. Claessen / Peter Skalnik (Hrsg.), The Early State, Den Haag 1978; Elisabeth M. Brumfield,
Siehe Elisabeth Colson, A Redundancy of Actors, in: Fredrik Barth (Hrsg.), Scale and Social Organization, Oslo 1978,
Aztek State Making: Ecology, Structure, and the Origin of the State, American Anthropologist 85 (1983), S. 261-284; Henri
S. 150-162.
J. M. Claessens / Pieter van de Velde / M. Estellie Smith (Hrsg.), Development and Decline: The Evolution of
1069
"Occasionally a son or other relative of a former headman may be chosen, although such a relationship is by no means Sociopolitical Organization, South Hadley Mass. 1985; John Gledhill / Barbara Bender / Mogens Trolle Larsen (Hrsg.),
the deciding factor", lautet eine typische Beobachtung von John Gillin, Crime and Punishment Among the Barama River State and Society: The Emergence and Development of Social Hierarchy and Political Centralization, London 1988.
Carib of British Guiana, American Anthropologist 36 (1934), S. 331-344 (333). Die gleiche Feststellung für eine andere 1075
Auch der Produktivitätszuwachs selbst ist in diesem Zusammenhang genannt worden — allerdings bezogen auf
Weltgegend bei K.E. Read, Leadership and Consensus in a New Guinea Society, American Anthropologist 61 (1959), S.
Gesellschaften Polynesians, die zugleich wegen ihrer Konfliktintensität bekannt sind. Vgl. Marshall D. Sahlins, Social
425-436. Für eine allgemeine Typenunterscheidung vgl. Marshall D. Sahlins, Poor Man, Rich Man, Big Man, Chief:
Stratification in Polynesia, Seattle 1958. Zur Kritik vgl. Rappaport a.a.O. (1959), S. 14 ff.
Political Types in Melanesia and Polynesia, Comparative Studies in Society and History 5 (1963), S. 285-303.
1076
1070 Für einen Überblick und für die Intensität dieses neuartigen Forschungsinteresses siehe Michael Rowlands / Mogens
Siehe die Formulierung von Friedman a.a.O. (1975), S. 174: "... when a living lineage begins to occupy the previously
Larsen / Kristian Kristiansen (Hrsg.), Centre and Periphery in the Ancient World, Cambridge Engl. 1987; Timothy C.
'empty category' defined by the imaginary segmentary locus at which all ancestral lines meet."
Champion (Hrsg.), Centre and Periphery: Comparative Studies in Archaeology, London 1989, oder Christopher Chase-
1071
Auch Naturwissenschaftler erklären mit diesem Konzept die Geschichtlichkeit von Systemen. Siehe vor allem Ilya Dunn / Thomas D. Hall (Hrsg.), Core/Periphery Relations in Precapitalist Worlds, Boulder Col. 1991. Theoriegeschichtlich
Prigogine / Isabelle Stengers, Dialog mit der Natur: Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, München 1981, S. 165 ist diese Forschung durch Interesse an weiträumigeren, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen motiviert und
ff. nicht primär durch eine Vergleich des evolutionären Stellenwerts unterschiedlicher Differenzierungsformen.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 301 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 302
1081
Stellung des Zentrums benutzt wird, um hier andere Formen der Differenzierung und vor allem stärkere geschenkt. Weiterreichende Zusammenhänge wurden mit dem blassen Begriff der Diffusion beschrieben,
Rollendifferenzierung ("Arbeitsteilung") einzurichten. deren Spuren man am Ort feststellen konnte. Man kann aber vermuten und als Hypothese formulieren, daß die
Die Zentrum/Peripherie-Differenzierung ergibt sich aus der Ausdifferenzierung von Zentren. Sie ist Zunahme der Komplexität grenzüberschreitender Kommunikation mit zunehmenden internen Konsequenzen
gleichsam im Zentrum zu Hause. Mehr als die Peripherie hängt deshalb das Zentrum mit seinen eigenen der Erfolge dieser Kommunikation mindestens drei Folgen haben wird, nämlich (1) Entstehen von Formen
Errungenschaften und Differenzierungen von dieser Differenzierungsform ab. Die Peripherie behält die territorialer Differenzierung, (2) Reflexionsleistungen (typisch in religiöser Form) in bezug auf die eigene
segmentäre Differenzierung von Familienhaushalten bei und könnte daher auch ohne Zentrum überleben. Identität und Unterschiedlichkeit und (3) Interesse an effektiver Kontrolle der Vorgänge jenseits der Grenzen,
Je nach Intensität der Kontakte kann es innerhalb der Peripherie zu weiteren Differenzierungen kommen. also Tendenzen zur Ausdehnung territorialer Herrschaft. Entsprechend gibt es Zentren, die eine
Eine Halbperipherie steht dann in engeren Beziehungen, vor allem der Ausbeutung, aber auch des Schutzes, symbolgebundene, sinngebende Priorität des Zentrums ausarbeiten und von dort aus eventuell missionarische
1077
zum Zentrum, während man von der ferneren Peripherie gerade noch weiß, daß es sie gibt. Und ebenso Ziele verfolgen, und andere, die sich auf die Organisation von Macht und Ressourcen, auf Ausbeutung der
1082
kann es eine Mehrheit von Zentren geben, von denen eines die Hegemonie über die anderen ausübt. Solche Peripherie beschränken. Spätestens im zweiten Jahrtausend vor Christus ist eine im Zusammenhang mit
Wiederholungen lokalisieren zugleich Empfindlichkeiten gegen Veränderungen. Sie sind, anders als im Falle Reichsbildungen aufkommende Viel-Völker-Semantik im vorderen Orient deutlich erkennbar.
von Rangdifferenzen, nicht unbedingt ein Merkmal von Stabilität. An Hand von Forschungen über das alte Mesopotamien kann man eine solche Entwicklung in ihren
1083
Auch und gerade wenn man die Form der Differenzierung als entscheidendes Merkmal einer semantischen ("geographischen") Resultaten gut beobachten. Das älteste Modell scheint in einer strikten
Gesellschaftsformation ansieht, muß man beachten, daß dies allein nicht ausreicht, um Entstehung und Trennung von bewohnbarem und bewohnten Land und Wildnis ringsum bestanden zu haben. Im eigenen,
Problematik dieser hochkultivierten Gesellschaftssysteme zu beschreiben. Sieht man einmal von zivilisierten Land kann man wohnen, bauen, Kulte einrichten. Hier gibt es Gedächtnis und Zivilisation. Die
ernährungsmäßigen und demographischen Bedingungen ab, muß ein weiterer Faktor hinzukommen und umgebende Wildnis steckt voller Überraschungen und Schrecken. Dieses Modell liegt noch zu Grunde, wenn
kompliziert das Bild. Verglichen mit segmentären Gesellschaften nimmt die Zahl und die Komplexität der später von heroischen Expeditionen der Könige in die umgebende Wildnis berichtet wird. Die Expeditionen
Außenkontakte, die durch die Bildung eines Zentrums (aber auch: einer Oberschicht) ermöglicht werden, können militärisch oder kommerziell motiviert gewesen sein. Sie werden als heroische Taten stilisiert und zum
immens zu. Das System muß eine entsprechende Informationsverarbeitungskapazität bereithalten und diese Gegenstand von Legenden, weil man die Umwelt noch als gefährliche, unbekannte Wildnis voraussetzt. Mit
hierarchisch ordnen. Damit wächst auch die Empfindlichkeit für Informationen, die sich nur indirekt zunehmendem Handel verlagert sich diese Geographie auf eine Beschreibung von Verkehrswegen. Die
auswirken. Auf operativer Ebene kommt es zu einer Ausdehnung der Kommunikationsmöglichkeiten, die im Semantik des Verkehrsweges hat den Vorteil, daß sie Nähe (Erreichbarkeit) und Ferne (Anderssein) in einem
Ergebnis in einer Reihe von Fällen zur Bildung großer Territorialreiche führt. Deren Zahl ist naturgemäß sehr Symbol zum Ausdruck bringen kann. Sie ist nicht darauf angewiesen, daß im Raum gezogene, lineare
viel geringer als die der segmentären Gesellschaften, aber immer noch groß genug, daß man an eine Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie identifizierbar sind. Zentrum und Peripherie bleiben eine Form der
1078
evolutionäre Konkurrenz und Auslese denken kann. Differenz.
Auch in der archaischen Welt tribaler Gesellschaftssysteme war Kommunikation über Systemgrenzen Der Ausdehnung von Kommunikationsmöglichkeiten über Reichsgrenzen hinaus folgt die
hinaus schon möglich gewesen — Kommunikation mit Nachbarstämmen, ja in gewissem Umfange sogar Notwendigkeit, Menschen zu unterscheiden je nach dem, ob sie zum eigenen Ordnungsbereich zählen oder
Fernhandel. Es gab also ansatzweise schon Ausgangspunkte für die Bildung größerer Systeme, aber die jenseits der Grenzen wohnen. Das erfordert einerseits einen generalisierten Menschbegriff (mit Konsequenzen
wurden dann konkret im Raum identifiziert und nicht als differenzierte, nach außen abgrenzbare Systeme für die im Reich geltende Kosmologie und insbesondere die Religion) und andererseits Einteilungen, die vom
1084
wahrgenommen. Entsprechend war schon in tribalen Gesellschaften die Kosmologie auf eine Zentrum aus entworfen sind und dessen Selbstverständnis bestätigen. Man könnte von einer partikular
Zentrum/Peripherie-Differenz eingestellt; oder jedenfalls sahen die segmentären Gesellschaften sich selbst als basierten universellen Semantik sprechen. Jedenfalls muß die Welt durch Differenzen und durch
(einzige) Mitte der Welt und als ausgezeichneten Bezugspunkt der Schöpfung der Welt und der Menschheit. Grenzbewußtsein komplettiert werden, und dies nicht nur, wie in segmentären Gesellschaften, in der Annahme
1085
Mit der Ausdehnung grenzüberschreitender Kommunikation ändert sich dies. Weitläufige eines "und so weiter" des Ähnlichen, sondern als Inkorporation der Andersartigkeit des anderen.
Handelsbeziehungen hatte es schon zwischen tribalen Gesellschaften gegeben. Von einer neuartigen Form der
Differenzierung wollen wir nur sprechen, wenn strukturelle Eigentümlichkeiten in Zentren bedingt sind durch
1079
die Aufrechterhaltung einer Differenz von Zentrum und Peripherie , zum Beispiel, modern gesprochen, auf 1081
Hierzu kritische Bemerkungen im Kontext semiotischer Interessen bei Dean MacCannell / Juliet F. MacCannell, The
1080
Kapitalakkumulation beruhen. Time of the Sign, Bloomington Ind. 1982, S. 76 ff.
Wir wissen wenig über die Übergangszeit, denn die Archäologie, aber auch die übliche Ethnologie hat 1082
Diese Unterscheidung (mit Bezug auf Afrika) bei Shmuel Noah Eisenstadt, Social Division of Labor, Construction of
mit ihrer auf isolierbare Einheiten gerichteten Forschungsweise diesem Prozeß wenig Aufmerksamkeit Centers and Institutional Dynamics: A Reassessment of the Structural-Evolutionary Perspective, Protosoziologie 7 (1995),
S. 11-22 (14 f.) mit Hinweis auf S. N. Eisenstadt / Michel Abitbol / Naomi Chazan (Hrsg.), The Early State in African
Perspective: Culture, Power and Division of Labor, Leiden 1987. Für eine ähnliche Unterscheidung siehe auch Chase-Dunn
/ Hall a.a.O. (1991), S. 19 ff.
1083
1077
Ich folge hier Gerdien Jonker, The Topography of Remembrance: The Dead, Tradition and Collective Memory in
Vgl. David Wilkinson, Cores, Peripheries, and Civilizations, in: Chase-Dunn / Hall a.a.O. S. 113-166, unter Berufung Mesopotamia, Leiden 1995, insb. S. 38 ff., 117 ff.
auf Carroll Quigley, The Evolution of Civilizations: An Introduction to Historical Analysis, New York 1961, S. 85-87. 1084
1078
Vgl. Rudolf Stichweh, Fremde, Barbaren und Menschen: Vorüberlegungen zu einer Soziologie der "Menschheit", in:
Für einen Überblick und eine Analyse der internen Problematik solcher Reichsbildungen vgl. Shmuel N. Eisenstadt, Peter Fuchs / Andreas Göbel (Hrsg.), Der Mensch — das Medium der Gesellschaft?, Frankfurt 1994, S. 72-91.
The Political Systems of Empires, New York 1963. Zur Zentrum/Peripherie-Differenzierung siehe die Einleitung zur
1085
paperback Ausgabe New York 1969. Ein Modell, das diesen Anforderungen perfekt gerecht wird, analysiert Rainer Grafenhorst, Das kosmographische
System der Pur_nas: Zur Funktion und Struktur indischer Kosmographie, Diss. Hamburg 1993. Die Erdscheibe findet sich
eingeteilt in einen Zentralkontinent und sechs weitere, ihn umlagernde, durch Meere getrennte Inselkontinente mit
1079 abweichender Struktur, die allesamt von Menschen bewohnt sind. Jeder Kontinent ist danach von einer anderen Umwelt
Einer der Gründe für Intensivierung des Handels dürfte gewesen sein, daß erste Hochkulturen, die sich als Zentren
umgeben, der letzte von einem Meer, das an die Erdgrenze reicht. Die Lebensqualität auf den einzelnen Kontinenten
eignen, in ausgesprochen rohstoffarmen Gebieten entstehen: im Niltal und in Mesopotamien.
nimmt, bei gleichen Ordnungserfordernissen wie Religion und politische Herrschaft, mit der Entfernung vom Zentrum ab,
1080
Die Auffassung, dies sei eine "materialistische" Geschichtstheorie, (so z.B. Barry K. Gills / Andre Gunder Frank, 5000 aber die Ordnungserfordernisse bestätigen noch, was als selbstverständliche Ordnung zu gelten hat. Nur auf dem letzten
Years of World System History: The Cumulation of Accumulation, in: Chase-Dunn / Hall a.a.O. S. 67-112), braucht man Inselkontinent ist alles, was gilt, aufgehoben. Dieser Kontinent komplettiert die Ordnung der Weltgesellschaft durch ihre
nicht zu teilen. Im Gegenteil: ein Horten von Materie ist noch lange keine Kapitalbildung, die ja Ressourcen für Zwecke Negation — aber räumlich entfernt und praktisch unerreichbar: am Ende der Welt. Im Vergleich zu den Überlieferungen,
verwendet, die nicht in ihrer Materialität angelegt sind. die aus der (segmentär differenzierten) älteren (vedischen) Gesellschaft stammen, zeigt sich deutlich die Umstellung von
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 303 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 304
1090
Allerdings bietet die Literatur kein klares Bild über die Außengrenzen solcher Großkomplexe oder economies" gehören in diesen Zusammenhang. Das wohl auffälligste Merkmal dieser Reiche selbst ist ihre
Reiche oder "world-systems". Je nach dem, ob man von Handel oder von militärischer Kontrolle oder von bürokratische Herrschaftsform und die dadurch verdeckte, auf Unterschiede des Reichtums und der Chancen
1086
kultureller Diffusion ausgeht, kommt man zu sehr verschiedenen Ergebnissen. Wir können darauf mit der reduzierte Stratifikation.
These reagieren, daß die Grenzen dort liegen, wo das Zentrum sie sieht, unabhängig davon, wie an der Auch nach innen wird man keine hohe kommunikative Verdichtung voraussetzen dürfen. Die Mehrheit
Peripherie die nachbarlichen Kontakte ausfransen. Und im Zentrum muß dann entschieden werden, wie weit der Bewohner solcher Großreiche wußten vermutlich überhaupt nicht, daß sie in einem Reich leben (wie wir
zum Beispiel militärische Deckung für Handelsinteressen erforderlich ist und wie die Beziehungen von uns das an Hand von Landkarten vorstellen können). Entsprechend blieben die Reichsideologien, etwa der
Stützpunkten zu umliegenden Territorien zu behandeln sind. Konfuzianismus Chinas oder die schriftlich ausgearbeiteten Weltreligionen weithin unbekannt oder nur in
Jedenfalls verhindert die geringe Kontrolltiefe der Kommunikation die Ausbildung einer politischen populären Derivaten bekannt; und die Angehörigen der bürokratischen Eliten dürften sich auch kaum dafür
1087
Ordnung, die man als Vorläufer des modernen Territorialstaates auffassen könnte. Sehr typisch und in interessiert haben, was in den Köpfen der einfachen Leute vor sich ging.
unabhängig voneinander entstandenen Fällen sieht das Zentrum seine Aufgabe eher in der Pflege der Um den Begriff des Reiches etwas strenger zu fassen, sollen Reiche hier historisch als ein quasi
kosmischen Beziehungen der Gesellschaft, in der Durchführung der darauf bezogenen Riten und in der natürliches Nebenprodukt der Ausdehnung von Kommunikationsmöglichkeiten verstanden werden. Zur Form
Unterhaltung einer entsprechenden religiös-politischen Bürokratie, während die Regelung der ökonomischen des Reiches gehört daher, wie bereits gesagt, das Fehlen definitiver Grenzen. An ihrer Stelle findet man
1091
Verhältnisse und Konflikte den Familienökonomien und eventuell eigens dafür gebildeten Korporationen Horizonte, die das Erreichbare bestimmen und mit ihm variieren. Ein Reich ist also der Sinnhorizont von
(Tempeln, Gilden, Zünften) überlassen bleibt. Es ist kein Zufall, daß unter diesen Bedingungen kein Zivilrecht Kommunikationen, und zwar von Kommunikationen bürokratischer Eliten, die von der Einzigartigkeit ihres
entsteht und auch keine marktförmige Konditionierung des Individualverhaltens. Reiches ausgehen und Raumgrenzen, wenn überhaupt, als vorübergehende Einschränkungen ihres faktischen
Formal kennt das Schema Zentrum/Peripherie sehr verschiedene Anwendungen. Man kann von Städten Einflußbereichs hinnehmen. Der (vorläufig) letzte Fall eines solchen Reiches dürfte — im Kontext der
als Zentren ausgehen. Dann kommt es fast unvermeidlich zur Anerkennung einer Vielzahl solcher Zentren mit sozialistischen Internationale und einer wissenschaftlich vorausgesagten Weltrevolution — die Sowjetunion
entsprechenden (ländlichen) Peripherien. Ein anderer Fall ist die Bildung von Großreichen, die die Möglichkeit gewesen sein.
haben, sich selbst als Zentrum der Welt zu begreifen und alles andere zu peripherisieren. So hielt sich China Man könnte der Meinung sein, daß im Falle solcher bürokratischen Reiche eine besondere, in unserem
bis weit ins 19. Jahrhundert hinein für das einzige "Reich unter dem Himmel" und nicht etwa für eine Kultur, Formenkatalog nicht berücksichtigte Differenzierungsform vorliegt. Es handelt sich aber doch wohl nur um
geschweige denn einen Staat unter anderen. Die Differenzierungsform war damit zugleich Kosmologie. eine elaborierte Form von Zentrum/Peripherie-Differenzierung mit dem Reich und der Reichsbürokratie als
1088
Über die Erstentstehung von Großreichen ist wenig bekannt. Zur Ausdehnung von Zentrum. Jedenfalls wiederholen sich typisch diejenigen Strukturprobleme, nämlich Probleme der Diffusion
1092
Kommunikationsgepflogenheiten über Stammesgrenzen hinaus wird es durch Handel gekommen sein. Dem und Kontrolle, die für diese Differenzierungsform charakteristisch sind. Verfügung über Schrift war
folgen militärische Notwendigkeiten der Sicherung und kulturelle (religiöse, missionarische) Expansionen, unerläßlich, um wenigstens in der Zentrale den Überblick zu behalten und um die von ihr ausgehenden
1093
insbesondere nach der Erfindung von Weltreligionen. Als Sekundärbildungen beobachtet man die Kommunikationen zu festigen. Dabei dürften Schriftformen wie die chinesische oder eine eigene
Nomadisierung von Randregionen, die reichsbezogen leben und nicht selten auch die Herrschaftsinstitutionen Schriftsprache (das Akkadische der Keilschrift, das Arabische bei afrikanischen Territorialreichen, das Latein
1089
des Reiches copieren. Auch Hafenstädte auf fremdem Territorium und die durch sie ausgelösten "dual im Heiligen Römischen Reich des Mittelalters) wichtig gewesen sein, die das Netz der Aufzeichnungen und
Botschaften von den lokal gesprochenen Sprachen unabhängig machen und ohne Übersetzungsprobleme
funktionieren konnten. Insgesamt dürfen jedoch die thematische Reichweite und Kontrolltiefe, die so
erreichbar waren, nicht überschätzt werden. Die effektiven Kommunikationsmöglichkeiten (die Post des
einfachen Raumvorstellungen auf Differenzen, die von einem Zentrum aus gesehen und dort gelehrt werden und nur noch römischen Reichs als eine Riesenanstrengung vor diesem Hintergrund) bleiben gering und reichen für eine
in einer Paradoxie des Einschlusses des Gegenteils zusammengefaßt werden können. faktische Herrschaftsausübung nicht aus. Man muß sich mit der Eintreibung von Tributen, mit zwangsweiser
1086
Für einen knappen Überblick siehe Chase-Dunn / Hall a.a.O. S. 8 ff. Vgl. auch Owen Lattimore, Studies in Frontier Rekrutierung von Arbeitskräften und mit feldzugähnlichen Strafaktionen begnügen. Angesichts geringer
History: Collected Papers 1928-1958, Paris 1962, S. 480. Informations- und Kontrollmöglichkeiten war es so gut wie ausgeschlossen, durch bloße Drohung mit
1087
Terminologisch optiert die überwiegende Literatur anders und spricht bereits an dieser Stelle von "Staatsentstehung", Sanktionen schon Gehorsam zu erreichen. Deshalb bleibt das faktisch verfügbare Machtpotential gering, und
was ihr die Möglichkeit gibt, mit einer Grobunterscheidung von vorstaatlichen und staatlichen Gesellschaften zu arbeiten. gelegentlichen und dann drastische Aktionen drängen die Landbevölkerung in eine
Lit. s. Anm. ..... Damit wird jedoch ein Unterschied verwischt, der sich erst in der frühen Neuzeit ergibt und sich selbst
"Staat" nennt, nämlich die Ausdifferenzierung eines spezifisch politischen Systems. Wir betonen statt dessen an den frühen
Herrschaftsgebilden den Primat der Differenzierung von Zentrum und Peripherie.
1088
Soweit die Diskussion theoretische Ambitionen erkennen läßt, stehen demographische Analysen im Vordergrund. Da
1090
man neuerdings aber auch die These findet, daß die Bevölkerungsabnahme das Entstehen territorial-politischer Herrschaft Vgl. für eine späte Beobachtung J.H. Boeke, Economics and Economic Policy of Dual Societies as Exemplified by
begünstige (vgl. Henry T. Wright / Gregory Johnson, Population, Exchange, and Early State Formation in Southwestern Indonesia, New York 1953.
Iran, American Anthropologist 77 (1975), S. 267-289), ist das Ergebnis dieser Fragestellung unschlüssig. Als explizit 1091
So (in bezug auf die Sowjetunion) Alexander Filippov, The Observer of the Empire (russisch), Moskau 1991.
ökologisch (und damit ebenfalls demographisch) ansetzende Darstellungen vgl. Robert MacAdams, The Evolution of Urban
1092
Society: Early Mesopotamia and Prehispanic Mexico, London 1966; William T. Sanders / Barbara J. Price, Mesoamerica: Vgl. Edward Shils, Centre and Periphery, in: The Logic of Personal Knowledge: Essays Presented to Michael Polanyi,
The Evolution of a Society, New York 1968. London 1961, S. 117-131; ders., Center and Periphery: Essays in Macrosociology, Chicago 1975. Ferner etwa Shmuel N.
1089 Eisenstadt, Social Differentiation and Stratification, Glenview Ill. 1971; Stein Rokkan / Derek W. Urwin (Hrsg.), The
Das bekannteste Beispiel bietet die nordchinesische Grenze. Vgl. Owen Lattimore, Inner Asian Frontiers of China,
Politics of Territorial Identity: Studies in European Regionalism, London 1982; dies., Economy, Territory, Identity: Politics
New York 1940; ders., The Periphery as Locus of Innovation, in Jean Gottmann (Hrsg.), Centre and Periphery: Spatial
of West European Peripheries, London 1983. Für die starke Beteiligung geographischer Forschungen siehe auch Jean
Variation in Politics, Beverly Hills Cal. 1980, S. 205-208; Thomas J. Barfield, The Perilous Frontier: Nomadic Empires
Gottmann (Hrsg.), Centre and Periphery, London 1980. Inzwischen findet man auch bemerkenswerte Fallstudien, die mit
and China, Cambridge Mass. 1989. Aber auch an die Bildung von Nomadenstämmen im vorderen Orient, symbolisiert
diesem Schema arbeiten. Zum Beispiel John Bannerman, The Lordship of the Isles, in: Jennifer M. Brown (Hrsg.), Scottish
durch den "Auszug aus Ägypten", wird man zu denken haben. Vgl. zur Nomadisierung Palästinas in den letzten
Society in the Fifteenth Century, New York 1977, S. 209-240, oder Jack P. Greene, Peripheries and Center: Constitutional
Jahrhunderten des dritten vorchristlichen Jahrtausends Talia Shay, A Cycle of Development and Decline in the Early
Development in the Extended Policies of the British Empire and the United States 1607-1788, Athens Ga. 1986.
Phases of Civilization in Palestine: An Analysis of the Intermediate Bronze Period (2200-2000 BC), in: John Gledhill /
1093
Barbara Bender / Mogens Trolle Larsen (Hrsg.), State and Society: The Emergence and Development of Social Hierarchy Siehe Rudolf Schieffer (Hrsg.), Schriftkultur und Reichsverwaltung unter den Karolingern, Opladen 1996. Zur
and Political Centralization, London 1988, S. 113-120. Wichtig ist, daß es sich nicht um eine ursprüngliche Instabilität von Ansätzen zur Reichsbildung in schriftlosen Gesellschaften Afrikas vgl. Jack Goody, Die Logik der Schrift
Gesellschaftsform handelt. und die Organisation von Gesellschaft, dt. Übers. Frankfurt 1990, S. 187 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 305 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 306
1094
Kontaktvermeidungshaltung sowie in die Beibehaltung primär segmentärer Differenzierung. Auch fällt es Großreiche können mithin zwei verschiedene Differenzierungsformen auf der Basis von Ungleichheit
typisch schwer, die lokale Aristokratie unter Kontrolle zu halten — etwa in der Form des Zwangs zur kombinieren und in dieser Kombination ausbauen: Zentrum/Peripherie-Differenzierung und Stratifikation. Die
zeitweisen Anwesenheit in der Hauptstadt (Japan). Um so stärker fallen die Unterschiede auf, die zwischen von ihnen entwickelte Form bürokratiegestützter Herrschaft ist diejenige Form, die diesen
den Kulturzentren des Reichs und dem Landleben sich ergeben haben: ein deutliches Motiv für die Entstehung Kombinationsgewinn ermöglicht, indem sie sich selbst unterscheidet. Deshalb wird von Zeitgenossen und
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und Selbstinterpretation von "Hochkulturen". Eine entsprechende Spaltung der Semantik in High Tradition auch im historischen Rückblick vor allem der Glanz dieser unitarischen Form bürokratischer Herrschaft
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und little tradition bzw. eine Abstufung auf einem folk/urban Kontinuum ist die Folge. wahrgenommen, die die Herrschaft ihres Herrschers ermöglicht und sich zugleich an ihm legitimiert. Vor
Im Zentrum kommt es zu stärkeren Differenzierungen der verschiedensten Art und zu einem "sharing of allem die Schichtungsstruktur der Gesellschaft tritt dabei optisch, aber nicht funktional, in den Hintergrund.
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facilities". Das begünstigt, und wird ermöglicht durch, eine Entwicklung, die man als stärkere Verdichtung Die sich offiziell als Zentrum verstehende Amtsbürokratie bildet die sichtbare Struktur des Reiches und trägt
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der Interaktionsnetze beschreiben könnte. In Reichszentren vor allem werden, verglichen mit den lokalen seine religiöse bzw. ethische Selbstdarstellung. Herrschaftsausübung und Religion können nicht getrennt
Verhältnissen der Peripherie, intern komplexere und zugleich regional weitreichendere Kontakte gepflegt. Die werden. Dabei erfordert und ermöglicht ihre Positionsstruktur ein beträchtliches Maß an Mobilität, so daß die
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örtlichen Verhältnisse können, und das bezieht auch Sprache ein, sehr verschieden sein und bleiben, ohne Schichtdifferenzierung dadurch verdeckt und an struktureller und semantischer Schließung gehindert wird.
voneinander zu wissen. Nationalsprachen entstehen erst mit dem Buchdruck. Das Zentrum begründet sich mit Sie wirkt sich aber indirekt aus, indem sie den Zugang zu Erziehungs- und Karrierechancen reguliert. Und
einer kosmologischen Konstruktion als Zentrum. So entsteht mit Hilfe schriftlicher Fixierung maßgebender nicht zuletzt spielt Protektion als internes Machtinstrument und als Kopplungsmechanismus im Verhältnis zur
Texte eine unbeirrbare semantische Stabilität. Noch während der Kriegswirren der Völkerwanderungszeit sozialen Schichtung eine beträchtliche Rolle.
sprach man in Rom von der pax romana und stellte die eindringenden Barbaren kurzerhand als Söldner ein. Jedenfalls bleibt die Stratifikation so stark, daß ein großräumiges Reich weder mit dem Adel noch gegen
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Einer der wichtigsten Aspekte des Zentrum/Peripherie-Schemas ist: daß es im Zentrum (sei es in ihn regiert werden kann. Das Herrschaftssystem kann nicht allein mit delegierter Macht arbeiten , es muß
hinreichend großen Städten, sei es bezogen auf Reichsbildungen) Stratifikation in einer Weise ermöglicht, die sich auf unabhängige lokale Machtquellen, das heißt: auf den Grundbesitz des Adels stützen. Regeln wie: die
weit über das hinausgeht, was in Kleingesellschaften älteren Typs möglich gewesen war. Das gilt Gouverneure der Provinzen nicht den dort ansässigen Familien zu entnehmen und sie häufiger zu wechseln,
insbesondere für die Möglichkeit, daß ein Adel sich durch Endogamie absondert und zugleich, bezogen auf die spiegeln das Problem. Oft kommt es unter diesen Bedingungen zur Rivalität im Adel selbst, zur
Einzelfamilie, das Exogamiegebot segmentärer Gesellschaften beibehält. Da nur verhältnismäßig wenige Faktionsbildung, zur Ermordung des Königs und zur Ausrottung ganzer Familien in einem zirkulären
Familien zum Adel gehören können, weil anderenfalls die Ressourcen nicht ausreichen und die Auszeichnung Verhältnis, in dem der Adel Einfluß auf die Regierungsgeschäfte sucht und der König die Kontrolle darüber
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durch Vermehrung entwertet werden würde, erfordert Stratifikation einen hinreichend großen Heiratsmarkt, zu behalten möchte, durch wen er sich beeinflußen lassen will. Noch die frühmoderne Lehre von der
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also einen größeren territorialen Einzugsbereich oder eine hauptstädtische Verdichtung der Bevölkerung. So Staatsräson ist ganz wesentlich durch diese Problemstellung geprägt , wenngleich der moderne Staat bereits
gesehen bietet die Unterscheidung Zentrum/ Peripherie auf ihrer einen Seite, im Zentrum, zugleich eine dazu ansetzt, ihr strukturell (und nicht nur in der Form von Politikberatung) die Grundlagen zu entziehen.
Chance für andere Formen der Differenzierung, und zunächst vor allem für Stratifikation. Sie ist, wenn man Beschreibungen der Welt und des Reiches, die unter diesen Bedingungen angefertigt werden, gehen von
überspitzt formulieren darf, eine Differenzierung von Differenzierungsformen, auf dem Lande noch der Mitte aus, erfassen aber, um Vollständigkeit zu erreichen, auch die Peripherie und das, was jenseits der für
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segmentärer und in der Stadt schon stratifikatorischer Differenzierung. das Reich typischen Ordnung noch zu bedenken ist. Sie nehmen für ihre Weltbeschreibung Vollständigkeit
(und damit: Alternativenlosigkeit) in Anspruch. Sie übergreifen Ungleichheiten, territorialisieren sie und stellen
so über eine imaginierte Raumordnung die Einheit des Differenten her. Mit heutigen Augen liest man sie wie
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eine entfaltete, in Räume aufgelöste Paradoxie. Eine außerordentlich lange und stabile Tradierfähigkeit dieser
Typische Beispiele werden aus China berichtet (Vgl. z.B. Jacques Gernet, La vie quotidienne en Chine à la veille de
l'invasion mongole 1250-1276, (1959), zit. nach der Auflage Paris 1978, S. 177 f.) Manche Besonderheiten der
Ordnungsmodelle dürfte deshalb mit der strukturellen Relevanz des Problems der (Reichs-)Einheit des
altchinesischen Gesellschaft — die multifunktionale Stärke der Großfamilie und das Gildenwesen mit Funktionen der
Protektion gegen Politik sowie das Fehlen einer Zivilrechtsentwicklung, die mit der römischen oder der englischen
vergleichbar wäre, könnten hier ihre Erklärung finden. Und nicht zuletzt könnten diese Relikte protektiver Mechanismen
diese waren bekanntlich selbst im spätmittelalterlichen Europa bis zur Durchsetzung des Erfordernisses staatlicher
auch erklären, weshalb in China der Übergang zur modernen Zivilisation so viel schwerer gefallen ist als in Japan. In
Anerkennung oder Verleihung (dem Anfang vom Ende der Stratifikation) noch recht vage und interpretationsfähig.
deutlichem Kontrast dazu kennt das europäische Mittelalter, besonders in England, bereit ein hohes Maß an
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Individualisierung des Eigentums mit wirksamem Rechtsschutz. Vgl. Alan MacFarlane, The Origins of English So mag man zweifeln, ob man Altägypten oder China, also die eindrucksvollsten Prototypen bürokratischer Reiche,
Individualism, Oxford 1978. trotz erheblicher und stabiler Reichtumsunterschiede als stratifizierte Gesellschaften bezeichnen kann. Genauere
1095 Untersuchungen der bürokratiebedingten Mobilität, wie sie für China vorliegen, zeigen dann jedoch sehr rasch den Einfluß
Daß dies auch ohne Reichsbildung allein an Hand von Stadtbildung gelingt, läßt sich an der "polis"-Kultur
von Schichtung, und zwar gerade auf Grund eines an Leistungskriterien ausgerichteten Prüfungssystems. Vgl. Francis L.K.
Griechenlands ablesen. Sie wird denn auch explizit mit der Unterscheidung polis/oikos formuliert und gibt so Anlaß zur
Hsu, Social Mobility in China, American Sociological Review 14 (1949), S. 764-771; E.A. Kracke, Jr., Civil Service in
Entstehung der "ethisch-politischen" Tradition des Abendlandes, mit der in den Anfängen nichts anderes gemeint war als
Early Sung China: 960-1067, Cambridge Mass. 1953; Robert M. Marsh, The Mandarins: The Circulation of Elites in China
eine Hervorhebung der nur in der Stadt möglichen Einstellungen und Tüchtigkeiten.
1600-1900, Glencoe Ill. 1961; Ho Ping-ti, The Ladder of Success in Imperial China: Aspects of Social Mobility 1368-1911,
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Vgl. hierzu Publikationen von Robert Redfield, z.B. Peasant Society and Culture: An Anthropological Approach to New York 1962. Wolfram Eberhard, Conquerors and Rulers: Social Forces in Medieval China, 2. Aufl. Leiden 1965, S. 7,
Civilization, Chicago 1956. Allerdings muß hier beachtet werden, daß diese Differenz nicht mit der von Zentrum und merkt dazu an, daß die Assimilierung unterschiedlicher Schichten auch eine Frage der Bevölkerungsdichte war und in
Peripherie identisch ist, sondern nicht zuletzt dazu dient, die Differenz von Zentrum und Peripherie in Orten der Peripherie Städten sowie in dichter besiedelten Gebieten sich stärker ausgewirkt hat als anderswo.
abzubilden, also zu wiederholen. 1101
Dies Postulat wird man im 16. Jahrhundert dann "Souveränität" nennen; und erst im 17. Jahrhundert gelingt in einigen
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Rokkan / Urwin a.a.O. (1983), S. 7. Territorien, vor allem in Frankreich, die effektive Durchsetzung.
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Dazu allgemein Bruce H. Mayhew / Roger L. Levinger, Size and Density of Interaction in Human Aggregates, Daraus ergibt sich eine sehr kurze Regierungszeit einzelner Herrscher und einzelner Dynastien. John H. Kautsky, The
American Journal of Sociology 82 (1976), S. 86-110. Siehe auch dies., On the Emergence of Oligarchy in Human Politics of Aristocratic Empires Chapel Hill NC 1982, S. 247 f., zeigt, daß sie, je nach Reich mit 6, 11, 14 Jahren, deutlich
Interaction, American Journal of Sociology 81 (1976), S. 1017-1049. unter der Länge einer Generation liegen. Vgl. auch Elisabeth M. Brumfiel, Aztec Statemaking: Ecology, Structure and the
1099 Origin of the State, American Anthropologist 85 (1983), S. 261-284. Man muß daraus jedoch nicht auf Instabilität der
Wie weit dies bedeutet haben muß, daß in allen älteren Gesellschaften (mit der wichtigen Ausnahme des europäischen
Differenzierungsform schließen.
Mittelalters) aller Adel Stadtadel gewesen ist, ist umstritten. Vgl. Gideon Sjoberg, The Preindustrial City: Past and
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Present, Glencoe Ill. 1960, für diese These und ihre kritische Analyse aus fachhistorischer Sicht durch Paul Wheatley, Vgl. Niklas Luhmann, Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in:
"What the Greatness of a City is said to be": Reflections on Sjoberg's "Preindustrial City", The Pacific Viewpoint 4 (1963), Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 65-148; Michael Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen
S. 163-188. Zum Teil ist dies natürlich eine Frage der Kriterien, die man der Zuordnung zum Adel zu Grunde legt, und Neuzeit: Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt 1990.
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Differenten zusammenhängen, also durch die effektive Befriedigung eines Semantik-Bedarfs für die formal-objektive Rekrutierung bzw. auf Gleichheit der Beteiligung aller Bürger Wert gelegt wurde, hatte die
herrschenden Schichten des Reiches zu erklären sein. Oberschicht deutlich bevorzugten Zugang und deutlich stärkeren Einfluß; im chinesischen Fall zum Beispiel
Nicht in allen Fällen wird die Gesellschaft durch Erweiterung des Kommunikationsbereichs zur deshalb, weil allein sie die karrierenotwendige Ausbildung garantieren konnte; und im griechischen Fall
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Reichsbildung animiert. Geographische Bedingungen, etwa in der Agäis , oder auch Grenzlagen zwischen deshalb, weil ihre weiterreichenden regionalen Kontakte unentbehrlich waren. Ähnliches gilt auch für
Großreichen, der Fall Israels, haben Ausnahmen ermöglicht, und zwar Ausnahmen mit weitreichenden Städte des italienischen Mittelalters und der Frührenaissance, in denen das "Volk" den (noch landsässigen)
Konsequenzen für semantische Innovationen. Parsons hat diese Gesellschaften "seed-bed societies" Adel entmachten konnte (Beispiel Genua), dies jedoch faktisch auf die Ersetzung der alten Familien durch eine
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genannt. Auch für diese Gesellschaften gelten jedoch die Differenzierungsformen Zentrum/Peripherie und neue Adelsschicht hinauslief. Dabei ist mit Oberschicht, also mit stratifikatorischer Differenzierung, eine
Stratifikation. Es handelt sich um städtische Gesellschaften und um Adelsgesellschaften. Aber offenbar hat Ordnung von Familien, nicht von Individuen gemeint, also eine soziale Prämiierung von Herkunft und
das Abweichen von der Typik des Großreiches genügt, um ein hohes Maß an selbstkritischer Semantik zu Anhang. Und im Verhältnis zu heute geltenden Ordnungsvorstellungen kommt es darauf an, daß die
ermöglichen — in Israel in der Form der Prophetie, in Griechenland in der Form eines neuartigen, Schichtzugehörigkeit multifunktional wirkte, also Vorteile bzw. Benachteiligungen in so gut wie allen
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schriftgebundenen Erkenntnisstrebens ; und in beiden Fällen in der nicht an etablierte Positionen Funktionsbereichen der Gesellschaft bündelte und damit einer funktionalen Differenzierung kaum
gebundenen Form der Beobachtung zweiter Ordnung: der Beobachtung von Beobachtern. Auf einen Wechsel überwindbare Schranken zog.
der Differenzierungsform, auf eine neue "Katastrophe" sind diese Gesellschaften jedoch nicht vorbereitet und Von Stratifikation wollen wir nur sprechen, wenn die Gesellschaft als Rangordnung repräsentiert wird
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die semantischen Innovationen gewinnen, anders als im Europa der Frühmoderne, nicht an diesem Punkt ihren und Ordnung ohne Rangdifferenzen unvorstellbar geworden ist. Da die Oberschicht keine Beziehungen der
take off. Verwandtschaft zu Angehörigen der Unterschicht mehr anerkennt oder sie als peinliche Anomalien empfindet,
Das Evolutionspotential bürokratischer Reiche, aber auch anderer Formenvon Hochkultur, wird als eher kann die Gesellschaft nicht mehr über gemeinsame Abstammung als ein System der Verwandtschaft
gering veranschlagt. Bei bemerkenswerter Aufstiegs- und Untergangsdynamik, bei häufiger geographischer beschrieben werden. An deren Stelle tritt die Vorstellung einer ordnungsnotwendigen Rangdifferenz — nicht
Verlagerung der Zentren und bei prekären Balancen zwischen politischer Herrschaft, religiösen Eliten und auf zuletzt im Blick auf die Beziehungen zwischen verschiedenen Gesellschaften. Eine stratifizierte Gesellschaft
Landbesitz beruhender Aristokratie kommt es eher zu zirkulären Entwicklungen, zu Variationen im Rahmen bricht also zwangsläufig mit der Vorstellung, die Gesellschaft selbst sei ein Verwandtschaftszusammenhang.
der stabilisierten Ungleichheiten, aber nicht zu einem Übergang zu einer prinzipiell anderen Form der Das ermöglicht es ihr, zentralisierte politische Herrschaft und eine durch eine Priesterschaft verwaltete
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Differenzierung. Zusammenbrüche führen dazu, daß man die Differenzierungsform von Religion zu akzeptieren und deren Verhältnis zur Rangordnung der Geschlechter auf ein Problem der
Zentrum/Peripherie und in ihr Stratifikation wiederzugewinnen sucht. Funktionskomplexe, besonders Religion Personalrekrutierung zu reduzieren.
und (nach der Einführung von gemünztem Geld) Geldwirtschaft fügen sich dieser Ordnung und ihren Stratifikation beruht auf akzeptierten Reichtumsunterschieden. Zur Stratifikation ist ferner erforderlich,
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territorialen Regimes. Schließlich ist nicht gut vorstellbar, daß die Religion oder der Handel eine andere, und auch das zeigt Rang: daß die Oberschicht relativ klein ist und sich trotzdem behaupten kann. Ferner
unabhängige Gesellschaft bilden. Oder wenn es zu solchen Vorstellungen kommt wie in Augustins Lehre von wird, um die Diskontinuierung der Verwandtschaftslinien zu markieren (aber selbstverständlich auch aus
den zwei civitates, muß klargestellt werden, daß nur eines dieser Reiche von dieser Welt sein kann und man ökonomischen Gründen) Endogamie realisiert. Endogamie ermöglicht es, starre Heiratsregeln, wie man sie in
auf das andere warten muß. segmentären Gesellschaften oft findet, aufzugeben, also mehr strukturelle Flexibilität in der Gattenwahl
Eine Änderung zeichnet sich erst ab, wenn eine Mehrheit von Funktionssystemen annähernd gleichzeitig vorzusehen. Ehen können jetzt zur Herstellung von Familienbündnissen benutzt werden, mit denen die
auf die Bahn einer Ausdifferenzierung mit operativer Autonomie gerät und folglich nicht eines von ihnen die Oberschicht wechselnden historischen Gegebenheiten und vor allem ihrer eigenen Instabilität Rechnung tragen
neue Gesellschaft bildet, sondern die gesellschaftliche Ordnung auf die Differenz der Funktionssysteme kann. In der damaligen Terminologie formuliert, handelt es sich um eine politische Gesellschaft (societas
umgestellt werden muß. Das geschieht unter dem Schutzschild der alten Differenzierungsformen erst im civilis), deren Mitglieder eigene Häuser unterhalten, einander direkt oder indirekt kennen und keine
frühmodernen Europa. Schwierigkeiten haben, bei Bedarf Kontakte herzustellen. Die Kontakte innerhalb der Oberschicht werden mit
spezifischen, von Ungleichheit entlasteten Umgangsformen ausgestattet, was nicht ausschließt, bestehende
Rangdifferenzen (die ein Bauer gar nicht erkennen könnte) zum Ausdruck zu bringen. Die
Unwahrscheinlichkeit einer solchen Ordnung ist auch daran zu erkennen, daß die die Gesellschaft jetzt
VI. Stratifizierte Gesellschaften tragende Differenz auf räumliche Repräsentation verzichten muß — im Unterschied zu Segmentierung und zu
Zentrum/Peripherie-Differenzierung. Das erfordert Abstraktionen der Symbolisierung, die oft über politiko-
Alle hochkulturellen, über Schrift verfügenden Gesellschaften sind Adelsgesellschaften gewesen. Wie theologische Parallelkonstruktionen abgesichert werden, also mit kosmischen Analogien gearbeitet sind. Es
verschieden auch immer die ökonomische Grundlage der Distinktion einer Oberschicht gewesen sein mag: daß erfordert vor allem aber eine Stilisierung der schichtübergreifenden Interaktionen durch Formen der
es eine Oberschicht gegeben hat und daß ihre Existenz und Auszeichnung in der Kommunikation honoriert Ehrerbietung, oft auch der Sprache, der Verteilung von Initiativen und Disposition über Themen, alles in
wurden, kann schwerlich bestritten werden. Gewichtige Unterschiede bestehen in dem Ausmaß, in dem die allem also eine laufende sowohl zeremonielle als auch kommunikationspraktische Reproduktion der
formale "bürokratische" Ordnung eines Reichssystems oder auch eine Stadtregierung Rangdifferenz unter Anwesenden. Stratifikation wird also dadurch reproduziert, daß sie sich laufend in
griechisch-hellenistischen Typs dem Rechnung trugen. Aber auch wenn das nicht der Fall war und auf Erinnerung bringt, wenn immer Personen verschiedenen Ranges beisammen sind.

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Hierzu Colin Renfrew, The Emergence of Civilization: The Cyclades and the Aegean in Third Millenium B.C., London 1108
Man kann dies sehr gut an den Familientraditionen der Oberschicht verfolgen, die in Athen (anders als in Rom) nicht
1972, insb. S. 440 ff.
auf das Innehaben von Stadtämtern Wert legen, wohl aber auf kriegrische und sportliche Prominenz, auf Gesandtschaften,
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Siehe Talcott Parsons, Societies, Evolutionary and Comparative Perspectives, Englewood Cliff N.J. 1966, S. 95 ff. Friedensverhandlungen und sonstiges Managen internationaler Beziehungen; und vor allem natürlich: auf finanzielle
1106 Großzügigkeit. Vgl. Rosalind Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, Cambridge Engl. 1989, S.
Speziell hierzu G.E.R. Lloyd, Reason and Experience: Studies in the Origin and Development of Greek Science,
95 ff.
Cambridge England 1979.
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1107 Die allgemeine Semantik des "ranking", der Beobachtung von Rangdifferenzen war natürlich längst vorher eingeübt.
Dazu monographisch Joseph A. Tainter, The Collaps of Complex Societies, Cambridge Engl. 1988. Daß alle
Siehe dazu Richard Newbold Adams, Energy and Structure: A Theory of Social Power, Austin 1975, S. 165 ff.
vorneuzeitlichen Reiche zusammengebrochen sind (sofern nicht ein bloßer Herrschaftswechsel vorliegt), erklärt Tainter mit
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Selbstüberforderung durch Komplexität. Der Erhaltungsaufwand wird schließlich so groß, daß die politische Kontrolle des Wir scheiden hiermit vor allem die Überlagerung einer einheimischen Volksschicht durch ein Eroberervolk aus, die zu
Systems vor den Anforderungen versagt. Differenzierungen führen kann, die sich ebenfalls relativ lange reproduzieren lassen.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 309 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 310

Man kann sich nicht vorstellen, daß eine Oberschicht, und sei sie noch so klein, "regiert". Die Wenn unsere These zutrifft, daß der Primat einer Differenzierungsform auch die Bruchstellen
Ordnungsleistungen der tribalen Gesellschaften und der Häuptlingsgesellschaften der davorliegenden verdeutlicht, an denen Parasiten sich ernähren, Bifurkationen ansetzen, neue, geschichtsträchtige Wege
Gesellschaftsformationen können durch Schichtbildung allein nicht ersetzt werden. Deshalb findet man in beschritten werden können, dann ist es kein Zufall, daß hier und nur hier die Katastrophe der Neuzeit passiert
stratifizierten Gesellschaften immer auch einen danebengesetzten politischen Zentralismus. Dabei läßt der ist. Dabei ist auch an die europäische Besonderheit einer korporativen Verfasstheit der Stände zu denken, die
gegenwärtige Forschungsstand offen, ob die Oberschicht einen politischen Zentralismus schafft, um ihre den Ständen Mitsprachemöglichkeiten im beginnenden Territorialstaat sicherte, also eine paktierte
Privilegien zu schützen oder ob der politische Zentralismus die an ihm Beteiligten in die Stellung einer Festlegungen von Privilegien ermöglichte, damit aber auch ein besonderes Maß an kollektiver Sichtbarkeit
Oberschicht bringt oder ob, wie man im Blick auf China hinzufügen muß, der Kontakt zur gelehrten und Angreifbarkeit mit sich brachte. Organisatorische und rechtliche Fixierungen suggerieren immer die
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politischen Bürokratie der Oberschicht vorbehalten bleibt. Dies Problem wird unter dem merkwürdigen Möglichkeit einer Änderung. Alles in allem ist es also kein Wunder, daß sich nur in Europa die Umstellung
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Begriff der "Staatsentstehung" diskutiert. Jedenfalls kommt es, gesellschaftsgeschichtlich gesehen, nicht zu des Gesellschaftssystems auf einen Primat funktionaler Differenzierung ereignet hat.
ausgeprägter Stratifikation ohne danebengesetzten politischen Zentralismus. Insofern dient der Übergang zu Gewiß reicht diese Erklärung allein nicht aus. Wir müssen zusätzlich historisch-situative Bedingungen in
stratifizierten Gesellschaften zugleich der Vorbereitung einer funktionalen Ausdifferenzierung eines Rechnung stellen, etwa geographische Verschiedenheiten, strukturelle Vorentwicklungen (zum Beispiel die
politischen Systems. besondere Bedeutung des Rechts), die Landsäßigkeit des Adels und ein hohes Maß an bereits eingeleiteter
Formal gesehen handelt es sich bei einer hierarchischen Stratifikation um zwei Serien, die aber als eine Nichtidentität von Religion, Geldwirtschaft und politischen Territorialherrschaften, die die Reichsform
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dargestellt werden. Es gibt die Reihung von oben nach unten, gesehen von oben, und die Reihung von sprengt. Auch macht der Vergleich mit dem Kastensystem Indiens deutlich, daß die Stratifikation Europas
unten nach oben, gesehen von unten. Diese Doppelung prägt sich in ganz verschiedenen Erlebnisweisen aus. nicht auf einem religiös ritualisierbaren Begriff der Reinheit beruhte, sondern ihre Quellen im Grundbesitz und
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Auch folgt daraus, daß die Verlängerung der Hierarchie nach oben durch Erzeugung besserer Rangpositionen schließlich fast nur noch in der Rechtsordnung hatte. All diese begünstigenden Bedingungen zugestanden:
immer zugleich auch schlechtere erzeugt; und daß Aufstieg nur in der Weise vollzogen werden kann, daß die die dominante Form ständischer Differenzierung hat in einem langen, mehrhundertjährigen Prozeß immer
Positionen, die man auf dem Weg nach oben hinter sich läßt, nun niedrigere Positionen werden und die wieder vor Augen geführt, was man nicht mehr gebrauchen konnte und was sich als Hindernis, ja schließlich
ehemals Ranggleichen nun als Leute minderen Ranges behandelt werden müssen. Diese Paradoxie der als überflüssig erwies in dem Maße, als die sich ausdifferenzierenden Funktionssysteme eine eigene
Doppelreihung wird jedoch dadurch verdeckt, daß die Hierarchie als eine objektive Stufenordnung Autopoiesis organisieren konnten. Was man nicht mehr gebrauchen konnte, war der politische Faktor des
beschrieben wird, in der jeder nur eine Position einnehmen kann, und daß die Positionsordnung semantisch Grundbesitzes (den man schließlich auch kaufen und verkaufen und unter Einrechnung der Investitionskosten
ausgefüllt wird mit Annahmen über unterschiedliche Qualitäten (Natur) und unterschiedliche Erwartungen rational bewirtschaften konnte); und was man nicht mehr gebrauchen konnte, waren vor allem die Söhne und
(Moral). die Verbindungen der Adelsfamilien. Die Royal Society of London for the Improving of Natural Knowledge
In der folgenden Analyse beschränken wir uns aus Raum- und Materialgründen auf den Fall einer schätzt zwar "gentlemen" als Mitglieder besonders, aber mit der Begründung, daß sie mehr Zeit haben als
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Gesellschaft mit einem besonders deutlichen Primat von Stratifikation als Form gesellschaftlicher Geschäftsleute. Und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts findet man Schriften, die die besonderen
Systemdifferenzierung: das spätmittelalterlich-frühmoderne Europa. Selbstverständlich hatte es auch in den Qualitäten der Abkömmlinge adeliger Familien rühmen, aber wohl nur, um herauszufinden, wozu man sie
unruhigen Verhältnissen nach der Völkerwanderung und im frühen Mittelalter eine nach eventuell doch noch brauchen könne, zum Beispiel für militärische Führungspositionen oder für den
Herrschaftsbefugnissen und Besitz ausgezeichnete Oberschicht gegeben. Die daraus entwickelte diplomatischen Dienst.
Feudalordnung brachte dann aber einen bemerkenswerten Bruch mit älteren Sozialstrukturen mit sich, die sich Will man die besondere Differenzierungsform stratifizierter Gesellschaften beschreiben, muß man
vorwiegend auf Verwandtschaft gegründet hatten. Für Verwandtschaft wird die Beziehung von Herr und zunächst den in der Soziologie üblichen Begriff der Stratifikation aufgeben bzw. einschränken. Üblicherweise
Vasall, also eine Rangbeziehung substituiert, die sich, mit welchen Schwierigkeiten und Einschränkungen meint der Begriff eine Rangordnung von Positionen jeder Art, die sich auf eine differenzierende Verteilung
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auch immer, gegen Familieninteressen behauptet. Dieselbe Veränderung spiegelt sich in den kirchlichen materieller und immaterieller Vorteile stützt. Wir beziehen den Begriff dagegen auf die interne
Interessen an Schenkungen und Stiftungen und im Insistieren auf Ehelosigkeit der Priester. Seitdem hat es in Systemdifferenzierung der Gesellschaft und sprechen von Stratifikation, wenn und soweit sich Teilsysteme der
Europa keine primär auf Familien und Clans gegründete und insofern segmentäre Differenzierung mehr
gegeben. Auch was den Personenbestand betrifft, ermöglichte die Feudalordnung erhebliche Veränderungen,
vor allem den Aufstieg der zunächst unfreien Ministerialen und der Ritter ohne bedeutende Herkunft in den 1115
Siehe zu den komplizierten Begriffs- und Rechtsfragen, etwa zur Abgrenzung dignitas/nobilitas, die mit dem Problem
Adel. Erst im Laufe des Mittelalters setzt sich Abstammung als maßgebliches Adelskriterium durch, der Amtsträgerschaft zusammenhängt und in beiden Fällen gegen die plebs differenziert, Bartolus a Saxoferrato, De
kompensiert durch gelegentliche, dann häufigere politische Nobilitierungen; und erst damit wird nobilitas und dignitatibus, zit. nach der Ausgabe Omnia, quae extant, Opera, Venetiis 1602, Bd. VIII, fol 45 v - 49 r. Eine
dann Adel zu einem umfassenden Abgrenzungsbegriff, an dem sich Heiratspraxis und politische naturrechtliche Begründung der besonderen sozialen Stellung des Adels kam unter diesen Umständen nicht in Betracht.
Alle, Adelige und Gemeine, stammen von Adam ab. Man konnte allenfalls diskutieren, ob es sich nur um ein
Rekrutierungen orientieren können. Wir gehen im Folgenden von dieser gefestigten Form einer
1114 zivilrechtliches Institut handele, oder ob man zur Erleichterung der überregionalen Kontakte ein ius gentium annehmen
Adelsgesellschaft aus, ohne den erheblichen regionalen Unterschieden Beachtung schenken zu können. könnte — aber wenn, dann im Sinne der römischen Quellen. Mit der Entwicklung des modernen Territorialstaates
differenziert sich dann auch das Adelsrecht, und erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts konsolidiert sich, gestützt
auf den Buchdruck und den Begriff der Ehre, eine allgemeine, frühmoderne Adelsbegrifflichkeit. Zu dieser, im
1111 mittelalterlichen Italien schon auf der Ebene der Stadtrepubliken sichtbaren Entwicklung vgl. Claudio Donati, L'idea di
"Such people who were able to deal with the governmental officials are those who were called gentry". So Hsiao-tung
nobiltà in Italia: Secoli XIV-XVIII, Roma-Bari 1988.
Fei, China's Gentry: Essays on Rural-Urban Relations (1953), Chicago 1972, S. 83.
1116
1112 Das hängt auch damit zusammen, daß in England mehr als in Frankreich die alte Hochschätzung der "Eloquenz" des
Für einen Literaturbericht siehe Jonathan Haas, The Evolution of the Prehistoric State, New York 1982. Mehr
Adels fortgesetzt und neuen Wissensformen angepaßt worden war. Siehe etwa Henry Peacham, The Compleat Gentleman,
systematisch gearbeitet: Morton H. Fried, The Evolution of Political Society: An Essay in Political Anthropology, New
2. Aufl. Cambridge 1627.
York 1967 und Elman R. Service, Origins of the State and Civilization: The Process of Cultural Evolution, New York 1975.
1117
Außerdem gibt es zu diesem Problem eine Fülle von Regionalstudien. Und dies auch dann, wenn der Begriff nicht "klassentheoretisch" im Kontext einer Kritik ungerechter Verteilung,
1113 sondern im Zusammenhang mit Theorien der Differenzierung verwendet wird. Siehe z.B. Shmuel N. Eisenstadt, Social
Wir folgen hier Überlegungen von Gilles Deleuze, Logique du sens, Paris 1969, insb. S. 50 ff.
Differentiation and Stratification, Glenview Ill. 1971, oder, von Rollendifferenzierung ausgehend, Bernard Barber, Social
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Die vorhandenen Untersuchungen beziehen sich zumeist auf einzelne Regionen. Ein gesamteuropäischer Überblick ist Stratification: A Comparative Analysis of Structure and Process, New York 1957. In diesem Sinne handelt es sich um eine
schwer zu gewinnen. Siehe z.B. Wilhelm Stoermer, Früher Adel: Studien zur politischen Führungsschicht im fränkisch- allgemeine Dimension aller Gesellschaften (abgesehen von den primitivsten), aber genau diese Eigenart des soziologischen
deutschen Reich vom 8. bis 11. Jahrhundert, 2 Bde., Stuttgart 1973, oder Philippe Contamines (Hrsg.), La noblesse au Begriffs wird von Sozialanthropologen kritisiert. Vgl. Michael G. Smith, Pre-Industrial Stratification Systems, in: Neil J.
moyen âge, XIe - XVe siècles, Paris 1976. Smelser / Seymour M. Lipset (Hrsg.), Social Structure and Mobility in Economic Development, Chicago 1966, S. 141-176.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 311 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 312

Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt einer Rangdifferenz im Verhältnis zu anderen Systemen ihrer der Oberschichtenbezug der Kriteriendiskussion aus: sie formuliert die an den Adel gerichteten Erwartungen
gesellschaftsinternen Umwelt ausdifferenzieren. Und ein Primat stratifikatorischer Differenzierung liegt nur und setzt den Unterschied von Oberschicht und Unterschicht als selbstverständlich voraus. Die Unterschicht
vor, wenn andere Differenzierungsweisen (vor allem: die segmentäre Differenzierung der Familienhaushalte) mag nach einer anderen Moral leben.
sich an Stratifikation ausrichten. Die allgemeine Tragweite der Schichtung für alle Lebenslagen und für Kooperation und Konflikt zeigt
Auch Stratifikation entsteht nicht durch Dekomposition eines Ganzen in Teile (wie es in der Literatur sich daran, daß Schichtzugehörigkeiten durch Geburt, das heißt: familien- und personenbezogen vergeben
zumeist dargestellt wird), sondern durch Ausdifferenzierung und Schließung der Oberschicht. DieSchließung werden: die Stratifikation regelt die Inklusion von Menschen in die Gesellschaft dadurch, daß sie, bezogen auf
erfolgt vor allem durch (im weiteren freilich oft durchbrochene) Endogamie. Aber auch semantisch muß die Teilsysteme, Inklusionen und Exklusionen festlegt. Man kann nur einer Schicht angehören und ist genau
Oberschicht sich gegenüber der Unterschicht "distinguieren", — gegenüber einer Unterschicht, die zunächst dadurch aus anderen Schichten ausgeschlossen. Dieser Seinsbezug, der den Adeligen als solchen bestimmt,
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natürlich gar nicht weiß, daß sie eine solche ist oder wird. Nur die Oberschicht benötigt deshalb eine wird mit dem Begriff der Natur umschrieben. Die Qualität des Adels ist "inherent and Naturall". Das mag
elaborierte Sondersemantik, eine spezifizierte Selbstbeschreibung, Genealogien und ein Merkmalsbewußtein. angesichts der Praxis politischer Adelsverleihungen oder -anerkennungen erstaunen; aber nach der
Daher ist auch im historischen Rückblick die Oberschicht leichter zu erkennen als die Unterschicht. Und zeitgenössischen Vorstellung fungiert der König hier als iudex, es handelt sich um ein "Erkennen" von
während im einen Fall Homogenität Sache elaborierter Kriterien ist, ergibt sie sich im anderen Fall daraus, Qualität, nicht um einen konstitutiven Willensakt. Im übrigen schließt der alteuropäische Naturbegriff den Fall
daß man an der Subsistenzschwelle lebt. Die Oberschicht ist nach Existenz, Stil und Geschmack selektiv. Die einer Natur ein, die sich selber kennt und sich selbst damit motiviert, der eigenen Natur zu entsprechen. Und
Unterschicht hat es mit Notwendigkeiten zu tun. Die Oberschicht führt Jagdhunde, die Unterschicht außerdem ist in diesem Zusammenhang Natur nicht gegen Kunst gesetzt, sondern gegen Meinung, schließt
1118
Maultiere; die Oberschicht schläft lange, die Unterschicht muß vor dem Sonnenaufgang aufstehen. Die also nur den Fall aus, daß die bloße Selbst- oder Fremdeinschätzung schon Adel bewirkt.
Oberschicht ist "susceptible de plusieurs formes", wie es mit Bezug auf die "ame bien née" bei einem ihrer Schichtdifferenzierung stützt sich in Europa weitgehend auf rechtliche Unterscheidungen. Sie wird aber
Beobachter heißt, und dann mit Verachtung über die Unterschicht: "il y a du rustique et du stupide d'estre auch im Bereich des täglich Wahrnehmbaren bestätigt. Man sieht sie an Unterschieden der Kleidung und des
1119
tellement pris à ses complexions qu'on ne puisse jamais en relacher un seul point." Selbstverständlich ist Verhaltens und an Unterschieden der Wohnhäuser. Diese Visibilität ermöglicht auch planvollen Zugriff bis
1124
eine Beschreibung der Unterschicht (aber sie kommt so gut wie gar nicht vor) eine Beschreibung durch die hin zu Stadtplanungen auf Grund der stratifikatorischen Differenzierung. Was im Bereich der Normen
Oberschicht; so wie eine Beschreibung der Frauen eine Beschreibung durch Männer. immer auch Devianz und Kritik ermöglicht, wird in der wahrnehmbaren Welt zusätzlich mit Faktizität und
Eine für die Beteiligten erkennbare und kommunikativ praktizierbare Teilsystembildung setzt voraus, Evidenz ausgestattet. Auch wird auf diese Weise dokumentiert, daß es nicht um Einzelpersonen geht, sondern
daß schichtinterne Homogenität über Rangunterscheidungen hinweg nach außen abgrenzbar ist, und von um die alternativenlos sichtbare Ordnung der Gesellschaft.
einem Primat dieser Differenzierungsform kann man nur sprechen, wenn sich dies für alle Lebenslagen, als Das Erkennen der Natur als Adeliger wird durch die Geburt in einer adeligen Familie ermöglicht, die
Lebensform, als Ethos durchhalten läßt. Formell geschieht dies durch Beschreibung der adeligen ihrerseits an der Geburt ihrer Vorfahren zu erkennen ist. Kein Plebeier kann, allein durch moralische
1120 1125
Lebensweise. Dies impliziert die Behauptung einer Rangdifferenz, die im Auftreten und im Verhalten der Virtuosität, adelig werden. Das würde nun wirklich die Ordnung durcheinanderbringen. Auch ein Bauer
1121 1126 1127
Schichten zueinander durchgesetzt wird. Freilich ist schichtinterne Gleichheit nicht als Eintracht und bleibt Bauer, wie tüchtig und reich er sein mag , und auch ein Philosoph nur ein Philosoph. In der Antike
Übereinstimmung zu verstehen; sie strukturiert und steigert Chancen für Kooperation und für Konflikt, und waren solche Auffassungen gedeckt gewesen durch die Annahme, daß der Ursprung (arché) das Wesen
gerade die alteuropäische Adelsethik hat mit ihrer Betonung von Werten wie valor und honestas, aber auch bestimme, und daß infolgedessen Abstammung (wie sie etwa in Genealogien sichtbar gemacht werden konnte)
mit Erziehungszielen wie eloquentia durchaus streitbare Züge. Kooperation und Konflikt beruhen auf einer eine Ähnlichkeit des Wesens garantiere. Bis in die Frühmoderne hinein ist die Vergangenheit, hier also die
Absonderung der Oberschicht und damit auf konzentrierter Verfügung über Ressourcen. Exzellenz der Vorfahren, in ganz anderer Weise Teil der Gegenwart, als wir uns das heute vorstellen können.
So sehr moralische Kriterien betont, ja oft als allein zutreffende Wesensbeschreibungen des Adels Auch Autoren, die im Glanz der hervorragenden Tüchtigkeit die Essenz des Adels sehen, nehmen an, daß die
1128
hervorgehoben werden: dies kann natürlich nicht bedeuten, daß die Unterscheidung Adel/gemeines Volk mit Erinnerung und das Vorbild der Ahnen genüge, um auch die Nachkommen adelig sein zu lassen. Das wird
der Unterscheidung moralisch/unmoralisch gleichgesetzt wird. Hier wie auch sonst ermöglicht speziell in Athen durch "Demokratisierung" der Adelsbegrifflichkeit (areté eines jeden Stadtbürgers) nur
Systemdifferenzierung ein höheres Maß an Differenzierungen in anderen Hinsichten — an Klassifikationen, ausgedehnt, aber nicht unterbrochen. Im Mittelalter bleibt diese Tradition als Texttradition erhalten, wird
1122
an Unterscheidungen. Die vertikale Klassifikation kann aber zu Machtzuschreibungen oder zu moralischen jedoch durch eine stärkere Juridifizierung, durch Statusabhängigkeit von Rechten, ergänzt. Diese ausgeprägt
Urteilen führen, die durch die Realität nicht gedeckt sind. Im übrigen wirkt sich auch hier die Selektivität und juristische Fixierung besagt auch, daß die sie begleitende Rede von den moralischen Qualitäten des Adels

1118
Diese leicht zu erkennenden Unterschiede nennt Cristoforo Landino, De vera nobilitate (etwa 1440), zit. nach der 1123
Peacham a.a.O. S. 3. Ausführlich Jouanna a.a.O. Bd. 1, S. 23 ff.
Ausgabe Firenze 1970, S. 41.
1124
1119 Siehe z.B. Leon Battista Alberti, De re aedificatoria, Florenz 1485, zit. nach der lateinisch/italienischen Ausgabe
So Nicolas Faret, L'honeste homme, ou l'art de plaire à la Cour, Paris 1630, Neuausgabe Paris 1925, S. 70.
Milano 1966, Bd. 1, S. 264 ff., 270 ff. Es wäre interessant, diese Stadtplanungsvorstellungen mit einer Stadt wie Cardiff zu
1120
Siehe zu den Schwierigkeiten einer hier ansetzenden juristischen Kontrolle an Hand illustrativer Fallbeispiele Etienne vergleichen, in der eine entsprechende Ordnung noch im 19. Jahrhundert, aber nur noch auf Grund von Eigentum
Dravasa, Vivre noblement: Recherches sur la dérogeance de noblesse du XIVe au XVIe siècles, Revue juridique et hergestellt worden ist.
économique du Sud-Ouest, série juridique 16 (1965), S. 135-193; 17 (1966), S. 23-129. 1125
"Virtuosus si staret, et viveret per mille annos, nisi transferatur in eum aliqua dignitas, semper remanet plebeius", heißt
1121
Dies gilt auch dann, wenn die Sonderstellung des Adels über einen besonderen Beruf begründet wird, namentlich über es dazu bei Bartolus, De dignitate a.a.O. fol 45 v. und ad 93.
Waffendienst. Denn hierbei handelt es sich natürlich nicht um einen frei wählbaren Beruf, sondern um eine Aufgabe 1126
"Rusticus, licet probus, dives & valens, tamen non dicitur nobilis", so Bartolus, De Dignitatibus a.a.O. fol 45 v. und ad
("vacation"), zu der man bestimmt ist, wenn man als Adeliger geboren ist. Zum Überleben dieser berufsorientierten
52.
Beschreibung des Adels speziell in Frankreich bis in die Krisen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vgl. Arlette
1127
Jouanna, L'idée de race en France au XVIe siècle et au début du XVIIe, 2. Aufl. 2 Bde. Montpellier 1981, Bd. 1, S. 323 ff.; So (angesichts der eigenen Theorie nicht ganz konsistent, gewissermaßen seufzend) Poggius Florentinus (Giovanni
Ellery Schalk, From Valor to Pedigree: Ideas of Nobility in France in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Princeton Francesco Poggio Bracciolini, De nobilitate (1440), zit. nach Opera, Basilea 1538, S. 64-87.
N.J. 1986. Daß diese Vorstellung Veränderungen in den Waffen, der Heeresorganisation und der Kampfestaktik so lange 1128
Bei Poggio Bracciolini a.a.O. (1538), S. 81, liest man zum Beispiel: "nullo autem pacto negandum est paternam
überlebt, zeigt im übrigen an, daß sie schon lange wesentlich symbolische Funktionen der Rechtfertigung eines
nobilitatem migrare in filios et esse et dici nobiles quorum nondum virtus est cognita." Aber es wird auch betont, daß sich
Rangunterschiedes gehabt hatte.
dies nicht von selbst verstehe, sondern daß der Nachwuchs, was Lebensführung und öffentliche Tüchtigkeit angeht, auf der
1122
Zur Unterscheidung von Machtunterschieden und moralischen Unterschieden siehe z.B. Barry Schwartz, Vertical Adelsspur zu bleiben habe: "illorumque posteros, modo ab eorum vestigiis non discedant, sed quoad illis animi ingeniique
Classification: A Study in Structuralism and the Sociology of Knowledge, Chicago 1981, S. 79 ff. vires suppetunt", wie es bei Landino a.a.O. (1440/1971), S. 41 heißt.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 313 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 314
1129 1137
legitimatorische, aber keine statusbestimmenden Funktionen hat. Dabei hat das Kriterium der Geburt eine Stratifikation regulieren und gerade dadurch die Aufmerksamkeit auf besondere Verdienste lenken. Es ist
ebenso unentbehrliche wie fragwürdige Rolle gespielt, und der Hauptteil der zeitgenössischen Literatur über also nicht nur die eine Seite dieser Unterscheidung, die besonders betont wird. Vielmehr zieht, mit Parsons
Adel befaßt sich mit den Folgeproblemen. Schon Aristoteles nennt in einer sehr einflußreichen Textstelle alten formuliert, die "Dimension" quality/performance besondere Aufmerksamkeit an, während andere pattern
(und das heißt: bei Geburt schon vorhandenen) Reichtum und Tüchtigkeit als Kriterien der variables zurücktreten. Für die moderne, auf individuelle Karrieren eingestellte Gesellschaft ist diese
1130
"Wohlgeborenheit". Beide Kriterien werden oft verbunden. Wenn zum Beispiel von Verdienst (mérite) die Unterscheidung weniger wichtig. Sie kann allenfalls argumentieren, daß Zuschreibungen "trotzdem" nicht
Rede ist, dann ist oft die Geburt mitgemeint als selbst verdienstvoll. Auch wenn Tugend als Adelskriterium ganz eliminiert werden können.
herausgestellt wird (wie vor allem in der italienischen Renaissance) öffnet das nicht ohne weiteres Die Form der konkreten, auf die Gesamtperson bezogenen Inklusion bestimmt schließlich auch, wie die
1131
Aufstiegswege, und auch dann wird alte, andauernde Tugend gefordert. Das Schema Moral in der Literatur präsentiert wird. Sie wird exemplarisch vorgeführt an Königen, Prinzen oder sonstigen
Abstammung/Tüchtigkeit darf also nicht im Sinne alt/neu interpretiert werden. Vielmehr muß, wer ohne Personen höchster Herkunft, denn nur für sie kann die innere Unabhängigkeit von den Plackereien des Lebens
Geburt Verdienste erwerben will, erst lernen, wie das geht, und bleibt zeitlebens erkennbar als jemand, der sinnvoll behauptet werden, nur sie haben ein eigenes Schicksal. Zugleich ist, eben deshalb, ihr Schicksal voll
Gelerntes anwendet. Somit ist der Zusammenhang von Reichtum und Tüchtigkeit oder Geburt und Verdienst und ganz ihr eigenes. Es gibt keine Differenz von (je nach Bewußtseinslage) zurechenbaren und
bei Aristoteles und bei allen, die ihm folgen, als normal vorausgesetzt mit der Konsequenz, daß nichtzurechenbaren Aspekten, also auch keine Differenz von verdientem und unverdientem Schicksal. Das
Abweichungen kenntlich und eliminierbar sind; er entspricht der Natur. mag damit zusammenhängen, daß in den oralen Heldenepen die Helden als Vorfahren, sei es des Stammes, sei
1132
Daß die Kriterien nicht notwendig übereinstimmen und daß es auch im Adel mißratene Söhne gibt , es der Auftraggeber, die den Vortrag veranlassen, in Anspruch genommen werden — und nicht als
1138
konnte natürlich nicht übersehen werden, aber in erster Linie kam es auf die Klärung der Frage an, welche vorbildliche Individuen. Die "Vorbildlichkeit" der Helden und vor allem ihre Inanspruchnahme im Kontext
Erwartungen für wen gelten. Entsprechend muß der Adel durch Erziehung auf die für ihn vorgesehene von Adelsgenealogien findet sich bereits in oral tradierenden Gesellschaften, wird dann aber mit Hilfe von
1139
Lebensführung eingestellt werden. Neben der notwendigen Ausbildung heißt das auch, man müsse darauf Schrift unter Konsistenzzwänge gesetzt und selektiv systematisiert. Das zeigt sich in einer stärker auf
1133
achten, daß er nicht durch Arbeit, zu langes Wachsein und Hunger korrumpiert werde , und um dies zu Verhaltensprinzipien, auf Einstellungen, auf ein éthos zurückführbaren Moral und dies nicht nur in den
vermeiden, sei ererbter Reichtum notwendig. Die moralische Form der Zusatzkomponente sorgte dann lobenswerten Anstrengungen der Helden, sondern auch in ihrer Fähigkeit, ihr Schicksal zu akzeptieren. Dieser
zusätzlich noch für Strukturschutz: Wenn ein Adeliger mißrät, ist er selber schuld — und nicht die "fatalistische" Aspekt kann schließlich auch den unteren Schichten angeraten werden, die ohnehin keine
Gesellschaft, ja nicht einmal seine Familie. In einer Zeit, in der der Adel schon Staatsinstitution geworden ist, anderen Möglichkeiten haben.
kann man schließlich sogar zugeben, daß das Kriterium der Geburt nur juristischen Zwecken dient: Es Trotz der Bedeutung schichtinterner Gleichheit (zum Beispiel: Satisfaktionsfähigkeit beim Duell) darf
1134
ermöglicht eine eindeutige Zuordnung von Personen zu Schichten. Das schließt es dann auch aus, Laster in man nicht davon ausgehen, daß die Schichten ihr Verhältnis zueinander als Ungleichheit wahrgenommen
ihrer juristisch nicht greifbaren Form als Grund für den Verlust des Adels anzusehen; denn dazu, meintzum hätte; denn das würde ja voraussetzen, daß Angehörige verschiedener Schichten sich gegenseitig vergleichen,
1135
Beispiel Henry Peacham , seien Laster zu weit verbreitet. dem Vergleich gemeinsame Kriterien zu Grunde legen und im Ergebnis zur Feststellung von Ungleichheit
Das Doppelkriterium Geburt und Tüchtigkeit zeigt im übrigen, daß es falsch wäre, traditionale kommen. In den abstrakten Definitionen des Ordo-Prinzips findet man zwar die Unterscheidung von Gleichen
1136
Gesellschaften mit zugewiesenem und moderne Gesellschaften mit erworbenem Status zu kennzeichnen. und Ungleichen; denn Ordo heißt vor allem: Harmonie trotz Ungleichheit. Ferner erfordern Überlegungen zum
1140
Die Unterscheidung selbst hat, wie unser Beispiel zeigt, vor allem für Gesellschaften Sinn, die Inklusion durch Thema Gerechtigkeit im Anschluß an Aristoteles Unterscheidungen nach gleich und ungleich. Für die
alltäglichen Verständnismöglichkeiten jener Zeit handelte es sich aber einfach um verschiedenartige, um
andersartige Menschen, und Anderssein ist eine Qualität, nicht eine Relation. Die Rechtsordnung kennt daher
1129
Zur Diskrepanz von juristisch-institutioneller Wirklichkeit und traditions- und textorientierter Adelsliteratur vgl. Klaus kein übergreifendes Gleichheitsgebot und hält es für ganz normal, wenn rechtswidrige Handlungen,
Bleeck / Jörn Garber, Nobilitas: Standes- und Privilegienlegitimation in deutschen Adelstheorien des 16. und 17. insbesondere Straftaten, von Höhergestellten gegenüber Rangniedrigen anders beurteilt werden als im
1141
Jahrhunderts, Daphnis 15 (1982), S. 49-114, insb. 59 ff. ungekehrten Fall. Ebensowenig gilt im Verkehr über Rangdifferenzen hinweg eine "Wie Du mir, so ich
1130
"eugéneiá estin archaîos ploûtos kaì areté", heißt es in Pol. 1294 a 21 f. Die Definition, die schon auf Reichtum abstellt,
Dir"-Regel. Die Unterschiede der Menschen werden nicht im Schema gleich/ungleich wahrgenommen,
ist deutlich Produkt einer Spätzeit, in der die Stellung vornehmer Geschlechter schon nicht mehr durch die Stadtverfassung sondern über unterschiedliche Rechte und Pflichten in Bezug auf einander. Und dieser Unterschied wird dann
1142
festgelegt ist, sich aber gleichwohl noch unübersehbar bemerkbar macht. Vgl. auch Bartolus, De dignitatibus a.a.O. ad 47 "moralisiert". Daher findet man bei Störungen in den Beziehungen, Unruhen und Rebellionen keine
und 48, der hinzufügt, daß es auch darauf ankommt, daß der Einzelne sich lange (10 oder 20 Jahre) in guter moralischer
Verfassung hält. Eine einzelne Heldentat macht also noch nicht adelig, aber durch eine Missetat kann man den Adel
verlieren. 1137
Eine damit zusammenhängende Auswirkung ist, daß in der Moral meritorische Komponenten wie Heldentum oder
1131
"neque eos ad breve quidem tempus, sed qui diutius in illis perseveraverunt", heißt es bei Landino a.a.O. S. 48. Und: Askese stärker zählen als normative.
"Itaque quo antiquior erit virtus eo maior spendescet nobilitas." 1138
Zur Forschungslage in dieser Frage des "epischen Anlasses" vgl. Arthur Thomas Hatto, Eine allgemeine Theorie der
1132
Ein Text aus dem 15. Jahrhundert führt dies auf die Disposition in der Zeugungsstunde (also wiederum: auf Geburt) Heldenepik, Vorträge G 307 der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Opladen 1991, S. 8.
zurück. Vgl. Diego de Valera, Un petit traictyé de noblesse, ediert in: Arie Johan Vanderjagt, Qui sa Vertu Anoblist: The 1139
Das mag die Unentbehrlichkeit der homerischen Mythologie und des Polytheismus als Form von Religion in der
Concept of Noblesse and chose publique in Burgundian Political Thought, Diss. Groningen 1981, S. 235-283 (258). Dies
griechischen Stadt erklären. Die Figuren waren durch Gebrauch in Genealogien festgeschrieben, als Bezugspunkte der
übrigens ein Stück weltlicher Adelslehre, denn theologisch gesehen, konnte die Seele ja gerade nicht durch Zeugung
Herkunft bedeutender Familien. Zu dem Eindringen von Schriftlichkeit in diesen Zusammenhang siehe ausführlich
übertragen und konditioniert werden.
Rosalind Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, Cambridge Engl. 1989, S. 155 ff. Der
1133
"nec patiar illos aut assiduis laboribus aut longibus vigiliis aut nimia inedia corrumpit", so Landino a.a.O. (1440/1971), Zusammenhang wird spätestens bei Platon bemerkt und in einer Art Beobachtung zweiter Ordnung ironisiert. Siehe die
S. 72. Bemerkungen über die tausende von reichen und armen, königlichen und als Sklaven lebenden Ahnen, die jedermann hat,
1134 bei Platon, Theaitetos 175 A.
So ein Jansenist, dem an anderen Dingen mehr gelegen ist: Pierre Nicole, De la Grandeur, in: Essai de Morale Bd. II, 4.
1140
Aufl. 1682, S. 154 ff. (179 ff.). Belege bei Jouanna a.a.O. Bd. 1, S. 275 ff.
1135 1141
A.a.O. (1627), S. 9 f. Dies schließt im übrigen keineswegs aus, daß Adelige wegen bestimmter Straftaten strenger beurteilt und sogar mit
1136 Adelsverlust bedroht werden.
So im Anschluß an die Unterscheidungen ascribed/achieved (Ralph Linton) bzw. quality/performance (Talcott Parsons)
1142
die Modernisierungstheorien der 50er und frühen 60er Jahre. Zur Kritik der Anwendung auf die moderne Gesellschaft vgl. Wenn es um Moral, also um ein gesellschaftlich durchgehend wichtiges Medium, geht, findet man auch
Leon Mayhew, Ascription in Modern Society, Sociological Inquiry 38 (1968), S. 105-120. Formulierungen, die auf Gleichheit und Ungleichheit abstellen. So liest man bei George Puttenham, The Arte of English
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 315 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 316
1146
Nivellierungstendenzen (diese zeigen immer schon den Übergang in die moderne Gesellschaft an), sondern nur innerhalb der Kernfamilie ab ; diese wird vielmehr als Teil eines weiteren, viele Haushalte übergreifenden
1143
Reaktionen auf eine Verschlechterung der eigenen Lage, die der anderen Seite zur Last gelegt wird. Die Verwandtschaftszusammenhanges gesehen. An den schon relativ großen Fürstenhöfen des Spätmittelalters ist
Angehörigen einer anderen Schicht sind anders als man selbst; sie sind von anderer Geburt und anderer die "familia" des Fürsten ein engerer Kreis von Vertrauten, in den zum Beispiel Gelehrte oder Künstler durch
Qualität. Nicht zuletzt lehrt dies die damals so beliebte Metapher des Organismus. Denn selbst heute würde förmliche Ernennung als "familiaris" aufgenommen werden konnten und der als Form der Auszeichnung,
niemand auf die Idee kommen, Kopf und Magen als "ungleich" zu bezeichnen. Lieber verzichtet man aufden wenn nicht als Vorstufe der Nobilitierung diente, aber selbstverständlich nichts mit Verwandtschaft zu tun
1147
Vergleich von Organismus und Gesellschaft. hatte.
Die Differenzierung nach Schichten bedeutet nicht, daß, verglichen mit segmentären Gesellschaften, die Die Bedeutung der Haushalte für stratifizierte Gesellschaften läßt sich kaum überschätzen. Die
Teilsysteme voneinander unabhängiger sind. Das Gegenteil trifft zu. Anspruchsvollere Formen der Haushalte, nicht die Individuen, sind die Einheiten, auf die sich die Stratifikation bezieht. Sie müssen deshalb
Differenzierung müssen immer, und das gilt erst recht für die funktional differenzierte moderne Gesellschaft, als geordnet vorausgesetzt werden — sowohl in der Verwandtschaftsordnung der Familie im engeren Sinne
gesteigerte Unabhängigkeiten mit gesteigerten Abhängigkeiten kombinieren können — eine scharfe als auch in ihren Beziehungen zum Personal. Für das Hineinkopieren der gesellschaftlichen Rangordnung in
Beschränkung der dann noch möglichen Formen. Mit anderen Worten kann man auch sagen, daß jede Form die Haushalte sind entsprechende haushaltsinterne Rangverhältnisse erforderlich, die nach dem Schema
der Differenzierung auf sie abgestimmte Formen der strukturellen Kopplung erfordert und ausbildet; das heißt Mann/Weib (Herr/Dame), Vater/Kinder, Herr/Knecht differenziert werden. In dieser Ordnung ist die
Formen, die Kontakte und damit wechselseitige Irritationen zwischen den Teilsystemen intensivieren und Unterordnung der Frau unter den Mann unvermeidbar (was für die realen Machtverhältnisse natürlich wenig
zugleich andere Möglichkeiten ausschließen oder marginalisieren. besagt). Wer auf Gleichheit der Geschlechter Wert legt, muß deshalb Ehelosigkeit praktizieren oder eine
1148
Die Form, die in stratifizierten Gesellschaften die Abhängigkeit kanalisiert und mit Unabhängigkeiten haushaltslose Weibergemeinschaft empfehlen.
1144
kompatibel macht, ist die "ökonomische" Einheit des Haushaltes. Der Haushalt ist, als Beschaffungs- und Eine andere Funktion der Ordnung der Haushalte ist, daß sie für individuelle Mobilität Chancen offen
Verteilungsgemeinschaft, nahe am Konsum gebaut und insofern in den Interessenlagen durchsichtig. Die läßt. Und individueller Aufstieg ist allein schon aus demographischen Gründen, aber auch wegen eklatanter
vorgesehenen Rollen sind, auch wenn schriftliche Aufzeichnungen über Leistungsverhältnisse existieren, auf Unterschiede in den Fähigkeiten unentbehrlich. Mobilität kann, solange die feste ständische Lokalisierung der
Interaktion unter Anwesenden hin angelegt und moralisch beurteilbar. Die besondere Funktion des Haushalts Haushalte gewahrt bleibt und das Alter der Familie ihren sozialen Rang mitbestimmt, als Ausnahme
für die strukturelle Kopplung von Unabhängigkeit und Abhängigkeit im Verhältnis zu Schichten könnte hingenommen werden, auch wenn sie in demographischen oder politischen Krisenzeiten in vergleichsweise
erklären, daß in Europa die Verwandten des Hausherrn nicht ihrerseits intern noch einmal rangmäßig großen Zahlen erfolgt. Nach dem Grundprinzip der ständischen Gesellschaft stehen Rangzuordnungen fest,
differenziert werden. Ja, es gibt nicht einmal einen besonderen Begriff oder auch nur ein besonderes Wort, mit und Mobilität ist allenfalls aus systemexternen Gründen zulässig: Familien sterben aus, Positionen müssen
dem die Adelsfamilie (im heutigen Sinne von "Familie") als Teil ihres Haushaltes hätte ausgegrenzt und besetzt werden, und individuelle Nobilitierung wird als "Erkenntnis" stilisiert, als als Korrektur eines
1145
bezeichnet werden können. Man beschränkt sich auf die Lehre, daß die Frau, die Kinder und das Zuordnungsfehlers der Natur. Mit der Konsolidierung der modernen Territorialstaaten kommt es jedoch mehr
Dienstpersonal dem Hausherrn untergeordnet sind, leitet daraus aber keinen Unterschied des sozialen Ranges und mehr zu gezielten Nobilitierungen. Die Beweglichkeit des Systems wird durch systeminterne (vor allem
politische) Gründe ausgeweitet.
Der Haushalt ist schließlich dasjenige System, für das die Gesellschaft relativ große (wenngleich der Idee
nach respektvolle) Freiheiten der Interaktion vorsehen kann, wie sie die politische Gesellschaft sich niemals
erlauben könnte. Im Haushalt arbeiten Angehörige verschiedener Schichten, Selbständige und Unselbständige
Poesie, London 1589, Nachdruck Cambridge Engl. 1970, S. 42: "In everie degree and sort of men vertue is commendable, zusammen. Und vor allem die Frau findet hier ihren Platz und ihre Anerkennung. Anders als im Kastensystem
but not egally: not onely because mens estates are unegall, but for that also vertue it selfe is not in every respect of egall Indiens benötigt man dazu keine komplizierte Kontaktritualistik. Und anders als in China ist der Haushalt mit
value and estimation. For continence in a king is of greater merit, then in a carter." Und S. 43: "Therefore it is that the seiner Struktur von Fürsorge/Förderung und Ehrerbietung/Gehorsam nicht zugleich auch eine
inferiour persons, with their inferiour vertues have a certain inferiour praise". Begründet wird dies damit, daß die größeren 1149
Religionsgemeinschaft (Ahnenverehrung) und folglich auch kein Modell der Gesamtgesellschaft. Sondern
Freiheitsgrade des Handelns in den Oberschichten den Moralcode stärker fordern. Aber dahinter steht natürlich auch, daß
Moral stubstantiell zur Definition des Adels gehört und man deshalb weder Gleichheit der Morallage akzeptieren, noch die scharfe Trennung von Politik und Ökonomik hält beide Systemtypen auseinander und übernimmt aus der
irgend jemanden in der Gesellschaft aus der moralischen Verantwortlichkeit, aus dem Zugriff von Lob und Tadel entlassen Ordnung des Hauses für Zwecke der Politik nur die dadurch garantierte Unabhängigkeit und Abkömmlichkeit
kann. des Hausherrn. Die Sorge für die eigene Ökonomie, für den eigenen Lebensunterhalt, gehört daher zu den
politischen Pflichten derjenigen, die die politische Gesellschaft bilden (also: ein "re-entry" der Unterscheidung
1150
1143
Ökonomie/Politik in die Politik). Das gilt auch dann, wenn in den Haushalten des Adels Gerichtsbarkeit
So sieht es auch die "moral economy" Literatur. Vgl. nur E.P. Thompson, The Moral Economy of the English Crowd in und andere öffentliche Funktionen wahrgenommen werden, während der Hausherr in diplomatischen
the 18th Century, Past and Present 50 (1971), S. 76-136; James C. Scott, The Moral Economy of the Peasant: Rebellion and
Subsistence in Southeast Asia, New Haven 1976.
1144
Siehe Otto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist: Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1146
Die Besonderheit wird deutlich im interkulturellen Vergleich mit Gesellschaften, bei denen genau dieser Durchgriff
1612-1688, Salzburg 1949; ders., Das 'ganze Haus' und die alteuropäische Ökonomik, in ders., Neue Wege der von gesellschaftlichen Rangregulierungen in das Innere der Einzelfamilie häufig vorkommt. Vgl. dazu M.G. Smith a.a.O.
Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. Göttingen 1968, S. 103-127. Für ältere Literatur siehe Sabine Krüger, Zum (1966), S. 157 ff.
Verständnis der Oeconomica Konrads von Megenberg: Griechische Ursprünge der spätmittelalterlichen Lehre von Hause,
1147
Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 20 (1964), S. 475-561. Zu Auflöseerscheinungen im Übergang zur Vgl. Martin Warnke, Hofkünstler: Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985, insb. S. 142 ff.
modernen Gesellschaft vgl. auch Wolf-Hagen Krauth, Wirtschaftsstruktur und Semantik: Wissenssoziologische Studien 1148
Platon muß für diese seine Empfehlung mit Vorurteilen gerechnet haben, so umständlich führt er sie im 5. Buch der
zum wirtschaftlichen Denken in Deutschland zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert, Berlin 1984; Erich Egner, Der Verlust
Republik ein. Sie ist aber konsequent durchdacht, wenn man in einer auf Haushalte aufbauenden stratifizierten
der alten Ökonomik: Seine Hintergründe und Wirkungen, Berlin 1985; und zur vorübergehenden Wiederbelebung von
Gesellschaft Frauen gleiche Rechte und gleicher Berufschancen verschaffen möchte.
Haushaltslehren nach den Zerstörungen des 30jährigen Krieges Gotthardt Frühsorge, Die Krise des Herkommens, in:
1149
Winfried Schulze (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und Mobilität, München 1988, S. 95-112. Es gibt zwar semantische Parallelen — vor allem, weil die Herrschaftsterminologie und die Organismus-Metapher auf
1145 beide Bereiche angewandt wird; aber das steht einer deutlichen Unterscheidung ökonomischer und politischer
Noch bei Heineccius 1738 (1738) wird zum Beispiel Familie bestimmt als zusammengesetzte Gemeinschaft, bestehend
Angelegenheiten nicht im Wege. Die semantischen Koinzidenzen vertreten eher das, was wir heute "Gesellschaft" nennen
aus den einfachen Gemeinschaften der Ehe, der Eltern/Kinder-Beziehung und der gutsherrlichen Ordnung von
würden.
Herren/Herrinnen und Personal. Die Erörterung gehört systematisch nicht ins Naturrecht, sondern ins auf Naturrecht
1150
gegründete Völkerrecht (ius gentium). Siehe Johann Gottlieb Heineccius, Grundlagen des Natur- und Völkerrecht So explizit François Grimaudet, Les opuscules politiques, Paris 1580, opuscules XIV, fol. 93v ff. "Que l'homme
(Elementa iuris naturae et gentium) Buch II, Kap. V., Dt. Übers. Frankfurt 1994, S. 384 ff. unter Berufung auf Ulpian. politique doit avoir esgard à se maintenir". Das schließt Familie und Nachkommen ein.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 317 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 318

Funktionen unterwegs ist oder am Hofe lebt. In jedem Fall beruht diese Kanalisierung der wechselseitigen Stratifikation benötigt zunächst eine einfache Differenz: die von Adel und gemeinem Volk. Es gibt
1157
Abhängigkeit der Schichten ihrerseits auf segmentärer Differenzierung der Haushalte und damit auf einer Menschen mit und Menschen ohne dignitas. Die Asymmetrie wird verstärkt dadurch, daß oben die Zahl
strukturellen Separierung, die jetzt aber sozial (oder wie man sagt: "politisch") von untergeordneter Bedeutung gering gehalten und die Verfügung über Ressourcen gesteigert wird. In diesem Rahmen entwickeln sich
ist. Es gehört zu den Ungehörigkeiten der guten Gesellschaft, in der geselligen Konversation über den eigenen Differenzierungen in Differenzierungen, vor allem verfeinerte Unterscheidungen innerhalb des Adels, die für
Haushalt zu reden. Ehezwecke oder auch für zeremonielle Fragen wichtig sind, aber kaum mehr als Teilsysteme in Teilsystemen
Die normative Struktur des Haushaltes betont die Notwendigkeit von Herrschaft (= Ordnung) und das gelten können. Erst in der komplexer werdenden Gesellschaft des 13. Jahrhunderts entsteht eine deutliche
1158
Recht auf die zum Unterhalt erforderlichen Leistungen. Diese Ansprüche konnten der sozialen Schicht Differenz von hohem Adel und niederem Adel, die dann weitere Unterscheidungen generiert. Auch im
1159
entsprechend differenziert werden; sie waren also auf stratifikatorische Differenzierung eingestellt. Aber nicht gemeinen Volk entstehen Rangunterscheidungen der verschiedensten Art. Die größere wirtschaftliche
auf Geldwirtschaft. Mit dem Übergang zur Geldwirtschaft und zur zunehmenden Marktabhängigkeit der Beweglichkeit und auch Protestfähigkeit der Abhängigen (Sklaven, Leibeigenen, Colonen oder sonstwie
Gutswirtschaften gerieten die Maßstäbe ins Wanken mit der Folge zunehmender Erwartungskonflikte Leistungsverpflichteten) sowie der Arbeitskräftebedarf der Gutswirtschaften und der städtischen
zwischen anspruchsberechtigten Herrschaften und der leistungspflichtigen, aber in ihrem eigenen Unterhalt Handwerksbetriebe erzeugt in der Zeit des "Spätfeudalismus" neuen Distinktionsbedarf, selbst in der untersten
1151
auch anspruchsberechtigten Landbevölkerung. Erst der moderne Eigentumsbegriff bringt eine (oft recht Schicht. Wenn in der politischen Literatur von "populus", "popolo", "peuple", "people" die Rede ist, sind
gewaltsame) Lösung dieser Konflikte. zumeist nur selbständige Haushaltseigentümer gemeint, und auch hier richten sich Eheschließungen nach der
In einem erweiterten, die ökonomische Funktion des Haushaltes überschreitenden Sinne erfüllen Ranglage des Partners, insbesondere nach Mitgift und Besitz. Auf beiden Seiten der Grundunterscheidung
1152
Patron/Klient-Verhältnisse eine ähnliche Funktion. Sie ermöglichen es explizit, Rangdifferenzen zu fällt es schwer, weitere Teilsysteme in Teilsystemen auszumachen. Statt dessen wirkt sich die Unterscheidung
wechselseitigem Vorteil auszunutzen. Sie eignen sich zur Verknüpfung des Landes mit politischen Zentralen, von Stadt und Land aus. Auch unterscheiden sich die Kriterien weiterer Differenzierung nach der
aber darüber hinaus auch ganz allgemein zur Mobilisierung von freiwilliger persönlicher Hilfe. Entscheidend grundlegenden ständischen Ordnung: Im Adel sind es weitgehend artifizielle und zeremonielle
ist, und insofern ist diese Einrichtung den Onkel/Neffe-Beziehungen in segmentären Gesellschaften Rangunterschiede, im Stadtbürgertum Berufe und bei den Bauern ist es nach dem Auslaufen feudalrechtlicher
vergleichbar, daß Differenzen überbrückt werden können, und daß genau darin der Anreiz und der Vorteil Statusbestimmungen die Größe des Landbesitzes. Auf jeden Fall wird durch die Wiederholung der
liegt. Patron/Klient-Verhältnisse reorganisieren Reziprozität für diesen Fall und setzen dabei Stratifikation als Rangabstufung in den durch sie getrennten Systemen die rangmäßige Placierung zu einer Alltagserfahrung,
fraglos gesichert voraus. Sie dienen zugleich als Vermittlungen zwischen der Ordnung der Stratifikation und und in allen Lebensfragen ist man gut beraten, wenn man weiß und beachtet, ob ein Kontakt nach oben oder
1153
dem sich ausbildenden Territorialstaat. Dies gilt besonders, weil es, abgesehen von Gerichten, keine lokale nach unten gerichtet ist oder von gleich zu gleich läuft. Das ist, in der Terminologie der Zeit, erforderliches
Verwaltungsorganisation gab, denen die Zentrale hätte Weisungen erteilen können. Im 16. Jahrhundert wird "politisches" Wissen.
1154
der Buchdruck hierzu eine Alternative eröffnen. Er wird andere Informationsmöglichkeiten bieten , einen Im Vergleich dazu ist die Lehre von den drei Ständen (Geistlichkeit, Adel und dritter Stand) ein
1160
neuen, vom Hofdienst unabhängigen "politischen Humanismus" ermöglichen (vom Typ Thomas More, semantisches Artefakt. Faktisch entstammt die höhere Geistlichkeit dem Adel und läßt wenig
1155 1161
Erasmus von Rotterdam, Claude Seyssel) , und er wird es vor allem in Religionsdingen der Bevölkerung Aufstiegsmöglichkeiten übrig (nicht mehr vermutlich als das Militär). Der sogenannte "Dritte Stand" war
1156
nahelegen, anderen Magneten zu folgen als den Magnaten. ohnehin nur ein Kontrastbegriff — wenn man will: der "unmarked space" der Auszeichnung des Adels. Die
Lehre von den drei Ständen verdeckt mithin die prinzipielle Dualität der stratifikatorischen Differenz, dient der

1157
"Dignité est une qualité qui fait difference entre les populaires (gemeint ist: im Verhältnis zum Volk), heißt es im
Anschluß an Bartolus bei Diego de Valera a.a.O. S. 251. Zu Nobles/non Nobles als Ausgangspunkt aller weiteren
1151 Differenzierungen zweihundert Jahre später Estienne Pasquier, Les Recherches de la France, Neuauflage Paris 1665, S.
Siehe dazu Renate Blickle, Hausnotdurft: Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Günter
337 ff. Vgl. ferner Otto Gerhard Oexle, Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der
Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987, S. 42-
ständischen Gesellschaft des Mittelalters, in: Winfried Schulze a.a.O. (1988), S. 19-51. Oexle macht deutlich, wie stark
64; dies., Nahrung und Eigentum als Kategorien der ständischen Gesellschaft, in: Winfried Schulze a.a.O. (1988), S. 73-93.
semantische und sozialstrukturelle Entwicklungen im frühen Mittelalter einander wechselseitig stützen. Aber noch in der
1152
Hierzu gibt es eine umfangreiche Literatur mit weitem regionalen Einzugsbereich. Für das Spätmittelalter und die Klosterkultur des 6.-10. Jahrhunderts und dann nochmals bei den Zisterziensern wurden orare und laborare, geistlicher
Frühmoderne siehe vor allem Guy Fitch Lytle / Stephen Orgel (Hrsg.), Patronage in the Renaissance, Princeton N.J. 1981; Dienst und landwirtschaftliche Entwicklung in engem Zusammenhang gesehen.
Antoni M_czak (Hrsg.), Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988. Unter eher ethnographisch- 1158
Hierzu ausführlicher Josef Fleckenstein (Hrsg.), Herrschaft und Stand: Untersuchungen zur Sozialgeschichte im 13.
vergleichenden bzw. aktuellen regionalen Gesichtspunkten auch Paul Littlewood, Patronaggio, ideologia e riproduzione,
Jahrhundert, Göttingen 1977.
Rassegna Italiana di Sociologia 21 (1980), S. 453-469; Luigi Graziano, Clientelismo e sistema politico: Il caso dell'Italia,
1159
Milano 1984; und speziell unter dem Gesichtspunkt der Vertrauensbildung Shmuel N. Eisenstadt / Luis Roniger, Clients Siehe z.B. Jan Peters, Der Platz in der Kirche: Über soziales Rangdenken im Spätfeudalismus, Jahrbuch für
and Friends: Interpersonal Relations and the Structure of Trust in Society, Cambridge Engl. 1984. Zur Rolle solcher Volkskunde und Kulturgeschichte 28 (1985), S. 77-106. Rangkonflikte der hier berichteten Art (für die man Parallelen
Netzwerke für die Organisation politischen Widerstandes siehe Perez Zagorin, The Court and the Country: The Beginning natürlich auch innerhalb des Adels finden kann), sind im übrigen ein Indikator für innere Schranken stratifikatorischer
of the English Revolution, London 1969. Systemdifferenzierung. Sie stellen gerade nicht Systemgrenzen in Frage, sondern beziehen sich auf Positionen innerhalb
1153 von Systemen. Aber sie copieren damit zugleich die allgemeine Rangarchitektur der Welt und der Gesellschaft in die
Wir kommen darauf unter ... zurück.
Teilsysteme und in Rollen- und Personverhältnisse hinein. Als ein relativ spätes Beispiel für die zeitgenössische
1154
Vgl. Mervin James, Family, Lineage, and Civil Society: A Study of Society, Politics, and Mentality in the Durham Wahrnehmung solcher Übertreibungen siehe Julius Berhard von Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft Der Privat-
Region 1500-1640, Oxford 1974, insb. S. 177 ff.; und zur allgemeinen Verbreitung von Literalität im England dieser Zeit Personen, Berlin 1728, S. 105 ff. (121 f. zu Kirchenplatzkämpfen).
David Cressy, Literacy and the Social Order: Reading and Writing in Tudor und Stuart England, Cambridge England 1980. 1160
"Plutot une fiction commode pour obtenir le payement des impôts", meint Roland Mousnier, Les concepts d'"ordres",
1155
Hierzu J.H. Hexter, The Vision of Politics on the Eve of the Reformation: More, Machiavelli, and Seyssel, London d'"etat", de "fidélité et de "monarchie" absolue en France, de la fin du XVe siècle à la fin du XVIIIe, Revue Historique 247
1973. Als zeitgenössischen Beobachter vgl. Estienne de La Boétie, Discours de la servitude volontaire (1574), zit. nach (1972), S.289-312 (299). Als historische Darstellungen siehe etwa Ruth Mohl, The Three Estates in Medieval and
OEuvres complètes, Nachdruck Genf 1967, S. 30: "Les livres et la doctrine donnent, plus que toute autre chose, aus (sic!) Renaissance Literature, New York 1933; Wilhelm Schwer, Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters, 2. Aufl.
hommes le sens et l'entendement des se reconnoistre et d'hair la tirannie". Paderborn 1952; George Duby, Les trois ordres ou l'imaginaire du féodalisme, Paris 1978; Ottavia Niccoli, I sacerdoti, i
1156 guerrieri, i contadini: Storia de un'immagine della società, Torino 1979.
Vgl. hierzu mit weiteren Hinweisen Christopher Hill, Protestantismus, Pamphlete, Patriotismus und öffentliche
1161
Meinung im England des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Bernhard Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität: Studien Vgl. die gründliche Untersuchung für Frankreich (1516-1789) von Michel Perronet, Les Evêques de l'ancienne France,
zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt 1991, S. 100-120. 2 Bde., Lille-Paris 1977, insb. Bd. 1, S. 149 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 319 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 320

Abbildung einer Funktionsunterscheidung (orare, pugnare, laborare), beschreibt Unterschiede der moralischen natürlich richten sich die Interessen eher auf Aufstieg als auf Abstieg. Aber es gab das Problem der
Erwartungen und, mit dem beginnenden Territorialstaat dann auch: Unterschiede der Rechtsposition. Und sie Verarmung von Adelsfamilien, die eine standesgemäße Lebensführung nicht mehr durchhalten konnten. Und
wird gerade wegen der Deutlichkeit, mit der diese Merkmale ausgearbeitet sind, dann auch ein sichtbares es gab das juristische Institut des Adelsverlustes (dérogeance) durch standeswidrige, vor allem wirtschaftliche
Dokument der Obsoleszenz der alten Welt. Beschäftigung in Handel und nichtagrarischer Produktion. Dieses Verbot und seine Sanktion ließen sich selbst
1166
Alle Gesellschaften müssen demographische Pressionen aushalten. Segmentäre Gesellschaften tun dies in Frankreich schon aus Gründen regionaler Unterschiede nicht wirklich durchsetzen ; aber es liegt auf der
durch Unabhängigkeit von eigener Größe, durch Wachsen und Schrumpfen und durch Abspalten bzw. Hand, daß man darauf bestehen mußte, da die Steuerbefreiung, die dem Adel gewährt wurde, nicht grenzenlos
Aufnahme neuer Segmente. In stratifizierten Gesellschaften kommt ein hohes Maß an Mobilität zwischen den auf Handel und Industrie ausgedehnt werden konnte.
Schichten hinzu, mit der demographsiche Verluste der Oberschicht ausgeglichen werden können. Auch wenn Der oft behauptete (und in der älteren Gesellschaft auch bemerkte) Widerspruch zwischen Stratifikation
die Lebenserwartung im Adel höher gewesen sein mag als in anderen Bevölkerungsschichten sterben um so und Mobilität ist jedoch ein Artefakt der Beobachtung und Beschreibung. Er ergibt sich nur, wenn man
mehr Adelige ohne Nachkommen in Kriegen oder in Klöstern. Es ist heute wohl unbestritten, daß Schichtung annimmt, daß das Sozialsystem der Gesellschaft aus Menschen besteht, die gegebenenfalls ihren sozialen
1162
mit hoher Mobilität von Individuen und Einzelfamilien kompatibel ist. Die hohe Anfälligkeit der Status wechseln. Geht man dagegen davon aus, daß die Gesellschaft nur Kommunikationen reproduziert, löst
Gesellschaft für Kindersterblichkeit, Seuchen und gewaltsame Tötung hätte eine Unterbindung von Mobilität sich das Problem von selber. Die Stabilität der internen Differenzierung setzt dann nur eine Stabilität von
nicht zugelassen. Das wird besonders evident, wenn man bedenkt, daß individualisierte Familieninteressen im Kommunikationsregulierungen mit Innen/Außen-Unterscheidung voraus, und die ist mit einem hohen Maß an
Spiel sind. Die seit dem Mittelalter durchgehende Unterscheidung von Adelsqualitäten nach Tugend und Personalfluktuation kompatibel, solange die Neuankömmlinge wissen oder lernen können, auf was es in ihrem
Geburt dient offensichtlich der Strukturierung von Aufstiegsinteressen und damit auch der Instruktion und neuen Status ankommt. Die Gesellschaft kann dann zwar eine Gefährdung ihres Differenzierungsmodus durch
1163
Legitimierung politischer Nobilitierungen. Die Frage kann nur sein, wie die Mobilität kontrolliert worden zu viel Mobilität erkennen und darauf mit Abschottungen zu reagieren versuchen (so vor allem im späten 16.
ist und wie man eine Nivellierung der Schichtung durch massenhaften Auf- und Abstieg verhindert hat. In und frühen 17. Jahrhundert); aber an sich ist die Zunahme oder Abnahme von Mobilität aus gegebenen
China hat man das über Förderung einzelner Aufsteiger von oben erreicht (sponsorship). In Europa galt die Anlässen noch kein Indikator für die Instabilität der stratifikatorischen Differenzierung. Vielmehr war die
statusbewußtere (aber von regionalen Ausnahmen durchlöcherte) Regel, daß ein Mann, mag er nun nach oben Erhaltung der alten Differenzierungsform durch Mobilität mit ausreichender Elastizität versorgt. Was es
1167
oder nach unten heiraten, nicht den Rang seiner Ehefrau erwerben kann. So konnte man das Endogamiegebot selbstverständlich nicht geben konnte, ist der geschlossene Aufstieg einer ganzen Schicht. Wenn aber nicht
lockern und in Einzelfällen eine notwendige Anpassung (vor allem im Hochadel) durch politische durch Aufstieg einer neuen Klasse: wie sonst wurde die alte Ordnung der Dinge zerstört?
Rangerhöhungen des glücklichen Bewerbers erreichen. Allgemein gilt, daß dem Aufstieg nicht rein
1164
ökonomische Kriterien zu Grunde liegen sollten. Ebenso unbestritten kam es jedoch zur Abfindung von
Kreditgebern der Krone mit Adelstiteln, und verarmte Adelige hatten die Möglichkeit, ihre Felder durch Heirat
reicher Bürgertöchter zu düngen. Nicht zuletzt gab es Fälle einer territorialpolitischen Verwendung von VII. Ausdifferenzierung von Funktionssystemen
Nobilitierungen — etwa die Konsolidierung der von Turin aus regierten savoiischen Territorien zu einem
1165
modernen Territorialstaat mit Hilfe von Nobilitierungen und gesetzlicher Regulierung der Adelsqualität , Unsere Antwort lautet: durch die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen. Im evolutionstheoretischen
die Rezeption des böhmischen Adels in Wien nach dem dreißigjährigen Krieg oder die Nobilitierung von Kontext muß zunächst akzeptiert werden, daß die gesellschaftliche Ausdifferenzierung einzelner
schottischen clan-chiefs durch die englische Krone als Lohn für Verrat. All das wurde hingenommen, aber Funktionssysteme zu eigener, autopoietischer Autonomie und erst recht die Umstellung des Gesamtsystems
korrigiert durch eine besondere Wertschätzung alter Familien und durch eine um Generationen verzögerte der Gesellschaft auf einen Primat funktionaler Differenzierung ein extrem unwahrscheinlicher Vorgang ist,
Akzeptanz der Ebenbürtigkeit des Neuadels. Verzögerung der Anerkennung aber heißt: daß sich Familien der schließlich aber irreversible, von sich selbst abhängige Strukturentwicklungen auslöst. Es hat daher wenig
bewähren mußten und nicht nur Individuen. Im ganzen überschätzt die Gesellschaft die Härte ihrer Sinn, die Frage weiter zu verfolgen, weshalb in den agrarischen Großreichen der Weltgeschichte keine
Einteilungen und damit die Statik ihrer Struktur, indem sie Übergänge aus einer Ranglage in eine andere als kapitalistische Wirtschaft entstanden ist
1168
— so als ob es einen natürlichen Trend zum rationalen
Sonderfälle ansieht. Wirtschaften gebe, der irgendwie gehemmt und im mittelalterlichen Europa dann freigesetzt worden sei. Statt
Daß Mobilität eher Aufstieg als Abstieg bedeuten mußte, liegt schon aus rein demographischen Gründen dessen gehen wir davon aus, daß es um das Aufkommen einer neuartigen Form gesellschaftlicher
nahe. Nur die kleine Oberschicht, nicht der Rest der Bevölkerung muß Verluste ausgleichen können, und Differenzierung geht, die sich weder auf segmentäre noch auf rangmäßige Differenzierungen stützt (diese
1169
vielmehr zerstört) und daher in der Gesellschaft, in der sie entsteht, keine Abstützungen finden kann.
1162
Vgl. grundlegend Pitirim A. Sorokin, Social and Cultural Mobility, (1927), New York 1964; ferner Barber a.a.O.
1166
(1957), S. 334 für eine allgemeine Darstellung. Siehe auch Edouard Perroy, Social Mobility Among the French Noblesse in Siehe hierzu Gaston Zeller, Une notion de caractère historico-sociale: la dérogeance, Cahiers internationaux de
the Later Middle Ages, Past and Present 21 (1962), S. 25-38; Diedrich Saalfeld, Die ständische Gliederung der Sociologie 22 (1957), S. 40-74; ferner Dravasa a.a.O. (1965/66) als Darstellung der vielen, sich in der juristischen
Gesellschaft Deutschlands im Zeitalter des Absolutismus: Ein Quantifizierungsversuch, Vierteljahresschrift für Sozial- und Fallpraxis aufdrängenden Bedenken gegen eine strikte Anwendung der dérogeance bei nichtadeliger Lebensführung.
Wirtschaftsgeschichte 67 (1980), S. 457-483 (459 f.) mit interessantem Material zur Verarmung des niederen Adels im 1167
Kritisch zu diesem Mythos einer aufsteigenden Klasse Helen Liebel, The Bourgeoisie in Southwestern Germany
Mittelalter; weiter Lawrence Stone, Social Mobility in England 1500-1700, Past and Present 33 (1966), S. 16-55; und jetzt
1500-1789: A rising class?, International Review of Social History 10 (1965), S. 283-307. Vgl. auch J.H. Hexter, The Myth
vor allem die Beiträge in: Winfried Schulze a.a.O. (1988). Zur französischen Diskussion dieses Themas im 16. Jahrhundert
of the Middle Class in Tudor England, in: ders., Reappraisals in History, London 1961, und zu neueren Forschungen über
vgl. auch Jouanna a.a.O. Bd. 1, S. 153 ff. Auch in den Dörfern gibt es in sehr kurzen Generationsabständen mehr
Bürgertum und Bürgerlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19.
Verschwinden und Neuauftreten von Familien, als man vermutet hatte. Vgl. Laslett a.a.O. oder MacFarlane a.a.O.
Jahrhundert, Göttingen 1988. Hauptsächlich befaßt sich diese Literatur mit der Frage, ob und in welchem Sinne man von
1163
Siehe für Burgund, wo dies auf Grund des hohen Anteils an städtischem Patriaziat und Verwaltungspersonal und einer einheitlichen Klasse sprechen kann. Die strukturelle Frage, wo denn die Leiter für diesen Aufstieg gestanden hat,
hochentwickelten literarischen Interessen besonders augenfällig ist, Charity Cannon Willard, The Concept of True Nobility bleibt unbeachtet.
at the Burgundian Court, Studies in the Renaissance 14 (1967), S. 33-48; Vanderjagt a.a.O. (1981). Hier scheint auch die 1168
Gemeint ist natürlich die Fragestellung Max Webers. Für eine neuere Version sieht z.B. John A. Hall, Powers and
Vorstellung, daß "animus" oder "virtus" der eigentliche Grund des Adels sei, zum erstenmal in die Praxis umgesetzt
Liberties: The Causes and Consequences of the Rise of the West, Harmondsworth, Middlesex, England 1986, Kap. 1-4. Die
worden zu sein.
Kritik an der Untersuchung der agrarischen Großreiche verschärft aber nur den Bedarf für eine Erklärung der Einmaligkeit
1164
Vgl. hierzu Richard H. Brown, Social Mobility and Economic Growth, The British Journal of Sociology 24 (1973), S. der spezifisch europäischen Entwicklung.
58-66. 1169
Wir werden diese Aussage leicht modifizieren müssen im Hinblick auf die Ressourcenkonzentration in der Oberschicht
1165
Zu diesem weniger bekannten Fall vgl. Donati a.a.O. S. 177 f. mit weiteren Hinweisen. einer Adelsgesellschaft.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 321 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 322

Die Anfänge sind schwer zu datieren, weil sie sich gegenüber dem, was wir Vorentwicklung nennen, Ausdifferenzierungen beginnen in einer sie begünstigenden gesellschaftlichen Umwelt. Sie setzen einander
kaum abgrenzen lassen. Die Durchsetzungssemantik ist, wie sollte es anders sein, zunächst noch an der nicht notwendigerweise wechselseitig voraus, obwohl es andererseits auch nicht reiner Zufall ist, in welcher
Begrifflichkeit der Tradition orientiert. Entscheidend ist, daß irgendwann die Rekursivität der autopoietischen Reihenfolge sie erfolgen. Im Zuge dieses Geschehens kommt es zu zahlreichen Schwierigkeiten im Verhältnis
Reproduktion sich selbst zu fassen beginnt und eine Schließung erreicht, von der ab für Politik nur noch der Funktionssysteme zu einander — zu Problemen und Problemlösungen, zu strukturellen und zu
Politik, für Kunst nur noch Kunst, für Erziehung nur noch Anlagen und Lernbereitschaft, für die Wirtschaft semantischen Innovationen, mit denen für die neue Ordnung vor ihrer Etablierung geprobt wird. Anders als in
nur noch Kapital und Ertrag zählen und die entsprechenden gesellschaftsinternen Umwelten — und dazu China war in Europa eine Reichsbildung am kirchlichen Widerstand, an der Ablehnung einer politischen
gehört dann auch Schichtung — nur noch als irritierendes Rauschen, als Störungen oder Gelegenheiten Theokratie gescheitert; und damit war auch eine politische Kontrolle weiträumiger Wirtschaftsbeziehungen
1171
wahrgenommen werden. (sprich: des Handels) ausgeschlossen. Die Geldwirtschaft entzieht sich schon im Mittelalter der
Wir können davon ausgehen, daß die ausgeprägte stratifikatorische Differenzierung, wie sie sich im territorialpolitischen Kontrolle und organisiert eine internationale Arbeitsteilung, die ihrerseits das politische
1172
Laufe des Mittelalters mit der Entwicklung einer "ständischen" Gesellschaft ausgebildet hatte, die Umstellung Schicksal der Territorien mitbestimmt. Die Einheit von imperium und dominium, von Befehlsgewalt und
auf funktionale Differenzierung zunächst begünstigt hat. Denn stratifikatorische Differenzierung ermöglicht Landbesitz, geht verloren. Zunehmend müssen Herrschaftsapparate zusätzlich Geldquellen erschließen, und
Ressourcenkonzentration in der Oberschicht des Systems, und dies nicht nur in einem ökonomischen Sinne, das mag einer der Gründe gewesen sein, die das System der dualen Bürokratie von weltlicher und kirchlicher
sondern auch in den Medien Macht und Wahrheit. Sie erlaubt unter anderem eine politisch-rechtliche Herrschaft, das sich auf jeweils eigenen Grundbesitz gestützt hatte, destabilisieren.
Regulierung "abhängiger" Arbeit, teils auf dem Lande, aber auch in der Form von Gilden und Zünften mit Die Verhinderung einer theokratischen Reichsbildung ermöglicht es in Europa, regionale, sprachliche
1173
eigenen hierarchischen Strukturen. Diese Ressourcen konnten, soweit sie nicht kirchlich gebunden waren, und kulturelle Unterschiede beim Experimentieren mit Ansätzen zu funktionaler Differenzierung zu nutzen.
innovativ eingesetzt und in Rechtsform fixiert werden. Daraus ergab sich, speziell für Europa, die besondere Der Übergang zu landwirtschaftlicher und handwerklicher, schließlich industrieller Produktion für einen
Bedeutung von Eigentum, dessen Sinn seit dem 14. Jahrhundert von Sachherrschaft auf Disponibilität Markt konnte nicht überall gleichzeitig stattfinden. Die Ausdifferenzierung eines Systems für Kunst gelingt in
1170
umdefiniert wird. Selbst heute wirkt noch die Gewohnheit nach, die "Klassengesellschaft" vom Eigentum Italien im 15. Jahrhundert unter ganz untypischen Sonderbedingungen der Konkurrenz kleiner Fürstenhöfe
1174
her zu begreifen. Allerdings war es im 14. Jahrhundert und noch am Anfang des 15. Jahrhunderts als Folge und Republiken , und auch die Entstehung eines Kunstmarktes im England des ausgehenden 17.
der Pest zu einem akuten Mangel an Arbeitskräften gekommen, der viele Grundbesitzer zwang, ihr Land an Jahrhunderts nutzt exzeptionelle Bedingungen der Importabhängigkeit des Sammlerinteresses auf den
Bauern zu verpachten und sich mit einem entsprechend reduzierten Einkommen zu begnügen. (Nicht alle britischen Inseln. Das protestantische Schisma der Religion und mit ihm das religiös motivierte Interesse an
Probleme des Adels im ausgehenden Mittelalter sind also auf die beginnende funktionale Differenzierung Kunstpolitik und Erziehung folgt den Grenzlinien, die sich aus kriegerischen Auseinandersetzungen ergeben
zurückzuführen.) Der Status des rechtlich gesicherten Eigentums blieb von diesen Bewirtschaftungsproblemen hatten und politisch eingefroren wurden. Das Recht wird nur, aber dort dezidiert, im Common Law Englands
jedoch unberührt. als nationale Besonderheit gefeiert und auf diese Weise in einer Entwicklung von Coke bis Mansfield gegen
Eine andere, gleichwichtige Voraussetzung dürfte gewesen sein, daß Verwandtschaftsverhältnisse in die Krone gesichert, was wiederum dazu führte, daß hier die Vorstellung einer geschriebenen Verfassung
Europa sich nicht zu Clan-Strukturen entwickelt haben. Es blieb bei individuellen Familien. Damit fehlte jenes keine Wurzeln treiben konnte.
Sicherheitsnetz, das Unterschiede von Bedarf und Leistungsvermögen ausgleichen und den Alltag regulieren Seit dem Spätmittelalter kann man auf regional beschränkter (und deshalb evolutionär weniger riskanter)
konnte. Wo sich Clanstrukturen bilden, können diese das tägliche Leben gegen ein Eindringen von Basis Ausdifferenzierungen beobachten, die sich an Funktionsschwerpunkten orientieren und sich nicht mehr
Marktorientierungen, rechtlichen Regulierungen und politischen Zugriffen schützen. Dies Abfedern braucht der hierarchischen Stratifikation fügen. Die Veränderungen betreffen vor allem den Adel, und dies nicht in der
nicht absolut gedacht werden; aber es verhinderte jedenfalls die Entwicklung von rekursiv operierenden
Funktionssystemen für Wirtschaft, Recht und Politik. In Europa konnten Tendenzen zur 1171
Siehe hierzu John A. Hall, Powers and Liberties: The Causes and Consequences of the Rise of the West, Berkeley
Funktionssystembildung in das Alltagsverhalten eindringen, konnten Innovationen (zum Beispiel in der 1986. Zur rechtlichen Instrumentierung dieser anti-theokratischen Politik und zu deren Zusammenhang mit der Entstehung
Agrartechnik) über Markterfolg individuell belohnt werden, und das Recht konnte auf Grund durchgesetzter von Territorialstaaten vgl. auch Harold J. Berman, Recht und Revolution: Die Bildung der westlichen Rechtstradition, dt.
Beschränkungen amplifizierend wirken. Übers. Frankfurt 1991.
Die Ungewöhnlichkeit funktionaler Differenzierung besteht nicht zuletzt darin, daß spezifische 1172
Vgl. Immanuel Wallerstein, The Modern World-System: Capitalist Agriculture and the Origins of the European
Funktionen und deren Kommunikationsmedien auf ein Teilsystem mit Universalzuständigkeit konzentriert World-Economy in the Sixteenth Century, New York 1974.
werden müssen; also in einer neuartigen Kombination von Universalismus und Spezifikation. Das Mittelalter 1173
Darauf hat Alois Hahn, Identität und Nation in Europa, Berliner Journal für Soziologie 3 (1993), S. 193-203 mit Recht
war mit Rollendifferenzierungen und mit semantischen Unterscheidungen ausgekommen. Es konnte, weil die hingewiesen. Allerdings scheint mir das komplexe Problem der regionalen Segmentierung mit dem Begriff der Nation nicht
Einheit der Gesellschaft durch Stratifikation gesichert war, innerhalb des Mediums Wahrheit unterschiedliche zureichend erfaßt zu sein. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts können nur wenige Territorien Europas zutreffend als unter
(zum Beispiel: religiöse, philosophische, rhetorische) Wahrheitsformen akzeptieren; oder innerhalb des dem Gesichtspunkt der Nation geeint begriffen werden. Vor allem Frankreich und Spanien (aber ohne Portugal und mit
Geldmediums unterschiedliche Währungssysteme für Lokalhandel und für Fernhandel mit lokal Katalonien und dem Baskenland) ferner England, aber ohne Schottland bis zur Zerschlagung der Clanstruktur und einem
unterschiedlichen Umrechnungskursen; oder innerhalb des Mediums Macht unterschiedliche Inseln der der größten Völkermorde in der neueren Geschichte in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Weder Deutschland, noch
Österreich, noch Italien. Sicher nicht Polen (mit oder ohne Litauen, mit oder ohne staatliche Selbständigkeit und unter
politisch relevanten Machtbildung, nämlich Reich, Kirche, Städte und Territorialstaaten. Die sich daraus
starken externen kulturellen Einflüssen). Vielleicht Schweden, vielleicht Dänemark (mit oder ohne Norwegen?). Die
ergebenden innerfunktionellen Koordinationsschwierigkeiten wuchsen jedoch an, und die Reaktion darauf lag Entstehung von Nationen ist ein mit Hilfe des Buchdrucks und mit Hilfe staatlicher Kulturpolitik (Verwaltungsstädte wie
dann in dem Versuch, Funktionssysteme in sich besser zu koordinieren, ihnen das Monopol für jeweils ein Montpellier, Universitätsgründungen wie Oñati im Baskenland) durchgesetzter Sondervorgang, begünstigt vor allem durch
Kommunikationsmedium zuzuweisen und auf Koordination zwischen ihnen zu verzichten; wobei die Fiktion die Umformung des Adels in ein Staatsinstitut. Aber die Ausnutzung regionaler Differenzen für ein Experimentieren mit
einer noch bestehenden hierarchischen Ordnung über die Dramatik und den "katastrophalen" Charakter dieses Funktionsschwerpunkten stützt sich kaum auf die nationale Unifikation von Territorien, sondern eher auf gegebene und
Umbaus bis weit ins 18. Jahrhundert hinwegtäuschte. vergehende Entwicklungsunterschiede. Kurz: die nationale Einheitsbildung fällt eher im historischen Rückblick auf,
nachdem im 19. Jahrhundert sich die Aufteilung der Landkarte in Nationalstaaten und die Behandlung von dazu nicht
Wir setzen auch hier nicht voraus, daß die Gesellschaft in einer Art struktureller Revolution neu
passenden Gebilden als Anomalie durchgesetzt hatte.
eingeteilt und damit auf funktionale Differenzierung umgestellt wird. Es ist kaum denkbar, daß die Umstellung
1174
von einer Differenzierungsform auf eine andere nach einem Plan vollzogen werden könnte. Anzumerken ist vielleicht, daß in Italien die politische Verwendung von Handelsgewinnen nicht aus dem städtischen
Kontext des Mittelalters auf eine Zentralmacht übertragen werden konnte, wie es anderswo in der Form von Ämterkauf,
Adelskauf oder Krediten geschah, weil es eine solche Zentralmacht nicht gab, und statt dessen der Übergang von den
1170
Hierzu Niklas Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3, Frankfurt mittelalterlichen Stadtrepubliken zum Fürstenkleinstaat als Verlust der Freiheit erlebt wurde und deshalb der ostentativen
1989, S. 11-64, mit Hinweisen auf die rechtsgeschichtliche Forschung. Legitimation bedurfte. Hierzu auch Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1995, insb. S. 256 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 323 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 324

Form einer Konkurrenz durch eine andere Oberschicht, sondern durch die allmähliche Entwertung der Rechtsetzung darstellen, gehören zur politischen Rhetorik, sind mißverstandene Zitate römischen
Differenz, die den Adel vom Volk unterscheidet. Bei der Landbevölkerung und bei den Handwerkern der Gedankenguts und haben die Staatspraxis nie wirklich beeinflußt.
Städte wird man bis weit in die Neuzeit hinein von kontinuierenden Verhältnissen ausgehen können. Das gilt Die wirklichen Probleme lagen nicht in der Rechtsordnung, die sich den Erfordernissen entsprechend
für Familienbildung, Berufsrollen, religiöse Bindungen und rechtliche Gestaltung der Lebensbedingungen. modifizieren ließ; sie lagen im Verhältnis zur Differenzierungsform der Gesellschaft, im Verhältnis zur
Gefährdet wird zunächst vor allem dasjenige Segment gesellschaftlicher Differenzierung, dessen Stratifikation. Schon die Rechtsordnung garantiert, wenn sie sagt, daß nur der legitime Fürst ein Fürst ist (und
Ausdifferenzierung die Form und die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit der stratifikatorischen der Tyrann folglich kein Fürst, sondern ein Unglück, eine Strafe Gottes, ein zu beseitigendes Übel), das
Differenzierung ausgemacht hatte: die Oberschicht. Nur sie muß, bei aller Betonung der gewohnten Widerstandsrecht. Und der Adel nimmt wie selbstverständlich in Anspruch, ein eigenes Urteil zu bilden und
Rangunterschiede, allmählich die Erfahrung machen, daß die neu sich bildenden Funktionssysteme nicht auf entsprechend zu entscheiden. So waren die Freiheitskämpfe der Holländer gegen die Spanier motiviert, und so
1179
Adel angewiesen sind und daß deren Differenzierung vom Adel nicht mitvollzogen werden kann. noch der Beginn der englischen Revolution in den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts , die dann
Die Politik der Territorialstaaten gewinnt schon im 15. Jahrhundert — und zwar im Schatten des groß allerdings einen andersartigen Verlauf nahm. Selbst Richelieu hatte noch Mühe, sich gegen diese Auffassung
inszenierten Konfliktes von Kaiser und Papst und des konziliaren Konflikts innerhalb der Kirche — eine durchzusetzen. Das Recht diente in einer Weise, die es selbst nicht mehr erfassen und nicht mehr beobachten
bemerkenswerte Unabhängigkeit von religiösen Fragen. Sie läßt die Konzile durch ihre Gesandten beobachten und beschreiben konnte, dem Primat der stratifikatorischen Differenzierung.
und wird mehr und mehr Religionsstreitigkeiten als politische Fragen, ja sogar als politische Chancen Dem entsprach, strukturell gesehen, das Dauerproblem der politischen Rivalität. Der Herrscher konnte
1175
behandeln. Seit der massiven Förderung durch den Buchdruck, seit dem 16. Jahrhundert also, gewinnt jederzeit durch einen Rivalen ersetzt werden — sei es aus der eigenen Familie, sei es aus dem Hochadel, sei es
auch die Wissenschaft Distanz zur Religion — zum Beispiel über einen emphatisch besetzten Naturbegriff, durch einen auswärtigen Potentaten, einen militärischen Abenteurer, den Chef seiner eigenen Verwaltung.
über spektakuläre Konflikte (Kopernikus, Galilei) und über die Inanspruchnahme der Freiheit zur Skepsis und Nachdem Machiavelli speziell dem neuen Fürsten guten (oder manche meinten: schlechten) Rat hatte zuteil
zur neugierigen Innovation, wie sie weder auf die Politik noch auf die Religion hätte angewandt werden werden lassen, ist noch die Staatsräson-Literatur um 1600 durch dieses Problem bestimmt und damit
1180
können. Das Recht wird für viele der Folgeprobleme dieser Entwicklung aktiviert, etwa als Eigentums- und gehindert, Dynastieinteressen und Staatsinteressen auseinanderzuhalten.
Vertragsrecht für die Freiheitsnotwendigkeiten der Geldwirtschaft oder als öffentliches Recht für den Politische Rivalität ist aber abhängig von Stratifikation. Sie setzt eine Vor-Auslese von Bewerbern durch
Übergang zu religiöser Toleranz, und gewinnt gerade durch diese Dienstleistungen an Eigenständigkeit die Oberschicht voraus (auch wenn cäsarische Naturen gelegentlich besondere Chancen nutzen können), und
gegenüber der politischen Macht. Solche Spannungen und Veränderungen fesseln die Aufmerksamkeit der zugleich bietet die stratifizierte Gesellschaft ständigen Zündstoff für das Auftreten von Rivalen. Wenn man
Zeitgenossen. Sie verdecken zugleich, daß es in diesen Konflikten zwischen den sich ausdifferenzierenden will — Anlässe wird man finden, Unzufriedenheiten wird man mobilisieren können. Die Position des Adels
Funktionssystemen zu einer Gesamtbewegung kommt, nämlich zur parallellaufenden Ausdifferenzierung einer beruht auf einer eigenen Ökonomie, auf selbständig bewaffneten Haushalten und entsprechendem Anhang.
Mehrheit von Funktionssystemen. Und erst, wenn hinreichend viele Funktionen des Gesellschaftssystems Was auf dieser Grundlage zu tun und zu lassen ist, entscheidet der Herr selbst. Sein Verhältnis zum König
dadurch abgedeckt sind, kann man die neue Ordnung aus sich selbst heraus interpretieren. sieht er als Anhängigkeit, nicht als Abhängigkeit. Die Anhängerschaft kann er aufkündigen, wenn das
Ebenso wie beim Übergang von tribalen zu hochkultivierten Gesellschaften lassen sich die Bedingungen Verhalten des Königs ihm dazu Anlaß gibt. In solchen Fällen lassen sich dann sehr leicht Allianzen bilden und
der Transformation am besten an Strukturproblemen der realisierten Differenzierungsform identifizieren. Wir politische Rivalen aufbauen, denn der in Betracht kommende Personenkreis ist klein und interaktionsfähig. In
zeigen das zunächst für die Ausdifferenzierung des politischen Systems, das sich im Laufe dieses Prozesses genau diesem Sinne hat der König nur legitime "potestas".
den Namen "Staat" geben wird. Die wirkliche Politik bildet und benutzt unter diesen Umständen vor allem Patron/Klient-Beziehungen —
Sowohl in Reichen als auch in Städten hatte es seit langem politische Herrschaft gegeben, die aber erst teils um im eigenen Territorium Loyalität zu erzeugen, teils um konspirativ in fremde Territorien
1181
im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühmoderne einen deutlichen Ausdifferenzierungsschub durchmacht, einzugreifen. Als Ressourcen stehen dem Fürsten Nobilitierungen und Amtsvergabe zur Verfügung; die
der sie im Ergebnis von Stratifikation unabhängig werden läßt. In der älteren Ordnung erscheint politische übrige Prominenz wird dadurch auf die Rolle von Vermittlern beschränkt. Dies gilt besonders für eine
Herrschaft als die Ordnung der Gesellschaft selbst. Die Alternative zu ihr wäre Chaos. Der Herrscher ist Übergangszeit, in der dem Staat noch kein zuverlässiger lokaler Beamtenapparat zur Verfügung steht, er sich
Moment einer kosmologisch begründeten Ordnung, die ihn als Natur und als Moral unter Beschränkungen aber auch nicht mehr nur auf die im Grundbesitz lokalisierte Macht des Adels stützen kann. So kommt es mit
setzt. Das vom Herrscher verlangte Wissen ist daher in erster Linie Kenntnis seiner eigenen tugendhaften Hilfe zentraler Patronage zum Aufbau lokaler Klientensysteme, die deren Patron im Dienst der Zentrale
1176 1182
Tüchtigkeit. In lateinischen Terminologien, die rex und tyrannus unterscheidet, ist Herrscher nur der verwendet — oder auch nicht. Unter heutigen Kriterien würde dieses System als "Korruption" beschrieben
1177
legitime Herrscher. Das gleiche gilt für "potestas". Auch wenn von "dominium" die Rede ist, suggeriert
dieser Begriff den Einschluß der Verfügung über ökonomische Ressourcen, aber immer: im Rahmen des
1178
Rechts. Die kühnen Formeln, die den Fürsten als losgelöst von Recht und als berechtigt zu beliebiger
ebenfalls als potestas oder als dominium bezeichnen kann, braucht man hierfür einen abstrakteren Begriff — eben den des
ius, der dann auch die Folie für die Definition der Herrenrechte bietet.
1175 1179
Damit sollen kirchenreformerische Motive der Fürsten angesichts stagnierender innerkirchlicher Reformbemühungen Vgl. Richard Saage, Herrschaft, Toleranz, Widerstand: Studien zur politischen Theorie der niederländischen und der
nicht bestritten sein. Vgl. hierzu Manfred Schulze, Fürsten und Reformation: Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten englischen Revolution, Frankfurt 1981.
vor der Reformation, Tübingen 1991. 1180
Vgl. z.B. Giovanni Botero, Della Ragion di Stato (1589), zit. nach der Ausgabe Bologna 1930; Ciro Spontone, Dodici
1176
In Europa kann man dies in praktisch jedem Traktat über Fürstenherrschaft und Fürstenerziehung nachlesen, bis in den libri del Governo di Stato, Verona 1599; Giovanni Antonio Palazzo, Discorso del Governo e della Ragion vera di Stato,
letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts die Lehre von der Staatsräson eine Wende einleitet, aber immer noch Venetia 1606.
Herrschertugend für ein Gebot der Staatsräson hält. Genau die gleiche Struktur findet man in der konfuzianischen 1181
Trotz zahlreicher Detailstudien (vor allem aus England) ist diese Ordnungsform systematisch noch wenig erforscht. Das
Herrschaftskonzeption. Vgl. Pyong-Choom Hahm, The Korean Political Tradition and Law, Seoul 1967. Siehe jetzt auch
gilt vor allem für das Ausmaß, in dem sie auch untere Schichten erfaßt. Siehe für den aktuellen Stand der Forschung
Kun Yang, Law and Society Studies in Korea: Beyond the Hahm Thesis, Law and Society Review 23 (1989), S. 891-901.
Antoni M_czak (Hrsg.), Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988.
1177
und erscheint zumeist implizit in der Definition von potestas als ius, wobei der Begriff sowohl auf politische Herrschaft 1182
Siehe dazu die Analyse der Zuspitzung der niederländisch-spanischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 16.
als auch auf Hausherrschaft angewandt werden kann. Vgl. etwa Hermann Vulteius, Jurisprudentiae Romanae à Justiniano
Jahrhunderts bei Helmut G. Koenigsberger, Patronage, Clientage and Elites in the Politics of Philip II. Cardinal Granvelle
compositae libri II, 6. Aufl. Marburg 1610, S. 53: "Potestas est ius personae in personam quo una praeest, altera subest".
and William of Orange, in: Antoni M_czak a.a.O., S. 127-148. Für die Sonderbedingungen der Amtspatronage im
1178
Speziell hier läßt sich die Unumkehrbarkeit des Positionsverhältnisses von oben und unten bis in die Kirchenstaat siehe Wolfgang Reinhard, Freunde und Kreaturen: "Verflechtung" als Konzept zur Erforschung historischer
technisch-juristischen Diskussionen hinein verfolgen. Denn weil man Rechte des Untergebenen gegen den Herrn nicht gut Führungsgruppen: Römische Oligarchie im 1600, München 1979.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 325 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 326
1183
werden ; aber es hatte auch den für die weitere Entwicklung wichtigen Vorteil, mit den Interessen an Dispense und Privilegien gewesen sein, mit der markiert wurde, daß von einem allgemein geltenden
politischer Selektion zugleich herkunftsunabhängige Aufstiegsmöglichkeiten zu schaffen. Obwohl an Rechtszustand aus besonderen Gründen abgewichen wurde. Das mußte aber nicht bedeutet haben, daß der
hierarchische Ordnungsvorstellungen gebunden, untergraben die ständig erneuerungsbedürftigen Adel politisch zu disziplinieren war. Das Moment der Ehre entzog sich zum Beispiel immer der politischen
1189
Patron/Klient-Verhältnisse bereits die stratifikatorische Gesellschaftsdifferenzierung. Disposition. Erst die durch die Ausbreitung der Geldwirtschaft bedingten Finanznöte führen zu einer
Vor diesem Hintergrund spiegeln die Tugendspiegel für Fürsten und Hofleute noch etwas anderes, stärkeren politischen Abhängigkeit des Adels, und zugleich bringt der Territorialstaat neue Probleme mit sich:
1190
nämlich die Sorge vor Rivalität. Die typischen Ambivalenzen der Tugendkataloge (Strenge und Milde, Die Anerkennung des Adels "gilt" jetzt nur noch für das Territorium, in dem die Familie beheimatet ist.
Sparsamkeit und Freigebigkeit, Gerechtigkeit und Billigkeit) fordern dazu auf, sich nach der Situation zu Vergleichende Analysen zeigen aber, daß in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedliche Vorstellungen
1191
richten. Und auch die Staatsräson-Literatur wird dies Problem übernehmen — etwa mit der Empfehlung, das über Adel tradiert worden sind , und im Ausland muß man folglich die Anerkennung des eigenen Adels
Recht dann nicht durchzusetzen, wenn dies zu bedrohlichen Unruhen führen würde oder wenn die Gegner zu nochmals zu erreichen versuchen. In Frankreich dürfte das Hauptmotiv der Bemühungen um staatliche
1192
mächtig sind. "Prudentia" ist der dazu passende Begriff. Er bezeichnet die Klugheit, die damit rechnet, daß es Anerkennung alten Adels oder um Adelsverleihung in der Steuerbefreiung gelegen haben. Das erforderte
Vergangenheit und Zukunft sowie gute und schlechte Menschen gibt. Mit Begriffen wie prudentia oder dann dann auch eine entsprechende juristische Genauigkeit an Hand von Kriterien mit hohem
1193
ratio status empfiehlt man dem Herrscher Simulation und Dissimulation. Er hat, sagt man, die Geheimnisse Detaillierungsvermögen. Zunehmend werden auch die politisch zu besetzenden Ämter zum Problem für die
der Herrschaft (die arcana imperii) zu wahren. Das Geheimnis der Herrschaft aber ist, daß sie keine ist. Stratifikation — teils weil kompetente Bewerber dem Adel vorgezogen werden, teils weil eine besondere Art
1194
Um die Mitte des 17. Jahrhunderts sind die Voraussetzungen für diesen ständigen Blick auf Rivalität von Adel (noblesse de robe) die Folge ist. Nicht zuletzt führen die vielen Feinunterscheidungen innerhalb
1184
entfallen. Zwar wird es noch lange dauern, bis das politische System selbst das Prinzip der Rivalität unter des Adels zur Mitwirkung des Staates bei der Klärung von Streitfragen, und es setzt sich durch, schriftliche
1195
dem Namen "politische Opposition" übernimmt und damit das Recht erwirbt, sich (in einem ebenfalls neuen Beweise zu verlangen, die vorzugsweise in amtlichen Dokumenten und staatlicher Registrierung bestehen.
Sinne) "Demokratie" zu nennen. Aber zuerst muß ja das, was dadurch codiert werden soll, eingerichtet sein; Das alles muß dem Adel allmählich die Vorstellung einer staatsabhängigen Privilegierung vermittelt haben,
1185
und das geschieht in der Form des Verwaltungsstaats und des Rechtsstaates. Im Verlauf dieser und entsprechend wird er in den Salons des 18. Jahrhunderts nicht mehr allzu sehr auf Formalitäten bestehen.
Entwicklung muß der Adel, aber auch das politische System, auf die Vorstellung verzichten, daß ethische Das Ergebnis dieses Umformungsprozesses wird in der Idee des souveränen Staates formuliert. Er
Tugend, bestimmt durch Adelswerte, unmittelbar in politischer Aktivität Ausdruck finden könne. Wie schwer charakterisiert sich durch die Beschränkung der Beschränkungen staatlicher Gewalt. Man akzeptiert jetztnur
dieser Verzicht fällt, zeigt der Widerstand gegen die Vorstellungen Machiavellis. Im Ergebnis wird der Politik noch territoriale Grenzen, diese dann aber unbedingt. Alle anderen Beschränkungen entfallen, was aber nur
dann aber eine eigene Staatsräson mit Enklaven für unmoralisches Handeln (in Notfällen) konzediert, während heißt: sie werden situativ politisiert und gehen ins politische Kalkül der "Staatsräson" ein. Dessen Aufgabe ist
umgekehrt die Moral, in Übereinstimmung mit einer schon lange gepflegten kirchlichen Lehre, privatisiert die Selbsterhaltung der politischen Macht, was einerseits auf die Herrschaft der regierenden Dynastie, aber
werden kann. auch und vor allem auf den territorialen Bestand bezogen wird. Wie ein Netz überzieht dieses neue Prinzip der
Das feudalrechtliche Erbe des Mittelalters macht sich vor allem in einer bleibenden Rechtsqualität der Staatsgrenzen die alte Ordnung der Stratifikation und zwingt sie, sich dem einen oder anderen Staat
Adelsstellung bemerkbar. Im Reich spaltet die politische Entwicklung (und nicht etwa eine Evolution des einzuordnen — vor allem, wenn die Oberschicht politischen Einfluß behalten will. Die Literatur zum Thema
Schichtungssystems als solchen) den Adel in den fürstlichen oder doch reichsunmittelbaren Adel und in den Adel sucht seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen Kompromiß zwischen Adel und Territorialstaat
territorialstaatlichen Adel, der sich auf die eine oder andere Weise mit seinem Territorialherren zu arrangieren
hatte, während der Reichsadel ein Personalverband blieb und in dieser Form erstarrte. Im 16. und 17.
Jahrhundert ergibt sich daraus ein juristisch kompliziertes Ineinander von ständischer und staatlicher 1189
Selbst am Hofe! Diomede Carafa, Dello Optimo Cortesano (1479), zit. nach der Ausgabe Salerno 1971, S. 122 f. führt
1186
Ordnung, für das weder die Formel einer Adelsherrschaft noch die einer souveränen Monarchie passen. Im zum Beispiel aus, daß man dem Herrn treu und loyal dienen seine Anweisungen ausführen müsse und ihm nicht
mittelalterlichen Italien entwickeln sich auf Grund der jeweils lokalen, stadtrepublikanischen widersprechen dürfe — außer in Angelegenheiten, die die Ehre betreffen. Vgl. auch oben ...
Auseinandersetzungen zwischen Adel und Volk sehr unterschiedliche politische Verhältnisse, die zunächst 1190
"La condizione della Nobilità stà sui confini del Principato", heißt es bei Spontone a.a.O. S. 274, und die Praxis
eine rechtliche (Bartolus, Baldus), seit der Konsolidierung der Territorialstaaten dann auch politischer Nobilitierungen läßt denn auch kaum eine andere Wahl.
1187
semantisch-ideologische Diskussion nahelegen — beides mit erheblichen Auswirkungen auf die 1191
Einen Überblick gibt z.B. Pietro Andrea Canonhiero, Dell'introduzione alla Politica, alla Ragion di Stato et alla Pratica
Adelsliteratur jener Zeit. Zu den Vorentwicklungen einer stärkeren politischen Bindung des Adels gehört die del buon Governo, Anversa 1614, S. 385ff: Die Spanier legen Wert auf reines Blut (wegen der Vermischung mit
Praxis politischer Nobilitierungen, erstmals großen Stils am burgundischen Hofe im Nebel einer maurischem Blut), die Franzosen auf Waffendienst, die Deutschen auf vornehme Abstammung. Die juristischen und
1188 heiratspolitischen Konsequenzen waren erheblich. Für einen älteren, noch ganz auf unterschiedliche regionale
Ritterromantik und einer aus Italien importierten civiltà-Idee. Ebenso wichtig dürfte die Rechtsform der
Gewohnheiten abstellenden Vergleich siehe Poggio Bracciolini a.a.O. (1538), S. 67-72.
1192
Siehe z.B. Estienne Pasquier, Les Recherches de la France, Neuauflage Paris 1665, S. 120 f.
1183
Auch an zeitgenössischer Kritik dieser Art fehlt es nicht. Vgl. für Burgund Wim Blokmans, Patronage, Brokerage and 1193
Corruption as Symptoms of Incipient State Formation in the Burgundian-Habsburg Netherlands, in: Winfried Schulze Siehe aus der Feder eines dafür zuständigen Beamten: (Alexandre) Belleguise, Traité de noblesse et de son origine,
a.a.O. (1988), S. 117-126. Paris 1700. Zum Beispiel: Für den Wiedererwerb des Adels nach derogierender Tätigkeit (zum Beispiel Verkauf von
Ernten im eigenen Namen) sind lettres de réhabilitation erforderlich, weil man anderenfalls den Adel wochenweise
1184
Das betont mit allen Auswirkungen auf Wirtschaft und Kultur Theodore K. Rabb, The Struggle for Stability in Early verlieren und wiedererwerben könnte.
Modern Europe, New York 1975. 1194
Die Unterscheidung Geburtsadel/Amtsadel bürgert sich ein; sie führt gelegentlich sogar zu einer auf vier Stände
1185
Daß der sog. "absolute Staat" kein "Rechtsstaat" gewesen sei, muß wohl als liberale Geschichtsfälschung angesehen erweiterten Ständelehre. Du Haillan z.B. spricht von vier Ständen: Eglise, Noblesse, Justice (das ist: Robe) und Peuple.
werden. Er war natürlich nicht das, worauf es den Liberalen dann ankam: er war kein "Verfassungsstaat"; der sich selbst an Siehe Bernard de Girard, Seigneur Du Haillan, De l'Estat et succez des affaires de France (1570), zit. nach der Ausgabe
höherem, aber positivem Recht kontrollierte. Lyon 1596, S. 294. Die juristischen Konsequenzen waren zum Beispiel, daß man zwar auf Amtsadel, nicht aber auf
1186 Geburtsadel verzichten konnte (zum Beispiel: um in die Geschäftswelt überzuwechseln) und daß die Infamie des Vaters
Vgl. für einen Überblick über die deutsche Literatur Bleeck / Garber a.a.O. (1982).
zwar dessen Ämter, nicht aber den Geburtsrang für die Nachkommen aufhebt. So z.B. Pompeo Rocchi, Il Gentilhuomo,
1187
Vgl. Donati a.a.O. (1988). Lucca 1568, fol. 2.
1188 1195
Sicher hat es ähnliche Einflüsse aber auch vorher gegeben, wie ja der gesamte germanische Adel sich in den Trümmern Vgl. Charles Loyseau, Traicté des ordres et simples dignitez, 2. Aufl. Paris 1613, S. 92. Donati a.a.O. (1988), S. 182 f.
reichsrömischer Titulaturen eingerichtet hat. Zur mittelalterlichen Rechtslage, die das Recht zu Nobilitierungen mit dem weist darauf hin, daß diese Möglichkeiten der Sicherstellung des Adelsbeweises jetzt auch als Mittel der Sicherstellung der
Recht zur Gesetzgebung verknüpft und dadurch trotz erheblicher Ausweitung beschränkt, vgl. Bartolus, De dignitatibus Zukunft der jeweiligen Familien benutzt werden — nicht zuletzt natürlich, weil sie einen (allerdings nicht negotiablen)
a.a.O. ad 77 und 78. Vermögenswert darstellen.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 327 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 328
1201
— in auffälliger Parallele zur gleichzeitigen, im Konzil von Trient zum Ausdruck kommenden Neuformierung Staate und dem Adel auf und führt zu den Verschuldungskrisen des 15. und 16. Jahrhunderts. Ebenso wie
des Verhältnisses von Religion und Politik. Der Adel wird als Herrschaft disziplinierende Staatseinrichtung der Staat, aber hoffnungsloser als der Steuerstaat, findet der Adel sich in einer dauerhaft unbalancierten
empfohlen. Er legitimiert sich zunehmend mit der Gemeinwohlformel, die auch das politische System benutzt. Situation. Er muß ständig Zahlungen leisten, mit denen er eigene Zahlungsunfähigkeit erzeugt; aber er will
Er reserviert sich jetzt nur noch das "Recht", das dann viel Energie absorbiert: in Fragen der Ehre, das heißt in und darf keine Zahlungen leisten, mit denen er über profitable Investitionen eigene Zahlungsfähigkeit
der Form des Duells, gegen das Recht zu verstoßen. Auch verständigt man sich, selbst unter Juristen, darüber, wiedergewinnen könnte. Er findet sich immer stärker in die sich ausdifferenzierende Wirtschaft einbezogen —
1196
daß das Recht gegenüber hochrangigem Adel nicht in allen Fällen durchgesetzt werden müsse. Und in aber nur auf der Debet-Seite. Wirtschaftliche Schwierigkeiten und politische Refinanzierungen der 0berschicht
einem bekannten Text, der schon Gewaltenteilung favorisiert, findet man noch die Feststellung: "point de hatte es zwar schon immer gegeben, jetzt aber erschwert die gleichzeitig ablaufenden Ausdifferenzierungen
1197
monarche, point de noblesse; point de noblesse, point de monarche. Mais on a un despote". des Wirtschaftssystems und des politischen Systems die traditionelle Symbiose von politisch-ökonomischer
Auch Kriegführung ist jetzt nur noch ein politisches Problem. Die Gesellschaft delegiert die Ressourcenkontrolle in der Oberschicht und hebt sie schließlich auf. Auch das mag verbreitete Tendenzen
Entscheidung darüber an ihr politisches System (was selbst heute noch gilt, obwohl es inzwischen um begünstigt haben, sich in Fragen der Adelsanerkennung von fluktuierenden Vermögensverhältnissen
menschheitsvernichtende Waffen und um politisch nicht kontrollierbare lokale Massenmorde geht). Wenn unabhängig zu machen und sich statt dessen auf staatliche Registrierung zu verlassen.
Religion zu gewaltsamen Auseinandersetzungen tendiert, um rechten Glauben zu beweisen oder zu erzeugen, Aber nicht hier liegt das Problem, das sich für die Entwicklung der Wirtschaft selber stellt. Die
muß sie einen politischen Fürsprecher finden, und die Politik verhält sich zunehmend distanziert gegenüber der Neuerung liegt nicht in der zunehmenden Geldabhängigkeit des Adels, sondern in der zunehmenden
Zumutung, Wahrheitskriege zu führen. Soweit Religion Aggressivität freisetzt, muß diese "kirchenpolitisch" Adelsunabhängigkeit des Geldes. Die durch Märkte vermittelten Transaktionen nehmen in der Frühmoderne
1198
ausgetragen bzw. in der Form rigoristischer Anforderungen subjektiv nach innen gerichtet werden. Selbst rapide zu. Die lokale bzw. regionale Differenzierung der Märkte wird überformt oder sogar ersetzt durch eine
Religion wird ein ausdifferenziertes System. warenspezifische (also rein ökonomische) Differenzierung der Märkte für Seide, für Getreide, schließlich
Ganz anders entwickelt sich in der Wirtschaft eine Tendenz zu funktionsbezogener Ausdifferenzierung. sogar für Bilder, Graphiken, Skulpturen. Entsprechend löst sich der Begriff des Marktes ab von der
Nachdem der Handel den nur wenige Objekte betreffenden Prestigegüterhandel tribaler Gesellschaften Bezeichnung bestimmter, für Transaktionen freigegebener Plätze und wird zum Formbegriff, der die
1202
überschritten hatte, ist eine politische Vereinnahmung oder auch nur Kontrolle des Handels und der dabei Eigenlogik der Transaktionen bezeichnen, die von keinen weiteren Sozialmerkmalen abhängen. Damit
1199
erzielten Gewinne wohl nirgendwo mehr gelungen. Das gilt auch für die von Polanyi als "redistributiv" beginnt die seitdem anhaltende Orientierung der Wirtschaft am Konsum, also an sich selbst. Das löst die
1200
charakterisierten Wirtschaftssysteme. Auf die eine oder andere Weise mußte das Statussystem der Steigerung der Wirtschaftsleistung ab von externen Direktiven, also vor allem von dem Ressourcenbedarf der
Gesellschaft sich auf unterschiedliche Prestigegründe, nämlich Adel, politisch-bürokratische Herrschaft und Oberschicht oder von periodisch zu erwartenden Hungersnöten, Raubzügen, Kriegen. Diese Bedarfsquellen
kommerzieller Reichtum einlassen, und es scheint, daß die Stratifikation, was Heiraten einschließt, als behalten ihre Bedeutung, aber sie erscheinen jetzt als Konsum, den der Markt anzeigt, und damit als Chance
Instrument des Ausgleichs dieser Spannungen funktioniert hat. Auch im Mittelalter wiederholt sich bei für Produktion und für Investition. Der Antriebsfaktor liegt jetzt in der wirtschaftsspezifischen
zunehmender geldwirtschaftlicher Entwicklung diese Erfahrung. Politik und Wirtschaft lassen sich nicht mehr Rollenkomplementarität von Konsument und Produzent (wie in anderen Bereichen auch, etwa
zur Deckung bringen (trotz allem Pendeln des Ausdrucks "dominium" zwischen beiden Bereichen). Herrschaft Regierung/Untertan, Lehrer/Schüler, Künstler/kunstsachverständiger Genießer). Der Gesamtbevölkerung
ist noch nicht territorial gefestigt, und der Handel überschreitet Grenzen, wo immer sie gezogen sind. Nicht die wird Zugang zu der einen Seite dieses Rollenschemas versprochen, hier zu Konsum; und zwar abhängig von
Landwirtschaft, wohl aber die Geldwirtschaft (die besonders in England Landwirtschaft bereits einbezieht) Kaufkraft, nicht mehr direkt von Schichtung. Die andere wird für Spezialisierungen qua Organisation oder
entwickelt ihre eigene Dynamik außerhalb von politischen Kontrollen. Die Schenkungs- und qua Ausbildung und Profession freigegeben.
Stiftungsökonomie des frühen Mittelalters stagniert — bei allen Versuchen, ihre Seelenrettungsmotive jetzt in Die Wirtschaft lernt es, sich mit systemeigenen Mitteln, das heißt: über Preise (inclusive Geldpreise =
Geld zum Ausdruck zu bringen. Zunächst nimmt die Geldverwendung im Laufe des Mittelalters so sehr zu, Zinsen) zu regenerieren. Sie wird zunehmend unabhängig von den durch die Stratifikation erfaßten
daß im Ergebnis viel mehr käuflich ist als heute: auch Seelenheil zum Beispiel, auch Staatsämter, auch Vermögensquellen. Die gezahlten Preise gelten seitdem als das objektive Gerüst aller wirtschaftlichen und
staatliche Einnahmequellen. Das Geld scheint auf dem Wege zu sein, das Medium schlechthin zu werden. damit auch aller wirtschaftswissenschaftlichen Kalkulation. Das Zinsproblem kann trotz religiöser Bedenken
Strukturelle Relikte der alten Unterscheidung von Haus und Handel machen sich störend bemerkbar, zum gelöst werden, auch wenn sensible Gemüter bemerken, daß man selbst an Sonntagen von Zinseinnahmen
1203
Beispiel in den komplizierten Währungs- und Umrechnungsproblemen des Fernhandels, die dann zur profitiert. Der Riesenzufluß amerikanischen Edelmetalls im 16. Jahrhundert war weder auf Stand noch auf
Erfindung neuer Finanzinstrumente führen. Überschüssiges Geld, das in der Stadtpolitik nicht mehr verwendet Verdienst zuzurechnen, er war gleichsam zufällig eingetroffen, und die Folgen zeigten eine zunächst
werden kann (wie im 14. Jahrhundert die Medicis es in großem Stile noch tun konnten), drängt sich dem unverständliche Eigendynamik. Die Wirtschaft reagierte mit Disbalancierungen, mit Preissteigerungen, mit
Devaluation der Edelmetalle, also marktmäßig. Die klassischen Mittel der Unterbringung von Geld im Luxus
oder im Krieg waren zugleich Mittel der Verschuldung bei steigenden Preisen. Die Holländer schienen eine

1196
In der Staatsraison-Literatur ist dies eine ganz übliche Meinung. Für eine juristische Stellungnahme siehe z.B. Pierre
1201
Ayrault, Ordre, formalité et instruction judiciaire (1576), zit. nach der 2. Aufl. Paris 1598, S. 111. Oft diskutiert. Zu den Sonderbedingungen in England, wo auch der Adel gewinnträchtig investieren konnte, vgl.
1197 Lawrence Stone, The Crisis of the Aristocracy 1558-1641, 2. Aufl. Oxford 1966, insb. S. 42 ff., 547 ff. Anderswo wird ein
Montesquieu, De l'esprit des lois II,IV, zit. nach der Ausgabe der Classiques Garnier, Paris 1949, Bd. I, S. 20.
Recht für den Adel zur wirtschaftlichen Betätigung (statt: zur Beschäftigung mit Bürgerkriegen) vergeblich gefordert. Ein
1198
Siehe für ein (für das 17. Jahrhundert typisches) Beispiel Jacques Le Brun, Das Geständnis in den Nonnenbiographien eindrucksvolles Beispiel: die rasch vergessene Publikation von Emeric Crucé, Le nouveau Cynée, ou discours d'estat
des 17. Jahrhunderts, in: Alois Hahn / Volker Kapp (Hrsg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und (1623), zit. nach den Neudruck Philadelphia 1909. In Italien findet man in den einzelnen Territorialstaaten sehr
Geständnis, Frankfurt 1987, S. 248-264. unterschiedliche Lösungen dieses Problems und sehr oft eine enge Verbindung von Adel und Fernhandel, nachdem der
1199 landsässige Adel entmachtet worden war. Als knappen Überblick über neuere Literatur zu der sog. "Krise" des
Siehe Karl Polanyi et al. (Hrsg.), Trade and Market in the Early Empires: Economies in History and Theory, New York
europäischen Adels siehe etwa François Billacois, La crise de la noblesse européenne 1560-1640, Revue d'histoire moderne
1957.
et contemporaine 23 (1976), S. 258-277; ferner Ellery Schalk, From Valor to Pedigree, Ideas of Nobility in France in the
1200
Hierzu ausführlich John Gledhill / Mogens Larsen, The Polanyi Paradigm and a Dynamic Analysis of Archaic States, in: Sixteenth and Seventeenth Centuries, Princeton 1986.
Colin Renfrew et al. (Hrsg.), Theory and Explanation in Archaeology: The Southampton Conference, New York 1982, S. 1202
Siehe dazu Jean-Christophe Agnew, Worlds Apart: The Market and the Theater in Anglo-American Thought, 1550-
197-229. Vgl. aber auch Johannes Renger, Subsistenzproduktion und redistributive Palastwirtschaft: Wo bleibt die Nische
1750, Cambridge Engl. 1986, insb. S. 57 ff.
für das Geld? Grenzen und Möglichkeiten für die Verwendung von Geld im alten Mesopotamien, in: Waltraud Schelkle /
1203
Manfred Nitsch (Hrsg.), Rätsel Geld: Annäherung aus ökonomischer, soziologischer und historischer Sicht, Marburg 1995, "That the usurer is the greatest Sabbath breaker, because his plough goeth every Sunday", wie Bacon im Essay "Of
S. 271-324. Usury" bemerkt — zitiert nach Bacon's Essays, London 1895, S. 105.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 329 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 330

ebenso erstaunliche wie paradoxe Lösung gefunden zu haben. Sie hatten, gerade weil sie über keine Risiko seiner Eigenwirtschaft aufbürden — wirken sich (mit erheblichen regionalen Verschiedenheiten) erst
natürlichen Ressourcen verfügten, eine blühende Wirtschaft aufbauen können - das große Rätsel vor allem für im 18. und 19. Jahrhundert aus. Auch in der gewerblichen Wirtschaft nimmt der Anteil der häuslichen
1207
die englische Wirtschaftstheorie des 17. Jahrhunderts. Daß dabei neue Finanzinstrumente, neue Formen der Produktion — sei es im Handwerksbetrieb, sei es über ein Verlagssystem — nur sehr allmählich ab. Der
Geldschöpfung eine Rolle spielen könnten, wird gesehen, kann aber theoretisch nicht wirklich verarbeitet quantitative Wendepunkt liegt erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts (jedenfalls für Deutschland). Und erst
1204
werden. Im Ergebnis lag der Ausweg nicht in der Staatsfinanzierung und nicht in kostspieligen und dann macht es eigentlich Sinn, die Beschreibung der Gesellschaft von der Semantik einer
lukrativen Kolonialexpeditionen, sondern in der Entwicklung von Produktmärkten, mit Bezug auf die in ordnungsnotwendigen ständischen Differenzierung auf die problematische Fatalität einer nicht mehr zu
Produktionsmittel investiert werden konnte. Das erforderte eine rein wirtschaftliche Form der Kalkulation im rechtfertigenden Klassendifferenzierung umzustellen.
Blick auf die Rentabilität von Investitionen, und dazu mußte das Profitmotiv aufgewertet werden. Nicht der In der Logik von Kapital und Arbeit findet die alte Differenzierungsform der Stratifikation keinen Platz
Feudalherr der Feudalherrn, nicht der Fürst als Obereigentümer kontrolliert die Wirtschaft, sondern die mehr. Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts spricht man vermehrt von sozialen Klassen, und Marx
1208
Entscheidungen werden an Hand von unternehmenspezifischen Gewinn- und Verlustrechnungen getroffen, wird diese Terminologie auf die Unterscheidung von Kapital und Arbeit beziehen. Aber das kann jetzt nur
und diese steuern die Produktion absatzorientiert, also marktorientiert. Zuerst wird die Ausdifferenzierung der noch heißen: die Gesamtgesellschaft aus der Sonderperspektive der Wirtschaft beschreiben.
1205
Wirtschaft daher an der Eigenlogik des Handels wahrgenommen , und noch Adam Smith spricht von Die in der Frühmoderne verbreitete Klage über den Luxus der Oberschichten ist denn auch ein guter
"commercial society". Die Zinsdiskussion verlagert sich im 17. Jahrhundert von theologisch-juristischen Indikator für die Spannung zwischen Stratifikation und sich ausdifferenzierender Wirtschaft. Dies zeigt sich
Erlaubnisproblemen auf innerökonomische Folgen von Zinsen. Auch Arbeit ist nicht länger Sündenfallfolge, besonders in England, wo weniger die wirtschaftliche Fehldisposition des Adels beklagt wird, als der
also Lebenslage, in der man sich befindet, sondern Bedingung und Produkt innerökonomischer Prozesse; und aufstiegsorientierte Konsum, mit dem man eine Lebenslage dokumentiert, die man sich wirtschaftlich
1209
deshalb muß man vom Schema Mühe/Musse aufs Schema Arbeit/ Arbeitslosigkeit umdenken. Letztlich eigentlich (noch) nicht leisten kann. Die aufrechterhaltene Schichtung verzehrt Wirtschaftspotential, was
entscheiden jetzt die Märkte (und nicht der Fleiß, die gute Arbeit, die Qualität der englischen oder italienischen dann gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu dem Gegenargument führt, daß sie auch Arbeitsplätze schaffe.
Tuche) über den Erfolg, und dem hat sich alles — von den Löhnen und Investitionen bis zur Währungspolitik Durchgehend wird jedoch die Gesellschaft noch als von Natur aus geschichtet wahrgenommen, und das
1206
und zur Staatsverschuldung unterzuordnen. Problem wird daher in moralischen Begriffen als Fehlverhalten beschrieben.
Unabhängig davon, ob der Adel sich mit eigenem Kapital am Geschäft beteiligen darf und kann oder Ein besonderer Markt verdient besondere Aufmerksamkeit, nämlich der Markt für die Erzeugnisse der
nicht, entwickelt sich die Autopoiesis der Wirtschaft nun im Sinne eines eigenen strukturdeterminierten neuen Druckpresse. Hier sieht man besonders deutlich, wie die neu eingeführte Technologie Probleme der
Systems. Entscheidend sind Geldzahlungen. Aber ausgegebenes Geld muß man wiederbeschaffen können, um funktionalen Differenzierung zuspitzt. Der Buchdruck forciert die Entwicklung einer Zusatztechnologie,
zahlungsfähig zu bleiben. Und wenn die Einnahmen aus dem eigenen Grundbesitz bei traditionaler nämlich der Technologie des Lesenkönnens. Dieses Können läßt sich nicht mehr einschränken auf die Themen
Bewirtschaftungsweise nicht ausreichen und politische Geldquellen nicht beliebig vermehrbar sind, muß man bestimmter Funktionssysteme. Wer die Bibel lesen kann, kann auch Pamphlete der religiösen Polemik,
Zahlungen so kalkulieren, daß sie das Geld zurückbringen, das heißt: man muß profitabel investieren. Nur Zeitungen, Romane lesen. Wenn jetzt die Wirtschaft reguliert, welche Druckerzeugnisse hergestellt und
eine Alternative zur profitablen Produktion und zum Handel läßt die Wirtschaft noch zu, nämlich gegen verkauft werden können, verlieren andere Kommunikationsbereiche die Kontrolle über Kommunikation. Vor
Entgelt zu arbeiten. Das kommt für den Adel nicht in Betracht. allem Religion und Politik sind davon betroffen, und sie versuchen (mehr oder weniger erfolglos), sich durch
Inzwischen hat die Monetarisierung der Wirtschaft den basalen Bereich der geldvermittelten Zensur oder durch Androhung von Strafen ("libel" nach common law und ergänzenden Gesetzen) zu wehren.
Transaktionen (Man bekommt etwas nur gegen Geld) längst überschritten. Vor allem die technologisch Aber dafür braucht man Entscheidungskriterien, die sich nicht mehr aus der gemeinsamen Weltkenntnis
anspruchsvolle Produktion erfordert immer größere Kapitalanteile. Man rechnet im Verhältnis zum Output ergeben, sondern im Religionssystem, im politischen System und im Rechtssystem funktionsspezifisch
mit 25-30%. Diese Geldmengen können nicht allein durch Reinvestierung firmeneigener Gewinne aufgebracht entwickelt, positiviert und bei Bedarf geändert werden müssen.
werden. Der Anteil an Krediten nimmt zu und damit die Abhängigkeit von den Fluktuationen auf den Die Ausdifferenzierung der Wirtschaft bedeutet für die bürgerlichen Schichten und ebenso für die außer
1210
internationalen Finanzmärkten. Ein neuer weltgesellschaftlicher Zentralismus also, der sich jedoch nicht über Haus tätigen Arbeiter, daß sich Erwerbsarbeit und Familienleben trennen, zumindest räumlich und zeitlich.
Normen und nicht über Direktiven, sondern über Fluktuationen und folglich in der Form dissipativer Die Funktion der Koordination von Arbeit wird vom Herrn (des Haushalts) auf den Markt verlagert, und dem
Strukturen bemerkbar macht. An dieser Entwicklung ist nicht zuletzt das Sowjetimperium wirtschaftlich und Herrn verbleibt allenfalls die Interpretation der Marktdaten. Je nach dem Typus der Organisation von
dann auch politisch gescheitert. Erwerbsarbeit, wird diese Trennung im 18./19. Jahrhundert zum Normalfall. Sie schneidet mehr vielleicht
Die hier nur knapp skizzierten Veränderungen im Vollzuge der Ausdifferenzierung des noch als die Sorge um Einkommensquellen in die Lebensgewohnheiten und die Selbstauffassung des Adels
Wirtschaftssystems lassen deutlich erkennen, wie stark auch dieser Prozeß am Anfang noch durch den ein, und noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts legen zumindest Teile des Adels wert darauf, ein Haus zu
stratifizierten Gesellschaftsaufbau bestimmt — und auch verzögert wurde. Einer seiner wichtigsten führen, das heißt: die Unterscheidung von Erwerbsleben und Privatleben, obwohl man schon lange in
1211
Ausgangspunkte lag zwar im Fernhandel mit den bekannten Schwierigkeiten schichtmäßiger Zuordnung des Staatsdiensten tätig ist, als Unterscheidung abzulehnen.
hier erworbenen Reichtums. Betroffen waren zunächst aber vor allem die Oberschichten. Die unteren
Schichten bekamen die Veränderungen nur mit erheblichen Verzögerungen zu spüren. Die Privatisierung des
Gemeindelandes und die Bauernbefreiung — beides Bewegungen, die dem einzelnen Landwirt das volle
1207
Daß es noch heute recht erfolgreich arbeitende Ausnahmen gibt, vor allem in Italien, sollte nicht übersehen werden.
1208
1204 Vgl. dazu Niklas Luhmann, Zum Begriff der sozialen Klasse, in: ders., (Hrsg.), Soziale Differenzierung: Zur Geschichte
Siehe Edward Misselden, Free Trade. Or, The Meanes to Make Trade Florish, London 1622, Nachdruck Amsterdam
einer Idee, Opladen 1985, S. 119-162.
1970, S. 9 f. mit der Unterscheidung von "Permission Money, Banck Money and Currant Money". Das Erklärungsinteresse
1209
gilt dann aber eher den in England gemachten Fehlern, liegt also eher in Fragen der Wirtschaftspolitik. Nur beiläufig For now a days most men live above their callings, and promiscuously step forth Vice versa, into one anothers Rankes",
(a.a.O. S. 117 f.) taucht dabei der Vorschlag auf, auch in England handelbare Schuldverschreibungen einzuführen. klagt Misselden a.a.O. 1622, S. 12: "The Country mans Eie is upon the Citizen: the Citizen upon the Gentleman: the
1205 Gentleman upon the Nobleman." Und dabei würden Ressourcen verzehrt mit der Folge, daß gutes Geld ins Ausland abfließt
Vgl. Edward Misselden, Free Trade a.a.O. (1622); ders., The Circle of Commerce. Or The Balance of Trade, in
und in England knapp wird.
Defence of free Trade, London 1623, Nachdruck Amsterdam 1969; aber auch Gerard Malynes, The Center of the Circle of
1210
Commerce: or, A Refutation of a Treatise Intitulated The Circle of Commerce, London 1623. In der Kontroverse geht es um Vgl. dazu Neil J. Smelser, Social Change in the Industrial Revolution: An Application of Theory to the Lancashire
die Frage, ob "balance of trade" oder Gewinnmotiv ("gaine") das Zentrum des "Circle of Commerce" ausmachen. Cotton Industry 1770-1840, London 1959.
1206 1211
Zur Wirtschaftstheorie des 17. Jahrhunderts, die dies bereits teilweise (wenn auch kontrovers) aufnimmt, vgl. Joyce O. Siehe Hinweise bei Reinhart Koselleck, Preussen zwischen Reform und Revolution: Allgemeines Landrecht,
Appleby, Economic Thought and Ideology in Seventeenth Century England, Princeton 1978. Verwaltung und soziale Bewegung von 1791-1848, 2. Aufl. Stuttgart 1975, S. 79.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 331 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 332

Für einen weiteren Funktionsbereich, nämlich für die Ausdifferenzierung von intim gebundenen, durch schreiben und drucken zu lassen. Noch Shaftesbury läßt erkennen, daß er sich dieser neuen
1217
Eheschließung begründeten Kleinfamilien findet man umfangreiche Forschungen, deren Ergebnisse jedoch vor Kommunikationsform nur resignierend bedient.
1212
allem in der Datierung dieser Entwicklung umstritten sind. Man wird davon ausgehen müssen, daß im Mit diesen Entwicklungen, aber auch mit dem Entstehen von wirtschaftlich und kulturell führenden
frühmodernen Europa, vergleichend gesehen, Sonderbedingungen realisiert waren, die der Berücksichtigung Großstädten wie Paris und London, verlieren Zeichen ihre sichere Referenz. Geburt, alter Reichtum (in Form
persönlicher Sympathien bei der Eheschließung entgegenkamen, vor allem relativ spätes Heiratsalter, von Landbesitz) und erblicher sozialer Rang bleiben anerkannt, werden aber ergänzt, ja an den Rand gedrängt
Akzeptabilität des Unverheiratetbleibens, Voraussetzung ökonomischer Selbständigkeit bzw. gesicherter durch neue, leichter manipulierbare und unsichere Kriterien wie Manieren und schöner Schein. Das spiegelt
Lebensverhältnisse und Vorstellung einer Neugründung einer Familie in jeder Generation. Damit war ein sich deutlich in den Wertediskussionen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts — um nur einen Namen zu
gewisses Maß an Ausdifferenzierung gesichert — aber gerade nicht für den Adel und die wohlhabende nennen: bei Baltasar Gracián. Reflektionen über Kunst, Geselligkeit und Moral nehmen diese Probleme auf
Oberschicht. Auch sonst mußte auf die hauswirtschaftlichen Bedingungen Rücksicht genommen werden. Erst und "entsubstantialisieren", wenn man so sagen darf, die Ordnung der Stratifikation. Die Kategorie des guten
recht wird man die persönliche Zuneigung, die den Ausschlag geben sollte, nicht als "romantische Liebe" Geschmacks versucht, diesen Verlust an sozialer Autorität und unbezweifelter Urteilskompetenz aufzufangen
beschreiben können. Zur Exaltierung von Liebe als Passion, die ihr eigenes Reich souverän verwaltet, kommt und erneut soziale Selektivität zu Geltung zu bringen, aber in beweglicheren Formen und mit nur noch
1213 1218
es erst im 17. Jahrhundert und zunächst für außereheliche Beziehungen. Noch im 18. Jahrhundert war behaupteter Begründbarkeit. Für Kunstgegenstände entwickelt sich, vor allem in England, ein Markt und
1219
Eheschließung ohne Zustimmung der Eltern kaum möglich (was nicht ausschloß, daß ein attraktiver junger eine professionelle Kunstkritik mit Funktionen der Unsicherheitsabsorption. Statussymbole benötigen neue
Mann eine reiche Erbin verführte und einen Priester fand, der die Trauung vollzog). Erst im Laufe des 18. Formen der Legitimation. Kriterien wie bienséance oder goût/taste versuchen, die neuen Probleme in die alte
Jahrhunderts findet Europa zu der weltweit ungewöhnlichen Vorstellung, daß nur die Liebe über die Ehe Ordnung der Stratifikation zurückzuleiten. Aber dies sind jetzt Kriterien, die Lernen — wir würden heute
entscheiden sollte, und dies nach den Vorbildern der Romane und unter Einschluß des Adels. Erst jetzt vielleicht sagen: Sozialisation — voraussetzen und jedenfalls nicht durch Geburt erworben werden können.
neutralisiert das Prinzip der Eheschließung, zumindest der Idee nach, den Zugriff der sozialen Schichtung. Schon im 18. Jahrhundert kann man von einer Primäreinteilung der Gesellschaft nach Schichten
Analysen dieser Art ließen sich auch für andere Funktionssysteme durchführen. Überall findet man die eigentlich nicht mehr sprechen. Die offizielle Darstellung der Gesellschaft hält zwar — vor allem mit Hilfe
Umstellung auf Eigendynamik und die Ablösung von Prämissen, die durch Stratifikation gesichert gewesen rechtlicher Qualifizierungen, polizeistaatlicher Regulierungen und Steuerstatistiken — noch an den alten
1220
waren. Das geschieht teils unbedacht und unbeabsichtigt — so wenn das Religionssystem, wie Amerikaner Einteilungen fest. Damit können jedoch die Entwicklungstendenzen in struktureller wie in semantischer
festgestellt haben, seine Heiligen im 6.-12. Jahrhundert noch mit über 90 % aus der Oberschicht rekrutiert, im Hinsicht nicht mehr begriffen werden. Was jetzt Fortschritt oder Aufklärung heißt, löst die alten Ordnungen
1214
19. Jahrhundert dagegen nur noch mit 29 %. Die Wissenschaft bildet einen neuen Begriff der Evidenz, der auf. Die französische Revolution hat dieses Faktum nicht mehr zu bewirken, sie hat es nur noch zu
1221
nicht auf Sprache, nicht auf das Trivium der Schulen, nicht auf die alte Rhetorik angewiesen ist und sich registrieren und in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft zur Anerkennung zu bringen. Seit dem letzten
damit auch der schichtabhängigen Vorsorge für Erziehung entzieht. Seitdem läuft die Drittel des 18. Jahrhunderts erfolgt die Ablösung der Funktionssysteme von Schichtprämissen und die
Wissenschaftsentwicklung, könnte man sagen, über unplausible Evidenzen. Der alte Begriff der securitas Neutralisierung von Schichteinflüssen zunehmend gezielt — so in der juristischen Erfindung der allgemeinen
verschiebt sich vom Subjektiven ins Objektive — von alten Konnotationen der (bis ins Frivole reichenden) Rechtsfähigkeit oder in der Umstellung des Erziehungssystems auf öffentlichen Schulen für die
1215
Sorglosigkeit zu gesichertem Wissen und Können , und verläßt damit ebenfalls den Bereich, der durch Gesamtbevölkerung und im 19. Jahrhundert dann auch: durch Einrichtung eines durchorganisierten
Schichtung beeinflußbar ist. Klare, distinkte Ideen lautet jetzt die Losung, oder auch: Vergewisserung durch Prüfungswesens mit Spezialisierung auf die in den Schulen und Universitäten selbst erworbenen Kenntnisse
das Experiment. Mit all dem verliert die alte (vor allem italienische und, etwas später, französische) und Fähigkeiten. Der Prozeß kann heute als abgeschlossen gelten. Herkunft spielt für die Funktionssysteme
Diskussion, ob der Adel mehr durch Waffen oder mehr durch Bildung (arme/lettere) ausgezeichnet sei, an kaum noch eine Rolle, und bei hoher strukturierter Eigenkomplexität — etwa des Rechtssystems — kann man
1222
Bedeutung; sie reicht jedenfalls nicht in die Erörterung wissenschaftlicher Fragen hinein, obwohl sie eine dies auch für die jeweils eigenen anderen Rollen der Teilnehmer feststellen.
zeitlang noch ausreichen mag, Amateurforschungen Adeliger zu legitimieren. Aber selbst in England, wo dies Der Adel hatte zunächst "involutiv" reagiert, das heißt: mit verstärkter Anwendung alter Mittel auf neue
1223 1224
besonders betont und gefördert wird, darf es nicht mehr sein als das und keinesfalls zum Verlust des common Lagen, mit Genealogie und Heraldik. Es entsteht eine elaborierte, adelsspezifische "Schrift" der
sense führen. So sagt Shaftesbury über den Studenten der Mathematik: "All he desires is to keep his Head
1216
sound, as it was before".
Weiter fällt auf, daß die wichtigsten innovatorischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts, die
protestantische Reform und der politische Humanismus, durch bürgerliche Kreise und nicht durch den Adel
1217
initiiert und getragen werden. Das mag damit zusammenhängen, daß hier der Buchdruck die entscheidende Daher Shaftesburys Interesse am Selbstgespräch (soliloquy), das dann aber doch nur durch Publikation bekannt
gemacht werden kann.
Rolle spielt und es, zunächst allenfalls, im Verhaltenscode des Adels nicht vorgesehen war, Bücher zu
1218
Hierzu Iain Pears, The Discovery of Painting: The Growth of Interest in the Arts in England, 1680-1768, New Haven
1988.
1219
Siehe aus der zeitgenössischen Literatur etwa Jonathan Richardson, A Discourse on the Dignity, Certainty, Pleasure
and Advantage of the Science of a Connoisseur (1719), zit. nach The Works, London 1773, Neudruck Hildesheim 1969, S.
1212
Siehe nur, speziell für England, Lawrence Stone, The Family, Sex and Marriage in England 1500-1800, London 1977, 241-346 und dazu kritisch aus der Perspektive des Künstlers, der den bloßen Kritikern die Kompetenz bestreitet, William
auf der einen, und Alan Macfarlane, The Culture of Capitalism, Oxford 1987, S. 123 ff. (mit Literaturüberblick) auf der Hogarth, The Analysis of Beauty, written with a view of fixing the fluctuating Ideas of Taste, London 1753, zit. nach der
anderen Seite. Ausgabe Oxford 1955.
1213 1220
Hierzu Niklas Luhmann, Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität, Frankfurt 1982. Vgl. Diedrich Saalfeld, Die ständische Gliederung der Gesellschaft Deutschlands im Zeitalter des Absolutismus: Ein
1214 Quantifizierungsversuch, Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 67 (1980), S. 457-483.
So die Ergebnisse von Katherine and Charles H. George, Roman Catholic Sainthood and Social Status: A Statistical and
1221
Analytical Study, Journal of Religion 35 (1955), S. 85-98, — leider ohne zu klären, ob die Variable "Heiligkeit" ihrerseits Eine heute weitgehend akzeptierte Sicht. Siehe für einen Überblick William Doyle, Origins of the French Revolution,
im Zusammenhang damit zunimmt oder abnimmt. Eine spätere Überprüfung der Daten mit ähnlichem Ergebnis findet man Oxford 1980.
bei Pierre Delooz, Sociologie et canonisations, Den Haag 1969, S. 413 ff. 1222
Vgl. etwa Hubert Rottleuthner, Abschied von der Justizforschung: Für eine Rechtssoziologie "mit mehr Recht",
1215
Dazu Emil Winkler, Sécurité, Berlin 1939. Zeitschrift für Rechtssoziologie 3 (1982), S. 82-119; ders. (Hrsg.), Rechtssoziologische Studien zur Arbeitsgerichtsbarkeit,
1216 Baden-Baden 1984.
Anthony, Earl of Shaftesbury, Soliloquy, zit. nach: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, 2. Aufl., o.O.
1223
1714, Nachdruck Farnborough Hants UK 1968, S. 290. Auf die Folgen der durchgehaltenen Selbstbeschreibung qua "Ehre" kommen wir in Kapitel V .... nochmals zurück.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 333 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 334
1232
Wappen und Waffen, der Devisen und Embleme, der Titel und der zeremoniellen Gelegenheiten macht es abhängig. Mit dem Konzept der Ehre reagiert der Adel auf die zunehmende
Privilegierungen/Disprivilegierungen mit einem darauf bezogenen Ehrenkodex, der eine Art Varietät wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse, denen er mehr als andere Schichten ausgesetzt ist.
1225
"hyperkorrektiven" Lernprozeß (wie die Linguisten sagen würden) auslöst. Die Geburt rückt als Zugleich bleibt, eben wegen dieser Defensivfunktion, der Begriff ein adelsspezifischer Begriff. Ehre entzieht
wesentliches und unabdingbares (auch juristisch leicht handhabbares Kriterium) in den Vordergrund, während sich allen Rücksichten, selbst der auf die eigene Familie und das eigene Leben. Diese Übertreibung kann als
das moralische Verdienst im Bestreitbaren bleibt; zwar hinzukommen sollte, aber nicht mehr ausschlaggebend Symptom gelten dafür, daß die alten Ordnungen versagen, die bloße Abstammung dem Individuum keine
1226
ist. Entsprechend ist Aufstieg nicht mehr durch Tüchtigkeit denkbar (aber das hatten Juristen wie Bartolus hinreichenden Ausdrucksmöglichkeiten mehr bietet, die individuelle Verletzlichkeit zunimmt— und für all das
1233
schon immer bezweifelt), sondern nur noch durch Nobilitierung. Andererseits sieht man in der Frühmoderne, wiederum "aristokratische" Formen des Ausdrucks und der Verdrängung gesucht werden. Erst das 18.
besonders im 16. Jahrhundert, die eigene Zeit als Zeit des Verfalls; was, umgerechnet auf den Adel, bedeuten Jahrhundert wird diese Norm auf der Verhaltensebene in Richtung auf einen profillosen "homme aimable"
1234
muß, daß jedes Geschlecht in jeder Generation seine Bedeutung durch Tüchtigkeit (= Moral) regenerieren abschwächen. In puncto Ehre sei dieses Jahrhundert, liest man jetzt, nicht besonders brillant. Denn Ehre
muß, um nicht mit der Zeit zu versinken. Mit all diesen Veränderungen arrangiert sich der Adel mit dem wird jetzt, unter den beweglicheren Verhältnissen der politischen Opposition, der literarischen
"absoluten Staat" und ermöglicht es diesem zugleich, neben den Justizreformen auch Adel als Mittel Geschmacksrichtungen, der wirtschaftlichen Fluktuationen, in denen Landbesitz schließlich nur noch als eine
1235
politischer Konsolidierung einzusetzen. Das Erfordernis verstärkter Bemühungen um Erziehung des Art Kapitalinvestition zählt, zu einer Art Kredit , den man für viele noch unbestimmte Zwecke einsetzen
Adelsnachwuchses zu den Besonderheiten adeliger Lebensführung wird betont und führt zur Gründung kann — nicht zuletzt immer noch für die Anknüpfung nützlicher Kontakte. Die einst tragende,
1227 1228
entsprechender Einrichtungen. Die Abschließung nach unten wird verdeutlicht. Auf das im Buchdruck gegenbegriffliche Unterscheidung honestas/utilitas tritt zurück und wird durch soziales Prestige ersetzt. Was
1229
ausgebreitete Wissen antwortet man mit der Ablehnung von "Pedanterie" und mit Kultivierung der immer der einzelne Adelige bei sich selbst gedacht haben mag: die Literatur des 18. Jahrhunderts vermittelt
1230
Mündlichkeit, mit Witz und mit Aphorismen, mit den Stilmitteln La Rochefoucaulds. Vor allem wird die den Eindruck, als ob soziale Beziehungen, Empfindungen, Sympathien jetzt individuell im Blick auf ihre
Verachtung gewinnbringender Geschäftstätigkeit (Ausnahmen: England und Italien) beibehalten. Sie ergibt Ergiebigkeit kalkuliert werden und daß man nur so noch die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung
1231
sich aus der aristotelischen Definition, daß nur alter (bei Geburt schon vorliegender) Reichtum zählt. begründen kann.
Die wohl auffälligste Neuerung ist jedoch die geradezu neurotische Betonung der "Ehre" und ihre Ebenso rückständig sind an der Wende zum 18. Jahrhundert nun alle Versuche, sozialen Einfluß in alter
Verteidigung im provozierten Duell. Man begreift dieses auffällige, in der Intensität ungewöhnliche Insistieren Weise durch Personkenntnisse zu sichern. Man mußte Namen und Gesichter, die jeweiligen Liebschaften und
auf Ehre am besten, wenn man sieht, wovon sie unterschieden wird, nämlich vom zufalls- und Schulden, Neigungen zur Freigeisterei oder zur Devotion, Gnade oder Ungnade bei Hofe, Leidenschaften fürs
gelegenheitsbestimmten Handeln, also von "fortune". Ehre macht Handeln konsistent, Ergreifen von Theater, Verwandtschaften, regelmäßige Kontakte usw. anderer kennen; aber solche Erfordernisse setzen
Abgeschlossenheit der Schicht und dort konzentrierte Verfügungsmacht voraus. Sie geraten unter den Druck
zunehmender Komplexität und vor allem in die Situation einer zunehmenden Differenzierung von privater
Personalität und funktionssystemspezifisch konditioniertem Rollenverhalten. Und dann kann es nicht mehr
1224
So im Anschluß an Derrida Peter Goodrich, Languages of Law: From Logics of Memory to Nomadic Masks, London genügen, etwa tausend Personen zu kennen und den Kenntnisstand durch Über-sie-Reden auf dem Laufenden
1990, S. 125 ff. Für zahlreiche anschauliche Belege siehe Joan Evans, Pattern: A Study of Ornament in Western Europe zu halten. Aber was sonst kann der Adel tun? Noch am Ende des 18. Jahrhunderts wird er in seiner
1236
From 1180 to 1900, Oxford 1931, Nachdruck New York 1975, Bd. 1, S. 82 ff. Interaktionskompetenz bewundert, aber die Bereiche, in denen es darauf ankommt, nehmen rapide ab.
1225
Vgl. Philippe Van Parijs, Evolutionary Explanation in the Social Sciences: An Emerging Paradigm, London 1981, S. Ihren letzten Rückhalt findet die Ständeordnung im Recht — wohl deshalb, weil das Recht für Fragen, auf die
138 ff. es geantwortet hatte, jeweils konkrete Ersatzlösungen finden muß. Noch das preussische Allgemeine
1237
1226
Hierzu im Detail Arlette Jouanna a.a.O. (1981). Vgl. auch Ellery Schalk a.a.O. (1986), S. 115 ff.
Landrecht von 1794 setzt die Ständeordnung voraus und bestätigt sie. Aber zugleich zeigen gerade die
1227
Entscheidungen, die man, von "Revolutionen" ganz zu schweigen, bei juristischen Kodifikationen zu treffen
Siehe dazu unter dem Gesichtspunkt einer Reaktion auf die Adelskrise der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Schalk hat, daß es auch andere Ordnungsmöglichkeiten gibt.
a.a.O. S. 65 ff., 174 ff. Das schließt es nicht aus, mit Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische
Dem involutiven, Positionen verteidigenden Verhalten des Adels steht die Evolution der
Universität, Frankfurt 1991, auch die deutliche Staatsnähe der neu geschaffenen Erziehungsinstitutionen zu betonen. Adel
und Staat suchen jetzt eine neue Symbiose. Zugleich legt aber der Adel deutlich Wert darauf, seine Chancen nicht den Funktionssysteme gegenüber, die das Heft mehr und mehr an sich reißen. Mehr und mehr gerät die
Abschlüssen des Erziehungssystems zu verdanken und verzichtet deshalb gern und demonstrativ auf Zertifikate und Gesamtgesellschaft in den Inklusionssog ihrer Funktionssysteme. Was wichtig ist, wird dort entschieden, und
Examina. Als Beispiel für eine Betonung der Notwendigkeit der Bemühung um Adelserziehung mit erheblicher Skepsis in jedes Funktionssystem regelt selbst, welche Themen es aufgreift, nach welchen Regeln es kommuniziert und
Bezug auf Universitätserziehung siehe François de La Noue, Discours politiques et militaires, Basel 1587, zit. nach der
Neuausgabe Genf 1967, S. 133 ff.
1228 1232
Donati a.a.O. (1988), insb. S. 56 und 93, spricht von "chiusura", von "aristocratizzazione culturale e sociale". So Francis Markham, The Booke of Honour. Or, Five Decads of Epistles of Honour, London 1625, S. 1 f.
1229 1233
Ein Standardbegriff der Literatur über courtoisie und Konversation. Vgl. Daniel Mornet, Histoire généale de la Wir kommen darauf im Kapitel über die Selbstbeschreibung der Gesellschaft zurück.
littérature française classique 1660-1700: ses caractères véritables, ses aspects inconnus, Paris 1940, S. 97 ff.; Klaus 1234
So bei Charles Duclos, Considérations sur les Moeurs de ce Siécle (1751), zit. nach der Ausgabe Lausanne 1971, S.
Breiding, Untersuchungen zum Typus des Pedanten in der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts, Diss. Frankfurt
239 ff.
1970. Abgesehen von der Ablehnung des Typus gibt es auch verfeinerte und spezifisch auf Wissenschaft bezogene
1235
Analysen. Bei Jacques de Caillière heißt es zum Beispiel, wissenschaftliches Wissen mache für das Leben am Hofe "Kredit" hat auch im 18. Jahrhundert noch die alte, hierarchisch-politische Bedeutung, etwa als l'usage de la puissance
untauglich, da es stets kettenförmig gegeben sei, die Darstellung zu langfristig engagiere und die Aufmerksamkeit von den d'autrui (Duclos a.a.O. S. 269) und dazu Anm. 1: "Le crédit en commerce et en finance ne présente pas une autre idée; c'est
Interaktionspartnern ablenke. Siehe: La fortune des gens de qualité et des gentilhommes particuliers (1658), zit. nach der l'usage des fonds d'autrui". Vgl. für den Kontext der politischen Ökonomie (insb. Staatskredite) auch David Hume, Of
Ausgabe Paris 1662, S. 212 ff. Für eine Kritik der Bildungsablehnung des Adels siehe etwa François Loryot, Fleurs de Public Credit (1752), in: Writings of Economics (Hrsg. Eugene Rotwein), Madison 1970, S. 90-107. Hintergrundsinn bleibt
Secretz moraux, Paris 1614, S. 566 ff. dabei immer noch das öffentliche Vertrauen (im Sinne von "creditur").
1230 1236
Zum Einfluß auf die Morallehren des 17. Jahrhunderts siehe Louis van Delft, Le moraliste classique: Essai de Siehe materialreich Johanna Schultze, Die Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum in den deutschen
définition et de typologie, Genf 1982. Zeitschriften der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts (1773-1806), Berlin 1975, Nachdruck Vaduz 1965.
1231 1237
Anders glaubte man die immanente (ethisch-politische) Einheit von Reichtum und Tugend nicht begründen zu können. Vgl. die differenzierte Darstellung bei Reinhart Koselleck, Preussen zwischen Reform und Revolution: Allgemeines
Vgl. etwa Francesco de Vieri, Il primo libro della nobilità, Fiorenza 1574, S. 60 f. Jede andere Version hätte den Begriff Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 2. Aufl. Stuttgart 1975, insb. S. 52 ff. Vgl. auch
der Tugend angesichts der Funktionsmodi der Wirtschaft auf eine rein wirtschaftliche Tüchtigkeit eingeschränkt. Es gab Hermann Conrad, Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die preussischen Staaten von 1794, Köln
also gute Gründe! 1958.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 335 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 336

welche Position es damit Personen verleiht. Hierbei spielen sowohl schichtunabhängige Generalisierungen zu binden — und nicht mehr durch die Forderungen seines Standes und noch nicht durch das, was in den
(allgemeine Rechtsfähigkeit, Staatsangehörigkeit, Maturität (nach Besuch der höheren Schule) eine Rolle als Funktionssystemen Erfolg verspricht.
auch schichtunabhängige Unterscheidungen. Dies sind jetzt vor allem neuartige oder in neuartige Prominenz Spätestens im 18. Jahrhundert kommt es, zunächst in den "bürgerlichen" Schichten, zu neuen Formen
einrückende Rollenasymmetrien wie: Regierend/Regierte (auf Staat und nicht auf gesellschaftliche Position der Sozialisation, die nicht mehr voraussetzen, daß das Kind durch Herkunft schon definiert ist und nur gegen
bezogen), Produzent/Konsument, Lehrer/Schüler, Arzt/ Patient. Selbstverständlich bleibt der Zugang zu Verführungen und Korruption geschützt und mit statusbezogenen Fähigkeiten ausgestattet werden müsse.
solchen Rollen schichtabhängig. Zugleich delegitimieren die neuen Asymmetrien aber die alten der Mehr und mehr stellt man statt dessen auf innere Werte, auf Vorbereitung für eine noch unbestimmte Zukunft,
Ständeordnung und zeigen damit an, daß die Gesellschaft sich von einem Primat der Stratifikation auf einen auf eigene Urteilsfähigkeit, auf "Bildung" ab. Hieraus folgt, daß der Einfluß von Schichtung auf die
Primat funktionaler Differenzierung umgestellt hat. gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend umstrukturiert werden muß. Der neue, seit dem 18. Jahrhundert
Mit der Ausdifferenzierung von funktionsspezifischen Rollenkomplementaritäten ändert sicht nicht nur aufkommende Begriff der "sozialen Klasse" gibt darüber nur wenig Auskunft; ja er verdeckt als bloßer
der Inklusionsvorgang. Mit der Inklusion ändert sich auch das, was in der Gesellschaft für rational gehalten Einteilungsbegriff eher die wahren Mechanismen, auch wenn man den Klassen mit Mystifikationen
wird, das heißt: dem Einzelnen als vernünftiges Verhalten zugemutet werden kann. So wie Inklusion mit irgendwelcher Art soziale Wirkungen, wenn nicht gar "collective action" zuschreibt. Jedenfalls findet man im
Rationalität, so hängt Exklusion mit Irrationalität zusammen. Mit Rationalitäts/Irrationalitäts-Semantiken 19. Jahrhundert in Europa keine auf Familienhaushalten beruhende soziale Schichtung mehr — auch nicht in
1240
werden Inklusions/Exklusionsregeln nachempfunden. Es ist dieser Zusammenhang, der im Übergang von England. Faktisch wirkt die Schichtzugehörigkeit jetzt nur noch durch Einfluß auf die Reichweite
stratifikatorischer (an anderen eigenen Rollen orientierter) Differenzierung zu funktionaler (auf die individueller Kontakte und auf individuelle Karrieren und wird ihrerseits durch Karrieren reproduziert.
Komplementärrollen anderer abstellender) Differenzierung zu einer tiefgreifenden Umstellung der Semantik Sozialintegration wird damit durch Organisationen vermittelt, — sei es durch Schulen und Universitäten, sei
und vor allem zu einer neuartigen Individualisierung der Rationalitätszumutungen führt. Der zunächst aufs es durch Aufstiegsmöglichkeiten in Organisationen der Berufstätigkeit, durch bessere individuelle
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Jenseits und aufs Diesseits gerichtete Wohlfahrtsutilitarismus des 17. Jahrhunderts ist die Folge. Und Artikulationsfähigkeit in politischen Parteien, gegenüber der Polizei oder vor Gericht; und nicht zuletzt: durch
damit kommt es jetzt in jeder Hinsicht primär auf Leistung und auf Nutzenmaximierung an (und wieder: bessere Gesundungskarrieren in Krankenhäusern. Dank unzähliger statistischer Untersuchungen sind wir über
zunächst unter Einschluß des Seelenheilskalküls und unter laufender Kontrolle des Sündenpegels), aber nicht diese schichtspezifische Selektivität gut informiert. Ihre Beurteilung wird jedoch durch kollektive Zurechnung
mehr auf die sich aus dem Rollengesamt ergebende "Qualität" der Person. auf soziale Klassen fehlgesteuert. Entscheidend ist — auch als Hindernis für politisch inspirierte
Daher wird das Individuum für sich selber die Instanz, die sich fragt, welche Art und welches Ausmaß Gegenmaßnahmen —, daß jetzt in zahllosen Organisationen darüber entschieden wird, für die es rational sein
von Engagements ihm als vernünftig erscheinen. Für den damals vorrangigen Fall von Religion liest man zum mag, sich an der Herkunft und ihren sichtbaren Zeichen zu orientieren. Und entscheidend ist vor allem, daß in
Beispiel bei Thomas Browne: "... there is no Church whose every part so squares onto my Conscience; whose der modernen Gesellschaft die Karriere (und nicht mehr die Moral!) zum wichtigsten Mechanismus der
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Articles, Constitutions, and Customs seem so consonant unto reason, and as it were framed to my particular Integration von Individuen und Gesellschaft avanciert ist. Das gilt namentlich für Aufstiegskarrieren; aber
Devotion, as this whereof I hold my Belief, the Church of England; to whose Faith I am a sworn Subject, and natürlich auch für Stagnation, Absteigen, Aussteigen, denn auch das sind Ereignisserien, in denen das
therefore in a double Obligation subscribe onto her Articles, and endeavour to observe her Constitutions. Erreichte das noch Mögliche mitbedingt. Karrieren sind mithin Formen, in denen soziale Unterschiede der
Whatsoever is beyond, as points indifferent, I observe according to the rules of my private reason, or the Startpositionen und der Selbst/Fremdselektion in allen Änderungspunkten temporalisiert, das heißt: zu einer
humour and fashion of my Devotion; neither believing this, because Luther affirmed it, or disapproving that, Vergangenheit werden, die für die Zukunft bedeutsam ist. Wenn Schichtung hierauf Einfluß hat und nicht
1239
because Calvin has disavouched it". Man sieht an der Häufung des I/my: Das Individuum setzt sich als mehr als primäre Form der Definition gesellschaftlicher Subsysteme wirkt, läuft das auf eine
Ausgangspunkt für das, was es seinem Glauben, seiner Vernunft und seiner Organisationsmitgliedschaft Unvergleichbarkeit der modernen mit traditionalen Gesellschaften hinaus. Man kann nicht einmal sagen, ob
schuldig zu sein meint. ihre Bedeutung durch funktionale Differenzierung und Organisationsabhängigkeit der Gesellschaft
Mit nochmals abstrahierenden Theoriemitteln kann man formulieren, daß sich in allen abgenommen oder zugenommen hat. Die Verhältnisse sind zu verschieden.
Funktionssystemen der Kombinationsspielraum von Zeitdimension und Sozialdimension erhöht und damit Da jedes Funktionssystem nun das Verhältnis von Zeitlichkeit und Sozialität in sich selbst aushandeln
dem Individuum Vermittlungsfunktionen zufallen. Im politischen System drückt sich dies aus in der muß, kann jedes Funktionssystem nun behaupten, die Gesellschaft zu repräsentieren; aber nur für den eigenen
Souveränität des kollektiv bindenden (das heißt: auch den Entscheider bindenden) Entscheidens mit Bereich. Mit einem Begriff von Gordon Pask kann man das Ergebnis als "redundancy of potential command"
1242
prozeduraler Regulierung der Anwendung auf sich selbst. Im Rechtssystem korrespondiert dem die volle bezeichnen ; aber es gibt nun dafür keine Reduktionen mehr: weder eine Reduktion auf eine Spitze, noch
Positivierung des Rechts und die Vertragsfreiheit. Die Wirtschaft bindet alle Transaktionen an Zahlungen und eine Reduktion auf ein Zentrum der Gesellschaft. Man bietet Ersatzvorstellungen an. Im 18. Jahrhundert ist
1243
erreicht dadurch, daß Zugriff auf knappe Güter nicht mehr vom Stand abhängt, sondern nur noch dadurch man von Schottland bis Polen "Patriot". Das 19. Jahrhundert bekennt sich zum Nationalismus. Aber diese
beschränkt wird, daß man ein anderes, artifiziell knappes Gut, nämlich Geld, dafür weitergeben muß. Die neuen Formen, die die Gesellschaft noch einmal politikzentriert auffassen möchten, scheitern am Staat selbst,
Wissenschaft akzeptiert die Hypothetik aller Wahrheit und setzt damit ebenfalls das, was sozial anzuerkennen oder genauer: an der territorialen Segmentierung des politischen Systems einer Gesellschaft, die nun
ist, der möglichen Variation in der Zeit aus. In all diesen Fällen geht es darum, im Spannungsverhältnis von
Zeitdimension und Sozialdimension (in Hinsicht auf sozial wirksame Zeitbindungen also) mehr 1240
Siehe die Beobachtungen von Henry Adams in London zwischen 1860 und 1870 und, im Zusammenhang damit, die
kombinatorische Möglichkeiten freizugeben. Dieser Gewinn muß dann aber mit Konditionierungen bezahlt Annahme von Evolutionstheorie als Leitsemantik. So: The Education of Henry Adams: An Autobiography, Boston 1918, S.
werden, die nur noch in den einzelnen Funktionssystemen festgelegtwerden können: als prekärer, im Moment 194 ff., 284 ff.
erreichbarer politischer Konsens, als Marktpreis, als (im Prinzip änderbares) Rechtsgesetz, oder als 1241
"Integration" hier wie immer verstanden als wechselseitige Einschränkung der Freiheitsgrade von Systemen — und
Schulbuch, das dem Unterricht zu Grunde gelegt wird. Der evolutionäre "Attraktor", der dies durchsetzt, ist nicht etwa als Konsens.
die höhere Komplexität. In diesem Spielraum verflüssigen sich die zeitlichen und sozialen Bindungen der alten 1242
Welt, und das, was als Rangordnung einst überzeugt hatte, erscheint nun als unnütze Rigidität. Die Zumutung Siehe: The Meaning of Cybernetics in the Behavioural Sciences (The Cybernetics of Behaviour and Cognition:
Extending the Meaning of "Goal"), in: John Rose (Hrsg.), Progress in Cybernetics, London 1970, S. 15-44 (32). Fast
von Rationalität nimmt jetzt den Namen "Aufklärung" an. Sie versucht, das Individuum durch eigene Einsicht
gleichsinnig könnte man auch formulieren: "redundancy of potential demand".
1243
Vgl. speziell zu Deutschland und die hier deutliche Aufgeschlossenheit für lokalen ebenso wie weltbürgerlichen
1238 Patriotismus Peter Fuchs, Vaterland, Patriotismus und Moral — Zur Semantik gesellschaftlicher Einheit, Zeitschrift für
Vgl. dazu eingehend Anna Maria Battista, Morale "privée" et utilitarisme politique en France au XVII siècle, in:
Soziologie 20 (1991), S. 89-103; ferner auch Bernhard Giesen / Kay Junge, Vom Patriotismus zum Nationalismus: Zur
Roman Schnur (Hrsg.), Staatsräson: Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, Berlin 1975, S. 87-119.
Evolution der "Deutschen Kulturnation", in: Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit,
1239
Sir Thomas Browne, Religio Medici (1643), zit. nach der Ausgabe der Everyman's Library, London 1965, S. 6. Frankfurt 1991, S. 255-303.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 337 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 338

irreversibel Weltgesellschaft geworden ist. Die Repräsentation der Einheit in der Einheit war Reflexion, der Autonomie. Die Gesellschaft im übrigen kommt dann nur noch als Umwelt des
differenzierungsformabhängig gewesen. Sie mußte aufgegeben werden. Aber was statt dessen gelten soll, war Funktionssystems in Betracht und nicht als spezifische Unter- oder Überlegenheit. Das heißt jedoch nicht, daß
nicht so leicht zu erkennen. die Abhängigkeiten der Teilsysteme voneinander abnehmen. Im Gegenteil: sie nehmen zu. Aber sie nehmen die
Form der Differenz von System und Umwelt an, lassen sich nicht mehr spezifisch normieren, lassen sich nicht
mehr gesamtgesellschaftlich legitimieren als Bedingung von Ordnung überhaupt, sondern bestehen jetzt in
einer allgemeinen und hochdifferenzierten Abhängigkeit von ständig wechselnden innergesellschaftlichen
VIII. Funktional differenzierte Gesellschaft Umweltbedingungen.
Funktionale Differenzierung besagt, daß der Gesichtspunkt der Einheit, unter dem eine Differenz von
Wir definieren den Begriff der modernen Gesellschaft durch ihre Differenzierungsform und lösen den System und Umwelt ausdifferenziert ist, die Funktion ist, die das ausdifferenzierte System (also nicht: dessen
Begriff damit ab von den Beschreibungen, die in der modernen Gesellschaft zur Erfassung ihrer Umwelt) für das Gesamtsystem erfüllt. Die Kompliziertheit dieser systemtheoretischen Definition macht
eigentümlichen Besonderheit bisher angeboten sind. Die Behandlung dieser Selbstbeschreibungen verschieben zugleich die Unwahrscheinlichkeit, die in der Sache selbst liegt, sichtbar und erspart uns, wenn beachtet,
wir auf das nächste Kapitel. Im Moment ist nur festzuhalten, daß wir die moderne Gesellschaft als funktional unnötige Kontroversen. Die Funktion liegt im Bezug auf ein Problem der Gesellschaft, nicht im Selbstbezug
differenzierte Gesellschaft begreifen und daß die jetzt folgenden Ausführungen über funktionale oder der Selbsterhaltung des Funktionssystems. Sie wird, obwohl sie zur Ausdifferenzierung einer besonderen
Differenzierung diesen Begriff mit Inhalt füllen sollen. System/Umwelt-Beziehung in der Gesellschaft führt, nur im Funktionssystem und nicht in dessen Umwelt
Immer gibt es Zusammenhänge zwischen der Ausdifferenzierung und der internen Differenzierung eines erfüllt. Das heißt auch, daß das Funktionssystem seine Funktion für sich selbst monopolisiert und mit einer
Systems, denn die interne Differenzierung wählt Formen, für die es in der Umwelt keine Entsprechung gibt. Umwelt rechnet, die in dieser Hinsicht unzuständig oder inkompetent ist. Durch funktionale Differenzierung
Funktionale Differenzierung ist die radikalste Form, in der diese Regel sich auswirkt, da in der Umwelt wird, mit anderen Worten, die Differenz der verschiedenen Bezugsprobleme betont; aber diese Differenz sieht
natürlich keine Einteilungen vorkommen, die auf die Funktionen des Systems abgestimmt sind. Wenn die vom Standpunkt der einzelnen Funktionssysteme aus verschieden aus je nach dem, auf welche Differenz von
Gesellschaft von Stratifikation zu funktionaler Differenzierung übergeht, muß sie auch auf die Funktionssystem und gesellschaftsinterner Umwelt sie bezogen wird. Für die Wissenschaft ist ihre Umwelt
demographischen Korrelate ihres internen Differenzierungsmusters verzichten. Sie kann dann die Menschen, wissenschaftlich inkompetent, aber gerade nicht: politisch inkompetent, wirtschaftlich inkompetent usw.
die zur Kommunikation beitragen, nicht mehr auf ihre Teilsysteme aufteilen, wie es im Schema der Insofern hat jedes Funktionssystem es mit einer anders zusammengesetzten gesellschaftsinterner Umwelt zu
Stratifikation oder bei Zentrum/Peripherie-Differenzierungen noch möglich gewesen war. Man kann nicht tun, und dies genau deshalb, weil jedes Funktionssystem für eine je besondere Funktion ausdifferenziert ist.
Menschen den Funktionssystemen derart zuordnen, daß jeder von ihnen nur einem System angehört, also nur Als Form gesellschaftlicher Differenzierung betont funktionale Differenzierung mithin die Ungleichheit
am Recht, aber nicht an der Wirtschaft, nur an der Politik, aber nicht am Erziehungssystem teilnimmt. Das der Funktionssysteme. Aber in dieser Ungleichheit sind sie gleich. Das heißt: das Gesamtsystem verzichtet auf
führt letztlich zu der Konsequenz, daß man nicht mehr behaupten kann, die Gesellschaft bestehe aus jede Vorgabe einer Ordnung (zum Beispiel: Rangordnung) der Beziehung zwischen den Funktionssystemen.
Menschen; denn die Menschen lassen sich offensichtlich in keinem Teilsystem der Gesellschaft, also Die Metapher des "Gleichgewichts" ist ebenfalls unbrauchbar und würde nur darüber hinwegtäuschen, daß
1244
nirgendwo in der Gesellschaft mehr unterbringen. Gerade deshalb betont die parallelgeführte Semantik die die Gesellschaft die Beziehungen zwischen ihren Teilsystemen nicht mehr regulieren kann, sondern sie der
(natürliche!) Eigenständigkeit des Individuums als eines Trägers von Rechten und als Bezugspunkt Evolution, also der Geschichte überlassen muß. Daß das Konsequenzen hat für das Verständnis von Zeit und
selbstreferentieller, rationaler Kalkulation. Die Konsequenz ist, daß die Menschen dann als Umwelt des Geschichte und vor allem für die Dramatisierung des Verhältnisses von Vergangenheit und Zukunft, liegt auf
Gesellschaftssystems begriffen werden müssen (wie wir es von Anfang an getan haben) und daß auch das der Hand.
1245
letzte Band, das ein "matching" von System und Umwelt zu garantieren schien , gerissen ist. Die ältere soziologische Theorie hatte Funktionen als Bestandsvoraussetzungen des Gesellschaftssystems
1247
Funktionale Differenzierung beruht auf einer operativen Schließung der Funktionssysteme unter definiert. Was damit gemeint war, ist unklar geblieben. Das würde sich nicht entscheidend ändern, wenn
Einschluß von Selbstreferenz. Das hat zur Folge, daß die Funktionssysteme sich selbst in den Zustand man den Begriff "Bestand" durch den Begriff "Autopoiesis" ersetzte. Funktionen können nur im Hinblick auf
1246
selbsterzeugter Unbestimmtheit versetzen. Das kann in der Form systemspezifischer Medien wie Geld und ein strukturdeterminiertes System bestimmt werden, und die Strukturen des Gesellschaftssystems sind im
Macht zum Ausdruck kommen, die auf die eine oder andere Weise Formen annehmen können. Es zeigt sich Rahmen dessen, was die Autopoiesis des Systems erlaubt, historisch variabel. Das schließt auch die
auch als Abhängigkeit der Gegenwart von einer noch unbekannten Zukunft. Die Systemkomplexität hat theoretische Deduktion eines Funktionenkatalogs aus Begriffen wie Handlung (Parsons), soziales System oder
infolgedessen immer zwei Seiten, eine schon bestimmte und eine noch unbestimmte. Das gibt den Operationen Gesellschaft aus. Man kann nur induktiv vorgehen und mit einer Art Gedankenexperiment testen, wie das
des Systems die Funktion der Bestimmung des noch Unbestimmten und zugleich der Regenerierung von Gesellschaftssystem seine Strukturen zur Aufrechterhaltung seiner Autopoiesis ändern müßte, wenn
Unbestimmtheit. bestimmte Funktionen nicht mehr erfüllt würden, — etwa Zukunftssicherung im Hinblick auf knappe Güter
Mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung verzichtet die Gesellschaft darauf, den Teilsystemen oder rechtliche Absicherung von Erwartungen oder kollektiv bindendes Entscheiden oder eine über
ein gemeinsames Differenzschema zu oktroyieren. Während im Falle der Stratifikation jedes Teilsystems sich selbstläufige Sozialisation hinausgehende Erziehung. Wir werden deshalb nicht von Bestandsvoraussetzungen
selbst durch eine Rangdifferenz zu anderen bestimmen mußte und nur so zu einer eigenen Identität gelangen sprechen, sondern von Bezugsproblemen, die auf die eine oder andere Weise behandelt werden müssen, soll
konnte, bestimmt im Falle funktionaler Differenzierung jedes Funktionssystem die eigene Identität selbst — die Gesellschaft ein bestimmtes Evolutionsniveau halten und auch andere Funktionen erfüllen können.
und dies, wie wir noch sehen werden, durchweg über eine elaborierte Semantik der Selbstsinngebung, der Die Ausdifferenzierung jeweils eines Teilsystems für jeweils eine Funktion bedeutet, daß diese Funktion
für dieses (und nur für dieses) System Priorität genießt und allen anderen Funktionen vorgeordnet wird. Nur in
diesem Sinne kann man von einem funktionalen Primat sprechen. So ist zum Beispiel für das politische
1244
Daß man dies nur schweren Herzens akzeptieren konnte, ist bekannt. Die Unterscheidung Gesellschaft/Gemeinschaft System der politische Erfolg (wie immer operationalisiert) wichtiger als alles andere und eine erfolgreiche
hatte zum Beispiel den Sinn, gleichwohl noch Menschen einen sozialen Ort anzuweisen — wenn nicht in der Gesellschaft, Wirtschaft ist hier nur als Bedingung politischer Erfolge wichtig. Das heißt zugleich: auf der Ebene des
dann eben in der Gemeinschaft. umfassenden Systems der Gesellschaft kann keine allgemeingültige, für alle Teilsysteme verbindliche
1245
"schien" deshalb, weil die Gesellschaft ja immer schon nur aus Kommunikationen bestanden hatten und sich nur in Rangordnung der Funktionen eingerichtet werden. Keine Rangordnung heißt auch: keine Stratifikation.
ihrer Selbstbeschreibung darüber täuschen konnte, ja täuschen mußte, weil die älteren Differenzierungsformen darauf
angewiesen waren, den Menschen feste Plätze "in" der Gesellschaft zuzuweisen. 1247
Siehe als programmatischen Beitrag D.F. Aberle / A.K. Davis / M.J. Levy / F.X. Sutton, The Functional Prerequisites
1246
Es sind, um mit Heinz von Foerster zu formulieren, nichttriviale Maschinen. Siehe: Wissen und Gewissen: Versuch of a Society, Ethics 60 (1950), S. 100-111. Ferner Talcott Parsons, The Social System, Glencoe Ill. 1951, S. 26 ff. und
einer Brücke, Frankfurt 1993, S. 247 ff. ausführlich Marion J. Levy, The Structure of Society, Princeton 1952.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 339 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 340

Vielmehr ergeht an alle Funktionssysteme der Auftrag, sich selbst im Verhältnis zu den anderen zu Unterbrechen der eigenen Zirkularität zu wachsen und in Reaktion auf Vorkommnisse immer neue
überschätzen, dabei aber auf eine gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit der Selbstbewertung zu verzichten. Konditionierungen einzuführen, mit deren Hilfe man entscheiden kann, ob etwas als positiv oder als negativ zu
Auf der Grundlage ihres Funktionsprimats erreichen die Funktionssysteme eine operative Schließung bezeichnen ist.
und bilden damit autopoietische Systeme im autopoietischen System der Gesellschaft. Dies scheint zunächst Codes sind aber nicht Abbilder einer Wertwirklichkeit, sondern einfache Duplikationsregeln. Sie stellen
dem Begriff der Autopoiesis zu widersprechen, und selbstverständlich bedeutet es nicht, daß die für alles, was in ihrem Anwendungsbereich (den sie selbst definieren) als Information (die sie selbst
Funktionssysteme nicht kommunizieren, nicht mit Sprache und vielem anderen auf Gesellschaft angewiesen konstituieren) vorkommt, ein Negativkorrelat zur Verfügung. Also etwa: wahr/unwahr; geliebt/nicht geliebt;
sind. Ungeachtet dessen kann aber eine rekursive Schließung und eine Reproduktion eigener Operationen Eigentum haben/nicht haben; Prüfungen bestehen/nicht bestehen; Amtsmacht ausüben/ihr unterworfen sein
durch das Netzwerk eigener Operationen dadurch erreicht werden, daß die Funktion zum unverwechselbaren usw. Daraufhin erscheint alles, was mit der Form des Codes erfaßt wird, als kontingent - als auch anders
Bezugspunkt der Selbstreferenz gemacht wird und daß das System einen binären Code benutzt, der nur in möglich. In der Praxis entsteht damit ein Bedarf für Entscheidungsregeln, die festlegen, unter welchen
diesem und in keinem anderen System benutzt wird. Unter diesen Voraussetzungen ist es möglich, die Bedingungen der Wert bzw. der Gegenwert richtig bzw. falsch zugeordnet ist. Wir nennen solche Regeln
systemzugehörigen Operationen mit praktisch ausreichender Eindeutigkeit zu unterscheiden und die eigene Programme. Die Unterscheidung von Codes und Programmen strukturiert, können wir jetzt sagen, die
Autopoiesis damit nach außen hin abzugrenzen. Wie beim Kommunikationsbegriff auch können Zweifel Autopoiesis der Funktionssysteme in einer unverwechselbaren Weise, und die daraus resultierende Semantik
auftauchen — etwa der, ob eine Kommunikation politisch gemeint ist, ob sie eine Rechtsfrage aufwerfen, ob unterscheidet sich grundlegend von den Teleologien, Perfektionsvorstellungen, Idealen oder Wertbeziehungen
sie eine wirtschaftliche Transaktion vorbereiten will. Aber im Normalfall reicht dann das systemeigene der Tradition. Man sieht dies nicht zuletzt an der logischen Struktur. Denn jeder Code realisiert zugleich einen
Netzwerk aus, um solche Fragen zu klären. Man greift rekursiv auf frühere Kommunikationen zurück oder Rejektionswert im Bezug auf alle anderen. Das heißt gerade nicht, daß der Wert anderer Werte bestritten wird
auf Anschlußkommunikationen vor. und es zu Wertkonflikten im Sinne Max Webers kommen muß. Nur die andere Form, nur die andere
Die Funktionsorientierung allein reicht dafür nicht aus. Während Funktionssysteme sich über ihre Unterscheidung wird rejiziert; oder um Gotthard Günther zu zitieren, dem diese Ausführungen viel verdanken:
1250
Funktion in der Gesellschaft etablieren und mit der Beschreibung ihrer Funktion auf die Gesellschaft "The very choice is rejected". Sachverhalte dieses Typs sind, und das erschwert den Durchblick, mit einer
1248
verweisen, benötigen sie eine weitere Einrichtung, einen binären Code , um ihre eigene Autopoiesis zu nur zweiwertigen Logik nicht zu erfassen. Man benötigt Beobachtungsinstrumente mit größerem logischen
formieren. Beide Begriffe, Funktion und Codierung, bezeichnen ein Kontingenzschema, dies aber in sehr Strukturreichtum. Und erst das läßt große Teile der alt- und neueuropäischen Semantik als obsolet erscheinen.
verschiedener Weise. Während eine Funktion den Vergleich mit funktionalen Äquivalenten ermöglicht, regelt Dieser Begriff der Rejektion erlaubt es auch, das Verhältnis der binären Codes zur Moral (und damit:
die Codierung das Oszillieren zwischen positivem und negativem Wert, also die Kontingenz der Bewertungen, das Verhältnis der Funktionssysteme zur Moral) zu klären. Auch die Form der Moral muß rejiziert werden
an denen das System seine eigenen Operationen orientiert. Während mit der Funktionsorientierung das System können. Und wieder heißt dies nicht, daß es auf Moral in der Gesellschaft nicht mehr ankommen soll, sondern
1251
die Überlegenheit seiner eigenen Optionen verteidigt (Zukunftsvorsorge über Geld und nicht über nur: daß die Codes der Funktionssysteme auf einer Ebene höherer Amoralität fixiert werden müssen. Es
Gottvertrauen; Ausbildung über Schulen und nicht über Sozialisation), reflektiert es über den negativen Wert darf nicht moralisch besser sein, zu regieren statt in der Opposition zu stehen. Es darf nicht moralisch besser
seines Code die Kriterienbedürftigkeit aller eigenen Operationen. Es muß also zur Spezifikation der Funktion sein, eine wahre Theorie statt einer falschen zu vertreten. Und auch das Recht muß Wert darauf legen, daß die
eine Codierung hinzukommen, deren Funktion genau darin besteht, den Fortgang der Autopoiesis zu sichern Feststellung von Unrecht nicht zu einer moralischen Disqualifizierung führt. Erst wenn dies akzeptiert ist,
und zu verhindern, daß das System sich im Erreichen eines Zieles (Endes, télos) festläuft und dann aufhört zu sieht man die Einsatzpunkte von Moral auch in binär codierten Systemen, vor allem dort, wo die binäre
operieren. Funktionssysteme sind niemals teleologische Systeme. Sie beziehen jede Operation auf eine Codierung selbst unterlaufen wird — etwa durch doping beim Sport, durch Bedrohung der Richter, durch
Unterscheidung zweier Werte — eben den binären Code — und stellen damit sicher, daß immer eine Fälschung der Daten in der empirischen Forschung. Im übrigen dringt Moral auch unkontrolliert ein. Die
Anschlußkommunikation möglich ist, die zum Gegenwert übergehen kann. Was als Recht festgestellt ist, kann moralische Entgleisung eines Regierungspolitikers ist ein politischer Glücksfall für die Opposition, und
in der weiteren Kommunikation dazu dienen, die Frage Recht oder Unrecht erneut aufzuwerfen, zum Beispiel ethische Bedenken können zwar nicht Wahrheit in Unwahrheit transformieren, aber Forschungsfinanzierungen
eine Rechtsänderung zu verlangen. Was wahr zu sein schien, mag bei neuen Daten oder neuen Theorien behindern.
revisionsbedürftig werden. Was der politischen Opposition zu nützen schien, mag, wenn dies allzu An Hand ihrer Codes vollziehen die Funktionssysteme ihre eigene Autopoiesis, und damit erst kommt
1252
durchsichtig wird, schon deshalb ein Argument für die Regierung werden. Nicht die Orientierung an der ihre Ausdifferenzierung zustande. Wie jeder Beobachter leicht feststellen kann, ist die Autopoiesis in einem
eigenen Einheit, sondern erst die Orientierung an der eigenen Differenz sichert, daß im Zeitlauf eigene
Operationen an eigene Operationen angeschlossen werden können. Und das liegt daran, daß Operationen als
von positiven und negativen Werten in eine eigentümlich ambivalente Form: Die begehrte Seite des Code wird der
Selektionen durchgeführt werden müssen. abzulehnenden entgegengesetzt und zugleich zur Bezeichnung der Differenz selbst verwendet.
Binäre Codes sind im strikten Sinne Formen, das heißt: Zwei-Seiten-Formen, die den Übergang von der 1250
Vgl. Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations, in: Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer
einen zur anderen Seite, vom Wert zum Gegenwert und zurück, erleichtern dadurch, daß sie sich als Formen
operationsfähigen Dialektik Bd. 1, Hamburg 1976, S. 249-328 (insb. S. 286 f.).
von anderen Formen unterscheiden. Sie sind nicht "point attractors" sondern "cyclical attractors". Sie bringen
1251
den positiven und den negativen Wert in ein symmetrisches, zirkuläres Verhältnis, das die Einheit des Systems Mit dem Begriff der "höheren Amoralität" wollen wir uns von einem nahen Verwandten unterscheiden, von Hegels
1249 Begriff der "Sittlichkeit". Wir folgen also nicht dem doch eigentümlich modernen (weil differenztheoretisch angesetzten)
symbolisiert und zugleich öffnet für eine Unterbrechung des Zirkels. Das ermöglicht es dem System, am
Duktus der Hegelschen Theorie. Diese geht von einer Unterscheidung aus (in diesem Falle: Trieb und moralische Pflicht,
begriffen nach dem Muster heiß/kalt), um das bloße Entgegensetzen dieser beiden Seiten als Anstrengung des Begriffs für
unzureichend anzusehen und die "Aufhebung" dieses Gegensatzes (und damit der Moral) in einer höheren, beide Seiten
1248
Wir erinnern an die Ausführungen über die Codierung der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Die berücksichtigenden Einheit zu fordern und dies begrifflich einzulösen. Das Resultat wird mit der Unterscheidung von
Wiederaufnahme dieses Themas im systemtheoretischen Zusammenhang soll auch zeigen, daß und weshalb symbolisch Moral und Sittlichkeit formuliert. Der Begriff der "höheren Amoralität" verzichtet auf die Apotheose einer solchen Einheit.
generalisierte Medien in besonderer Weise zur Ausdifferenzierung von Funktionssystemen beitragen können. Aber es gibt Er besagt, an funktional äquivalenter Theoriestelle, nur, daß auch die Unterscheidung der Moral als Unterscheidung im
auch andere Formen der Codierung von Systemen, die nicht zugleich Medien codieren, etwa den Selektionscode des Interesse anderer Unterscheidungen zurückgewiesen werden kann, und daß dies im Aufbau des Systems der modernen
Erziehungssystems. Speziell hierzu Niklas Luhmann, Codierung und Programmierung: Bildung und Selektion im Gesellschaft an nicht-beliebigen Stellen geschieht. An die Stelle des Begriffs der "Aufhebung" setzen wir, um größeren
Erziehungssystem, in ders., Soziologische Aufklärung Bd. 4 Opladen 1987, S. 182-201. logischen Strukturreichtum zu gewinnen, Gotthard Günthers Begriff der Rejektion.
1249 1252
In der Selbstbeschreibung des Funktionssystems wird diese Symbolisierung aus kommunikationspraktischen Gründen Ob man im Falle von Funktionssystemen, die doch Teilsysteme des Gesellschaftssystems sind, überhaupt von
vereinfacht. Hier gilt dann nur der positive Wert des Codes, nur das Recht, nur die Wahrheit, nur die Liebe usw. als der autopoietischer Autonomie sprechen kann, wird kontrovers diskutiert. Siehe dazu mit Ausarbeitungsvorschlägen Gunther
eigentliche Sinn des Systems, und der negative Wert wird dann als Ausdruck eines Mißgeschicks mitgeführt. Das Teubner, "L'ouvert s'appuye sur le fermé": Offene Fragen zur Offenheit geschlossener Systeme, Journal für Sozialforschung
erleichtert eine teleologische, zielgerichtete Darstellung der Operationen des Systems und bringt die Paradoxie der Einheit 31 (1991), S. 287-291.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 341 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 342

kausalen Sinne (und nur ein Beobachter sieht Kausalität!) abhängig und unabhängig von der Systemumwelt: Die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz steht "orthogonal" zum binären Code. Das
abhängig, wenn man eine alte Formel der Kybernetik nochmals brauchen darf, in Hinsicht auf Energie und heißt: beide Referenzen können mit beiden Werten des Code belegt werden. Oder anders gesagt: Es gibt
unabhängig in Hinsicht auf Information. Die Autopoiesis besteht in der Reproduktion (=Produktion aus keinen besonderen Zusammenhang zwischen dem positiven Codewert und der Fremdreferenz. Die Einheit der
Produkten) der elementaren Operationen des Systems, also zum Beispiel von Zahlungen, von Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz kann nur in einem "imaginären Raum" gedacht
1256
Rechtsbehauptungen, von Kommunikation über Lernleistungen, von kollektiv bindenden Entscheidungen usw. werden ; das heißt: im System, das diese Unterscheidung verwendet, ist deren Einheit nicht operationsfähig.
Die distinkte Qualität solcher Elementaroperationen, ihre Unverwechselbarkeit im Verhältnis zu den Aber sie kann trotzdem als Seite einer weiteren Unterscheidung fungieren, nämlich als Komponente der
Elementen anderer Systeme, liegt darin begründet, daß sie im Kontingenzbereich eines spezifischen Codes Unterscheidung von Referenz und Code.
konstituiert sind (und nicht etwa darin, daß sie dessen positiven Wert bezeichnen). Sie sind stets formbezogen Diese Einsicht erfordert tiefgreifende Umstellungen in den traditionellen Semantiken und hat weit
produziert. Auch Unrecht ist durch das Rechtssystem, auch Unwahrheit ist durch das Wissenschaftssystem verästelte Auswirkungen auf die Selbstbeschreibung der Funktionssysteme und damit der modernen
determiniert, und der Code schließt nur dritte Möglichkeiten aus. Durch alle Operationen des Systems wird Gesellschaft. Wahrheit zum Beispiel ist nicht als Kriterium für die Ordnung von Fremdreferenzen des
der binäre Code (mitsamt dem Ausschluß dritter Werte) laufend reproduziert, und mit den dadurch immer neu Erkennens zu verstehen (adaequatio, Korrespondenztheorie), sondern bezieht sich auf die Unterscheidung von
möglichen eigenen Operationen erfüllt das System seine Funktion. Selbstreferenz und Fremdreferenz (Konstruktivismus). Man muß damit auf jeden definitorischen
1257
Wenn und soweit funktionale Differenzierung realisiert ist, kann mithin kein Funktionssystem die Zusammenhang von Wahrheit, Sinn und (Fremd)-Referenz verzichten. Das Recht kann nicht länger als
Funktion eines anderen übernehmen. Funktionssysteme sind selbstsubstitutive Ordnungen. Dabei setzt jedes Mittel des Interessenschutzes (=Fremdreferenz) begriffen werden, denn es gibt rechtmäßige und
voraus, daß die anderen Funktionen anderswo erfüllt werden. Insofern gibt es auch keine Möglichkeiten einer unrechtmäßige Interessen, und andererseits rechtskonforme und rechtswidrige Begriffsanwendungen
wechselseitigen Steuerung, weil dies bis zu einem gewissen Grade Funktionsübernahme implizieren würde. (=Selbstreferenz). Und wie in der Wissenschaftstheorie damit die Unterscheidung von analytischer und
Was Schiller für das Verhältnis von Politik und Kunst bzw. Wissenschaft feststellt, gilt prototypisch für alle synthetischer Wahrheit ihre alte, auf Kant zurückführbare Bedeutung verliert, so in der Rechtstheorie die
1258
Intersystembeziehungen: "Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herrschen kann er Unterscheidung von Begriffsjurisprudenz und Interessenjurisprudenz. An die Stelle tritt ein sehr viel
1253
nicht." Im Verhältnis der Funktionssysteme zueinander kann es Destruktion geben je nach dem, wie sehr abstrakter angelegtes Unterscheiden von Unterscheidungen. Im Wirtschaftssystem treten entsprechende
sie aufeinander angewiesen sind, nicht aber Instruktion. Probleme am heute zentralen Begriff der Transaktion zutage. Der Begriff formuliert die Einheit von
Die operative Geschlossenheit der Funktionssysteme schließt im übrigen keineswegs aus, daß bestimmte Selbstreferenz (Zahlungen) und Fremdreferenz (Sachleistungen, Dienstleistungen, Bedürfnisbefriedigungen)
Ereignisse in mehreren Systemen zugleich als Operationen identifiziert werden und ein Beobachter sie dann des Wirtschaftssystems; und es liegt auf der Hand, daß dabei der Eigentumscode Haben/Nichthaben auf
als Einheit sehen kann. So dienen Geldzahlungen normalerweise der Erfüllung einer Rechtspflicht und ändern beiden Seiten der Transaktion jeweils zweimal, in Bezug auf Zahlungen und in Bezug auf Sachleistungen
1254 1259
jedenfalls die Rechtslage im Hinblick auf Eigentum. Ereignisse, die in mehreren Systemen zugleich vorausgesetzt sein muß.
vollzogen werden, bleiben aber an die rekursiven Netzwerke der verschiedenen Systeme gebunden, werden Diese Beispiele aus Wissenschaft, Recht und Wirtschaft zeigen, wie sehr die aktuelle Diskussion bereits
durch sie identifiziert und haben deshalb eine ganz verschiedene Vorgeschichte und eine ganz verschiedene mit der angezeigten Problemlage beschäftigt ist; sie zeigen zugleich, daß die Diskussionen in unterschiedlichen
Zukunft je nach dem, welches System die Operation als Einheit vollzieht. Woher das Geld kommt, und was akademischen Disziplinen getrennt ablaufen und daß weder die Einheit der zugrundeliegenden
der Empfänger mit ihm weiterhin anfängt, hat mit der rechtlichen Seite der Transaktion nicht das Geringste zu Problemstellung erkannt noch der notwendige Abstraktionsgrad erreicht wird. Und damit fehlt auch die
tun. Nur die Rekursivität des Operationszusammenhanges der Einzelsysteme identifiziert die Operation als Einsicht, daß diese in Verschiedenheit und Ähnlichkeit auffälligen Probleme als Strukturprobleme eines
1260
Systemelement. funktional differenzierten Gesellschaftssystems anfallen.
Wie bei allen autopoietischen Systemen so ziehen auch hier die Operationen die Grenzen des Systems. Die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft erzeugen und reduzieren mit Hilfe der Unterscheidung
Indem sie geschehen, legen sie fest, was zum System, und damit, was zur Umwelt gehört. Da sie dies aber nur dieser Unterscheidungen, nämlich Selbstreferenz/Fremdreferenz und Positivwert/Negativwert des Code, eine
im rekursiven Netzwerk früherer und möglicher späterer Operationen desselben Systems tun können, müssen nur für sie, nur für das betreffende System relevante Komplexität. Sie erkennen mit Hilfe der Unterscheidung
sie zugleich das System an Hand der Differenz von System und Umwelt beobachten. Sie legen sich selbst fest von Referenzen auf der Seite Selbstreferenz das Determiniertsein durch die Strukturen und Operationen des
— und das geschieht rein faktisch, und geschieht nur, wenn es geschieht, und geschieht nur so, wie es eigenen Systems. Das System ist und bleibt immer autopoietisch. Aber es expandiert und schrumpft je nach
geschieht —, benötigen dafür aber für die Beobachtung dieser Festlegung die Unterscheidung von dem Umfang der Operationen, die es auf diese Weise — nicht erkennt, sondern faktisch vollzieht.
Selbstreferenz und Fremdreferenz.
Daher sind auch Weltbeschreibungen immer Ausformulierungen der Fremdreferenz spezifischer 1256
Systeme und folglich abhängig davon, wie über Selbstreferenz disponiert wird. Die Weltbeschreibung des So im Anschluß an die Schizophrenieforschung und am Beispiel der undenkbaren Einheit von Karte und Territorium
(Borges) Jacques Miermont, Les conditions formelles de l'état autonome, Revue internationale de systémique 3 (1989), S.
Wissenschaftssystems zum Beispiel benutzt das Schema von (begrifflich bezeichenbaren) Elementen und 95-314.
1255
Beziehungen zwischen diesen Elementen , in der Soziologie zum Beispiel Handlungen und statistisch 1257
aufbereiteten Relationen. Was in diesem Schema erfaßt werden kann, gilt der Wissenschaft als Realität (so Fragen dieser Art sind vor allem im Anschluß an Quine diskutiert worden — aber in der "Philosophie" und ohne jeden
Zusammenhang mit Gesellschaftstheorie.
sehr dem von anderer Seite widersprochen wird), weil die Welt selbst unsichtbar bleibt und sich nicht wehren
1258
kann. Wir werden noch sehen, daß wir uns deshalb mit einer Mehrheit von gleichermaßen validen Hierzu Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt 1993, S. 384-400.
Weltbeschreibungen abfinden müssen. 1259
Trotz dieser komplexen Struktur scheint eine weitere Auflösung des Begriffs der Transaktion im Wirtschaftssystem
(anders im Rechtssystem!) nicht möglich zu sein. Dies spricht für die Auffassung, Transaktionen seien die Letztelemente
des Wirtschaftssystems, wie sie auch im Kontext einer Theorie selbstreferentieller, autopoietischer Systeme vertreten wird,
nämlich von Michael Hutter, Die Produktion von Recht: Eine selbstreferentielle Theorie der Wirtschaft, angewandt auf den
1253 Fall des Arzneimittelpatentrechts, Tübingen 1989, S. 131. Hutter rekonstruiert dann allerdings die Unterscheidungen, die
Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke Bd.
oben im Text hervorgehoben sind, als unterschiedliche Beobachtungsweisen — nämlich von innen (Zahlungen) und von
5, 4. Aufl. 1967, S. 593.
außen (Leistungstransfers).
1254
Diese operative Kopplung ist dadurch bedingt, daß die Institutionen Eigentum und Vertrag der strukturellen Kopplung 1260
Gelegentlich trifft man immerhin auf die Einsicht, daß es sich bei Festlegungen in diesem kombinatorischen Spielraum
des Rechtssystems und des Wirtschaftssystems dienen und deshalb für regelmäßige wechselseitige Irritation sorgen. Zur
der Unterscheidungen um soziale Operationen handelt, also um Kommunikationen. "....reference fixing is a social fact, as
Begrifflichkeit vgl. oben Kap. 1.....; ferner in diesem Kapitel unter .....
in the case of a contract or a promise", liest man zum Beispiel bei Steve Fuller, Social Epistemology, Bloomington Ind.
1255
Vgl. Alfred North Whitehead, Science and the Modern World, New York 1925. 1988, S. 81.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 343 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 344

In diesem Sinne ist Autopoiesis ein Entweder/Oder-Prinzip der Systembildung. Es gibt entsprechende einzugliedernden Nachwuchses; an der puren Dauer und Unprognostizierbarkeit von Gerichtsverfahren, die
Systeme oder es gibt sie nicht — für Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft usw. Aber die soziologisch außergerichtliche Verständigungen oder Umgehungsverfahren sinnvoll erscheinen lassen; an Variationen des
interessantere Frage ist: wieviel Expansion nach innen die Gesellschaft damit erzeugt, wieviel Niveaus eingehender Steuerzahlungen; an politischen Opportunismen der Wissenschaftsförderung und ihrer
Monetarisierung, Verrechtlichung, Verwissenschaftlichung, Politisierung sie erzeugen und verkraften kann; mit Forschungsdauer schwer koordinierbaren Zeitlimitation; an den familial und pharmazeutisch bedingten
und wieviel davon gleichzeitig (statt z.B. nur Monetarisierung); und andererseits: was die Auswirkungen sein demographischen Schwankungen; mit anderen Worten: immer an Fakten, die als Indikatoren genutzt werden
würden, wenn die Funktionssysteme schrumpfen, wenn es zu Demonetarisierungen, Deregulationen etc. können, also immer zu spät, als daß man noch auf Ursachen einwirken oder (was ohnehin nur auf der Ebene
kommt. von Organisationen möglich wäre) verhandeln könnte. Alles in allem bieten die Leistungsverhältnisse
Für die Fortsetzung der Autopoiesis genügt die einfache Unterscheidung von Selbstreferenz und zwischen Systemen in der modernen Gesellschaft ein sehr unübersichtliches, nicht auf Prinzipien (etwa auf
Fremdreferenz. So wie ein Bewußtsein sich selbst nicht mit den Gegenständen verwechseln darf, so kann das Tauschprinzipien) zurückzuführendes Bild. Und obwohl dies der Mechanismus ist, über den die Dynamik der
1265
Recht nicht als autopoietisches System operieren, wenn es Rechtspflichten ständig mit bloßen Wünschen oder gesellschaftlichen Integration geleitet wird , verzichtet die moderne Gesellschaft ganz offensichtlich darauf,
mit Bedingungen moralischer Achtung oder Mißachtung verwechselt. Eine andere Frage ist: welche in diesen Beziehungen ihre eigene Einheit etwa in der Form von Harmonie- oder Gerechtigkeitsideen zur
Möglichkeiten der Beobachtung von Systemen sich ergeben, wenn es zur Bildung von Teilsystemen kommt. Geltung zu bringen. Integration ist unter diesen Umständen nichts anderes als die Variation der
Aus rein logischen Gründen sind drei Möglichkeiten gegeben, nämlich (1) die Beobachtung des Beschränkungen dessen, was gleichzeitig möglich ist.
Gesamtsystems, dem das Teilsystem angehört, (2) die Beobachtung anderer Teilsysteme in der Wir müssen an dieser Stelle auf die Erörterung weiterer Details verzichten; sie gehören in die Theorien,
gesellschaftsinternen (oder auch: anderer Systeme in der externen) Umwelt, und (3) die Beobachtung des die für die einzelnen Funktionssysteme auszuarbeiten wären. Uns muß der Hinweis genügen, daß diese
Teilsystems durch sich selber (Selbstbeobachtung). Um diese verschiedenen Systemreferenzen unterscheiden Unterscheidung von Systemreferenzen sich aus der Systemdifferenzierung selbst ergibt und damit
zu können, wollen wir die Beobachtung des Gesamtsystems Funktion, die Beobachtung anderer Systeme aufgezwungen ist. Auch alteuropäische Semantiken kennen solche Arrangements — etwa das Verhältnis der
1261
Leistung und die Beobachtung des eigenen Systems Reflexion nennen. Seele zu Gott, zum anderen Menschen und zu sich selbst. Aber erst in der modernen, funktional
Diese Unterscheidungen haben eine erhebliche orientierungspraktische Bedeutung. Wenn man sie nicht differenzierten Gesellschaft gewinnt das Problem eine gesellschaftstheoretische Aktualität. Die alteuropäische
1266
auseinanderhält, kommt es zu semantischen Verwirrungen beträchtlichen Ausmaßes. So dient der Begriff Semantik hatte sich, wie wir noch eingehend zeigen werden , mit den Vereinfachungen des Schemas
1262
"Staat" der internen Selbstbeschreibung (Reflexion) des politischen Systems und sollte nicht verwechselt "Ganzes und Teil" begnügen können.
werden mit der gesellschaftlichen Funktion des Systems, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen. Wenn Wenn operative Schließung und autopoietische Reproduktion der Funktionssysteme gesichert sind, kann
1263
dies verwechselt wird, kommt es zu einer Hypertrophie des Staatsbewußtseins. Ähnliches passiert, wenn es in dem so markierten Bereich zu weiteren Systemdifferenzierungen kommen. Innerhalb der Gesellschaft ist
man mit Bezug auf das Wirtschaftsssystem nicht zwischen Leistungen und Funktion unterscheidet. Dann wird die Ausdifferenzierung weiterer Sozialsysteme zwar auf sehr verschiedene, spontane oder organisierte Weise
Wirtschaft beschrieben als Extraktion von Materialien aus der natürlichen Umwelt und als Befriedigung von möglich. Es gibt Wildwuchs der verschiedensten Art — wie in der Natur. Wenn aber eine Subsystembildung
Bedürfnissen, sei es der Menschen, sei es anderer Funktionssysteme der Gesellschaft. Das sind aber nur ihre als Differenzierung eines Funktionssystems erkennbar sein soll, setzt dies dessen operative Schließung voraus.
Leistungen, während die Funktion darin liegt, unter der Bedingung von Knappheit künftige Versorgung Immer wiederholt die weitere Differenzierung das Systembildungsschema, sie wiederholt das Einsetzen
sicherzustellen. Verwechselt man dies, wird der eigentümliche Zeitbezug der Wirtschaft unverständlich und und reproduzieren einer Differenz zwischen System und Umwelt. Dabei stehen im Prinzip wieder alle Formen
die geistvollste Hervorbringung der modernen Gesellschaft, eben die Geldwirtschaft, wird als "materialistisch" der Systemdifferenzierung zur Verfügung, sowohl Segmentierung als auch
beschrieben. Im Bereich der Wissenschaft unterscheidet man unglücklich zwischen anwendungsbezogener Zentrum/Peripherie-Differenzierung, Hierarchiebildung ebenso wie weitere funktionale Differenzierung. Im
Forschung und Grundlagenforschung; aber es geht letztlich um den Unterschied von Leistung und Funktion. einzelnen unterscheiden sich die Funktionssysteme erheblich, die Komplexitätssteigerung nach innen folgt
Verkennt man dies, wird das, was als "Grundlagenforschung" zugelassen wird, nur noch als Theoriearbeit keinem gemeinsamen Muster. Im allgemeinen scheint jedoch eine Art segmentäre Differenzierung
geduldet, und das System leidet dann unter der unverdaulichen Erfahrung, daß mit Grundlagenforschung mehr vorzuherrschen, die Momente einer funktionalen Differenzierung in sich aufnimmt. Das weltpolitische System
Reputation verdient wird und schlechtere Finanzierungschancen verbunden sind als mit anwendungsbezogener ist segmentär in Territorialstaaten differenziert, bringt dabei aber zugleich eine Art
1264
Forschung. Zentrum/Peripherie-Differenzierung zustande. Das Weltwirtschaftssystem kann man am besten als eine
Besondere Beachtung verdient der Leistungsbereich, gerade wenn man ihn von der Funktionserfüllung Differenzierung von Märkten begreifen, die als Umwelt für Organisationsbildungen (Unternehmen) dienen, die
unterscheidet. Denn hier liegen die Nachfolgeeinrichtungen für anspruchsvollere, hierarchische sich ihrerseits durch Blick auf ihren Markt als Konkurrenten wahrnehmen. Dabei entsteht keineswegs eine
Integrationskonzepte. Will man Leistungen auf der Input- oder auf der Outputseite von Systemen (und wir strikte Gleichheit der Segmente, man denke nur an die Sonderstellung der Finanzmärkte und der Banken, oder
sprechen immer von Funktionssystemen, nicht von Organisationen) beobachten, muß man mindestens zwei auch an die sehr unterschiedliche Empfindlichkeit von Arbeits-, Rohstoff- und Produktmärkten für
Systeme in Betracht ziehen, und zwar in der Varianz ihres wechselseitigen Aufeinanderangewiesenseins. Da Außeneinwirkungen. Auch das Wissenschaftssystem ist primär segmentär in Disziplinen gegliedert, die sich
man nicht unterstellen kann, daß Funktionssysteme einander verstehend beobachten, das heißt von innen ebenfalls nicht durch Gleichheit, sondern gerade durch Ungleichheit der Forschungsgegenstände auszeichnen,
heraus rekonstruieren können und da dies, wenn es möglich wäre, viel zu viel Zeit kosten würde, müssen die aber in bezug auf unterschiedliche Forschungsgegenstände die gleiche Funktion erfüllen. Innerhalb der
Funktionssysteme Leistungsabhängigkeiten und Leistungsbereitschaften intern an sich selbst beobachten und einzelnen Funktionssysteme scheint sich mithin das zu wiederholen, was wir auch für die Gesellschaft im
in der Form von Irritationen zur Kenntnis nehmen — etwa am Ausbildungsniveau des in die Wirtschaft ganzen ausmachen konnten: daß die eindeutige Festlegung auf den Primat einer bestimmten
Differenzierungsform eher die Ausnahme als die Regel ist und daß dies, wenn es gelingt, das System
evolutionären Änderungsschüben aussetzen kann, absehbar etwa für den Fall einer zu krassen
1261
Vorsorglich sei nochmals daran erinnert, daß der Begriff Beobachtung jede Praxis unterscheidenden Bezeichnens Zentrum/Peripherie-Differenzierung des Wirtschaftssystems.
abdeckt, also auch Handlungen einschließt. Die hier vorgeschlagene Kombination der Theorie autopoietischer sozialer Systeme mit dem Konzept
1262
Hierzu näher Niklas Luhmann, Staat und Politik: Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme, in ders., funktionaler Differenzierung liefert uns den Ausgangspunkt für eine Theorie der modernen Gesellschaft. In
Soziologische Aufklärung Bd. 4 Opladen 1987, S. 74-103.
1263
Oder im akademischen Bereich: zu der ganz unnötigen Unterscheidung von Staatslehre und politischer Soziologie, die
1265
dann noch den Zusatzeffekt hat, der Politikwissenschaft mittendrin eine eigene Aufgabe zu suggerieren. Dynamik hier im Unterschied zu der Statik, die sich in strukturellen Kopplungen zwischen den Funktionssystemen
1264 ausdrückt.
Für weitere Beispiele siehe Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt 1977, S. 54 ff.; Niklas Luhmann / Karl
1266
Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Neuausgabe Frankfurt 1988, S. 34 ff. Vgl. Kap. 5,.....
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 345 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 346

einer Kurzformel zusammengefaßt wollen wir sagen, daß mit einem Redundanzverzicht, nämlich einem Man denke nur an den Kreditmechanismus, den internationalen Geldüberhang und die
Verzicht auf Multifunktionalitäten, erhebliche Komplexitätsgewinne realisiert werden können — freilich mit Verschuldungskapazität der Wirtschaft, an die Vertragsfreiheit und die Gesetzgebungsmöglichkeiten des
einer Vielzahl von Folgeproblemen. Diese Beschreibung besetzt die Theoriestelle, die in der klassischen Rechtssystems oder auch an die Freiheit der Themenwahl innerhalb vorhandener Theorie- und
Soziologie die Lehre von der Arbeitsteilung eingenommen hatte. Methodenprogramme, der die Wissenschaft hohe Reagibilitäten verdankt. Eines der unbeweglichsten Systeme
Mit "Redundanzverzicht" ist ein Verzicht auf eine Mehrfachabsicherung der Funktionen, und zwar scheint, so erstaunlich das ist, wenn man an "Souveränität" und an klassische Staatstheorien denkt, das
1268
gerade der wichtigsten gesellschaftlichen Funktionen gemeint. Das Problem wird deutlich, wenn man an die politische System zu sein. Die Einzelheiten müßten genauer geklärt werden. Jedenfalls darf man vermuten,
oben (unter....) dargestellten Wachstums- und Schrumpfungsmöglichkeiten segmentärer Gesellschaften daß der Zusammenhang von Redundanzverzicht und Komplexitätsgewinn einige Systeme mehr begünstigt als
zurückdenkt oder auch an Personen für öffentliches ("politisches") Verhalten freistellenden Familienhaushalte andere und in diesem Sinne zu einer disbalancierten Evolution der Gesellschaft führen kann.
("Ökonomie") der stratifizierten Gesellschaft. Die Sicherheiten, die darin gelegen hatten, sind verschwunden. Die Komplexitätsgewinne liegen, formal gesehen, darin, daß die Gesellschaft über Ausdifferenzierung
Andererseits hat aber auch die Bedrohung durch die externe Umwelt abgenommen und ist durch die heute viel neuer System/Umwelt-Unterscheidungen in der Gesellschaft nach innen expandiert. Dadurch werden
diskutierte ökologische Selbstbedrohung der modernen Gesellschaft abgelöst worden. Auslöser für all dies ist innerhalb dessen, was operativ zur Autopoiesis von Kommunikation beiträgt, mehr und verschiedenartigere
der Zusammenhang von Redundanzverzicht und Komplexitätsgewinn. Die für die Gesellschaft wichtigsten Kommunikationen möglich, und zwar sowohl gleichzeitig als auch im Nacheinander. Das kann jedes
1267
Funktionen können auf dem erforderlichen Leistungsniveau nur noch in den dafür ausdifferenzierten Funktionssystem für sich erfahren. Wer seine Ehefrau wählt wie der Vicar of Wakefield "as she did her
Funktionssystemen erfüllt werden. Für Politik ist das politische System zuständig, aber wenn dieses System wedding-gown, not for a fine glossy surface, but such qualities as would wear well", braucht nur über wenige
Geld braucht, muß es monetär agieren, das heißt: wirtschaftliche Zahlungsvorgänge konditionieren. Es mag Qualitätsfragen kommunizieren. Wenn man sich vorher verlieben muß, wird, wie die Romantik lehrt, die
die politikspezifische Illusion haben, selbst Geld "machen" zu können. Aber dann nimmt die Wirtschaft dieses ganze Welt im Spiegel der Liebe zum Thema der Kommunikation. Der Markt der heutigen Gesellschaft kann
Geld nicht oder nur unter Abwertungsbedingungen an, und das Problem kehrt als "Inflation" in die Politik sehr viel mehr Informationen prozessieren als eine noch so große Agglomeration von staatlichen oder privaten
zurück. Umgekehrt gibt es kein politisches Handeln außerhalb der Politik, wie manch ein Professor erfahren Haushalten. Die Demokratie eines modernen politischen Systems kann sehr viel mehr Themen politisieren als
mußte, der sich auf dieses Terrain wagte. Dasselbe gilt, mutatis mutandis, für alle Funktionssysteme. Zugleich ein Fürstenhof traditionellen Zuschnitts. So wird die Gesamtgesellschaft komplexer, und dies nicht nur durch
stellen sich diese Systeme aber wechselseitig auf ein fein reguliertes Leistungsniveau ein, die Politik etwaauf eine Addition der Operationen der einzelnen Funktionssysteme, sondern als Beobachtungs- und
die Subtilitäten des vom zuständigen Gericht fortentwickelten Verfassungsrechts und mehr oder weniger alle Auswahlbereich für jedes Einzelsystem.
Funktionssysteme auf die gewohnten Finanzierungen. Das heißt: geringfügige Schwankungen in der Diesen strukturellen entsprechen semantische Komplexitätssteigerungen. In der Sachdimension gibt es
Leistungsfähigkeit oder Leistungsbereitschaft (etwa der politischen Bereitschaft zur Rechtsdurchsetzung) mehr Themen und mehr Tiefenschärfe in der Auflösung von Themen, Texten und Beiträgen. In der
können in anderen Systemen überproportionale Irritationen auslösen. Wenn für nur 10 % des akademisch Zeitdimension wird die Toleranz für Differenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft gesteigert. Das heißt:
ausgebildeten Nachwuchses in der Wirtschaft keine niveauentsprechenden Berufschancen gegeben sind, Es kann mehr geändert werden, und das Geschehen beschleunigt sich mit der Folge, daß es zwischen den
deprimiert das eine ganze Generation, lenkt die Ausbildungsströme, verändert die Personalzuteilungen und die Systemen zu Synchronisationsschwierigkeiten kommt und mehr und mehr Ereignisse für betroffene Systeme
Finanzmittel, und dies in jeweils anderen Systemen, das heißt: ohne gesicherte Proportionalität im als Zufall, als Unfall, als Gelegenheit erscheinen. Strukturen (wie zum Beispiel Kapitalinvestitionen, Profile
Verhältnis zur Auslöseursache! politischer Parteien, Ehen, Begriffssprachen der Wissenschaft) können, ja müssen letztlich auf Entscheidungen
Jedes Funktionssystem kann nur die eigene Funktion erfüllen. Keines kann im Notfalle oder auch nur zurückgeführt werden. Die Zukunftshorizonte, die als noch planbar erscheinen, rücken näher an die
kontinuierlich-ergänzend für ein anderes einspringen. Die Wissenschaft kann im Falle einer Regierungskrise Gegenwart heran. Vergangenheiten werden rascher unmaßgeblich, also nur noch, und deshalb dann mit
1269
nicht mit Wahrheiten aushelfen. Die Politik hat keine eigenen Möglichkeiten, den Erfolg der Wirtschaft zu besonderer, nostalgischer Aufmerksamkeit, historisch interessant. Außerdem orientiert man sich nun
bewerkstelligen, so sehr sie politisch davon abhängen mag und so sehr sie so tut, als ob sie es könnte. Die weniger an räumlich begrenzten und mehr an zeitlich begrenzten Kulturkomplexen, deren Variation von
Wirtschaft kann Wissenschaft an der Konditionierung von Geldzahlungen beteiligen, aber sie kann mit noch vornherein in Rechnung gestellt wird und gerade ihre Attraktivität begründet: an Moden und Stilen,
1270
so viel Geld keine Wahrheiten produzieren. Mit Finanzierungsaussichten kann man locken, kann man Zeitstimmungen und Generationsschicksalen.
irritieren, kann aber nichts beweisen. Die Wissenschaft honoriert die Zahlungen mit "acknowledgments", nicht In der Sozialdimension kommt es zu Komplexitätsgewinnen, die auf der operativen Ausschließung der
1271
mit beweisträchtigen Argumenten. Menschen aus der Gesellschaft beruhen und mit Titeln wie Individuum oder Subjekt honoriert werden.
Der damit gesamtgesellschaftlich ansteigende Irritationskoeffizient spiegelt die gleichzeitige Zunahme Individuen können jetzt nicht mehr in der Gesellschaft sozial placiert werden, weil jedes Funktionssystem auf
von wechselseitigen Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten. Die daraus folgende Unübersichtlichkeit schließt Inklusion aller Individuen reflektiert, aber die Inklusion sich nur noch auf die eigenen Operationen bezieht.
es praktisch aus, in den Beziehungen zwischen den Systemen mögliche Veränderungen und ihre Die Gesellschaft oszilliert nun zwischen positiven (Subjekt) und negativen ("home-copie", Massenmensch)
Auswirkungen durchzukalkulieren. Folglich spielen sich Vereinfachungen ein. Die vielleicht wichtigste besteht Einschätzungen der Chancen für den Einzelnen. Gegenläufige Desiderate wie "Selbstverwirklichung" und
in Appellen und in Schuldzuweisungen, die die Selbstbeschreibung der Adressaten nicht in Rechnung stellen.
Man greift auf die symbolisch generalisierten Medien zurück, vor allem auf Geld und auf Macht, und fordert
bestimmte Entscheidungen, etwa mehr Geld für bestimmte Zwecke oder Entscheidungen, die im Hinblick auf
bestimmte Interessen die Rechtslage verändern, und man beklagt dann, daß man nicht gehört und nicht 1268
Dabei könnte man sich mit Bezug auf das politische System zum Beispiel fragen, ob nicht diese
befriedigt wird. Die Vereinfachungen müssen also mit hohen Enttäuschungsquoten bezahlt werden. Es mag Normalunbeweglichkeit bestimmten Persönlichkeiten, etwa Draufgängern oder Draufgängerinnen vom Typ Gorbatchov
sich dann, und zwar gerade unter der Bedingung hohen und wachsenden Wohlstandes, eine generalisierte oder Thatcher eine Chance gibt, sich dagegen zu profilieren.
Unzufriedenheit ausbreiten, die unrealistischen Ansichten über die moderne Gesellschaft Nahrung gibt und zu 1269
Vgl. zu diesem Themenkreis und zu Rückwirkungen auf die Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft Reinhart
einem begierigen Konsum von Skandalen führt. Koselleck, Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979; ferner Hermann Lübbe,
Dem stehen jedoch entsprechend zunehmende systeminterne Ausgleichsmöglichkeiten gegenüber. Zeit-Verhältnisse: Zur Kulturphilosophie des Fortschritts, Graz 1983; Giacomo Marramao, Potere e secolarizzazione: Le
Irritationen und Unzufriedenheiten veralten rasch. Sie können auch in sehr hohem Maße kompensiert werden categorie del Tempo, Rom 1983; Helga Nowotny, Eigenzeit: Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt
durch die auf eigener Spezifikation und Codierung beruhende Beweglichkeit der Funktionssysteme selbst. 1989; ferner unten Kap. 5 .....
1270
Ein selten theoretisch behandeltes Thema. Siehe aber Theodore Schwartz, The Size and Shape of Culture, in: Fredrik
Barth (Hrsg.), Scale and Social Organisation, Oslo 1978, S. 215-252 (249 f.).
1267 1271
"Leistung" in dem soeben erörterten, auf andere Systeme bezogenen Sinne. Dazu ausführlicher Kap. 5, .....
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 347 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 348
1272
"Verständigung" werden zugleich idealisiert. Als Ergebnis ist eine Art De-naturalisierung der Funktionssystems, sondern wird zum generellen Modus anspruchsvoller gesellschaftlicher
Sozialdimension zu beobachten, die der Selbstreflexion der Gesellschaft als Kommunikationssystem zu Gute Realitätsvergewisserung. Diese muß dann aber ohne jede repräsentative Autorität, also ohne Hierarchie, also
kommen kann. Entsprechend setzt die Gesellschaft mehr Erwartungen und mehr Enttäuschungen in ohne Möglichkeit der Beobachtung einer maßgebenden Spitze oder eines Zentrums der Gesellschaft
Kommunikation um und produziert eine genau darauf zielende selbstillusionierende Symbolik, vor allem im auskommen. Sie muß sich heterarchisch vernetzen und sich stets nur vorläufig an operative Bewährungen
politischen System. Wäre die Gesellschaft nicht in hohem Maße indifferent gegen das, was im Bewußtsein der halten.
Einzelmenschen faktisch vor sich geht, könnte sie sich Unstimmigkeiten dieses Ausmaßes kaum leisten. Die Folgen dieser Operationsweise zeigen sich auf gesamtgesellschaftlicher Ebene in einem
Eine ebenso wichtige Konsequenz funktionaler Differenzierung kann als eine sehr weitreichende Zusammenhang von Eigendynamik und Interdependenzunterbrechung. Auf sich selbst angewiesen, erzeugen
Umstellung des Beobachtens auf ein Beobachten zweiter Ordnung, also auf ein Beobachten von Beobachtern die Funktionssysteme in sich selbst Eigenzeiten und Ungleichheiten, die gesellschaftlich nicht mehr koordiniert
beschrieben werden. Das gab es natürlich auch schon in der alten Welt — aber nur im Rahmen von kognitiv werden können. Feste Formen, zum Beispiel Kapitalinvestitionen oder im Amt befindliche Regierungen, sind
oder normativ eng begrenzenden Programmen — also zum Beispiel im Hinblick auf den Irrtum anderer oder von vornherein nur auf Zeit fixiert. Das läßt sie als kontingent erscheinen. Auch kann die Gesellschaft externe
im Hinblick auf Sünde und Schuld, die ihrerseits in der aristotelisch-thomistischen Tradition als eine Variante Ungleichheiten in den einzelnen Funktionssystemen tolerieren, sofern ihre Übertragung von einem System in
von Irrtum beschrieben werden konnten. Eine gemeinsam vorgegebene Welt wurde dabei als Natur oder als andere blockiert werden kann. Auch sehr Reiche haben nicht deswegen schon politische Macht oder mehr
Schöpfung vorausgesetzt. Kosmologien waren als Sachbeschreibungen formuliert. Mit der Durchsetzung Kunstverstand oder bessere Chancen, geliebt zu werden. Vorteilskonglomerate funktionsspezifischer Art sind
funktionaler Differenzierung löst diese "ontologische" Prämisse sich auf, und sie kann nur ersetzt werden auch in den Familien kaum noch transferierbar. Reichtum zum Beispiel kann nur unter Übernahme des
durch den Realvollzug des Beobachtens von Beobachtern. Die Welt muß dann im Medium des Verlustrisikos ökonomisch erfolgreich verwendet werden, und organisatorische, künstlerische, politische usw.
Unbeobachtbaren auf der Ebene solcher Beobachtung zweiter Ordnung neu konstituiert werden. Karrieren setzen sich ebenfalls den für sie typischen Risiken aus. Was an gesellschaftlich durchgehend
Wohl alle Funktionssysteme beobachten ihre eigenen Operationen auf der Ebene der Beobachtung anerkannten Werten noch generalisierbar ist — etwa Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde — ruht auf diesem
zweiter Ordnung. In der Wirtschaft beobachten Beobachter einander mit Hilfe des Marktes und der dort sich Zusammenhang von Temporalisierung, Systemspezifizität und Interdependenzunterbrechung auf. Werte
1273
bildenden Preise. In der Politik inszeniert man alle Aktivitäten vor dem Spiegel der öffentlichen Meinung haben ihre Realitätsgrundlage also nicht in entsprechenden, durch sie beschriebenen oder anzustrebenden
1274
im Hinblick auf Resultate der politischen Wahlen. Auch in der Wissenschaft beobachten Forscher einander Gesellschaftszuständen. Sie werden in jedem Funktionssystem daher negativ beachtet im Sinne eines Mangels
nicht mehr direkt bei der Arbeit, sondern an Hand von Publikationen, die rezensiert, diskutiert oder auch oder eines Begründungsbedarfs für Einschränkungen. Ihre gesellschaftliche Adäquität liegt also nicht in der
ignoriert werden, so daß man sich daran orientieren kann, wie Beobachter die entsprechenden Aussagen Annäherung der Realität an das Wertprogramm, sondern in jenem Bedingungszusammenhang von
1275
beobachten. Ähnliches gilt für die Kunst, sobald Künstler sich darauf einstellen, daß ihre Werke nicht nur Eigendynamik, Abweichungsverstärkung, Temporalisierung und Interdependenzunterbrechung. Schon die
1276
als Objekte, sondern im Hinblick auf die Mittel beobachtet werden, mit denen ihre Effekte erzeugt werden. Spezifikation der Funktionen und der Codes führt zur Rejektion anderer Systemorientierungen, suggeriert also
Das heißt: Die Funktionssysteme müssen entsprechende Formen und Gelegenheiten für Selbstbeobachtung ständig die Anwesenheit des Ausgeschlossenen, und Wertformulierungen haben daraufhin den Sinn, jedem
einrichten und können nur auf diese Weise Realität konstruieren. System in der je eigenen Sprache zu verdeutlichen, wovon es abweicht.
Im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung garantiert der beobachtete Beobachter die Realität seines Für das Gesellschaftssystem hat diese Ordnung des Verhältnisses der Funktionssysteme zueinander
Beobachtens (erster oder zweiter Ordnung). Auf den Durchgriff auf eine dahinterliegende, unbeobachtete weitreichende Folgen. Unter der Bedingung von Stratifikation und/oder Zentrum/Peripherie-Differenzierung
1277
Realität, die so ist, wie sie ist, kann, ja muß man verzichten. Um so mehr sind diese Systeme darauf konnte man davon ausgehen, daß das stärkste System "herrscht" und mit entsprechenden Ressourcen versorgt
angewiesen, ihre Irritabilität entsprechend zu erhöhen, das heißt: Störungen registrieren und in gewohnter wird (wenngleich realistisch gesehen eine regressive Entwicklung in Richtung auf tribale Verhältnisse
Weise bearbeiten zu können. durchaus möglich war, weil auf dem Land noch weithin archaische Verhältnisse herrschten). In funktional
Es ist sicher kein Zufall, daß sich parallel dazu seit dem 18. Jahrhundert die Möglichkeit einspielt, im differenzierten Gesellschaften gilt eher die umgekehrte Ordnung: das System mit der höchsten Versagensquote
Individualverkehr sozialen Ausgleich im Beobachten des Beobachtetwerdens zu suchen und dominiert, weil der Ausfall von spezifischen Funktionsbedingungen nirgendwo kompensiert werden kann und
Selbstdisziplinierungen zu wählen, die darauf eingestellt sind. Das sprengt die alte Einheit von Moral und überall zu gravierenden Anpassungen zwingt. Je unwahrscheinlicher die Leistung, je voraussetzungsvoller die
Manieren und überhaupt die Orientierung an autoritativen Regelvorgaben. Auch die moderne Individualität Errungenschaften, desto größer ist auch das gesamtgesellschaftliche Ausfallrisiko. Wenn Recht nicht mehr
fordert vom Einzelnen nicht nur, zu sein, was er ist; sondern darüber hinaus auch, sich selbst als Beobachter durchsetzbar wäre oder wenn Geld nicht mehr angenommen werden würde, wären auch andere
zu beobachten. Und wiederum annähernd gleichzeitig etabliert sich die Möglichkeit, andere im Hinblick auf Funktionssysteme vor kaum mehr lösbare Probleme gestellt. Man mag den Ausfall von wissenschaftlichen
das zu beobachten, was sie nicht beobachten können — sei es im Hinblick auf unbewußte Motive und Neuerungen oder von religiösen Welterklärungen geringer veranschlagen, aber ähnliche Probleme stellen sich
Interessen, sei es im Hinblick auf die Ideologiehaftigkeit ihrer Weltsicht, sei es im Hinblick auf latente auch hier; man denke nur an den Wissenschaftsbedarf auf Grund zunehmender ökologischer
Funktionen und Strukturen ganz allgemein. Der Umbau der Realitätskonstruktion und ihre Verlagerung auf Interdependenzen, an zivilisationsinduzierte Krankheiten oder an die politischen Konsequenzen religiöser
die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung beschränkt sich also nicht auf die Operationen der einzelnen Friedensstörungen. Das Ausmaß an Beachtung und Besorgnis läßt sich nicht mehr mit der Metaphorik der
"Kraft", sondern nur noch mit der Metaphorik der "Krise" beschreiben.
Man kann diese Analysen zusammenfassen in der allgemeinen Einsicht, daß operative Geschlossenheit
1272
Man mag hier an Jürgen Habermas denken, der dieses Paradox im Traditionstitel der Vernunft aufzulösen versucht. und autopoietische Autonomie einem System hohe Kompatibilität mit Unordnung in der Umwelt ermöglichen.
1273 Sofern strukturelle Kopplungen kontrolliert und Irritationen aufgenommen und verarbeitet werden können,
Vgl. dazu Dirk Baecker, Information und Risiko in der Marktwirtschaft, Frankfurt 1988.
kann die Umwelt im übrigen intransparent, überkomplex, unkontrollierbar bleiben. Dieser schon an den
1274
Siehe etwa Niklas Luhmann, Gesellschaftliche Komplexität und öffentliche Meinung, in ders., Soziologische Außengrenzen des Gesellschaftssystems wirksame Mechanismus, durch den sich Kommunikation gegen den
Aufklärung Bd. 5, Opladen 1990, S. 170-182. Rest der Welt distanziert, wird durch funktionale Differenzierung ins Innere des Gesellschaftssystems
1275 1278
So Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990, passim (s. Index). übertragen. Die Folge ist, daß die Gesellschaft ihre interne Unordnung steigern und sich zugleich dagegen
1276
Hierzu Niklas Luhmann, Weltkunst, in: Niklas Luhmann / Frederick D. Bunsen / Dirk Baecker, Unbeobachtbare Welt: immunisieren kann. Damit wächst aber auch die Störempfindlichkeit und das Angewiesensein auf den Modus
Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 7-45; ders., Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1995, S. 92 ff. der Beobachtung zweiter Ordnung. Jedes Funktionssystem operiert in einer für es unkontrollierbaren
1277
Siehe auch die unterschiedlichen Kognitions/Ontologie-Verhältnisse in der Skizze von Humberto Maturana, The
Biological Foundations of Self Consciousness and the Physical Domain of Existence, in: Niklas Luhmann et al.,
1278
Beobachter: Konvergenz der Erkenntnistheorie?, München 1990, S. 47-117 (117). Wir kommen darauf im folgenden Abschnitt zurück.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 349 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 350

innergesellschaftlichen Umwelt. Daß dies erfolgreich möglich ist, macht für andere Funktionssysteme deren Gleichheit aller Menschen konfrontiert, an dem sich Ungleichheiten zu messen und gegebenenfalls funktional
Umwelt unkontrollierbar. Im Ergebnis löst sich dadurch jede gesamtgesellschaftlich verbindliche Ordnung des zu rechtfertigen haben. Semantisch wird diese Umstellung registriert durch Übergang vom Schichtungsbegriff
Verhältnisses der Funktionssysteme zueinander auf; und um so mehr ist dann jedes Funktionssystem auf des Standes zum Schichtungsbegriff der sozialen Klasse, der deutlicher die bloße Willkür der Einteilung
1281
eigene Schließung, auf eigene Autopoiesis angewiesen — wie gut oder schlecht auch immer es dafür markiert. Auch innerhalb der nicht mehr ständischen Schichtung setzt sich jedoch dieser Prozeß fort, vor
ausgestattet ist. Funktionale Differenzierung garantiert also keineswegs gleich gute Chancen für alle allem als Verschwinden der städtischen (und stadtbekannten) Oberschichten. In den letzten Jahrzehnten
Funktionssysteme, für Wirtschaft ebenso wie für Religion, für Recht ebenso wie für Kunst. Sie kann auch scheint sich zudem der Zugriff von Schichtung auf individuelles Verhalten gelockert zu haben, so daß
1282
nicht im Sinne von Arbeitsteilung durch Wohlfahrtsgewinne gerechtfertigt werden. Vielmehr geht es um eine Soziologen es vorziehen nicht mehr von Schichtung, sondern von sozialer Ungleichheit zu sprechen. Das
Form, mit der die Gesellschaft sich auch unter der Bedingung hoher interner Intransparenz und mag mit Entwicklungen im Bereich der Familien, in der Jugendkultur und in den Generationsverhältnissen
Unberechenbarkeit noch reproduzieren kann. Operative Schließung schafft Unruhe und Unruhe schafft zusammenhängen, belegt aber auch den Zerfall einer Standardtypik von Karriere, die in erheblichem Maße
operative Schließung. Und es bleibt der Evolution überlassen, welche Entwicklungsschwerpunkte, welche noch durch Herkunft bestimmt war.
Funktionssysteme, welche Strukturen sich unter dieser Bedingung mehr bewähren als andere. Man hat versucht, nachzuweisen, daß auch die moderne Schichtungsstruktur eine Funktion erfülle,
Mit dem Komplexitäts- und Unsicherheitszuwachs ändern sich auch die Formen, mit denen indem sie die Selektion von Personal erleichtere und die Markierung von Karriereerfolgen ermögliche (was
1283
Verhaltenserwartungen gebündelt und durch Identitäten einander zugeordnet werden. Während die älteren wohl nur heißen kann: einen Verzicht auf angemessene Bezahlung der Eliten). Solche Gesichtspunkte
Gesellschaften mit einer Unterscheidung von Ethos und Verhalten, von normal-normativen (natürlich- könnten aber allenfalls für Organisationen ins Gewicht fallen. Die Gesellschaftstheorie hätte sich eher für die
moralischen) Regeln und daran orientiertem (konformem oder abweichendem) Verhalten ausgekommen war, Frage zu interessieren, wie es kommt, daß nach wie vor krasse Unterschiede der Lebenschancen reproduziert
müssen die Identifikationsgesichtspunkte jetzt stärker auseinandergezogen werden, wenn es noch gelingen soll, werden, auch wenn die Differenzierungsform der Gesellschaft darauf nicht mehr angewiesen ist. Die Antwort
Komplexität in sinngebende Orientierungen umzusetzen und Unsicherheit so zu strukturieren, daß man sie lautet: daß dies offenbar ein Nebenprodukt des rationalen Operierens der einzelnen Funktionssysteme ist, und
1284
"lokalisieren" kann. Auf der Seite normativer Vorgaben muß jetzt zwischen unbedingt geltenden Werten und vor allem: des Wirtschaftssystems und des Erziehungssystems. Diese Systeme nutzen kleinste
bedingt geltenden Programmen unterschieden werden; und dies allein schon deshalb, weil die einzelnen Unterschiede (der Arbeitsfähigkeit, der Kreditwürdigkeit, des Standortvorteils, der Begabung, Diszipliniertheit
Funktionssysteme ihre invarianten Codierungen und ihre variablen Programmen unterschiedlich identifizieren. etc.), um sie im Sinne einer Abweichungsverstärkung auszubauen, so daß selbst eine fast erreichte
Auf der Ebene des an Regeln orientierten Verhaltens müssen jetzt Rollen und Personen unterschieden werden; Nivellierung wieder in soziale Differenzierungen umgeformt wird, auch wenn dieser Effekt keinerlei soziale
1285
und dies allein schon deshalb, weil Personen nicht mehr durch ihren sozialen Status und ihre invarianten Funktion hätte.
Zugehörigkeiten identifiziert sind, sondern Berufe, Mitgliedschaften, präferierte Interaktionen wählen und in Ein wichtiger Unterschied von Stratifikation und funktionaler Differenzierung besteht schließlich darin,
1279
der Wahl identisch bleiben müssen. daß es unter den strengen Bedingungen von Stratifikation kaum Kommunikationen gibt, die diese
Diese Differenzierung hat erhebliche Auswirkungen auf die Themen, die im Kontext gesellschaftlicher Differenzierungsform außer Acht ließen. In funktional differenzierten Gesellschaften gibt es dagegen viel
Selbstbeschreibungen noch zu überzeugen vermögen. Der Bereich der Programme und der Rollen kann Kommunikation, die davon absehen kann, sich dem einen oder anderen Funktionssystem zuzuordnen. Das
"positiviert", das heißt: entscheidungsabhängig begriffen werden, sofern nur für Werte und, rückgekoppelt, für
den Wert der individuellen Person unabdingbare Geltung behauptet werden kann. Wir kommen darauf 1281
Vgl. ausführlicher Niklas Luhmann, Zum Begriff der sozialen Klasse, in ders. (Hrsg.), Soziale Differenzierung: Zur
zurück. An dieser Stelle interessiert nur, daß es sich um eine strukturelle Differenzierung handelt, die nicht auf Geschichte einer Idee, Opladen 1985, S. 119-162. Einschlägig ferner die Forschungen zu den semantischen und
einzelne Teilsysteme (Funktionssysteme, Organisationen, Interaktionen) beschränkt bleibt, sondern sich strukturellen Konfusionen im Begriff des Bürgertums im Übergang von einem Begriff der Inklusion in eine
gesellschaftsweit durchsetzt — mit erheblichen Konsequenzen vor allem für Entfremdungsmöglichkeiten in Zivilgesellschaft über die Vorstellung eines Standes bis hin zum Begriff einer durch wirtschaftliche Beziehungen und
Familien. Denn Identitäten kondensieren und konfirmieren das soziale Gedächtnis des Systems. Sie regeln, Bildung definierten sozialen Klasse. Siehe dazu Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert,
was vergessen und was erinnert werden kann, legen also fest, was aus der Vergangenheit präsent bleibt; und Göttingen 1988.
sie regulieren damit zugleich des Oszillationsspielraum der Zukunft, das heißt die Formen, in denen 1282
Vgl. Karl Martin Bolte, Von sozialer Schichtung zu sozialer Ungleichheit: Bericht über ein Forschungsprojekt der
1280
Erwartungen (hier: Verhaltenserwartungen) der Erfüllung bzw. der Enttäuschung ausgesetzt werden. frühen 50er Jahre und einige seiner Weiterwirkungen, Zeitschrift für Soziologie 15 (1986), S. 295-301; Ulrich Beck,
Diese Auswirkungen funktionaler Differenzierung wirken ihrerseits auf den Prozeß der Transformation Jenseits von Klasse und Stand?, Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung
neuer sozialer Formationen, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt,
der stratifizierten Gesellschaft in eine funktional differenzierte Gesellschaft ein. Sie sind Resultat und zugleich
Göttingen 1983, S. 35-74; Bernhard Giesen / Hans Haferkamp (Hrsg.), Soziologie der sozialen Ungleichheit, Opladen
Faktor dieser Transformation. Denn einerseits wird die individualistische Personorientiertung benutzt, um alte 1987. Heute stellt man fest, daß der Einzelne sich weniger an sozialer Schichtung als an "Erlebniswelten" orientiert, in
Sozialeinteilungen zu unterlaufen. Und andererseits wird die Entscheidungsabhängigkeit der Programm und denen Ungleichheiten eine Rolle spielen mögen. Siehe z.B. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie
des Zugangs zu Rollen (Stichwort: Karrieren) so deutlich sichtbar, daß die Herkunftsbestimmtheit durch der Gegenwart, Frankfurt 1992; Thomas Müller-Schneider, Wandel der Milieulandschaft in Deutschland: Von
Entscheidungsbestimmtheit ersetzt werden muß, was in Zurechnungsprobleme führt, die Funktionssysteme, hierarchisierten zu subjektorientierten Wahrnehmungsmustern, Zeitschrift für Soziologie 25 (1996), S. 196-206.
Organisationen, aber auch Individuen (zum Beispiel in Fragen des religiösen Glaubens oder bei "genialen" 1283
Vgl. die sehr umstrittenen (und vor allem aus ideologischen Gründen bestrittenen) Thesen von Kingsley Davis /
Entdeckungen oder Erfindungen) in den Blick bringen. Wilbert E. Moore, Some Principles of Stratification, American Sociological Review 10 (1945), S. 242-249; ferner Melvin
Mit dem Umbau von Stratifikation auf funktionale Differenzierung wird zwar die Differenzierungsform M. Tumin, Some Principles of Stratification: A Critical Analysis, American Sociological Review 18 (1953), S. 387-394;
der Gesellschaft geändert, keineswegs aber Schichtung beseitigt. Nach wie vor gibt es immense Unterschiede Dennis H. Wrong, The Functional Theory of Stratification: Some Neglected Considerations, American Sociological Review
24 (1959), S. 772-782; Renate Mayntz, Kritische Bemerkungen zur funktionalistischen Schichtungstheorie, in: David V.
zwischen reich und arm, und nach wie vor wirken diese Unterschiede sich auf Lebensformen und auf Zugang Glass / René König (Hrsg.), Soziale Schichtung und soziale Mobilität, Sonderheft 5 der Kölner Zeitschrift für Soziologie
zu Sozialchancen aus. Geändert hat sich aber, daß dies nun nicht mehr die sichtbare Ordnung der Gesellschaft und Sozialpsychologie, 3. Aufl. Köln 1968, S. 10-28.
schlechthin ist, nicht mehr die Ordnung, ohne die überhaupt keine Ordnung möglich wäre. Daher verliert 1284
Daß diese beiden Funktionssysteme mehr als andere eine solche perverse Selektivität entfalten, ist — unter
Schichtung ihre alternativenlose Legitimation und findet sich seit dem 18. Jahrhundert mit dem Postulat der
optimistischen Vorzeichen und schon früh — auch daran zu erkennen, daß das Bürgertum sich in seinem Verhältnis zum
Adel vor allem auf sie stützt: auf Geld und auf Bildung.
1285
1279 Gute Einblicke in den verbissenen Kampf gegen Nivellierung und in das Bemühen, kleinsten, "feinsten" Unterschieden
Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Soziale Systeme a.a.O. S. 426 ff.
soziale Bedeutung abzugewinnen, verdanken wir Pierre Bourdieu. Vgl. vor allem: La distinction: Critique social du
1280
Siehe unter dem Gesichtspunkt von Gedächtnis: Heinz von Foerster, Was ist Gedächtnis, daß es Rückschau und jugement de goût, Paris 1975. Anders als Bourdieu würde ich jedoch meinen, daß dieses Bemühen gerade in seiner
Vorschau ermöglicht?, in ders., Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke, Frankfurt 1993, S. 299-336. Vergeblichkeit und im Fehlen eines gesellschaftsstrukturellen Hintergrundes beeindruckt.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 351 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 352
1289
führt vor die Frage, wie Kommunikationen überhaupt erkennen, ob sie sich um einem Funktionssystem einfach der Evolution überlassen. Der gegenwärtige Ruf nach einer Ethik der Verantwortung gehört mit in
1290
einordnen (und welchem) oder nicht. In stratifizierten Gesellschaften konnte man sich hier an Personen und diesen Zusammenhang. An diesen Rettungsversuchen fällt auf, daß alte Erfahrungen mit den neu ins
Lebensformen halten. In funktional differenzierten Gesellschaften läge der Hinweis auf die unterschiedlichen Gespräch gebrachten Konzepten übergangen werden oder unter Inkaufnahme erheblicher Theorielasten
Codierungen nahe, aber damit wird das Problem des Erkennens von Zuordnungen nur verschoben. In eingebaut werden, so als ob das Problem eine überrollende Dringlichkeit besässe, die auch
gewissem Umfange wird eine Art topographisches Gedächtnis helfen: Man kann Schulen und Gerichte, Verzweiflungskonzepte rechtfertigen würde. Integration angesichts fundamentaler Differenzen und
Krankenhäuser und Fabriken oder Büros unterscheiden. Aber darüber hinaus ist eine Gesellschaft, die sich Vorherrschaft differenztheoretischer Theorieansätze? Planung und Steuerung angesichts intransparenter
nicht mehr auf Personorientierung verlassen kann, auf die Entwicklung entsprechender Sensibilitäten Komplexität? Ethik angesichts bekannter Schwierigkeiten, auf die alle Ethiken beim Versuch der Begründung
angewiesen. Man muß, zum Beispiel in einer schlecht funktionierende Ehe, erkennen, wenn ein Problem als moralischer Urteile gestoßen sind? Und schließlich: Hoffnung auf das Kommunikationspotential einer
Rechtsfrage stilisiert wird; oder in einer Schule, wenn der Unterricht in eine politische oder religiöse Werbung Zivilgesellschaft — nicht nur gegenüber zerfallenden kommunistischen Regimes, sondern auch gegenüber den
1291
abgleitet; oder in einem Krankenhaus, wann der eigene Körper zum Gegenstand von Lehre oder Forschung Folgeproblemen funktionaler Differenzierung? Könnte es sein, daß zu sehr mit rückwärtsgewandtem Blick
gemacht wird. Man wird in diesen Fragen keinen durch den "Gegenstand" vorgezeichneten Konsens erwarten gesucht wird und das man bei Konzepten, die die Geschichte schon widerlegt hat, nochmals Hoffnung tankt,
können. Es bleibt der Kommunikation überlassen, durch Verdichtung von Referenzen zu entscheiden, wohin weil Hoffnung anders nicht zu haben ist?
sie sich bewegt. Im Folgenden geht es nicht darum, auf anderem Wege zu einem günstigeren Bild der modernen
Wir müssen uns mit diesen unausgearbeiteten Andeutungen begnügen. Sie sollen an dieser Stelle nur Gesellschaft zu kommen, und erst recht müssen wir darauf verzichten, Konzepte wie Planung, Steuerung oder
erläutern und mit Beispielen illustrieren, welche Tragweite der Umbau der Gesellschaft auf funktionale Ethik durch ähnlich praxisnahe Entwürfe zu ersetzen. Wir wissen zu wenig, um auch nur über die Form von
Differenzierung hat. Es geht keineswegs um ein Teilphänomen, etwa im Sinne der Habermas'schen Handlungsanleitungen entscheiden zu können. Das kann nur innerhalb von Funktionssystemen für jeweils
Unterscheidung von System und Lebenswelt, die nur konzediert, daß Systeme, was immer man von ihnen ihren Bereich geschehen. Natürlich soll das nicht heißen, in praktischen Dingen Abstinenz zu verlangen, aber
1286
halten mag, auch vorkommen und auch notwendig sind. Selbstverständlich führt ein Primat funktionaler es macht Sinn, diesen Versuchen gegenüber in der Position des Beobachters von Beobachtern zu bleiben, um
Differenzierungen nicht dazu, daß segmentäre Differenzierungen oder Schichtenbildung dadurch abgelöst erkennen zu können, was geschieht, wenn jemand Planung oder Ethik für sich reklamiert, um damit neue
1287
werden. Im Gegenteil: die Chancen für Segmentierungen (etwa auf Organisationsbasis) und für sich selbst Differenzen in die Gesellschaft einzuführen.
verstärkende Ungleichheiten (etwa zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern) nehmen mit der Vordringlich ist es demgegenüber, jene Schieflage der Gesellschaftstheorie zu korrigieren, die entsteht,
Komplexität des Gesellschaftssystems zu; und sie ergeben sich gerade daraus, daß Funktionssysteme wie das wenn man allein die autopoietische Dynamik der Funktionssysteme in Betracht zieht. In der klassischen
Wirtschaftssystem oder das Erziehungssystem Gleicheiten bzw. Ungleichheiten als Moment der Rationalität soziologischen Diskussion von Durkheim bis Parsons ist dies Problem mit dem Schema
1292
ihrer eigenen Operationen nutzen und damit steigern. Der Primat funktionaler Differenzierung ist dieForm der Differenzierung/Integration behandelt worden. Die Aufgabe der Soziologie lag dann in der Suche nach
1293
modernen Gesellschaft. Und Form heißt nichts anderes als die Differenz, mit der sie ihre Einheit intern Formen der Integration, die zu funktionaler Differenzierung passen. Wir ersetzen dieses Schema durch die
reproduziert, und die Unterscheidung, mit der sie ihre eigene Einheit als Einheit des Unterschiedenen Unterscheidung von Autopoiesis und struktureller Kopplung.
beobachten kann. Faktisch sind alle Funktionssysteme durch strukturelle Kopplungen miteinander verbunden und in der
Gesellschaft gehalten. Dieser in Kapitel 1 .... erläuterte Begriff ist nicht nur auf die gesellschaftsexternen,
sondern ebenso auf die gesellschaftsinternen Verhältnisse anwendbar. Schon auf der Ebene des einfachen
Lebens von Einzellensystemen kann autopoietische Schließung nicht entstehen, ohne daß sich das
IX. Autonomie und strukturelle Kopplung Umweltverhältnis in strukturelle Kopplungen umformt, die bestimmte Abhängigkeiten steigern und andere
1294
wirksam ausschließen bzw. auf die Möglichkeit der Destruktion reduzieren. Dieser genetische und
Würde man die moderne Gesellschaft lediglich als eine Menge von autonomen Funktionssystemen strukturelle Zusammenhang von operativer Schließung und struktureller Kopplung setzt sich auf allen vom
beschreiben, die einander keine Rücksicht schulden, sondern den Reproduktionszwängen ihrer eigenen Leben abhängigen Ebenen der Bildung autopoietischer Systeme fort. Wir hatten das für den Fall der
Autopoiesis folgen, ergäbe das ein höchst einseitiges Bild. Es wäre dann schwer zu verstehen, wieso diese Ausdifferenzierung des Kommunikationssystems Gesellschaft behandelt und müssen jetzt den gleichen
Gesellschaft nicht binnen kurzem explodiert oder in sich zerfällt. Irgendwo und irgendwie müsse doch, so
lautet ein naheliegender Einwand, für "Integration" gesorgt werden. Spätestens der Umstand, daß diese 1289
Symptomatisch hierfür Karl Mannheim, Man and Society in an Age of Reconstruction, London 1940 (dt. Übers.,
Gesellschaft in erhebliche ökologische Schwierigkeiten geraten ist, die sich in absehbarer Zukunft zu Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Darmstadt 1958) oder Julian S. Huxley, Evolutionary Ethics, London
ernsthaften Krisen auswachsen werden, dürfte die Notwendigkeit von Planung (und sei es nur 1943.
1288
Rahmenplanung) oder Steuerung (und sei es nur Kontextsteuerung ) plausibel machen. Ähnlich hatte man 1290
Am bekanntesten Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation,
schon zur Zeit der weltweiten Hochflut faschistischer Bewegungen gemeint, man könne die Dinge nicht Frankfurt 1979.
1291
Peter Uwe Hohendahl, Response to Luhmann, Cultural Critique 30 (1995), S. 187-192, spricht sicher für viele, wenn er
davor warnt, diese Hoffnungen vorschnell aufzugeben. Die Frage bleibt jedoch, wie sie, und vor allem: wie sie schnell
genug in einschneidende Korrekturen am schon erkennbaren Zustand der modernen Gesellschaft umgesetzt werden
können. Skepsis in Bezug auf die Möglichkeit einer individuell zu motivierenden "Verzichtsgesellschaft", auf die das
hinausliefe, auch bei Richard Münch, Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt 1995, insb. S. 34 ff.
1286 1292
Siehe Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981. Vgl. auch Achille Ardigò, Crisi di Die bedeutende Ausnahme ist natürlich Max Weber, der nur einen tragischen Konflikt heterogener Wertbeziehungen
governabilità e mondi vitali, Bologna 1980. und Motive feststellen kann, sich aber, eben deshalb, genötigt sah, auf einen Gesellschaftsbegriff zu verzichten.
1287 1293
Siehe dieses scheinbar unausrottbare Mißverständnis, das dann als Argument gegen die Theorie funktionaler Eine Weiterführung dieser Diskussion findet man bei Ditmar Brock / Matthias Junge, Die Theorie gesellschaftlicher
Differenzierung benutzt wird, bei Max Haller, Sozialstruktur und Schichtungshierarchie im Wohlfahrtsstaat: Zur Aktualität Modernisierung und das Problem gesellschaftlicher Integration, Zeitschrift für Soziologie 24 (1995), S. 165-182. Der
des vertikalen Paradigmas in der Ungleichheitsforschung, Zeitschrift für Soziologie 19 (1986), S. 167-187. Begriff der Integration wird hier dynamisiert, nämlich als Ressourcentransfer interpretiert. Das würde aber einen Begriff
1288 der Ressource voraussetzen, der unabhängig ist von den Medien der Funktionssysteme.
Im Sinne von Gunther Teubner / Helmut Willke, Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch
1294
reflexives Recht, Zeitschrift für Rechtssoziologie 5 (1984), S. 4-35. Vgl. auch Helmut Willke, Systemtheorie entwickelter Siehe dazu Humberto R. Maturana / Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln des
Gesellschaften: Dynamik und Riskanz moderner gesellschaftlicher Selbstorganisation, Weinheim 1989, insb. S. 111 ff. menschlichen Erkennens, München 1987, S. 85 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 353 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 354

Sachzusammenhang bei der Analyse gesellschaftsinterner Verhältnisse unter der Formbedingung funktionaler Zu diesen traditionellen Kopplungen treten unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts neue hinzu. Die
Differenzierung zu klären versuchen. Demokratisierung der einzelstaatlichen politischen Systeme macht politische Erfolge (Wahlerfolge) von
Die Ausdifferenzierung operativ geschlossener Funktionssysteme erfordert eine entsprechende wirtschaftlichen Konjunkturen abhängig, die ihrerseits eingebettet sind in längerfristige
Einrichtung ihrer gesellschaftsinternen Umweltbeziehungen. Die alte Bindung gesellschaftlicher Funktionen an Strukturverschiebungen im Weltwirtschaftssystem. Andererseits nimmt die Möglichkeit, diese
Familienhaushalte und an die soziale Schichtung dieser Familien muß gelöst und ersetzt werden durch neue Erfolgsbedingungen von regionalen politischen Systemen aus zu kontrollieren, ab. Die Export- und
Formen struktureller Kopplung, die die Funktionssysteme untereinander verbinden. Auch hier besagt Kreditabhängigkeit lokaler Produktion entzieht sich der Steuerung durch staatliche Entscheidungen, die
strukturelle Kopplung: Umformung analoger (gleichzeitiger, kontinuierlicher) Verhältnisse in digitale, die nach allenfalls noch korrigierend und abschwächend eingreifen können. Überdies verliert die klassische
einem entweder/oder-Schema behandelt werden können, und ferner Intensivierung bestimmter Bahnen Unterscheidung von liberaler und sozialistischer Wirtschaftspolitik an Bedeutung, wenn es nur noch um
wechselseitiger Irritation bei hoher Indifferenz gegenüber der Umwelt im übrigen. Ohne solche Formen reaktive Maßnahmen geht, die von denselben, fremddeterminierten Tatbeständen auszugehen haben. Damit
struktureller Kopplung wäre die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen in ihren Anfängen, etwa auf der kollabiert das aus dem 19. Jahrhundert überkommene Parteischema, ohne daß man erkennen könnte, wie und
1298
Ebene besonderer Korporationen oder Organisationen, stecken geblieben. Soweit die Einrichtung struktureller wodurch es ersetzt werden könnte. Wenn dem Wähler aber keine Alternativen angeboten werden können,
Kopplungen gelingt, läuft der gesamtgesellschaftliche Einfluß auf die strukturelle Entwicklung von die er auf seine Alltagserfahrungen beziehen kann, oder nur solche Alternativen, die im politischen Spektrum
Funktionssystemen über diese Bahnen. Langfristige Tendenzen des "structural drift" der Funktionssysteme als "radikal" definiert werden, fehlt es an wichtigen Grundlagen für das Regenerieren der Bereitschaft, sich mit
können deshalb nur erklärt werden, wenn man dies mit in Betracht zieht. Obwohl es keine Möglichkeit des der Wahldemokratie zu identifizieren. Das politische System wird sich daher in Themenbereichen neu
Durchgriffs auf Strukturentwicklungen von außen mehr gibt, spielt eine wesentliche Rolle, mit welchen formieren müssen, die für kollektiv bindende Entscheidungen zugänglich sind; aber im Moment ist nicht
Irritationen ein System sich immer und immer wieder beschäftigen muß — und welche Indifferenzen es sich deutlich zu sehen, wie das geschehen könnte.
1299
leisten kann. (2) Die Kopplung zwischen Recht und Politik wird durch die Verfassung geregelt. Einerseits bindet die
Im Bereich der strukturellen Kopplungen kann man weitere Bedingungen der Autonomie von Verfassung das politische System an das Recht mit der Folge (wenn dies funktioniert!), daß rechtswidriges
Funktionssystemen erkennen. Einerseits gesteht schon der Begriff selbst zu, daß Kopplungen durch Handeln politisch zum Mißerfolg wird; und andererseits ermöglicht es die Verfassung, das Rechtssystem auf
1300
Entkopplungen bedingt sind. Damit wird einer verbreiteten Auffassung widersprochen, die (im Anschluß an dem Wege der politisch inspirierten Gesetzgebung mit Neuerungen zu überschütten , die ihrerseits wieder
1295 1301
Polanyi) im "disembedding" und im "embedding" eine Alternative sieht. Ferner können strukturelle der Politik als Erfolg bzw. Mißerfolg zugerechnet werden. Auf diese Weise hängen die Positivierung des
Kopplungen stärker oder schwächer ausgeprägt sein, und Ausdifferenzierung kann folglich als "Wahl" von Rechts und die Demokratisierung der Politik eng zusammen. Das führt dann weiter zu einer administrativen
1296 1302
Anlehnungssystemen beschrieben werden , die mehr Freiheiten lassen. Der wichtigste Zwang zu operativer Dirigierung der Politik im Hinblick auf das rechtlich und finanziell Mögliche. Das eine bedingt das andere.
Autonomie und Selbstorganisation dürfte jedoch in der Vielzahl von strukturellen Kopplungen mit Das Recht eröffnet den Gestaltungsspielraum, der dann politisch eine demokratische Willensbildung
verschiedenen Segmenten der Umwelt liegen, denn das hat zur Folge, daß keiner dieser Außenbeziehungen die ermöglicht. Aber die jeweils im eigenen System rekursiv vernetzten Operationen bleiben getrennt. Die
1297
Führung überlassen werden kann und Engpassprobleme vorübergehender Natur sind. Diese Bedingung politische Bedeutung (Fragwürdigkeit, Umstrittenheit) eines Gesetzes ist etwas völlig anderes als seine
dürfte durch die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft für den Normalfall garantiert sein. Rechtsgeltung.
Da es eine größere Zahl von Funktionssystemen und entsprechend viele Beziehungen zwischen ihnen gibt, Die strukturelle Kopplung von Politik und Recht wird nicht nur die Politik "justizstaatlich" beeinflußen.
können wir an dieser Stelle nicht alle strukturellen Kopplungen vorstellen. Außerdem haben sie auch sehr Sie deformiert auch das Verfassungsrecht selbst, wenn es benutzt wird, um die wohlfahrtsstaatlichen
1303
unterschiedliches Gewicht. Wir begnügen uns deshalb mit dem Hinweis auf einige Beispiele: Tendenzen der Politik juristisch zu kontrollieren. Die an Zwecken orientierte Staatstätigkeit muß dann
(1) Die Kopplung von Politik und Wirtschaft wird in erster Linie durch Steuern und Abgaben erreicht. Das justizfähigen Regeln unterworfen werden. Grundrechte werden, wie man besonders im deutschen
ändert nichts daran, daß alle Verfügung über Geld als Zahlung in der Wirtschaft stattfindet. Aber die Verfassungsrecht beobachten kann, zu allgemeinen Werteprogrammen der Staatstätigkeit generalisiert und
Verfügung kann politisch konditioniert und in diesem Fall nicht an Profit ausgerichtet werden. Wofür das umgekehrt gesehen bleibt der öffentlichen Verwaltung nichts anderes übrig als, Fallentscheidungen der Justiz
Staatsbudget verwendet wird, ist dann eine politische Frage, und wenn viel (oder wenig) Geld zur Verfügung als allgemeine Richtlinie in die Verwaltungspraxis zu übernehmen.
steht, irritiert das die Politik. Aber die Geldverwendung selbst unterliegt den Marktgesetzen des (3) Im Verhältnis von Recht und Wirtschaft wird die strukturelle Kopplung durch Eigentum und Vertrag
1304
Wirtschaftssystems (Nichts ist deshalb billiger oder teurer, weil es mit Steuergeld gekauft wird), und es hat erreicht. In ihrer Rechtsqualität bieten diese Einrichtungen wichtigste Gründe für Rechte und für
erhebliche Konsequenzen für die strukturelle Entwicklung des Wirtschaftssystems, wenn der "Staatsanteil" am Verpflichtungen (im Sinne von: Obligationen), so daß man während der Umbruchszeit des 18. Jahrhunderts
Geldumlauf zunimmt. Im übrigen muß der Staat nicht unbedingt sich auf Steuereinnahmen beschränken.
Staatsverschuldung ist seit dem 18. Jahrhundert neben dem Bankengeld eines der wesentlichen Instrumente
der Vergrößerung der Geldmenge, und das gilt verstärkt, wenn der Staat die Notenbank kontrolliert. Auch die 1298
Hierzu auch Niklas Luhmann, Politik und Wirtschaft, Merkur 49 (1995), S. 573-581.
Beziehungen zwischen dem politischen System und der Notenbank sind daher als strukturelle Kopplung 1299
Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9
anzusehen, besonders wenn die Notenbank einerseits unabhängig ist, also zum Beispiel Staatskredite am
(1990), S. 176-220; ders., Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt 1993, S. 468 ff. Vgl. auch ders., Zwei Seiten des
Geldmarkt verteuern kann, aber andererseits auch gewisse politische Rücksichten nimmt. Rechtsstaates, in: Conflict and Integration: Comparative Law in the World Today: The 40th Anniversary of The Institute of
Comparative Law in Japan Chuo University 1988, Tokyo 1989, S. 493-506.
1300
Siehe hierzu den glücklichen Begriff des "politischen Gesetzes" bei Franz Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes: Eine
1295
Siehe nur Mark Granovetter, Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, American Journal Untersuchung zum Verhältnis von politischer Theorie und Rechtssystem in der Konkurrenzgesellschaft, Frankfurt 1980.
of Sociology 91 (1985), S. 481-510. 1301
Eine instruktive Fallstudie hierzu ist: Vilhelm Aubert, Einige soziale Funktionen der Gesetzgebung, in: Ernst E. Hirsch
1296
Vgl. Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität, Frankfurt 1991; ders., Wissenschaft, / Manfred Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Sonderheft 11/1967 der Kölner Zeitschrift für
Universität, Professionen: Soziologische Analysen, Frankfurt 1994, insb. S. 174 ff.; Niklas Luhmann, Die Kunst der Soziologie und Sozialpsychologie, Köln 1967, S. 284-309.
Gesellschaft, Frankfurt 1995, S. 256 ff. 1302
Eine (heute etwas unzeitgemäße) Diagnose dieser Entwicklung findet man bei Zoltán Magyary, The Industrial State,
1297
Eine vergleichbare Analyse für Organisationssysteme findet man bei Gordon Donaldson / Jay W. Lorsch, Decision New York 1938.
Making at the Top: The Shaping of Strategic Direction, New York 1983. Die finanzielle Selbststeuerung eines 1303
Vgl. dazu Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt 1991.
Unternehmens beachtet das Verhältnis zu verschiedenen "constituencies" und hängt davon ab, daß keiner dieser
1304
Außenbeziehungen eine dominierende Rolle zufällt. Näher Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft a.a.O., S. 452 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 355 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 356
1305 1310
sogar meinen konnte, sie seien kongruent mit den Grundlagen von Recht und Gesellschaft schlechthin. Für austragen. Die Konsequenz müßte sein, daß man sie weder als Wissenschaftler noch als Politiker ansieht,
das Wirtschaftssystem bilden sie den systemeigenen Code Haben/Nichthaben und die Voraussetzung für die sondern als Schnellstraße für wechselseitige Irritationen, als Mechanismen struktureller Kopplung.
1306
systemeigenen Operationen, für Zahlungen im Kontext von Transaktionen. Obwohl die (6) Für die Beziehungen zwischen Erziehungssystem und Wirtschaft (hier: als Beschäftigungssystem) liegt der
Verwendungskontexte und damit auch die Bedingungen der rekursiven Identifikation einzelner Elemente, etwa Mechanismus struktureller Kopplung in Zeugnissen und Zertifikaten. Auch diese Problemlösung hat sich,
1311
des Sinnes einer Zahlung oder der Rechtsgültigkeit eines Anspruchs aus Nichterfüllung eines Vertrages, ganz beflügelt durch die Kritik schichtorientierter Rekrutierung, erst im 19. Jahrhundert durchgesetzt. Für die
verschieden sind, ermöglicht die strukturelle Kopplung ein hohes Maß an wechselseitiger Irritation der Schulen und Universitäten bedeutet dies einen nicht immer freudig begrüßten Fremdkörper, der die eigentliche
Systeme. Erst die rechtliche Freigabe und Konditionierung von Eigentum und Vertrag ermöglicht jene Aufgabe der Erziehung oder "Bildung" nach Meinung der Pädagogen erschwert. Trotzdem sind die
gewaltige Expansion der Wirtschaft durch Einbeziehung völlig unbekannter, nicht derselben Auswirkungen auf die Karrierestruktur des Systems gewaltig — verglichen etwa mit den pädagogischen
1307
Lebensgemeinschaft angehöriger Partner ; und umgekehrt erklärt die wirtschaftliche Inanspruchnahme der Intentionen und Idealen. Die Wirtschaft leidet darunter sehr viel weniger, weil sie stärker von Konjunkturen
Rechtsinstitutionen die Entwicklung der Rechtsbegriffe Eigentum und Vertrag auf der Grundlage römischer auf dem Arbeitsmarkt und Bewerbungsbereitschaft (Selbstselektion) des Nachwuchses abhängt und heute im
Quellen in Richtung auf Definition des Eigentums als Recht zur Disposition und in Richtung auf übrigen mehr und mehr zu eigener planmäßiger Personalentwicklung übergeht. Ihre Abhängigkeit liegt mehr
Einklagbarkeit aller Verträge auf Grund eines bloßen Konsenses der Vertragsschließenden (nuda pactio). Die im Negativen, nämlich darin, daß das Erziehungssystem für viele Bereiche, etwa in modernen Technologien
strukturelle Kopplung bestimmt die Richtung des "structural drift" beider Systeme, obwohl und weil sie keine und für das höhere Management, überhaupt keine adäquate Ausbildung bereitstellt.
gemeinsamen Elemente aufweisen. Und das Ergebnis ist die Zunahme der Irritation des Rechts durch die Wir belassen es bei diesen Beispielen. Man könnte weitere nennen, etwa das "Krankschreiben" im
1308
Wirtschaft, nachweisbar an Hand der mit dem Wirtschaftswachstum zunehmenden Zivilprozesse. Verhältnis von Medizinsystem und Wirtschaft oder Kunsthandel (Galerien) im Verhältnis von Kunstsystem
(4) Wissenschaftssystem und Erziehungssystem werden durch die Organisationsform der Universitäten und Wirtschaftssystem. Auch würde eine voll durchgeführte Analyse ergeben, daß es Funktionssysteme, etwa
gekoppelt. Spätestens im 19. Jahrhundert treten die Universitäten aus der Bindung an das Religionssystem, gibt, die kaum strukturelle Kopplungen ausgebildet haben und deshalb auch in ihrem
Dienstleistungsfunktionen im Bereich des Religionssystems (Mittelalter) oder des Personalbedarfs des "structural drift" nicht deutlich geführt sind. Für einige Folgerungen genügen uns die vorgeführten Belege. Sie
1309
frühmodernen Staates heraus und bilden nun eine Organisationsgemeinschaft von Forschung und Lehre, machen vor allem deutlich, daß strukturelle Kopplungen nur als Form, das heißt nur mit einem
die erhebliche Finanzaufwendungen des Staates auch politisch rechtfertigt. Träger der Forschung bleibt die Einschließungs- und Ausschließungseffekt funktionieren. Eine Verfassung zum Beispiel mag als Rechtstext
Publikation, Träger der Lehre die Interaktion in Hörsälen und Seminarräumen. Es braucht eine verabschiedet sein, aber sie funktioniert nicht, wenn sie verfassungswidrige Einwirkungen politischer Gewalt
"Hochschuldidaktik" oder zumeist: improvisierte funktionale Äquivalente, um unter Gesichtspunkten der auf das Rechtssystem nicht unterbinden kann, etwa im Bereich der Polizei oder in der weit verbreiteten Form
1312
Lehre zu entscheiden, welche wissenschaftlichen Texte sich eignen; und umgekehrt bildet eine noch so der Korruption. Ferner machen die Beispiele deutlich, daß es sich nicht um Einrichtungen handelt, die
qualifizierte Lehre keine Reputation als Forscher. Die Systeme bleiben getrennt, aber daß sie gleichsam in gleichsam freischwebend "zwischen" den Systemen existieren und keinem von ihnen angehören. Vielmehr sind
Personalunion operieren, wirkt sich auf eine schwer bestimmbare Weise auf wissenschaftliche Publikationen es Einrichtungen, die von jedem System in Anspruch genommen werden, aber von jedem in unterschiedlichem
und, vielleicht stärker noch, auf eine gewisse Wissenschaftslastigkeit und Praxisferne der Ausbildung an Sinne; denn wie sonst sollte es zu Irritationen kommen? Und nicht zuletzt fällt die hohe gesellschaftliche
Universitäten aus. Prominenz einiger dieser Einrichtungen auf. Institutionen wie Eigentum, Vertrag, Verfassung,
(5) Für die Verbindung der Politik mit der Wissenschaft hatte man sich bis weit in dieses Jahrhundert hinein Wissensvermittlung ("Technokratie") haben zeitweise geradezu den Platz einer Gesellschaftsbeschreibung
mit der Rekrutierung von wissenschaftlich ausgebildetem Nachwuchs begnügt. In dem Maße aber, als die besetzt. Auch insofern dient die Theorie funktionaler Differenzierung dazu, solche Ansprüche zu relativieren
wissenschaftlicher Forschung schneller voranschreitet als das Wissen der beamteten Exakademiker und und auf die Vielzahl von funktional äquivalenten Formen aufmerksam zu machen.
zugleich der Wissensbedarf des politischen Systems infolge der Reichweite seiner gesellschaftlichen Schließlich ist eine Besonderheit zu beachten, die sich nur bei systeminternen strukturellen Kopplungen
Engagements komplexer wird, bilden sich neue Einrichtungen struktureller Kopplung heraus. Sie liegen mehr ergibt. Während im Außenverhältnis für die Kopplung keine Operationen zur Verfügung stehen (Es gibt, mit
und mehr in der Beratung durch Experten. Deren Tätigkeit kann, wie man heute sieht, nicht mehr zureichend anderen Worten, kein Kopplungssystem, das einen eigenen Operationstypus und damit eine eigene
als Anwendung vorhandenen Wissens begriffen werden. Sie müssen einerseits die in der Wissenschaft noch Autopoiesis realisieren könnte), ist dies im Innenverhältnis anders. Hier kann im Falle des
bestehenden Unsicherheiten in der Kommunikation zurückhalten oder doch abschwächen und andererseits es Gesellschaftssystems Kommunikation verwendet werden, um Systemkopplungen durchzuführen. Die
vermeiden, politische Fragen als Wissensfragen vorzuentscheiden. Ihre Beratung transportiert nicht Autorität, strukturelle Kopplung wird durch eine operative Kopplung ergänzt. So kann ein Arzt eine Krankheit
sondern Unsicherheit mit den Folgeproblemen, daß Experten wissenschaftlich als unseriös erscheinen und schriftlich bestätigen und das Schriftstück dem Patienten für seinen Arbeitgeber mitgeben. Vor allem im
zugleich politisch inspirierte Kontroversen als unterschiedliche Einschätzung wissenschaftlichen Wissens Umkreis des politischen Systems haben sich zahlreiche "Verhandlungssysteme" etabliert, die in der Form von
regulären Interaktionen Organisationen zusammenführen, die ihrerseits Interessen aus verschiedenen

1305
Speziell hierzu Niklas Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3,
Frankfurt 1989, S. 11-64.
1306
Hierzu Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988. 1310
Erfahrungen dieser Art fallen heute vor allem in Bereichen wie "technology assessment", Risikoeinschätzung,
1307
Siehe etwa David Hume, A Treatise of Human Natur Book III, Part II, Section II, zit. nach der Ausgabe der Everyman's Zukunftsprognosen an. Vgl. aus einer umfangreichen Literatur etwa Peter Weingart, Verwissenschaftlichung der
Library London 1956, Bd. 2, S. 190 ff. Gesellschaft — Politisierung der Wissenschaft, Zeitschrift für Soziologie 12 (1983), S. 225-241; Arie Rip, Experts in
1308 Public Arenas, in: Harry Otway / Malcolm Peltu (Hrsg.), Regulating Industrial Risks: Science, Hazards and Public
Ein noch wenig untersuchtes Gebiet. Siehe aber Christian Wollschläger, Zivil-Prozeßstatistik und Wirtschaftswachstum
Protection, London 1985, S. 94-110; Hans-Joachim Braczyk, Konsensverlust und neue Technologien, Soziale Welt 37
im Rheinland von 1822 bis 1915, in: Klaus Luig / Detlef Liebs (Hrsg.), Das Profil des Juristen in der europäischen
(1986), S. 173-190; ferner für das sehr ähnliche Verhältnis von Wissenschaftssystem und Rechtssystem Roger Smith /
Tradition: Symposion aus Anlaß des 70. Geburtstages von Franz Wieacker, Ebelsbach 1980, S. 371-397.
Brian Wynne, Expert Evidence: Interpreting Science in the Law, London 1989.
1309
Zu dieser Entwicklung vgl. Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität: Zur Interaktion 1311
Siehe für den programmatischen Impuls etwa Robert von Mohl, Über Staatsdienstprüfungen, Deutsche Vierteljahrs
von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung, Rechtshistorisches Journal 6 (1987), S. 135-151;
Schrift 4 (1841), S. 79-103.
ders., System/ Umwelt-Beziehungen europäischer Universitäten in historischer Perspektive, in: Christoph Oehler /
1312
Wolf-Dietrich Webler (Hrsg.), Forschungspotentiale sozialwissenschaftlicher Hochschulforschung, Weinheim 1988, S. Zu dem daraus folgenden rein symbolischen Gebrauch von Verfassungen vgl. Marcelo Neves, Verfassung und
377-394; ders., Der frühmoderne Staat und die europäische Universität: Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem Positivität des Rechts in der peripheren Moderne: Eine theoretische Betrachtung und eine Interpretation des Falls Brasilien,
im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.-18. Jahrhundert), Frankfurt, 1991. Berlin 1992; ders., A Constitucionalização Symbólica, São Paulo 1994.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 357 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 358
1313
Funktionssystemen vertreten. So bilden sich im Umkreis der pharmazeutischen Industrie, wie Michael weitere Irritationen Lernprozesse eingeleitet werden oder ob das System sich darauf verläßt, daß die Irritation
Hutter gezeigt hat, "Konversationszirkel", die Fragen des Patentrechts, der Forschungsmöglichkeiten und der mit der Zeit von selbst verschwinden werde, weil sie ein nur einmaliges Ereignis war. Im Offenhalten beider
1314
wirtschaftlichen Interessen behandeln. Operative Kopplungen können strukturelle Kopplungen nicht Möglichkeiten liegt eine Garantie für die Autopoiesis des Systems und zugleich eine Garantie seiner
ersetzen. Sie setzen sie voraus. Aber sie verdichten und aktualisieren die wechselseitigen Irritationen und Evolutionsfähigkeit. Aber die Autopoiesis hängt nicht, das wäre fatal, von der Lernfähigkeit des Systems ab.
erlauben so schnellere und besser abgestimmte Informationsgewinnung in den beteiligten Systemen. Zugleich zeigt diese Überlegung auch (und das wird schon für Organismen gelten), daß die Steigerung der
Irritabilität mit der Steigerung der Lernfähigkeit, also mit der Fähigkeit zusammenhängt, eine
Ausgangsirritation im System zu vermehren und im Abgleichen mit vorhandenen Strukturen solange weitere
Irritationen zu erzeugen, bis die Irritation durch angepaßte Strukturen konsumiert ist.
X. Irritationen und Werte Um für Irritation offen zu sein, sind Sinnstrukturen so gebaut, daß sie Erwartungshorizonte bilden, die
mit Redundanzen, also mit Wiederholung Desselben in anderen Situationen rechnen. Irritationen werden dann
Die Verwirklichung funktionaler Differenzierung als Primärform gesellschaftlicher Differenzierung in der Form von enttäuschten Erwartungen registriert. Dabei kann es sich um positive und um negative, um
ändert auf tiefgreifende Weise die Umweltverhältnisse der Systeme, und zwar sowohl des Gesamtsystems freudige und um leidige Überraschungen handeln. In beiden Fällen geht es einerseits um momentane
Gesellschaft als auch seiner Teilsysteme. Zur Darstellung dieser Veränderung benutzen wir, strukturelle Inkonsistenzen, die auch vergessen werden können; man sieht die Konsequenzen nicht oder verdrängt sie.
Kopplungen voraussetzend, den Begriff der Irritation.
1315
Die These ist, daß der Übergang zu dieser Andererseits kann die Irritation aber auch eigene Wiederholbarkeit anmelden und auf dieser Ebene mit den
Differenzierungsform die Irritierbarkeit der Gesellschaft steigert, ihre Fähigkeit, auf Veränderungen der Erwartungsstrukturen des Systems in Widerspruch treten. Über Systemdifferenzierung werden sehr
Umwelt rasch zu reagieren, zunehmen läßt, zugleich aber dies mit einem weitgehenden Verzicht auf unterschiedliche Erwartungshorizonte erzeugt, auch sehr unterschiedliche Zeitspannen, innerhalb derer
Koordination der Irritationen bezahlen muß. Auf die Unkoordiniertheit der Irritationen kann die Gesellschaft Künftiges gegenwärtig schon Beachtung verdient, und schließlich sehr unterschiedliche Rhythmen und
dann wiederum nur irritiert reagieren, und nicht etwa durch eine zentral überwachte Lösung des Problems der Frequenzen möglicher Wiederholbarkeit. Dies ist denn auch der Grund, aus dem funktionale Differenzierung
Überirritation. Denn wäre eine solche zentrale Planung und Steuerung möglich, würde das sehr rasch die eine immense Ausweitung der Irritierbarkeit gesellschaftlicher Kommunikation erzeugt, zugleich aber die
Irritabilität der Gesellschaft auf das Format der Informationsverarbeitungskapazität der entsprechenden Stelle Lernzumutungen im Normalfalle auf eines der Funktionssysteme beschränkt und es dabei offen läßt, ob dieses
(und man kann eigentlich nur an Organisation denken) einschränken und den Vorteil wiederaufgeben, der mit System über Änderungen seiner Strukturen und Operationen andere Systeme irritieren wird.
der Steigerung von Irritabilität gewonnen war. In der Tendenz verlagert sich die Informationsverarbeitung von Aus all dem folgt, daß Irritationen nie auf "die Umwelt" (als Einheit) zugerechnet werden können,
1316
antezipativen auf reaktive Muster (obwohl bei zunehmender Komplexität beides zunehmen kann). sondern die Identifikation bestimmter Störquellen erfordert und anders nicht wahrgenommen werden können.
In der alteuropäischen Tradition wurde an entsprechender Funktionsstelle der Begriff der "admiratio" Der Begriff bezieht sich also nicht auf das allgemeine System/Umwelt-Verhältnis, sondern auf System-zu-
benutzt.
1317
In diesem Begriff findet man Verwunderung und Bewunderung zusammengefaßt. Der Anlaß ist System Beziehungen, und dies ist der Grund, weshalb sich die in einer Gesellschaft wahrnehmbaren
das Auftreten von etwas "Neuem" als Abweichung von erwarteter Kontinuität und Wiederholung. Admiratio Irritationen mit den Formen der Systemdifferenzierung ändern.
ist somit als Ausnahme gedacht. Und sie wird als undifferenzierter Zustand (Passion) beschrieben, als Dies Theoriekonstrukt, bestehend aus den Komponenten Autopoiesis, strukturelle Kopplung, Irritation,
unentschieden in Bezug auf wahr/unwahr, als noch nicht binär codiert. Admiratio zu erzeugen, soweit sie setzt, im Unterschied zu älteren, modelltheoretisch oder mathematisch gearbeiteten Systemtheorien, keinen
nicht von selbst eintritt und dann Anlaß geben kann für religiöses Erleben, ist Sache der Kunst. In jedem Falle Gleichgewichtszustand voraus, in den das System nach einer Störung zurückkehrt. Allenfalls könnte man
sind es Gelegenheiten oder Handlungen, die nach dieser Semantik Irritationen auslösen. Es geht noch nicht, daran denken, daß das System die Doppelmöglichkeit hat, über negativen feedback (Beseitigung der durch
aber die Übergänge sind fließend, um eine ständige Selbstirritation der Gesellschaft. Störung entstandenen Differenz) oder über positiven feedback (Abweichungsverstärkung) zu reagieren. Damit
Der moderne Begriff der Irritation (oder "Perturbation") erfaßt einen funktionsgleichen Sachverhalt, käme man bereits in die Nähe von evolutionstheoretischen Konzepten und würde den Ausgangszustand rein
reagiert aber auf eine andere Form gesellschaftlicher Differenzierung. Er hat seinen theoretischen Ort in der historisch (also nicht strukturell als Gleichgewicht) voraussetzen. Der Begriff der Irritation führt diesen
These eines Zusammenhangs von operativer Schließung (Autopoiesis) und struktureller Kopplung von Theorieentwicklungstrend weiter. Er entspricht dem Übergang zu einer Theorie nichttrivialer Maschinen
System und Umwelt. Umwelteinwirkungen auf das System, die es selbstverständlich in jedem Augenblick in (Heinz von Foerster) und dem Übergang von struktureller Stabilität zu dynamischer Stabilität.
riesigen Ausmaßen gibt, können das System nicht determinieren, weil jede Determination des Systems nur im Irritation ist ein jeweils systemeigener Zustand ohne Entsprechung in der Umwelt des Systems. Wenn
rekursiven Netzwerk der eigenen Operationen (hier also: nur durch Kommunikation) erzeugt werden kann und man an einem System eine Irritation beobachtet, kann man daraus nicht schließen, daß auch die Umwelt
in diesem Zusammenhang an die systemeigenen Strukturen gebunden bleibt, die solche Rekursionen und entsprechend irritiert sei; ja nicht einmal, daß der Umweltzustand, der die Irritation auslöst, für die Umwelt
1318
entsprechende operative Sequenzen ermöglichen (Strukturdetermination). Irritation ist danach ein (für wen denn?) ein Problem sei. A 'pollution' is a creation of human judgment . Das Ozonloch, das
Systemzustand, der zur Fortsetzung der autopoietischen Operationen des Systems anregt, dabei aber, als gesunkene U-Boot mit Nuklearantrieb, die "sterbenden" Wälder sind nicht über sich selbst irritiert. Die
bloße Irritation, zunächst offen läßt, ob dazu Strukturen geändert werden müssen oder nicht; ob also über Umwelt ist, wie sie ist. Über Irritation kann man also, genau genommen, nur mit Systemindex sprechen. Das
kann man auch daran erkennen, daß der Begriff bereits eine Differenz voraussetzt, die es nur in einem System
geben kann, nämlich die Differenz von normaler, strukturell vorgezeichneter Operationsabfolge und einem
1313 1319
Vgl. zu diesem viel diskutierten Thema nur Helmut Willke, Systemtheorie III Steuerungstheorie: Grundzüge einer Zustand, dessen Konsequenzen unklar, dessen Überleitung in Anschlußoperationen unentschieden ist.
Theorie der Steuerung komplexer Sozialsysteme, Stuttgart 1995, S. 109 ff.
Diese Differenz (und damit: die "Form" von Irritation) tritt in Sinnsystemen als semantische Differenz auf. Sie
1314
So in Michael Hutter, Die Produktion von Recht: Eine selbstreferentielle Theorie der Wirtschaft, angewandt auf den macht es möglich, die Irritation zu bezeichnen, etwa als Problem oder eventuell auch als Ambivalenz, als
Fall des Arzneimittelpatentrechts, Tübingen 1989. Unklarheit, die man vielleicht auch auf sich beruhen lassen kann. Diese Differenz ist die Form, in der ein
1315
Für eine Analyse auf der Ebene des Organismus siehe im Anschluß an Piaget Jean Claude Tabary, Interface et
Assimilation: Etat stationnaire et accomodation, Revue internationale de systémique 3 (1989), S. 273-293. Vgl. auch Jean- 1318
So Keith Hawkins, Environment and Enforcement: Regulation and the Social Definition of Pollution, Oxford 1984, S.
Baptiste Pierre Antoine de Monet de Lamarck, Philosophie zoologique, Paris 1809, Nachdruck Weinheim 1960, Bd. 1, S.
15, ausführlicher 23 ff. Wir würden, statt von judgment, von Kommunikation sprechen.
82 ff.
1319
1316 Diese Unterscheidung mag an dieser Stelle ausreichen. Man sollte aber im Auge behalten, daß die Zuordnung zu der
Vgl. Karl E. Weick, Sensemaking in Organizations, Thousand Oaks Cal. 1995.
einen oder anderen Seite der Unterscheidung im System selbst erfolgt, also über selbstbeobachtende Operationen des
1317
Die beste Kurzinformation gibt der Art. 53 "L'admiration" in Descartes' Les passions de l'âme (zit. nach Œuvres et Systems entschieden wird und nicht nach allgemein und gleichsam ontologisch festliegenden Kriterien. Das ist eine
Lettres, éd. de la Pléiade, Paris 1952, S. 723 f.). Voraussetzung dafür, daß man überhaupt von Steigerung der Irritabilität von Systemen sprechen kann.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 359 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 360

Sinnsystem auf Umwelteinwirkungen reagiert und damit auf etwas reagiert, was auf ganz anderen (1) in bezug auf die durch Technik und Überbevölkerung ausgelösten ökologischen Probleme der
Realitätsebenen (etwa chemisch oder bewußtseinsmäßig) oder auch in anderen Funktionssystemen stattfindet, außermenschlichen Umwelt;
die für das System wegen seiner operativen Schließung unzugänglich sind. (2) in bezug auf die Bevölkerungszunahme selbst, also die rapide Vermehrung menschlicher Körper und deren
Diese begriffliche Revision reagiert auch auf eine Veränderung der Einstellungen zum gesellschaftlichen unkontrollierbare Wanderungen; und
Fortschritt. Sie gibt Raum für Zweifel, ob das Modell der Arbeitsteilung, die Ertragsüberschüsse erzeugt, auf (3) in bezug auf die zunehmend individualisierte, zunehmend "eigensinnig" gebildeten, auf Glück und
das Gesellschaftssystem übertragen werden kann. In diesem Modell war man davon ausgegangen, daß Selbstverwirklichung gerichteten Erwartungen der Einzelmenschen.
Differenzierung nach Gesichtspunkten funktionaler Spezifikation rational sei, weil sie eine leistungsfähigere All diese Insuffizienzen sind, wie leicht zu sehen, ein direkter oder indirekter Effekt der modernen
Herstellung von Gütern ermögliche und es erlaube, Kosten einzusparen, sofern nur der Markt, für den Gesellschaftsevolution, also des Übergangs zu funktionaler Differenzierung. Einerseits ist der Irritationspegel
produziert werde, groß genug sei und die Produkte abnehmen könne. Man muß dabei nicht nur an der Gesellschaft auf Grund der Freistellung von Funktionssystemen für Eigendynamik gestiegen in einem
wirtschaftliche Güter denken, sondern zum Beispiel auch an Gesundheit oder an wissenschaftliche Erkenntnis Maße, das sich jeder Koordination entzieht und über gegenseitige Irritation der Funktionssysteme in
oder Bildung. Steigerung von Irritabilität ist jedoch etwas ganz anderes als Steigerung von Leistung. Man Selbstirritation der Gesellschaft umschlägt. Andererseits werden damit ganz offensichtlich die ebenfalls
kann dabei bleiben, daß funktionale Differenzierung Entlastungseffekte mit sich bringe und zum Beispiel nach zunehmenden Diskrepanzen im Verhältnis des Gesellschaftssystems zu seiner Umwelt zwar als Probleme in
den jeweils eigenen Kriterien der Funktionssysteme bessere Wissenschaft (mehr Erkenntnis), bessere der Kommunikation sichtbar, aber nicht mit zureichenden Lösungen versehen. Die immer neu nachgelieferten
Wirtschaft (mehr Wohlstand), bessere Politik (mehr Demokratie, bessere Meinungsabstimmungen), bessere Informationen machen die Diskrepanz zwischen Irritation und Abhilfe allgegenwärtig. Die funktionale
Gesundheit, bessere Erziehung für mehr Menschen usw. ermögliche. Das wird man nicht bestreiten wollen. Differenzierung greift in ihren Auswirkungen stärker in die Umwelt ein, aber sie sorgt nicht für eine
Aber diese primäre Blickrichtung auf gesellschaftsinterne Funktionen und Leistungen blendet die Sicht auf gesellschaftszentrale Behandlung der Folgen. Sie zerstreut die Rückwirkungen in der Gesellschaft, verteilt sie
1322
dasjenige Problem aus, um das es im Begriff der Irritation geht, nämlich auf das Verhältnis von System und als Irritationen auf die einzelnen Funktionssysteme, weil nur dort wirksame Abhilfen zu erwarten sind. Um
Umwelt, oder genauer: auf das Problem des re-entry der Differenz von System und Umwelt in das System. so dringender wird es, dem Problem der Rationalität die Form eines re-entry Problems zu geben. Das führt zu
Also das Problem nicht der Leistungsrationalität sondern der Systemrationalität. der Frage: kann die Gesellschaft sich intern auf ihre Umwelt einstellen — und sei es nur auf die
Die primär auf Leistungssteigerung gerichteten Bemühungen haben als Nebeneffekt auch die Veränderungen ihrer Umwelt, die sie selbst erzeugt? Aber gerade re-entry ist der Form nach ebenfalls ein
Umweltsensibilität der Funktionssysteme erhöht. Das positive Recht kann auf neue Regulierungsbedürfnisse Paradox: das Hineincopieren einer Unterscheidung als dieselbe in eine andere.
umgestellt werden, die Politik kann sich laufend neuer Themen annehmen. Die Wirtschaft kann Geldströme Was man gegenwärtig beobachten kann, läßt sich nicht als zielstrebige Lösung dieses Problems
umlenken und das Bildungssystem kann neue Lehr- und Prüfungsgegenstände einführen. Die Massenmedien begreifen, sondern nur als evolutionäre Veränderung (einschließlich Neubildung) von Strukturen, die auf die
benötigen jeden Tag neue Neuigkeiten, Kunst und Wissenschaft verstehen sich aus der Differenz zu dem, was gegebene Lage reagieren. Zu diesen epigenetisch evoluierenden Formen zählt vor allem das überraschende
bereits vorliegt. Zumindest auf der programmatischen Ebene ist überall ein beschleunigter Wandel Neuentstehen harter Unterscheidungen und Grenzen, die zur Identitätsbildung beitragen und deshalb nicht
1323
festzustellen; und überall gibt es Professionen und Organisationen, die auf die Initiierung von Änderungen überschritten werden können. Das sieht man an der Wiederkehr ethnischer Unterscheidungen in
verpflichtet sind und höchst irritiert reagieren und aktiv werden würden, wenn es zum Stillstand käme. Das ist vermeintlich staatlich pazifizierten Regionen und ebenso an dem Wiederaufleben religiöser Fundamentalismen
1324
ein unmittelbares Resultat der Differenzierung von Codierung und Programmierung. Innovation gilt immer in einer Weltgesellschaft, die üblicherweise als "säkularisiert" beschrieben wird. In beiden Fällen kommt es
noch in einem nicht weiter reflektierten Sprachgebrauch als gut und förderungswürdig. Inzwischen sieht man zu Insulationsprozessen, zu minoritären Inklusions/Exklusions-Verhältnissen, die Standorte für
aber auch, daß dies in hohem Maße auf eine Selbstirritation der Gesellschaft, schließlich auf eine Irritation Identitätsgewißheit anbieten, ohne dafür Leistungen der Funktionssysteme und ihrer Organisationen in
durch Irritation hinausläuft. Ein nicht belangloser Indikator dafür ist, wenn Organisationstheoretiker Anspruch zu nehmen. (Daß die pervasiven Medien der Funktionssysteme, etwa Geld oder organisierte
beobachten (und für die Wissenschaftstheorie gilt Ähnliches), daß Problemlösungen auf der Suche nach den Amtsmacht auch hierbei eine Rolle spielen, soll natürlich nicht bestritten werden; aber sie werden nicht als
Problemen sind, die sie gelöst haben, um ihren eigenen Sinn zu finden und möglicherweise auf andere, Identitätsangebote genutzt). Rassenunterscheidungen spielen eine Rolle, ebenso der "gender trouble" und nicht
1320
funktional äquivalente Problemlösungen zu kommen. Oder daß die Selbstirritation des Systems durch das zuletzt ein motivstarker Fremdenhaß, der sich von demographischen Bewegungen nährt, die ihrerseits als
Schema Problem/Problemlösung davon ablenkt, daß faktisch eine konfliktreiche, interessenbezogene unkontrollierte Nebenwirkungen des regional sehr unterschiedlichen Erfolgs der Funktionssysteme eintreten.
1321
Selbstbeschreibung der Systeme ausgearbeitet wird. Und weil es um Identität geht, geht es auch um Gewalt. Die harten Grenzen solcher Eigenbereiche sind
Die Gegenbeobachtung lehrt, daß auf diese Weise auch der Problemdruck zunimmt und zugleich das in keiner Weise mit den Grenzen der Funktionssysteme abgestimmt. Sie werden expressiv kommuniziert, und
Verhältnis des Gesellschaftssystems zu seiner Umwelt immer schwieriger wird. Die Irritationskanäle leichte Bereitschaft zur Gewalt ist, wie einst in der Welt des untergehenden Adels, das vielleicht
absorbieren offenbar zu viel und nicht genug Probleme. Würde es sich nur um falsche Problemstellungen ausdrucksstärkste Mittel, mit dem man existentielles Engagement anzeigen kann. Selbstverständlich geht es
handeln, wie viele hoffen und anmahnen, ließe sich das korrigieren. Aber sind wir da sicher? Es könnte ja auch nicht um psychologische Fakten. Was der Einzelne sich dabei denkt, bleibt unbekannt. Auch und gerade
sein, daß sich hinter dem Prozeßbegriff der Irritation eine Paradoxie verbirgt, nämlich die Paradoxie der Gewalt ist, weil sie das Fürchten lehrt, ein kommunikatives Ereignis ersten Ranges.
Einheit der Differenz von System und Umwelt; und dann würde es sich hier um eine Entfaltung dieser In all den genannten Fällen geht es nicht zuletzt darum, Unirritierbarkeit zu demonstrieren.
(unsichtbaren) Grundparadoxie handeln, die in der Auflösung ihrerseits paradoxe Formen annimmt, Formen Unirritierbarkeit ist auch die Lösung für eine ganz andere, vergleichsweise harmlosere Ebene der
einer Hektik des Stillstandes, einer Änderungsplanung, die unkontrollierte Evolutionen auslöst, einer
Irritationsflut, die nicht aufgelöst, nicht abgearbeitet wird, sondern sich gleichsam in der Irritation anderer 1322
Vgl. Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische
Systeme entirritiert. Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986.
Was immer man von dieser Theoriekonstruktion halten mag: zu beobachten ist, daß die Irritationsanläße 1323
aus der Umwelt des Gesellschaftssystems in den letzten Jahrzehnten dramatisch zunehmen — und zwar auch Hieran knüpft Dirk Baecker in einem Seminarvortrag an der Bielefelder Universität (24.XI.92) die Hoffnung, daß
dadurch auf die Umweltprobleme besser bedient werden könnten.
und gerade auf den Bildschirmen der Gesellschaft selbst. Das gilt in mindestens drei Hinsichten:
1324
Siehe hierzu den Vergleich von islamischen und amerikanischen (protestantischen) Fundamentalismus bei Dieter
Goetze, Fundamentalismus, Chiliasmus, Revitalisierungsbewegungen: Neue Handlungsmuster im Weltsystem?, in: Horst
Reimann (Hrsg.), Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft: Theorie und Pragmatik globaler Interaktion,
1320 Opladen 1992, S. 44-59. Der Vergleich zeigt schlagend, daß der Fundamentalismus nicht auf die jeweiligen Traditionen
Siehe James G. March / Johan P. Olsen, Ambiguity and Choice in Organizations, Bergen, Norwegen 1976.
zurückgeführt werden kann, mit denen die Anhänger sich identifizieren. Es handelt sich nicht um "survivals", sondern um
1321
Vgl. Martha S. Feldman, Order Without Design: Information Production and Policy Making, Stanford 1989. Neubildungen, die Opposition suchen.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 361 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 362
1325
Kommunikation: für das Insistieren auf ethischen Prinzipien oder unverzichtbaren Werten. Hier fällt der Gleichheit als solchen bestreiten wollen, aber die Mitberücksichtigung anderer Gesichtspunkte verlangen
zunächst auf, daß die unter diesen Bezeichnungen geführte akademische Diskussionen, die sowohl in der wollen. Aber das ist zu kompliziert und lohnt im Einzelfall nicht. So läßt man den Wert durchgehen.
Moralbegründungsethik als auch in der Wertphilosophie in Sackgassen geführt hatten, nicht oder allenfalls in Werte enthalten keine Regel für den Fall des Konfliktes zwischen Werten. Es gibt, wie oft gesagt, keine
1326
populärer Weise fortgesetzt werden. Anscheinend reagiert man auf dringender gewordene Bedürfnisse. Bei transitive oder hierarchische Ordnung der Werte. Gerade weil jede Wertordnung voller "strange loops" steckt
1330
einer soziologischen Analyse sieht man zusätzlich, daß es an jeder Vorsorge für die Umsetzung der und damit ständig kollabiert, eignet sie sich als "inviolate level". In diesem Sinne kann es keine absoluten
unirritierbaren Postulate in soziale Realisation, ja selbst an einem Verständnis für dieses Problem fehlt. Die Werte geben, die sich in jeder Situation Vorrang verschaffen. Die Abstraktion von zahlreichen Werten in der
Ethik wendet sich, mit welchen Begründungen immer, an individuelle Entscheider. Aber davon gibt es so Form von Einzelpräferenzen kann nur heißen, daß Werte laufend kompromittiert oder zurückgestellt werden
viele, die gleichzeitig entscheiden (und noch mehr, wenn man mit Zeitdistanzen multipliziert), daß nicht recht müssen. Je mehr Werte, desto weniger ist ihnen zu entnehmen, wie zu entscheiden ist. Ein wichtiger Vorzug
1327
zu sehen ist, wie eine soziale Koordination zustandekommen könnte. Wenn die Ethik zum Beispiel dieser Wertesemantik darf jedoch nicht übersehen werden. Da Werte in die Kommunikation eingehen und in
Verzicht auf ein gewohntes Konsumniveau im Interesse der Umwelt oder im Interesse gerechterer weltweiter der Form "berechtigter" Interessen vertreten werden, prägen sie sich dem Gedächtnis des Systems ein.
Verteilungen verlangt, ist nicht zu sehen, wie dieses Ziel über individuelle Motivierung erreicht werden soll. Ablehnungen und Zurückstellungen werden erinnert und können bei nächster Gelegenheit erneut ins Gespräch
1328
Was bleibt, ist eine gewisse Larmoyanz , die feststellt, daß die Gesellschaft den ethischen Ansprüchen nicht gebracht werden. Weder war die Berechtigung der Anliegen, der Wert der Werte, bestritten worden, noch wird
genügt, und mit dieser Feststellung verständlicherweise kommunikativ erfolgreich agiert. Fragt man aber, wie die Nichtberücksichtigung schlicht vergessen. Die gängigen Werte verschieben, anders gesagt, die
dieses Insistieren auf Unirritierbarkeit sich zur Irritierbarkeit der sozialen Systeme verhält, kommt man wieder Normalbalance von Vergessen und ausnahmsweisem Erinnern in Richtung Erinnern. Und das kompensiert
auf das Paradox der Einheit einer Unterscheidung, die nur auf der einen oder der anderen ihrer beiden Seiten über die Zeit hinweg in gewissem Maße dafür, daß Werte allein noch keine Entscheidungsprogramme sind.
benutzt werden kann. Absolute Werte nehmen angesichts dieser Sachlage eine eigentümliche Form an: es sind Werte mit
Da mit Ethik kaum fester Boden zu gewinnen ist, sucht man die Verunsicherung durch unkoordinierbare reflektierter Gegnerschaft. Da die Anhänger solcher Werte schon wissen, wer ihre Gegner sein werden, sehen
1329
Dauerirritation auf der Ebene der "Werte" aufzufangen. Werte kompensieren den "Realitätsverlust", der im sie keinen Anlaß zur Nachgiebigkeit. Für sie gibt es nur Siege und Niederlagen, zumal sie sicher sein können,
Übergang zum Modus der Beobachtung zweiter Ordnung eintritt. Sie formulieren statt dessen Präferenzen daß der Wert, den sie vertreten, als Wert nicht bestritten werden kann.
und beurteilen von dort aus die Realität. Gerade weil es nur Präferenzen sind, können sie zu Festpunkten Dies mögen Randerscheinungen bleiben in der Nähe von Fanatismen und Fundamentalismen, wie sie in
fixiert werden, wenn in der Kommunikation durchgesetzt werden kann, daß dem nicht widersprochen wird. einer sich selbst hyperirritierenden Gesellschaft laufend reproduziert werden. Letztlich werden dann auch
Man kann sie in der laufenden Kommunikation als "inviolate level" (Hofstadter) in Anspruch nehmen und so Wertkonflikte wieder in Irritationen und Irritationen in Entscheidungslasten umgewandelt. Auf die Härten der
die kontingent gewordene Realität nochmals überbieten. Unterscheidungen, die zur Identitätsbestimmung benutzt werden, auf die Prinzipienproklamationen der Ethik
Das geschieht mit Hilfe einer bestimmten Kommunikationstechnik. Werte werden in der Kommunikation und auf die Unterstellung von Werten können die Funktionssysteme wiederum irritiert reagieren. Der
vorausgesetzt, auch mitkommuniziert, aber nicht der Kommunikation ausgesetzt. Sie werden nur als Fremdenhaß mag zum politischen und zum rechtlichen Problem werden, die ethnischen Konflikte mögen
Prämissen, nicht als Behauptungen aktiviert. Die wertbezogen laufende Kommunikation sieht deshalb keinen Wirtschaftspotential abbauen und Finanzströme beeinflußen. Frauenprobleme werden in Karriereprobleme
Anlaß, auf eine Wertbehauptung mit Annahme oder Ablehnung oder mit einem modifizierenden "ja, aber..." umgearbeitet und religiöse Radikalismen als Problem für die Demokratisierung der Politik wahrgenommen.
zu reagieren. An sich sind Werte zunächst nur Präferenzen. Nur über komplexe historische Bezugnahmen auf ethische Prinzipien oder unverzichtbare Werte mögen im alltäglichen Sprachgebrauch
Sinnverschiebungen sind seit dem 19. Jahrhundert in den Wertbegriff auch soziale Zumutungen eingebaut zunehmen und in den verschiedenartigsten Situationen, bei der Formulierung von Parteiprogrammen oder bei
worden. Wenn Frauen Gleichbehandlung verlangen, ist damit zugleich angedeutet, daß andere dies höchstrichterlichen Entscheidungen, bei der Verkündung von Firmengrundsätzen oder bei der Vorbereitung
anzuerkennen haben, ohne daß die Prämisse, Gleichheit sei ein Wert, zur Diskussion gestellt würde. Es wird von Gesetzen Formulierungshilfe leisten. Wie die gerade anstehenden Probleme dann gelöst werden (wie das
also mehr als nur eine Präferenz ausgedrückt, und dies in einer Form, die beim typischen Tempo der System die ethische Irritation im Sinne von Piaget "assimiliert"), ist eine andere Frage. Kurz, es kommt zu
Kommunikation nicht ihrerseits zum Thema der Kommunikation gemacht wird. Die Last der Komplexität obliquen Thematisierungen in inkongruenten Perspektiven. Nur wenn man sich auf die Seite der ohnehin
wird damit dem zugeschoben, der einen Einwand vorbringen möchte. Er würde vielleicht gar nicht den Wert irritationsüberlasteten Funktionssysteme stellt und immer noch hier die einzige Hoffnung sieht, kann man
deren Versuche, Irritationen in Erwartungsstrukturen zu transformieren, als Aussicht auf eine Lösung auch
der jeweiligen Umweltprobleme einschätzen. Dazu gehört heute einiger Optimismus. Jedenfalls zeichnen sich
deutlich Grenzen der Möglichkeit ab, die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit dieser an Funktionen orientierten
1325
Auch die mit viel Sympathie rezipierte Diskurstheorie von Jürgen Habermas, die nicht auf eine Variante von "Ethik" Form der gesellschaftlichen Differenzierung rückstandslos zu normalisieren.
reduziert werden kann, wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. Sie setzt bekanntlich, mit Offenhalten der
Kriterienproblematik, auf eine vernünftig zu erreichende Verständigung.
1326
Hierzu auch Niklas Luhmann, Wirtschaftsethik — als Ethik? in: Josef Wieland (Hrsg.), Wirtschaftsethik und Theorie
der Gesellschaft, Frankfurt 1993, S. 134-147.
1327
Das war, wie noch anzumerken ist, im antiken Begriff des éthos als politische Natur des Menschen vorausgesetzt XI. Gesellschaftliche Folgen
gewesen; der Einzelne mußte demnach nur seine eigene Natur erkennen. In der Transzendentalphilosophie hatte man auf
gewisse, in allen empirischen Menschen gleiche transzendentale Bedingungen der Möglichkeit gesetzt. Dem folgte die
Annahme eines "Sozialapriori" (Max Adler). Gerade damit war aber die soziologische Frage nach den empirischen Die vielen problematischen Folgen der funktionalen Differenzierung und der unkorrigierbaren operativen
Möglichkeiten eines sozialen, erst noch zu leistenden Abstimmens der Verhaltensprämissen (auf der Basis von Autonomie der Funktionssysteme sind oft beschrieben und der modernen Gesellschaft zur Last gelegt worden.
Unirritierbarkeit!) abgeschnitten. Am bekanntesten ist sicher das Versagen des Weltwirtschaftssystem vor dem Problem der gerechten
1328
Hegel hätte vielleicht von einem Standpunkt der Rührung gesprochen, mit dem das Individuum sich in seiner guten Verteilung des erreichten Wohlstandes. Ähnliche Folgeprobleme lassen sich für andere Funktionssysteme
Gesinnung selbst affirmiert. Siehe dazu die Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. zit. nach Werke Bd. 16, aufweisen. Das auf Schulen und Hochschulen konzentrierte Erziehungssystem hat zu einer erheblichen
Frankfurt 1969, S. 172 ff. Solange man "Ethik" auf individuelles Verhalten bezieht und den Begriff des Individuums Verlängerung der Ausbildungszeiten für den Nachwuchs geführt. Er könnte längst produktiv tätig sein und
empirisch ernst nimmt, wird man darüber kaum hinauskommen.
1329
Natürlich kann man auch das wieder "Ethik" nennen; aber es liegt auf der Hand, daß dies ein Mißbrauch eines Titels
1330
der Tradition ist und nur dazu dient, eine genauere Analyse der Eigenarten von Kommunikation mit Bezugnahme auf Wir formulieren in der Terminologie von Douglas R. Hofstadter, Gödel, Escher, Bach: An Eternal Golden Braid,
Werte zu verhindern. Hassocks, Sussex UK 1979, in der Absicht, auch diese Unterscheidung noch zu dekonstruieren.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 363 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 364

heiraten, statt sich weiter in Einrichtungen der höheren Bildung zu tummeln, um seine Ausgangsposition für Aber was ist "die Umwelt" und wie wirken sich diese Beschränkungen des Umgangs mit ihr auf die
einen Berufstart zu verbessern. Das politische System zieht über die politische Parteien Personen in die Gesellschaft aus? Diese Frage führt zurück auf das Problem der gesellschaftlichen Folgen funktionaler
Politik, die dann auf Grund der puren Notwendigkeit, beschäftigt zu sein, das Volk mit nichtfinanzierbaren Differenzierung.
Wohltaten beglücken. Die Erwartungen, die an Intimbeziehungen (Stichwort Liebesheirat) gerichtet werden, Wenn man Gesellschaft als Autopoiesis der Kommunikation begreift, gehört alles, was daraus
sind so stark gesteigert, weil man schließlich Motive braucht, sich darauf einzulassen, daß in den ausgeschlossen ist, zur Umwelt. Dazu zählen dann nicht nur die üblicherweise gemeinten ökologischen
anschließenden Ehen ein erheblicher Therapiebedarf entsteht und es häufig zu Scheidungen und Neuversuchen Bedingungen der Fortexistenz gesellschaftlicher Kommunikation, sondern auch die menschlichen Individuen,
kommt. die mit ihren eigensinnigen Bewußtseinsleistungen zur Kommunikation beitragen. Wir haben es also mit zwei
Die genannten Beispiele zeigen, daß die Funktionssysteme der Gesellschaft sich selbst — und damit die Arten von Umwelt zu tun, die sich danach unterscheiden, ob sie zur Fortsetzung der Kommunikation
Gesellschaft! — mit Folgeproblemen ihrer eigenen Ausdifferenzierung, Spezialisierung und beitragen, also als "Personen" ansprechbar sind oder nicht. Die Biomasse menschlicher Körper nimmt an
Hochleistungsorientierung belasten. Dies ist jedoch nur ein Teilbereich dessen, was man an gesellschaftlichen beiden Umwelten teil und bietet in der Tat den Gesichtspunkt, von dem aus sich die gesellschaftliche
Folgen funktionaler Differenzierung beachten müßte. Ein anderer Bereich betrifft dieUmweltbeziehungen des Kommunikation hauptsächlich mit Umweltproblemen als Problemen des Überlebens der Menschheit befaßt.
Gesellschaftssystems und hier besonders das Fehlen einer Zentralinstanz, die für solche Probleme zuständig Es gibt in der Gesellschaft nach all dem keine Zentralkompetenz für Behandlung ökologischer Probleme.
1333
wäre. Signale, die die Umwelt erzeugt und die die Gesellschaft in Informationen verwandelt, werden nur in Jedes Funktionssystem ist auf sich selbst angewiesen. Das heißt nicht, daß die Orientierung an den
den einzelnen Funktionssystemen aufgenommen und bearbeitet, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt. entsprechenden Problemen nicht verstärkt und auch der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik aufgedrängt
Man mag an Protestbewegungen denken — wir kommen darauf zurück —, aber das änder nichts daran, daß werden kann. Man wird hier an die Aktivitäten ökologischer Bewegungen und vor allem an die Massenmedien
nur ein Teilsystem der Gesellschaft sich betroffen fühlt und auf Grund der eigenen Strukturen, auf Grund des zu denken haben. Aber das steigert zunächst einmal die Diskrepanz zwischen Oroblemformulierung und
eigenen Gedächtnisses und im Rahmen der eigenen operativen Möglichkeit reagiert. Das Gesellschaftssystem Problemlösung. (Die Diskrepanz selbst kann natürlich ein Motiv sein, mehr zu tun, als es anderenfalls
selbst kann nicht handeln. Sie kommt in der Gesellschaft nicht nochmals vor, und kann sich, wenn funktionale naheläge.) Jedenfalls ist das Thema in der öffentlichen Meinung als Thema, als Schema, als Skript etabliert
Differenzierung durchgesetzt ist, in der Gesellschaft auch nicht vertreten lassen. Es gibt in der Gesellschaft und man braucht, wenn man sich damit befaßt, nicht mit erstaunten Rückfragen (Wovon redest Du
keine "gute Gesellschaft", keinen Adel, keine ausgezeichnete Form städitscher (ziviler) Lebensführung, an die überhaupt?) zu rechnen. Aber die Gesellschaft leidet an diesem Thema und an entsprechenden
man sich wenden könnte. Deshalb ist es eine allzu bequeme Illusion, Umweltprobleme "ethisch" lösen zu Zukunftsszenarien, weil Problemlösungen nicht (oder allenfalls in einem minimalen, graduellen Ausmaße)
können, obwohl appellative Formulierungen natürlich möglich und auch nützlich sind, weil sie der Erhaltung sichtbar sind. Jedes Funktionssystem kann auf die eigene Weise reagieren: die Politik rhetorisch, die
des Problembewußtseins dienen. Wirtschaft durch Preiserhöhungen, die Wissenschaft durch Forschungsprojekte, die mit jedem zusätzlichen
Zwar erzeugt jede Ausdifferenzierung eines Systems immer zugleich System und Umwelt, da Systeme Wissen noch mehr Nichtwissen zutage fördern. Noch halten sich die faktischen folgen der übermäßigen
nur als Formen gebildet werden können, die eine andere Seite, einen "unmarked space" voraussetzen. Auch Ausbeutung der Umwelt in Grenzen; aber es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß es so
operieren sinnorientierte Systeme immer mit der Kontextur Selbstreferenz/Fremdreferenz. Sie können ihre nicht weitergehen kann.
Umwelt nicht vergessen. Sie bleibt durch Einschluß des Ausgeschlossenen immer präsent. Das gilt für die Die Nichtzentralisierbarkeit ökologischer Kompetenzen mag als eine Strukturschwäche der modernen
laufende Kommunikation, für die Fortsetzung der Autopoiesis des Systems. Aber daraus folgt nicht, daß Gesellschaft angesehen werden. Die Nichtzentralisierbarkeit der Zuständigkeit für die Individualität der
systemintern eine Kompetenz für die Behandlung von Umweltfragen ausdifferenziert wird. Schon das Individuen mag eher als ein Glücksfall gelten. Eine Zentralagentur, die sich mit den Möglichkeiten befaßt,
Verhältnis von Energiebeschaffung und Machtbildung ist in allen Gesellschaften schwierig gewesen, weil die individuell zu sein und dies auch noch kommuniziert, ist nicht nur eine Greuelvorstellung, sondern außerdem
1331
Umsetzung von Umweltproblemen in systeminterne Strukturen an deren Eigenlogik scheitert. Erst recht eine offensichtliche Paradoxie. Die letzten Versuche dieser Art waren Begleitvorstellungen zum Untergang der
kann man an der Form funktionaler Differenzierung ablesen, daß es kein Steuerungszentrum und daher auch stratifizierten Gesellschaft. Es hieß damals (etwa 1650-1750), daß Individuen glücklich sein könnten, wenn sie
keine Zentralagentur für die Behandlung von Umweltfragen geben kann. Eine solche Einrichtung würde die sich mit dem Stand zufriedengäben, in dem sie geboren sind. (Und "Glück" war damals schon: reflektierte
Ausdifferenzierung aller umweltwirksamen Funktionssysteme blockieren. Die funktional differenzierte Individualität.) Die heutige Gesellschaft hat statt dessen nur Themen zu bieten wie "Identität",
Gesellschaft operiert ohne Spitze und ohne Zentrum. "Emanzipation", "Selbstverwirklichung", die einen Abbau gesellschaftlicher Schranken fordern, aber offen
Selbstverständlich heißt dies nicht, daß die Umwelt kein Thema wäre. Man kommuniziert darüber auf lassen, wie das Individuum, das den Leerraum nutzt, den die Gesellschaft ihm läßt, ein sinnvolles, den
der Ebene von "Problemen", weil es zu schwierig wäre und das Einverständnis sprengen würde, wollte man öffentlich proklamierten Ansprüchen genügendes Verhältnis zu sich selbst finden kann.
die Kommunikation auf die Ebene der "Interessen" verlagern. Nur: wenn die Umweltbelastung als Problem In unserem Zusammenhang ist nur festzuhalten, daß Individualitätsprobleme ebenso wie ökologische
formuliert wird, findet sich niemand, der für die Behandlung dieses Problems allumfassend zuständig wäre. Probleme zu den Folgelasten der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft gehören. Sie betreffen
Die Bearbeitung, ja schon für die Umwandlung von Irritationen in Informationen fällt in die jeweiligen zwar die Umwelt des Systems, aber die Gesellschaft kann, da darüber kommuniziert wird, sie nicht ignorieren.
Funktionssysteme. Gegen die Folgen können soziale Bewegungen protestieren; aber auch sie sind ja nur ein Und mit der Zunahme von Kommunikation scheint auch das Gefühl einer gewissen Hilflosigkeit zuzunehmen.
Teilsystem der Gesellschaft, das nur existieren kann, wenn es die Funktion der Funktionssysteme nicht selbst
1332
übernimmt.
Alle Informationen über die Umwelt werden mithin in den Funktionssystemen und in den
supplementären Protestbewegungen erzeugt. Sie bleiben gebunden an die Autopoiesis dieser Systeme und an XII. Globalisierung und Regionalisierung
deren jeweils systemspezifisches Gedächtnis. Das führt zu einer Engführung der Informationsverarbeitungen,
und deren Integration kann nur in einer wechselseitigen Beschränkung der autopoietisch an sich möglichen Die Charakterisierung der modernen Gesellschaft durch den Primat einer an Funktionen orientierten
Freiheitsgrade bestehen. Form der Differenzierung findet viel Widerspruch, der sich auf den ersten Blick empirisch gut begründen läßt.
Sobald man den Blick auf einzelne Regionen richtet, fallen Strukturen auf, die sich dem Funktionsmuster der
differenzierten Großsysteme nicht fügen. Man denke zum Beispiel an die Bedeutung von (reichen) Familien

1331
Vgl. Richard Newbold Adams, Energy and Structure: A Theory of Social Power, Austin 1975. 1333
Vgl. Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische
1332
Dazu näher unten ... Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 365 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 366

und analog gebauten sozialen Netzwerken im südchinesischen (Hongkong und Taiwan einschließenden) Geldanlagen geschehen, die dann wieder die regionalen Produktions- und Arbeitsmöglichkeiten beeinflußen.
1334
Wirtschaftsraum , aber auch für die Verbindung von Politik und Wirtschaft in manchen Oder im Religionssystem durch Fluktuationen der für Individuen attraktiven Moden, auf die dann ein
lateinamerikanischen Staaten. Man könnte sich fragen, wie weit der typische Japaner dem Bild des rational religiöser Fundamentalismus antwortet. Oder im politischen System durch Zerfall der Vormachtstellung von
entscheidenden Individuums entspricht, das sich am Ja/Nein-Code der Sprache orientiert, oder ob das sozial Weltmächten, auf die dann regionale Einheiten mit Selbstbehauptungsambitionen reagieren. Vor allem die
verpflichtende Hauptanliegen nicht eher darin besteht, harte Unterscheidungen zu vermeiden. Die scharfe Fortexistenz von Nationalstaaten führt dazu, daß innerhalb der Weltgesellschaft und unter Ausnutzung ihrer
Trennung von Rechtsfragen und politischen Fragen ist in vielen Staaten des Weltsystems unüblich, und es Fluktuationen regionale Interessen zur Geltung gebracht und dadurch verstärkt werden. Die Staaten
1335
hilft wenig, die dort praktizierten Problemlösungen dann als "korrupt" zu bezeichnen. Die Strategien der konkurrieren zum Beispiel auf den internationalen Finanzmärkten um Kapital für regionale
Vorteilsteilung, der Zukunftssicherung und der Einflußnahme folgen vielfach Netzwerken persönlicher, Investitionszwecke. Besonders am Staat wird diese Differenz von global und regional sichtbar, auch wenn das
direkter oder vermittelter "Empfehlungen", und dies auch dort, wo die agrarisch bedingten Klientelverhältnisse politische System der Weltgesellschaft ein Staatensystem ist, das es nicht mehr zuläßt, die Einzelstaaten als
1336
zusammengebrochen sind und man statt dessen auf Positionen in Organisationen zugreift. Je mehr man auf Einheiten für sich zu betrachten.
Details zugeht, desto auffälliger werden die Abweichungen von dem, was die Theorie funktionaler Die so verstandene Differenz von global/regional bewirkt zugleich, daß das Gesamtsystem sich nicht
Differenzierung erwarten läßt. Wohin gehört ein westafrikanischer Trommler, der eine hohe Zahl von zielabhängig, sondern geschichtsabhängig entwickelt und man stets retrospektiv auf Situationen reagieren
verschiedenen Rhythmen beherrscht und eigenwillig kombinieren kann, seine Prominenz aber den muß, die schon eingetreten sind, was wiederum eine kognitive Integration ausschließt und regional
Massenmedien und den Exotikinteressen des westlichen Publikums verdankt? In zahlreichen trancebasierten unterschiedliche Situationswahrnehmungen begünstigt. Dies widerspricht nicht der Grundannahmen, ohne die
Kulten lassen sich medizinische, seelentherapeutische und religiöse Bezüge kaum unterscheiden, und gerade es keine Weltgesellschaft und keine Globalisierungen geben würde, daß alle Funktionssysteme zur
das macht ihre Attraktivität aus. Wie kann man die weltweit zu beobachtende Ghettobildung in Großstädten Globalisierung tendieren und daß der Übergang zu funktionaler Differenzierung, wie oben (Kap. 1....)
(Rio de Janeiro, Chicago, jetzt auch in Paris) erklären: durch wirtschaftlich erzwungene ausgeführt, nur in der Etablierung eines Weltgesellschaftssystems seinen Abschluß finden kann. Raumgrenzen
Migrationsbewegungen, durch Schichtendifferenzierungen im Schulsystem, durch unterschiedliche machen für die auf Universalismus und Spezifikation angelegten Funktionssysteme keinen Sinn— es sei denn
Rechtsordnungen, durch ein Versagen politischer Kontrolle? Offenbar kombinieren, verstärken und behindern als segmentäre Differenzierung (zum Beispiel in politische Staaten) innerhalb von Funktionssystemen. Der
sich die Auswirkungen verschiedener Funktionssysteme auf Grund von Bedingungen, die nur regional Funktionsbezug fordert zum ständigen Kreuzen von territorialen Grenzen auf: zum Empfang der Nachrichten
gegeben sind und folglich sehr unterschiedliche Muster erzeugen. Niemand wird diese Fakten bestreiten. Die ausländischer Provenienz, zur Bemühung um internationale Kredite, zu politisch-militärischen Vorkehrungen
Frage ist, welche Theorie ihnen gerecht werden kann. für Ereignisse jenseits der eigenen Grenzen, zum Copieren von Schul- und Universitätssystemen der
Eine Zeitlang hat man versucht, diese Probleme mit dem Schema von Tradition und Modernität zu fortgeschrittenen Länder usw. Diese Abschwächung von Raumschranken wird dadurch verstärkt, daß
behandeln und damit traditionsbedingte Modernisierungspfade anzuerkennen. Fast parallel dazu kam es weltweite Kommunikation kaum noch Zeit kostet, sondern telekommunikativ realisiert werden kann.
1337
jedoch zu erheblichen Bedenken gegen eine solche Kontrastierung. In der Tat: Man wird kaum übersehen Informationen müssen nicht mehr wie Dinge oder Menschen transportiert werden. Das Weltsystem realisiert
können, daß die Traditionsfeindlichkeit (und Innovationsfreudigkeit) des europäischen Rationalismus ihrerseits vielmehr die Gleichzeitigkeit aller Operationen und Ereignisse und ist dadurch, da Gleichzeitiges kausal nicht
1339
eine Tradition ist, während andererseits die nostalgische bis fanatische Rückwendungen zur Tradition seit der kontrolliert werden kann, in einer unkontrollierbaren Weise effektiv. Es bleibt deshalb keine andere Wahl,
1340
Romantik, aber auch in den religiösen Fundamentalismen der letzten Jahrzehnte als typische darauf hatten wir bereits hingewiesen , als von der Vollrealisation einer Weltgesellschaft auszugehen.
Intellektuellenattitude durchschaut werden muß. Seit langem ist dies Schema also durcheinen Wiedereintritt in Der letzte Großversuch, innerhalb der schon bestehenden Weltgesellschaft ein "Reich" nach
sich selbst bestimmt und damit fast beliebig anwendbar. Schon dem Hektor war es egal, ob der Vogel nach traditionellem Muster einzurichten, ist mit dem Sowjetsystem gescheitert; und zwar gescheitert an der
1341
links fliegt oder nach rechts oder im Westen oder im Osten (Ilias XII, 249-50). Außerdem kann der Rückgriff funktionalen Differenzierung der Weltgesellschaft. Das sozialistisch-kommunistische Reich konnte
auf unterschiedliche regionale Traditionen kaum erklären, daß die Spannungen zwischen globalen und wirtschaftliche, politische, wissenschaftliche und massenmediale Verflechtungen nicht vermeiden. Es konnte
regionalen Orientierungen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts offenbar zugenommen haben. weder seine Grenzen "dicht machen" noch Vergleiche zwischen internen und externen Zuständen unterbinden.
Einen besseren Ausgangspunkt bietet die Beobachtung, daß globale und regionale Optima deutliche Es konnte vor allem die Umwandlung der daraus folgenden Irritationen in Informationen organisatorisch nicht
1338
divergieren. Dies dürfte dadurch bedingt sein, daß die Weltgesellschaft sich selbst nicht über Ziele oder wirksam verhindern, und die Lockerung an diesem Punkte der Information führte denn auch zum raschen
Normen oder Direktiven steuert, deren regionale Beachtung dann geprüft und eventuell korrigiert werden Zusammenbruch des Systems. Offenbar können, wenn dieser Fall verallgemeinert werden kann, regionale
kann, sondern daß die Zentren der Weltgesellschaft (vor allem natürlich die internationalen Finanzmärkte) Einheiten einen Kampf mit der Weltgesellschaft nicht gewinnen und unterliegen in dem Versuch, sich gegen
Fluktuationen erzeugen, die dann regional zu dissipativen Strukturen und zu Notwendigkeiten der deren Einflüsse zu behaupten.
Selbstorganisation führen. Das mag im Wirtschaftssystem über Unternehmen, aber auch über die Fonds für Trotz dieser ziemlich deutlichen Indikatoren folgt daraus nicht, daß regionale Unterschiede keine
Bedeutung mehr hätten. Im Gegenteil: gerade das dominante Muster funktionaler Differenzierung scheint
ihnen den Ansatzpunkt für ein Bewirken von Unterschieden zu bieten. Um dies zu erklären, können wir den
1334
Siehe dazu Bettina Gransow, Chinesische Modernisierung und kultureller Eigensinn, Zeitschrift für Soziologie 24 Begriff der Konditionierung benutzen. Der Ausgangspunkt liegt in der evolutionären Unwahrscheinlichkeit
(1995), S. 183-195, mit Hinweisen auf den Forschungsstand. funktionaler Differenzierung. Regionale Besonderheiten können dann sowohl fördernd als auch verhindernd
1335
Hierzu Marcelo Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne: Eine theoretische eingreifen. Sie können zum Beispiel in der Form familialer oder familienähnlicher Loyalitäten eine
Betrachtung und eine Interpretation des Falls Brasilien Berlin 1992; ders., A Constitucionalização Simbólica, São Paulo Differenzierung von Wirtschaft und Politik fördern, nicht zuletzt auch in der Form von grenzüberschreitenden
1994. Vgl. ferner die Diskussionen auf dem 15. Brasilianischen Anwaltstag, Anais XV. Conferência Nacional da Ordem Wirtschaftsbeziehungen, die politisch dann nur noch behindert oder destruiert werden können. Sie können aber
dos Avocados do Brasil, Foz do Iguaçu (PR)-4.a 8. de Setembro de 1994, São Paulo 1995. auch die autopoietische Autonomie von Funktionssystemen, besonders typisch: des Rechtssystems,
1336
Hierzu Niklas Luhmann, Kausalität im Süden, Soziale Systeme 1 (1995), S. 7-28.
1337
Vgl. z.B. Joseph R. Gusfield: Tradition and Modernity: Misplaced Polarities in the Study of Social Change, American 1339
Man erinnere sich, zum Vergleich, an spätmittelalterliche Verhältnisse, in denen man Boten nach Rom hetzen mußte,
Journal of Sociology 72 (1967), S. 351-362; Reinhard Bendix, Tradition and Modernity Reconsidered, Comparative Studies
um bei theologisch relevanten Kontroversen die päpstliche Kurie für die eigene Position zu gewinnen.
in Society and History 9 (1967), S. 351-362. Für eine modifizierte Beibehaltung der Unterscheidung S.N. Eisenstadt,
1340
Tradition, Change and Modernity, New York 1973. Vgl. ......
1338 1341
Wer die Übertreibung vermeiden möchte, die im Begriff des Optimums steckt, mag statt dessen "Rationalitäten" oder So Nicolas Hayoz, Fictions socialistes et société moderne: Aspects sociologiques de l'effondrement programmé de
"akzeptable Problemlösungen" lesen. l'URSS, Genf (im Druck).
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 367 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 368
1342
verhindern. Sie können Bedingungen vorgeben, die eine Selbstkorrumpierung des politischen Systems zwischen den Funktionssystemen benutzen Interaktionen oder auch Organisationen, die sich keiner Seite
1345
ermöglichen, etwa in der Form des Kaufs von Wählerstimmen in Thailand, der trotz offiziell geheimer Wahl einseitig zuordnen lassen.
auf Grund besonderer lokaler Bedingungen in ländlichen Gebieten und in Slums funktioniert. Sie können die Als Typen solcher frei gebildeter Sozialsysteme behandeln wir in diesem Abschnitt Interaktionssysteme
organisatorische Infrastruktur der Funktionssysteme (von den Universitäten und Krankenhäusern bis zu den und im folgenden Abschnitt Organisationssysteme. Es folgt dann noch ein Abschnitt über Protestbewegungen,
Ämtern der öffentlichen Verwaltung) soweit funktionsunfähig machen, daß es rational wird, sich statt dessen obwohl der gegenwärtige Forschungsstand es nicht erlaubt, sie auf dem gleichen Niveau wie Interaktionen und
auf flexible Netzwerke persönlicher Beziehungen zu verlassen, die sich trotz eines ständigen Austausches der Organisationen als einen eigenständigen Typus des Umgangs mit doppelter Kontingenz anzusehen.
Personen durch Benutzung regenerieren. Der Hinweis auf unmittelbare Kontakte zwischen Menschen in kleinen, alltäglichen Begegnungen wird
Es kann sich bei diesen lokalen Sonderbedingungen um strukturelle Kopplungen handeln, die einen häufig gesellschaftskritisch benutzt. Die Gesellschaft bestimme unser Schicksal in einer Weise, die nicht durch
Modernisierungsschub in Richtung funktionale Differenzierung fördern. Im eher typischen Falle wird jedoch Kontakte zwischen Menschen gestaltet oder doch modifiziert werden könne. Und auch wenn
die autopoietische Autonomie der Funktionssysteme blockiert oder auf Teilbereiche ihrer operativen gesellschaftskritische Töne vermieden werden, findet man oft Analysen, die mit der Unterscheidung von
1346
Möglichkeiten eingeschränkt. Es wäre jedenfalls ganz unrealistisch, den Primat funktionaler Differenzierung direkten und indirekten sozialen Beziehungen beginnen. Das geschieht ohne theoretische Begründung der
als eine durch das Prinzip gesicherte Selbstrealisation zu begreifen. Auch eine Deutung nach dem Muster Wahl gerade dieser Unterscheidung und offenbar in der Annahme, daß die Alltagserfahrungen der Leser sie
hierarchischer Dominanz würde den Verhältnissen nicht gerecht werden, so als ob es um mehr oder weniger bestätigen würden. Das genügt aber nicht. Unser Gesellschaftsbegriff der Autopoiesis von Kommunikation
erfolgreiche Formen gesellschaftlicher Selbststeuerung ginge. Eher dürfte die Annahme zutreffen, daß die auf führt auf einen anderen Ausgangspunkt. Auch Kleinstbegegnungen persönlicher und unpersönlicher Art sind,
der Ebene der Weltgesellschaft durchgesetzte funktionale Differenzierung die Strukturen vorzeichnet, welche sofern Kommunikation stattfindet, Vollzug von Gesellschaft. Die moderne Gesellschaft zeigt ihre Modernität
die Bedingungen für regionale Konditionierungen vorgeben. Es geht, anders gesagt, um eine komplexe und auch auf dieser Ebene, etwa durch Befreiung vom Gemeinschaftsterror des dörflichen Zusammenlebens oder
1343
labile Konditionierung von Konditionierungen , um Inhibierungen und Desinhibierungen, um eine von durch Ausarbeitung der Eigenlogik von Intimität. Wir brauchen deshalb einen Begriff, der die Kontakte unter
zahllosen weiteren Bedingungen abhängige Kombination von Beschränkungen und Gelegenheiten. Anwesenden beschreibt, ohne in Frage zu stellen, daß es sich um Kommunikation im Gesellschaftssystem
Funktionale Differenzierung ist, so gesehen, nicht die Bedingung der Möglichkeit von Systemoperationen, handelt. Dies soll der Begriff des Interaktionssystems leisten.
sondern eher die Möglichkeit ihrer Konditionierung. Daraus ergibt sich zugleich eine Systemdynamik, die zu Interaktionssysteme bilden sich nicht außerhalb der Gesellschaft, um dann als fertige Gebilde in die
extrem ungleichen Entwicklungen innerhalb der Weltgesellschaft führt. Die Regionen finden sich selbst Gesellschaft einzugehen. Sie sind, da sie Kommunikation benutzen, immer Vollzug von Gesellschaft in der
deshalb fernab von einem gesamtgesellschaftlichen Gleichgewicht und haben gerade darin die Chancen eines Gesellschaft. Dennoch haben sie eine eigene Form der Operation, die ohne Interaktion nicht verwirklicht
eigenen Schicksals, das nicht als eine Art Mikroausgabe des Formprinzips funktionaler Differenzierung werden könnte. Zugleich sind sie mit besonderen Sensibilitäten ausgestattet, die es ihnen ermöglicht, Rücksicht
gesehen werden kann. Nur: wenn es den Primat dieses Prinzips auf weltgesellschaftlicher Ebene nicht gäbe, zu nehmen auf das, was als ihre Umwelt in der Gesellschaft vorkommt. Sie sind konstitutiv auf eine
wäre alles anders, und diesem Gesetz kann sich keine Region entziehen. Autopoiesis in der Gesellschaft eingestellt.
Interaktionssysteme bilden sich, wenn die Anwesenheit von Menschen benutzt wird, um das Problem der
doppelten Kontingenz durch Kommunikation zu lösen. Anwesenheit bringt Wahrnehmbarkeit mit sich und
insofern strukturelle Kopplung an kommunikativ nicht kontrollierbare Bewußtseinsprozesse. Der
XIII. Interaktion und Gesellschaft Kommunikation selbst genügt jedoch die Unterstellung, daß wahrnehmbare Teilnehmer wahrnehmen, daß sie
wahrgenommen werden. Innerhalb des Bereichs wahrnehmbarer Wahrnehmungen kann und muß mit
Das Konzept der Formen gesellschaftlicher Systemdifferenzierung bezieht sich nur auf Fälle, in denen Unterstellungen gearbeitet werden; zum Beispiel: daß gehört wird, was laut gesagt wird. Zweifel sind möglich,
Ausdifferenzierungen innerhalb der Gesellschaft mit Bezug auf das Gesellschaftssystem erfolgen, sei es, daß können aber (wie immer bei Grenzproblemen autopoietischer Systeme) mit den Mitteln dieser Systeme (hier
die Gesellschaft in der Form der Beziehungen zwischen den Teilsystemen (Gleichheit, Rangverhältnis) zum also: unter Anwesenden) geklärt werden. Im übrigen muß nicht jeder wahrnehmbar Anwesende für die
Ausdruck kommt, sei es, daß sie sich in den Einzelfunktionen zur Geltung bringt, die die Ausdifferenzierung Inklusion in die Interaktion in Betracht kommen, zum Beispiel nicht Sklaven oder Diener oder in Restaurants
1347
von Funktionssystemen katalysieren. Damit ist jedoch das, was in der Gesellschaft an die nicht, die an anderen Tischen sitzen.
Systemdifferenzierungen beobachtet werden kann, bei weitem nicht erschöpft. Eine Ausdifferenzierung Jedenfalls ist Anwesenheit eine Form, also im Sinne unseres Begriffs eine Differenz. Sie hat ihren
autopoietischer Sozialsysteme kann auf der Grundlage einer schon etablierten Gesellschaft auch ohne jeden systembildenden Sinn nur vor dem Hintergrund einer anderen Seite, in Bezug auf Abwesendes. Da die
Bezug auf das Gesellschaftssystem oder seine bereits eingerichteten Teilsysteme stattfinden — einfach Anwesenden sich als Personen sichtbar und hörbar aufdrängen, kann an ihnen erkennbar werden, was sie
dadurch, daß doppelte Kontingenz erfahren wird und autopoietische Systembildungen in Gang bringt. So außerhalb der Interaktion sonst noch zu tun haben. Wenn dies sich nicht von selbst versteht, weisen sie darauf
entstehen oft ganz ephemere, triviale, kurzfristige System/Umwelt-Unterscheidungen ohne weiteren hin. Zur Selbstregulierung der Interaktionssysteme gehört mithin, daß die Beteiligten einander Rücksicht
Formzwang und ohne daß die Differenz durch Bezug auf die Gesellschaft legitimiert werden kann oder muß. schulden und eine wechselseitige Respektierung der jeweils anderen eigenen Rollen erwarten können. Das gilt
Die Großformen der gesellschaftlichen Teilsysteme schwimmen auf einem Meer ständig neu gebildeter und nicht zuletzt auch für das "timing" der Interaktion. Mit Hilfe dieser Differenz von anwesend/abwesend bildet
1344
wieder aufgelöster Kleinsysteme. Keine gesellschaftliche Teilsystembildung, keine Form gesellschaftlicher die Interaktion eine auf sie selbst bezogene Differenz von System und Umwelt, die den Spielraum markiert,
Systemdifferenzierung kann alle Bildung sozialer Systeme so dominieren, daß sie ausschließlich innerhalb der
Primärsysteme des Gesellschaftssystems stattfindet. Und gerade die sogenannten "interface" Beziehungen 1345
Für solche Verbindungsorganisationen in der funktional differenzierten Gesellschaft vgl. Gunther Teubner,
Organisation und Verbandsdemokratie, Tübingen 1978. Siehe auch die Analyse von "Konversationskreisen" bei Hutter
a.a.O. (1989) oder die Diskussion über Steuerung durch "Verhandlungssysteme" bei Helmut Willke, Systemtheorie III:
Steuerungstheorie, Stuttgart 1995, S. 109 ff.
1342
Neves a.a.O. (1994), S. 113 ff. spricht von "Constitutionalização Symbólica como Alopoiese do Sistema Jurídico". 1346
Siehe als Klassiker Charles H. Cooley, Social Organization, New York 1909, und unter den Neueren Craig Calhoun,
1343
etwa im Sinne von W. Ross Ashby, Principles of the Self-Organizing System, in: Heinz von Foerster / George W. Zopf Indirect Relationships and Imagined Communities: Large-Scale Social Integration and the Transformation of Everyday Life,
(Hrsg.), Principles of Self-Organization, New York 1962, S. 255-278; neu gedruckt in: Walter Buckley (Hrsg.), Modern in: Pierre Bourdieu / James S. Coleman (Hrsg.), Social Theory for a Changing Society, Boulder - New York 1991, S. 95-
Systems Research for the Behavioral Scientist: A Sourcebook, Chicago 1968, S. 108-118. 121.
1344 1347
Diesen Gesichtspunkt der "ephemeren" Verbindung zwischen den "Großgebilden" der Gesellschaft hat Georg Simmel An der Theke selbst ist das weniger eindeutig und mehr der sich bildenden Interaktion überlassen. Vgl. dazu Sherri
verschiedentlich betont; z.B. in: Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft), Berlin - Leipzig 1917, S. 13. Cavan, Liquor License: An Ethnography of Bar Behavior, Chicago 1966.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 369 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 370

innerhalb dessen sie ihre eigene Autopoiesis vollziehen, eine eigene Geschichte produzieren, sich selbst Interaktionen vollzieht, — sich zusätzlich noch als gesellschaftliche Umwelt in der Interaktion bemerkbar
strukturell determinieren kann. Wer immer als anwesend behandelt wird, ist dadurch an der Kommunikation macht. Die Ausdifferenzierung von Interaktionssystemen und die Bildung von Systemgrenzen führt nämlich
beteiligt. Die komplexe, aus Information, Mitteilung und Verstehen zusammengesetzte Operationsweise der zu einem Doppelzugriff der Gesellschaft auf die Interaktion qua Vollzug und qua Umwelt. Diese Doppelung
Kommunikation wirkt so wie eine Einfangvorrichtung, der sich kein Anwesender entziehen kann. Wenn er ist als die ursprüngliche Komplexitätsbedingung zu verstehen, der die Gesellschaft ihre eigene Evolution
nicht gerade redet, wird er als Zuhörer, zumindest als Verstehender behandelt und daher als jemand, mit verdankt.
dessen möglicher aktiver Beteiligung man rechnen muß. So schafft die Interaktion immer auch eigene Die Antworten auf diese Frage unterscheiden sich — und dies noch ganz unabhängig davon, welche
Redundanzen, eigene Informiertheitsüberschüsse, aus denen sie (durch "turn taking" oder wie immer) Gesellschaftsformation man im Auge hat — je nach dem, ob das Problem sich in der Sachdimension, in der
auswählen kann, was weiterhin geschieht. Die Interaktion ist auf diese Weise fest in die sichtbare und hörbare Zeitdimension oder in der Sozialdimension stellt. In der Sachdimension ermöglicht die Differenz ein "re-entry"
1349
Realität eingebettet und gewinnt zugleich durch Ausdifferenzierung einen Überschuß an Möglichkeiten; und der Differenz von anwesend und abwesend in das Anwesende. Man kann in der Kommunikation über
gerade das zwingt sie zur Selektion und damit zur Autopoiesis — solange nur die Anwesenden anwesend Anwesendes und über Abwesende sprechen und damit die Unterscheidung von anwesend/abwesend als
bleiben. Sie gewährleistet zugleich eine hohe Selektivität und unverwechselbare Eigenart der anwesend behandeln (auch natürlich, was aber etwas ganz anderes wäre, Abwesendes anwesend machen, das
Systemgeschichte; denn nur sehr wenig von dem, was wahrgenommen wird, kann in die Kommunikation heißt: es herbeiholen). Allgemein gesehen setzt das die Entwicklung von Sprachvermögen voraus, also die
eingegeben werden. So kann das System, einmal in Gang gekommen, sich leicht von anderen unterscheiden — Fähigkeit, mit Zeichen statt mit Dingen umzugehen. Im besonderen Falle des Verhältnisses von Interaktion
eine unerläßliche Voraussetzung vor allem für Gedächtnis. und Gesellschaft bedeutet dies, daß die Gesellschaft sich in der Interaktion selbst selektiv repräsentieren kann,
Die Differenz anwesend/abwesend ist mithin kein ontologisch vorgegebener, objektiver Sachverhalt. Sie indem sie sich als Umwelt des Interaktionssystems beachtet oder auch nicht beachtet je nach dem, wie es sich
wird erst durch die Operationen des Systems erzeugt, und ein Beobachter kann sie nur erkennen, wenn er das aus der Interaktion ergibt. Die Gesellschaft gibt sich, indem sie Interaktionssysteme ausdifferenziert, die
System beobachtet, das sie produziert und reproduziert. Sie markiert für die Operationen des Systems die Erlaubnis der Absonderung und der Indifferenz, die dann selektiv rückgängig gemacht werden kann. Nur so,
Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Sie ist ein Artefakt der Autopoiesis des Systems, das seine nur über Grenzen hinweg, ist überhaupt eine Selbstbeobachtung der Gesellschaft denkbar.
Autopoiesis ohne sie nicht fortsetzen könnte. Das gleiche gilt für den Anfang und das Ende der Episode In der Zeitdimension entspricht dem die Möglichkeit der Episodenbildung. Anders als die Gesellschaft
Interaktion, also für die Zeitgrenzen des interaktiven Beisammenseins. Das Interaktionssystem selbst hat, selbst haben die Interaktionssysteme einen Anfang und ein Ende. Ihr Beginn ergibt sich, ihr Ende kommt
wenn es operiert, immer schon angefangen und noch nicht aufgehört. Es bestimmt Anfang und Ende nicht als sicher, auch wenn am Anfang noch nicht feststeht wann und aus welchem Anlaß. Die Zeitlimitierung kann
externer Beobachter, der diese Zäsuren auf Grund seiner eigenen Autopoiesis sie überdauernd beobachten verschiedenste Formen annehmen bis hin zu langfristig geplanten Sequenzen des erneuten Zusammentreffens
kann. Für die Selbstbeobachtung des Systems sind Anfang und Ende nur aus dem "Inzwischen" heraus (etwa zum Schulunterricht). Immer setzt Episodenbildung die nichtepisodierbare Gesellschaft voraus, die
bestimmbar. Weder das Anfangenkönnen läßt sich durch das System garantieren noch kann das System selbst sicherstellt, daß vor dem Anfang schon Kommunikation war, so daß man das Anfangen konditionieren kann,
sich die Gewissheit verschaffen, daß mit dem Ende nicht alle Kommunikation aufhört, sondern die und nach dem Ende der Interaktion nicht alle Kommunikationsmöglichkeiten beendet sind, sondern es
Gesellschaft neue Interaktionssysteme bilden kann. Aber das ist kein Einwand gegen die These der anderswo, mit anderen Teilnehmern, in anderen Situationen, mit anderen Zwecken weitergeht. Nur unter
Autopoiesis interaktiver Systeme; denn für sie bleiben Anfang und Ende Sinnmomente, die im eigenen dieser Bedingung läßt sich das ausnutzen, was in der Zeitlimitierung an Chancen liegt. Denn keine Interaktion
Operieren konstituiert sind und zum Beispiel ausschlaggebend dafür sind, an welche eigenen Geschichten das verspricht Dauerglück, und man kann sich auf sie nur einlassen, weil man sich von ihr wieder lösen kann. Und
System sich bindet und wieviel Zeit es noch hat. nur in diesem Sinne, nur zur Bezeichnung des Endes einer Episode, sind empirische Zwecke und alle davon
Im Rahmen einer Theorie des Gesellschaftssystems können diese Überlegungen nicht über Andeutungen abhängigen Formen der Rationalität möglich. Die Gesellschaft selbst hat keinen Zweck.
hinausgebracht werden. Ihre Ausarbeitung würde, in Parallelstellung zur Theorie des Gesellschaftssystems, Sofern die Gesellschaft sich als Interaktion realisiert, erscheint sie mithin in der Perspektive des
eine Theorie der Interaktionssysteme fordern. Im vorliegenden Zusammenhang muß nur verdeutlicht werden, vorher/nachher der gerade laufenden Interaktion und der Wahrscheinlichkeit weiterer Interaktionen nach
daß und wie eine Differenzierung von Gesellschaftssystemen und Interaktionssystemen zustandekommt und deren Ende, also auch als Bedingung der Möglichkeit des Muts zum Schlußmachen. Sofern sie dagegen
welche Folgen das für die Gesellschaft hat. immer auch Umwelt des jeweils aktualisierten Interaktionssystems ist, fungiert sie als Garant der
Die Differenzierung Gesellschaft/Interaktion kann nur als Ausdifferenzierung von Interaktionssystemen Gleichzeitigkeit dessen, was sonst noch geschieht. Diachronizität und Synchronizität werden auf diese Weise
auf dem Realitätskontinuum gesellschaftlicher Kommunikation begriffen werden. Die Interaktion schert nicht miteinander vermittelt, und auch dies: gleichzeitig und mit der Aussicht auf ein Nacheinander vermittelt. Die
etwa aus der Gesellschaft aus, indem sie ein neues System jenseits der Grenzen der Gesellschaft bildet. Sie Gegenwart, in der alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht, ist das Differential von Vergangenheit und
vollzieht Gesellschaft — aber so, daß in der Gesellschaft Grenzen entstehen zwischem dem jeweiligen Zukunft. Nur so kann die Zeit im Vollumfang des jeweils aktuellen Nacheinanders von Vergangenheit und
Interaktionssystem und seiner gesellschaftsinternen Umwelt. Zukunft soziale Realität werden.
Da keine Interaktion alle gesellschaftlich möglichen Kommunikationen in sich realisieren kann, da In der Sozialdimension schließlich kann unter diesen Bedingungen der Sachordnung und der Zeitlichkeit
niemals alle Kommunikationspartner vollständig und für immer anwesend sein können, kommt es bereits in (und von ihnen zunächst wohl kaum zu unterscheiden) Rücksicht auf das entstehen, was von den Teilnehmern
den einfachsten Gesellschaften zu dieser Differenz von Interaktionssystemen und Gesellschaftssystemen. Ohne in je verschiedenen anderen Interaktionssystemen erwartet wird. Die Teilnehmer individualisieren sich für die
jede Interaktion gäbe es keine Gesellschaft, ohne Gesellschaft nicht einmal die Erfahrung doppelter einzelne Interaktion durch das, was sie in anderen Interaktionen an Ressourcen mobilisieren können, an
Kontingenz. Anfang und Ende der Interaktion setzen Gesellschaft voraus. Vorher muß etwas anderes Pflichten zu erfüllen und an Zeit aufzuwenden haben. Entscheidend ist auch hierfür, daß es nicht zu einer
geschehen sein, und nachher wird etwas anderes geschehen; anderenfalls wüßte man nicht wie anfangen, und bloßen Akkumulation von Beschränkungen kommt, sondern daß die Differenz der Interaktionssysteme
1348
man würde mit dem Aufhören jede Möglichkeit weiterer Kommunikation verlieren. Aber trotzdem ist die Freiheitsspielräume und Einschränkungen erzeugt, und in genau diesem Sinne: Integration. Ob und wie weit
Interaktion autonom in der Bestimmung dessen, was Anfang und Ende für sie bedeuten. solche Rücksichten gehen und wie weit sie zur Vorsicht zwingen (etwa zur Zurückhaltung von Information,
Die Differenz von Gesellschaft und Interaktion ist eine ursprüngliche, nicht zu vermeidende Struktur der zur Diskretion, zu Mißtrauen), muß in der Interaktion selbst entschieden werden. Und auch in dieser Hinsicht
Gesellschaft selbst. Das führt auf die Frage, wie die Gesellschaft — abgesehen davon, daß sie selbst gewinnt die Gesellschaft durch Ausdifferenzierung von Interaktionssystemen in sich selbst Distanz zu sich
selbst.
1348
Das Argument macht deutlich, daß bei solchen Übergängen die strukturelle Kopplung von (sozialisiertem) Bewußtsein
und gesellschaftlicher Kommunikation ein besonderes Gewicht hat, und vielleicht zieht sich die Kommunikation gerade
1349
deshalb — wie aus Angst vor zu viel Irritation durch Bewußtsein in einem gerade erst beginnenden oder aufhörenden Siehe für diesen schon mehrfach benutzten Begriff George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck New York 1979,
System — auf Floskeln zurück: come sta? How are you? S. 56 f., 69 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 371 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 372

In dieser Abstraktionslage sind Aussagen über das Verhältnis von Interaktion und Gesellschaft werden, als je gleichzeitig anwesend sein könnten. Man kann daher, wenn man über standardisierte
1356
unhistorisch formuliert. Sie nehmen auf die Unterschiede der Gesellschaftsformationen noch keine Rücksicht. Zeitmessungen verfügt (die man ohne Schrift gar nicht braucht ), Zeitdispositionen treffen, die nicht
Es versteht sich aber von selbst, daß eine evolutionäre Änderung der Gesellschaftsstrukturen sich auf das verabredet sein müssen. Der Mitteilende kann in der Vergangenheit des Verstehenden aktiv gewesen sein und
Verhältnis von Interaktion und Gesellschaft auswirkt, und wir können vermuten, daß als historisch für den Verstehenden trotzdem in seiner Zeit verständlich sein. Und dies kann antezipiert werden. Die Zeit
diversifizierende, Einschnitte bildende Faktoren hauptsächlich die Entwicklung von interaktionsfrei expandiert gewißermaßen mit der Kommunikation, und so können sich in einem vorher unmöglichen Umfange
benutzbaren Kommunikationstechniken (Schrift, Buchdruck) und die Änderung der Differenzierungsformen Abstimmungen entwickeln, die davon ausgehen, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas geschehen sein
des Gesellschaftssystems in Betracht kommen. wird, was nur geschehen ist, damit zu diesem späteren Zeitpunkt etwas anderes geschehen kann. Die heilige
Will man den Einsatzpunkt dieser Veränderungen ausfindig machen, muß man bedenken, daß Zeit, in der man wissen mußte, wie man wann zu handeln hatte, wird zunächst ergänzt, dann ersetzt durch den
Beziehungen zwischen System und Umwelt immer synchron gegeben sind — die große Konstante aller Synchronisationsrahmen Zeit, in dem man verabreden kann, wann synchronisiertes Handeln stattfinden
1357
Evolution. Das ist so selbstverständlich, daß erst die Relativitätstheorie bewußt gemacht hat, daß darin ein soll. Im Prinzip ist das natürlich auch durch mündliche Verabredung möglich und in dieser Form auch
1350
Problem liegt. Kein Teilnehmer an Kommunikation kann in die Zukunft der anderen vorauseilen oder in zweckmäßig, wenn es auf Konsens ankommt. Man verabredet sich zu einer Segelpartie, die man allein nicht
deren Vergangenheit zurückbleiben. Kein Teilnehmer kann deshalb andere über deren Zukunft informieren, unternehmen könnte oder würde. Aber das sind jetzt Sonderfälle. Alle Großkoordinationen arbeiten auf Grund
weil diese Zukunft für ihn schon Gegenwart ist. Alle altern, um die Formulierung von Schütz aufzunehmen, von vorweg gesichertem Konsens mit schriftlich ausgearbeiteten Plänen.
1351
gemeinsam. In genau diesem Sinne sind auch Interaktion und Gesellschaft im Verhältnis von System und Die Analyse zeigt zugleich, daß Schrift erst nötig ist, wenn die Differenzierungsform der Gesellschaft
Umwelt immer gleichzeitig gegeben. Das heißt nicht zuletzt, daß außerhalb der Grenzen des eine beträchtliche Komplexität erzeugt hat — zuerst wohl für Registraturzwecke in Großhaushalten. Bis in die
Interaktionssystems in der Gesellschaft sich etwas ereignen kann, was im Interaktionssystem, gerade weil Neuzeit hinein wird Schrift primär als Gedächtnisstütze und als Transportmittel aufgefaßt, und es gibt folglich
gleichzeitig, noch nicht bekannt sein und noch nicht berücksichtigt werden kann. keinen Begriff von Kommunikation, der mündliche (Rede) und schriftliche Ausführung übergreift. Der Bedarf
So paradox es klingen mag: gerade aus der als Basis von Zeit aufgezwungenen Gleichzeitigkeit ergeben für schriftgetragene Koordination bleibt, abhängig von der Differenzierungsform, gering. Folglich wird die
1352
sich Desiderate und Probleme der Synchronisation. Die gleichsam zeitlos gegebene Gleichzeitigkeit Gesellschaft ganz von der Interaktion her begriffen. Es gibt unterschiedliche, einfache und komplexe
sichert ja nicht, ja schließt es zunächst aus, daß ein System sich auf etwas einstellen kann, was in der Umwelt societates. Noch Kant macht keinen Unterschied zwischen Geselligkeit und Gesellschaft. Selbst der Begriff
passiert. In der Natur kann es deshalb zu Synchronisationen nur über relativ konstante oder sich regelmäßig des Staates bleibt, man lese Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, noch von der
1358
wiederholende Merkmale (Sonnenaufgang/-untergang) kommen, auf die Systeme sich mit "anticipatory Interaktion her gedacht. Ebenso die öffentliche Meinung. Vermutlich hat erst die Französische Revolution
1353
reactions" einstellen können. Im Bereich sinnhafter Informationsverarbeitung entwickelt sich dafür mit ihrem gesellschaftlichen Impetus und mit ihren Engleisungen auf der Ebene der Interaktion (in den Festen,
zunächst ein dimensionaler Begriff von Zeit, das heißt die Unterscheidung der Gegenwart (die synchronisiert im "Revolutionstheater", in den Hinrichtungen) die semantische Trennung von Interaktion und Gesellschaft
1359
ist und deshalb nicht synchronisiert werden kann) mit Hilfe der auf sie bezogenen Unterscheidung von erzwungen.
Vergangenheit und Zukunft. Die strukturellen Gründe für diesen Trennvorgang liegen im Übergang von stratifikatorischer zu
1360
Ursprünglich ist Kommunikation nur mündliche Kommunikation, das heißt eine an Interaktion funktionaler Differenzierung. Der Adel war, und blieb, für Interaktionskompetenz erzogen — in einer
gebundene, notwendig synchrone Operation. Mitteilende und Verstehende müssen gleichzeitig anwesend sein. Spannweite, die von der Konversation über Liebesaffären bis zum Duell reichen konnte. In die Bildungsform
1361
Es gibt, rein sprachlich gesehen, immer schon Möglichkeiten, über Vergangenes oder über Künftiges zu der Eloquenz konnten, vor allem in England, neue Inhalte aufgenommen werden , aber die Erwartung
1354
kommunizieren , aber eben nur in der Interaktion. Dies ändert sich erst durch die Erfindung von Schrift und mündlicher Äußerungsform blieb erhalten. Die Bereiche, in denen sich bereits funktionale Differenzierung
durch die Ausbreitung des Schriftgebrauchs; denn Schrift ermöglicht eine Desynchronisation der
1355
Kommunikation selbst. Und eben dadurch stellt die Kommunikation sich als Synchronisationsinstrument
zur Verfügung (und dies, obwohl nach wie vor gilt, daß alles, was faktisch geschieht, gleichzeitig geschieht). 1356
Elman R. Service, The Hunters, Englewood Cliffs, N.J. 1966, S. 67 f. erwähnt Fälle, in denen die Zählmöglichkeit bis
In das Einzelereignis der elementaren Kommunikation wird durch Schrift eine nahezu beliebige (nur 4 oder 5 reicht und dann "viele" folgt, mit der Folge, daß Vergangenheit und Zukunft nur der unmittelbaren
durch Verlust der Mitteilungsträger bedrohte) Zeitdistanz eingebaut. Es können viel mehr Empfänger erreicht Handlungskoordination dienen und nicht als Horizonte für Veränderungen wahrgenommen werden. Bei den Baktaman
reicht die Zählmöglichkeit bis 27, reicht also nur für Koordination innerhalb von Mondphasen aus. Darüber hinaus gibt es
nur sehr unklare Vorstellungen von Dauer. Das verringert dann auch die Wahrscheinlichkeit, daß Neidkomplexe
1350
Vgl. auch Henri Bergson, Durée et simultanéité: A propos de la théorie d'Einstein, 2. Aufl. Paris 1923. vorkommen oder Ressentiments sich halten können. Siehe Fredrik Barth, Ritual and Knowledge among the Baktaman,
1351 Oslo 1975, S. 21 ff., 135 f.
So in: Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien
1357
1932, insb. S. 111 ff. Siehe Joseph Needham, Time and Knowledge in China and the West, in: Julius T. Fraser (Hrsg.), The Voices of Time,
1352 London 1968, S. 92-135 (insb. 100). Vgl. auch Jacques Le Goff, Temps de l'Eglise et temps du marchand, Annales ESC 15
Dazu Niklas Luhmann, Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in ders., Soziologische Aufklärung Bd. 5, Opladen 1990,
(1960), S. 417-433.
S. 95-130. Ausführlicher Armin Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft, Opladen 1993, insb. S. 249 ff.
1358
1353 Siehe zum Beispiel Friedrich Schlegels Essai über Georg Forster, zit. nach: Friedrich Schlegel, Werke in zwei Bänden,
Vgl. dazu Robert Rosen, Anticipatory Systems: Philosophical, Mathematical and Methodological Foundations, Oxford
Berlin 1980, Bd. 1, S. 101: "gesellige Mitteilung".
1985.
1359
1354 Man mag natürlich auch an den mit der Geldwirtschaft zunehmenden Fernhandel denken, der in den lokalen
Das ist nach Widerlegung zu radikaler Hypothesen über sprachliche Unmöglichkeiten (Whorf / Sapir) heute wohl
Produktionsstätten Auswirkungen hatte, die dort nicht begriffen und nicht durch Interaktion (zum Beispiel durch
allgemeine Meinung. Siehe z.B. Ekkehart Malotki, Hopi Time: A Linguistic Analysis of the Temporal Concepts in Hopi
Bemühung um bessere Qualität) gelöst werden konnten.
Language, Berlin 1983; Hubert Knoblauch, Die sozialen Zeitkategorien der Hopi und der Nuer, in: Friedrich Fürstenberg /
1360
Ingo Mörth (Hrsg.), Zeit als Strukturelement von Lebenswelt und Gesellschaft, Linz 1986, S. 327-355. Hierzu Niklas Luhmann, Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert,
1355 in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 1, Frankfurt 1980, S. 72-161; ders., The Evolutionary Differentiation
Auch eine Gesellschaft, die bereits über Schrift verfügt, mag in den Leitunterscheidungen ihrer Zeitsemantik noch
Between Society and Interaction, in: Jeffrey C. Alexander et al. (Hrsg.), The Micro-Macro Link, Berkeley 1987, S.
älteren Vorgaben folgen. So kennt die altägyptische Sprache einen Begriff für Zeit als Resultat vergangener Geschehnisse
112-131.
(djet) und einen anderen Begriff für Virtualität, also für künftige Möglichkeiten (nehe). Daß dies in zwei
1361
gegenwartsbezogene Zeitbegriffe auseinandergezogen ist, deutet darauf hin, daß diese Begrifflichkeit einer Vorgeschichte Siehe nur Henry Peacham, The Compleat Gentleman, 2. Aufl. Cambridge 1627. In Frankreich findet man weniger
entstammt, in der die Differenz von Vergangenheit und Zukunft noch nicht als Synchronisationsproblem gesehen werden veränderte Wissensansprüche, als vielmehr einen betont oralen, sentenzenartigen, geistreichen Stil der sciences de moeurs,
konnte. Diese Interpretation von djet und nehe folgt Jan Assmann, Das Doppelgesicht der Zeit im altägyptischen Denken, der dem Adel das Mitmachen ermöglicht, aber auch Bürgerliche nicht ausschließt. Vgl. dazu Louis van Delft, Le moraliste
in: Anton Peisl / Armin Mohler (Hrsg.), Die Zeit, München 1983, S. 189-223. classique: Essai de définition et de typologie, Genf 1982.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 373 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 374

durchsetzt, geben diesen Formen und Kompetenzen jedoch kaum noch Chancen. Eine funktional differenzierte spezifisch sozialer Rationalität stilisiert, weil nur hier soziale Reflexivität mit ihren immens komplexen
Gesellschaft differenziert und spezifiziert Interaktionsweisen innerhalb der Funktionssysteme und ihrer Spiegelungsverhältnissen wirklich praktiziert werden kann. Und nochmals wird die Reziprozitätsregel hier
Organisationen in einem früher unvorstellbaren Ausmaß. Die eigentliche Interaktion, die Konversation, fordert (aber eben: nur hier) neu aufgelegt. Zugleich kann man aber wissen, daß auf diese Weise die Gesellschaft
zunächst noch schichtabhängige Zugangsbeschränkungen, differenziert sich aber schon deutlich gegen das, selbst nicht zu begreifen ist. Je komplexer ihr System, desto härter die Gleichzeitigkeit und damit die
was die Funktionssysteme an für sie spezifischen Formen fordern. Es sei nicht Konversation, meint zum Unbeeinflußbarkeit dessen, was in jedem Moment faktisch geschieht. Und desto illusorischer schließlich der
Beispiel Madeleine de Scudéry, "lorsque les hommes ne parlent precisement que pour la necessité de leurs Glaube, dies könne in der Form der Interaktion, durch Dialoge, durch Verständigungsversuche unter
1362
affaires". Beispiele: Gerichtsverhandlungen, Handelsgeschäft, Befehl in der Armee, Beratung im Rat des erreichbaren Partnern in eine rationale Form gebracht werden.
Königs. Unter dem (vorläufigen) Schutz der Zuweisung an die Oberschicht können dann Regeln der
Interaktion entwickelt werden, die die Rollenvorgaben der stratifizierten Gesellschaft lockern. Der Frau
werden zum Beispiel mehr Freiheiten gewährt, in der Interaktion Rückschlüsse auf ihr Verhalten in anderen XIV. Organisation und Gesellschaft
1363
Situationen selbst zu regeln. Unter diesen Sonderbedingungen kommt es zu einer Privatisierung,
Psychologisierung und schließlich: zu voller sozialer Reflexivität der auf Interaktion zentrierten Geht es, wenn nicht mit Interaktion, mit Organisation?
Interaktionssysteme. Feinsinnige Analysen beginnen im 17. Jahrhundert. Motive werden wichtig, und damit Auf den ersten Blick spricht viel dafür, daß die moderne Gesellschaft Interaktion gegen Organisation
auch Motivverdacht. Unbefangenheit, Natürlichkeit, Aufrichtigkeit werden gefordert — und werden damit auswechselt, wo es darum geht, längerzeitige Synchronisation auch bei hoher Komplexität noch zu
1364
zum Problem. Im 18. Jahrhundert liegt dann (mit erheblichen psychologischen Simplifikationen) die ermöglichen. Wir müssen uns aber zunächst diesen Typus sozialer Systeme genauer ansehen.
Theorie sozialer Reflexivität vor und ist seitdem kaum mehr verändert worden. Anders als im Falle von Interaktion handelt es sich bei Organisationen nicht um ein Universalphänomen
Das einzelne Interaktionssystem kann nun, sei es in den Kontextzwängen der Funktionssysteme, sei es jeder Gesellschaft, sondern um eine evolutionäre Errungenschaft, die ein relativ hohes Entwicklungsniveau
aus sich selbst heraus, gleichgültiger werden gegenüber seiner innergesellschaftlichen Umwelt. Oft weiß man voraussetzt. Man kann sich dies mit der Frage verdeutlichen, wie die Gesellschaft den Zugriff auf
gar nicht, an welchen anderen Interaktionen die Teilnehmer, mit denen man es zu tun hat, sonst noch beteiligt Arbeitsleistungen regelt, die der Arbeitende nicht aus eigenem Interesse und nicht auf Grund des Genießens
1365
sind. Während in älteren Gesellschaften (und das gilt auch noch für die Oberschichten stratifizierter der Tätigkeit selbst (práxis) erbringen würde.
Gesellschaften) der Zusammenhang zwischen Interaktion und innergesellschaftlicher Umwelt eng gewoben Während in den ältesten Gesellschaften Arbeit weitestgehend im Überlebensinteresse des Einzelnen liegt,
war, so daß man immer damit rechnen mußte, diejenigen, mit denen man in Konkurrenz oder Konflikt lebte, in also gesellschaftsexternen Bedingungen folgt, nimmt im Laufe der gesellschaftlichen Evolution die soziale,
anderen Zusammenhängen doch noch brauchen zu können oder gar von ihnen abhängig zu sein, lockert sich also gesellschaftsinterne Determination der Arbeit und der Ertragsverteilung zu.
1368
Die Formen
dieses Netzwerk in komplexeren gesellschaftlicher Differenzierung machen sich bemerkbar. Eine häusliche Differenzierung von Arbeitsrollen
Gesellschaften. Und jetzt erst können Tausch und Konkurrenz, Kooperation und Konflikt auf wird durch wechselseitige Hilfeleistungen, oft auch durch Gruppenarbeit junger Männer aus besonderem
Interaktionsbasis getrennt und zu sozial relativ rücksichtslosen Verhältnissen ausgebaut werden. In den Anlaß ergänzt. Mit der Entstehung von hierarchischen und/oder nach dem Muster von Zentrum und
Funktionssystemen können nun die für sie spezifischen Rollenasymmetrien verstärkt werden, weil sie andere Peripherie geordneten Gesellschaften kommt es, wiederum zusätzlich, zu politisch-rechtlich erzwungener
Rollen nicht mehr mitzuberücksichtigen haben. Im Gegenzug dazu entwickeln sich extrem anspruchsvolle Arbeit, sei es in der Form von gelegentlich aufgenötigter Arbeit an Großprojekten, sei es in der Form von
Interaktionsformen, und zwar für Intimbeziehungen, in denen jeder Teilnehmer für sein gesamtes internes und Sklaverei, sei es als Schuldknechtschaft oder mittels einer detaillierten und praktisch ausweglosen Regulierung
1366
externes Verhalten Rechenschaft schuldet. durch Gilden und Zünfte. In all diesen Fällen entstehen bereits bedarfsgerechte Rollendifferenzierungen, aber
Angesichts solcher Diskrepanzen ist es ausgeschlossen, die Gesellschaft selbst nach dem Muster von die institutionellen Bedingungen beschränken deren Zumutbarkeit und damit die erreichbare Komplexität und
Interaktion zu begreifen oder auch nur aus Interaktionserfahrungen zu extrapolieren, was sie ist. Was man von Flexibilität.
1367
der Gesellschaft weiß, weiß man aus den Massenmedien. Der in Interaktionen zugängliche Dies kann sich erst in dem Maße ändern, als der soziale Zugriff auf Arbeit über Individuen läuft und
Erfahrungsausschnitt deckt nur noch ein Minimum des (in Schriftform und heute über Fernsehen verfügbaren) dies zum Normalfall wird. (Sonderfälle von Vertragsarbeit hatte es natürlich schon lange zuvor gegeben.)
Wissens ab. Gleichwohl werden Interaktionen zu Modellen (und in der Literatur: zu Modellkonstrukionen) Festzuhalten ist, daß dies an der sozialen Determination von Arbeit nichts ändert, sie aber auf eigens dafür
1369
eingerichtete Organisationen beschränkt und eben dadurch zugleich ausweitet. Organisationen ersetzen
1362
De la conversation, in: Scuderi, Conversation sur divers sujets Bd. 1, Lyon 1680, S. 1-35 (2). externe soziale Abhängigkeiten durch selbsterzeugte Abhängigkeiten. Sie machen sich unabhängig von
1363
So jedenfalls in Frankreich, während es in Italien noch ganz im alten Stile heißt: Le donne sono nate per istar in casa,
zufällig auftretenden Reziprozitäten in Bedarf und Hilfsbereitschaft und regulieren dadurch die Arbeit als
non per andar vagando" (Virgilio Malvezzi, Pensieri politici e morali (Auszug aus verschiedenen Publikationen) in: regelmäßig wiederholte Beschäftigung, die nur noch von den Fluktuationen des Marktes oder sonstiger
Benedetto Croce / Santino Caramella (Hrsg.), Politici e moralisti del seicento, Bari 1930, S. 255-283 (269). Das heißt: Finanzierungen abhängig ist.
Sehe man sie auf der Straße, so müsse das so verstanden werden, als ob sie als Objekt der Eitelkeit des Mannes vorgeführt Dieser Übergang zu in der Form von Individuen rekrutierter Arbeit setzt nicht nur Geldwirtschaft
würden (um von Schlimmerem zu schweigen). In jedem Falle: keine Freiheit, Rückschlüsse auf eigenes Verhalten in voraus, die die Annahme von Geld attraktiv macht. Sie beruht außerdem auf rechtlich gesicherter
anderen Situationen dem Verhalten in der Interaktion zu überlassen.
Erzwingbarkeit von Verträgen mit der anderen Seite, daß es ohne Vertrag kaum noch Zugang zu
1364
bis hin zu der Konsequenz, die einzige Möglichkeit, aufrichtig zu bleiben, sei: sich aufrichtig zur Unaufrichtigkeit zu
bekennen und diese zu praktizieren. So die Lehre des Comte de Versac in: Claude Crébillon (fils), Les Egarements du
coeur et de l'esprit, zit. nach der Ausgabe Paris 1961.
1365
So beschreibt Sénac de Meilhan den ganz der Interaktion hingegebenen "homme aimable" als Unbekannten: "Il est de
tous les âges, de toutes les conditions. Il n'est ni Magistrat, ni Financier, ni père de Famille, ni mari. Il est homme du 1368
Hierzu Stanley H. Udy, Jr., Work in Traditional and Modern Society, Englewood Cliffs N.J. 1970.
monde: lorsqu'il vient à mourir, on apprend avec surprise qu'il avait quatre-vingt ans. On ne s'en seroit pas douté à la vie
1369
qu'il menoit. La société même ignoroit qu'il étoit ayeul, époux, père: qu'étoit-il donc à leurs yeux? Il avait un quart à Daß dies nicht in jeder Hinsicht gelingt und zunächst hauptsächlich für Männer erreicht wird, zeigt sich am Beispiel
l'Opera, jouoit au lotto, et soupoit en Ville". (Considérations sur l'ésprit et les moeurs de ce siècle, London 1787, S. 317 der Hausarbeit, die nun mehr und mehr als Benachteiligung der Frauen erfahren wird. Am Beispiel der von Frauen
ff.). erwarteten Arbeit (Hausarbeit, Kindererziehung, Bereitschaft für Gastlichkeit) zeigen sich Restbestände der direkten
1366 gesellschaftlichen Determination — und dies um so mehr, als das Hauspersonal verschwindet und den Hausfrauen
Hierzu Niklas Luhmann, Sozialsystem Familie, in: ders., Soziologische Aufklärung Bd. 5, Opladen 1990, S. 196-217.
zugemutet wird, auch dessen Arbeitsleistung zu übernehmen. Statt des üblichen Ärgers mit dem Personal haben
1367
Wir kommen darauf zurück. Siehe Kap. 5,..... Hausfrauen es jetzt mit Pannen der technischen Geräte und mit Abwälzung eigener Arbeit auf den Markt zu tun.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 375 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 376
1370
Arbeitsmöglichkeiten und damit zu Lebensunterhalt gibt. Außerdem trägt auch das in der Form von Organisationen erzeugen Entscheidungsmöglichkeiten, die es anderenfalls nicht gäbe. Sie setzen
Schulen und Universitäten organisierte Erziehungssystem dazu bei, daß fachliche Kompetenz individuell und Entscheidungen als Kontexte für Entscheidungen ein. An die Entscheidungen über Mitgliedschaft können
ohne weitere Sozialmerkmale rekrutiert werden kann und daß entsprechende Ausbildungen nachentwickelt Unmengen anderer Entscheidungen angeschlossen werden. Man kann Weisungsunterworfenheit vorsehen,
1371
werden, wenn man mit entsprechenden Arbeitsplätzen rechnen kann. Arbeitsprogramme festlegen, Kommunikationswege vorschreiben, Personaleinstellungen und
Die Funktionssysteme für Wirtschaft, Recht und Erziehung stellen also wichtige Voraussetzung für die Personalbewegungen regulieren, und all das in allgemeiner Form, die dann situativ in Entscheidungen
Entstehung und Ausbreitung der Systemform Organisation bereit, ohne daß dies dazu führen würde, daß es umgesetzt wird. Die Mitgliedschaft ist die Prämisse für die Entscheidung über Prämissen von Entscheidungen
Organisationen nur in diesen Systemen gibt. Man sieht schon an diesem Beispiel, daß Organisationen soziale — und all das ist einem Ausmaß an Spezifikation, das nur durch eine Bindung beschränkt wird: Die
Interdependenzen ermöglichen, die mit der Autopoiesis und der operativen Schließung von Funktionssystemen Mitgliedschaft muß hinreichend attraktiv bleiben. Dem entspricht, daß sie normalerweise in Geld entlohnt
kompatibel sind, ja sie geradezu voraussetzen als Bedingung der Individualisierung des wird.
Rekrutierungsprozesses und der Verteilung von Personen auf Stellen. Im Ergebnis kommt auf diese Weise ein autopoietisches System zustande, das sich durch eine besondere
Die Klärung der Vorbedingungen für eine Evolution organisierter Arbeit gibt schon wichtige Hinweise Form von Operationen auszeichnet: Es erzeugt Entscheidungen durch Entscheidungen. Verhalten wird als
auf die besonderen Eigenschaften dieser Systemform. Organisation ist, wie die Gesellschaft selbst und wie Entscheidung kommuniziert. Was eine Entscheidung "an sich" ist, kann dabei offen bleiben. Genau das bleibt
Interaktion auch, eine bestimmte Form des Umgangs mit doppelter Kontingenz. Jeder kann immer auch nämlich unbestimmt (oder nur tautologisch bestimmt), wenn sie als Wahl innerhalb von Alternativen
anders handeln und mag den Wünschen und Erwartungen entsprechen oder auch nicht — aber nicht als beschrieben wird. Sie ist keine zusätzliche Wahlmöglichkeit, also auch keine Komponente der Alternative, die
Mitglied einer Organisation. Hier hat er sich durch Eintritt gebunden und läuft Gefahr, die Mitgliedschaft zu ebenfalls gewählt werden könnte, sondern vielmehr das durch die Konstruktion der Alternative
verlieren, wenn er sich hartnäckig querlegt. Mitgliedschaft in Organisationen ist mithin kein gesellschaftlich ausgeschlossene Dritte — also wiederum: der Beobachter! Daher kann die Entscheidung durch das, was
notwendiger (obwohl heute in vielen Hinsichten fast unvermeidlicher) Status. Mitgliedschaft beruht auf vergangen ist, nicht bestimmt sein. Die Vergangenheit wird durch die Konstruktion von Alternativen gerade
Mobilität, und Mobilität muß gesellschaftlich zugelassen sein. Sie wird durch Entscheidung (und hier typisch: abgehängt. Aber sie kann eine Zukunft in gewissem Ausmaß binden, weil sie etwas ermöglicht (ohne es
1373
eine Kombination von Selbstselektion und Fremdselektion) erworben und kann durch Entscheidung (hier determinieren zu können), was ohne die Entscheidung nicht möglich wäre. Eben deshalb bedarf die
entweder Austritt oder Entlassung) verloren gehen. Sie betrifft auch nicht, wie in mittelalterlichen Entscheidung der Kommunikation. Das geschieht in der Normalsituation unter Festlegung auf eine von
Korporationen (Städten, Klöstern, Universitäten usw.) die gesamte Person, sondern nur Ausschnitte ihres mehreren Optionen. Es kann aber auch, und das ist der bürokratietypische Angstfall, nachträglich geschehen.
Verhaltens, nur eine Rolle neben anderen. Die Lösung des Problems der doppelten Kontingenz liegt darin, daß Man hatte entschieden, ohne es zu merken; oder über Alternativen entschieden, die man gar nicht gesehen
die Mitgliedschaft konditioniert werden kann, und dies nicht nur mit Bezug auf den Eintrittsakt, sondern als hatte. Daraus folgen zahllose Sicherungsstrategien, die modo futuri exacti in Rechnung stellen, was passieren
1372 1374
Bedingung der Aufrechterhaltung des Status. könnte, wenn eine aktuelle Entscheidung zum Thema einer künftigen Entscheidung gemacht wird.
Als Systemform gesehen markiert Mitgliedschaft die "Innenseite" der Form, also das, was im System Selbstverständlich bleiben Entscheidungen, wie alle Kommunikationen, auf Bewußtseinsleistungen
primär interessiert und in seinen Konsequenzen zu beachten ist. In der Außenwelt läuft alles auseinander, auf angewiesen. Hier betont die klassische Theorie die rationalen Überlegungen des Entscheiders. Deren Beitrag
der Innenseite der Form achtet man auf Kohärenz und Integration. Die Differenz von System und Umwelt ist jedoch unklar geblieben, weil die vermeintliche Rationalität im Verhältnis zu den Alternativen, über die zu
schließt auch hier ein "re-entry" der Form in die Form nicht aus. Im System kann man nach eigenen Regeln entscheiden ist, etwas "Drittes" ist, nämlich nicht selbst eine Alternative. Man kann sich ja nicht für Flugzeug
des Systems angewiesen sein, die Umwelt für beachtlich zu halten. Aber dies kann, da die internen oder Eisenbahn oder Auto — oder Rationalität entscheiden. Rationalität ist durch die Alternativität als Option
Kommunikationskapazitäten beschränkt sind, nur hoch selektiv erfolgen. Und auch dann, wenn über die gerade ausgeschlossen ist. Also ein Paradox! Das läßt uns vermuten, daß die Rationalitätsunterstellung der
Umwelt kommuniziert wird, ist die Mitgliedschaftsrolle, die Zugehörigkeit zum System, dasjenige Symbol, Entfaltung dieser Paradoxie dient: ihrer Invisibilisierung durch Mystifikation und ihrer Auflösung durch
das die Kommunikation als interne Operation ausweist. Angabe von Kriterien oder Regeln, die dann ihrerseits sozial validiert werden können.
Da Mitgliedschaften durch Entscheidungen begründet werden und das weitere Verhalten der Mitglieder Diese Betrachtungsweise hat einen wichtigen Aspekt unbeachtet gelassen, daß nämlich das Bewußtsein
in Entscheidungssituationen von der Mitgliedschaft abhängt, kann man Organisationen auch als vor allem durch Wahrnehmungsleistungen am Entscheiden beteiligt ist. Es muß hören, was gesagt, und lesen,
autopoietische Systeme auf der operativen Basis der Kommunikation von Entscheidungen charakterisieren. was geschrieben wird. Diese institutionellen Vorgaben sind vor allem für Verwaltungsarbeit relevant.
Sie produzieren Entscheidungen aus Entscheidungen und sind in diesem Sinne operativ geschlossene Systeme. Daneben gibt es jedoch zahlreiche andere Arbeitsformen, in denen das Wahrnehmen nichtsprachlicher
In der Form der Entscheidung liegt zugleich ein Moment struktureller Unbestimmtheit. Und da jede Sachverhalte notwendig wird, um einen etwaigen Entscheidungsbedarf herauszufiltern. Man denke an die
Entscheidung weitere Entscheidungen herausfordert, wird diese Unbestimmtheit mit jeder Entscheidung Auge/Hand-Koordination in der Industriearbeit, vor allem aber an all das, was von "field workers" verlangt
1375
reproduziert. Ein Entscheidungssystem lebt, könnte man sagen, im Blick auf weitere Entscheidungen von wird: von Polizisten und Lehrern, von Aufsehern und Kontrolleuren jeder Art. Normalerweise wird, wenn
selbsterzeugter Unbestimmtheit, und dieses Moment geht in die operative Schließung des Systems ein. Die im Wahrnehmungsbereich mit Überraschungen oder mit Unaufmerksamkeit zu rechnen ist, von Seiten der
Produktion von Entscheidungen aus Entscheidungen leistet eine Unsicherheitsabsorption, aber sie reproduziert
im Blick auf weitere Entscheidungsnotwendigkeiten immer auch die Hintergrundunsicherheit, von der das
1373
System lebt. Sie reproduziert weiteren Entscheidungsbedarf, und nur so ist eine rekursive operative Hierzu G.L.S. Shackle, Imagination and the Nature of Choice, Edinburgh 1979; ders., Imagination, Formalism, and
Schließung des Systems möglich. Choice, in: Mario J. Rizzo (Hrsg.), Time, Uncertainty, and Disequilibrium: Exploration of Austrian Themes, Lexington
Mass. 1979, S. 19-31 — freilich mit einem Ausweg in radikalen Subjektivismus. Vgl. auch Niklas Luhmann, Die
Paradoxie des Entscheidens, Verwaltungsarchiv 84 (1993), S. 287-310.
1374
Vgl. Karl E. Weick, Der Prozeß des Organisierens, dt. Übers. Frankfurt 1985, S. 276 ff. Zu einer neueren Diskussion
1370 über "postdecision surprises" siehe J.Richard Harrison / James G. March, Decision Making and Postdecision Surprises,
Nach Abschaffung der Sklaverei wird zum Beispiel die Arbeit auf den Zuckerplantagen Brasiliens zur Saisonarbeit
Administrative Science Quarterly 29 (1984), S. 26-42; Bernard Goitein, The Danger of Disappearing Postdecision Surprise:
ohne Vorsorge für die Zwischenzeit.
Comment on Harrison and March "Decision Making and Postdecision Surprise", Administrative Science Quarterly 29
1371
Daß man, statistisch gesehen, noch mit deutlichen Zusammenhängen von Schichtung und Ausbildung rechnen muß, (1984), S. 410-413. Vgl. auch Joel Brockner et al., Escalation of Commitment to an Ineffective Course of Action: The
wird jetzt als Problem der Chancengleichheit und der sozialen Gerechtigkeit gesehen und nicht, oder kaum noch, als Effect of Feedback Having Negative Implications for Self-identity, Administrative Science Quarterly 31 (1986), S. 109-126;
Chance der Rekrutierung von Merkmalen begriffen, die durch Schichtung garantiert sind. Der diplomatische Dienst Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, Berlin 1991, S. 201 ff.
rekrutiert adelige — Namen. 1375
Vgl. z.B. für den Fall der Überwachung von Gewässerverunreinigungen Keith Hawkins, Environment and Enforcement:
1372
Ausführlicher hierzu: Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964. Regulation and the Social Definition of Pollution, Oxford 1984, insb. S. 57 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 377 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 378

Organisation Autonomie, das heißt: lockere Überwachung konzediert, um das System abzupuffern gegen die Organisation eine Kästchen-in-Kästchen Hierarchie. Zugleich damit werden Weisungsketten gebildet —
1376
Eigendynamik des Wahrnehmens/Nichtwahrnehmens. In jedem Falle sind Organisationssysteme an diesem Hierarchien in einem ganz anderen Sinne. Die Ketten garantieren eine formale Entscheidbarkeit von
"interface" von Kommunikation und Bewußtsein weniger auf dessen Vernunft als auf dessen bewußt Konflikten, während die Kästchen-in-Kästchen Differenzierung garantiert, daß auf diese Weise das gesamte
verarbeitete Wahrnehmungen angewiesen. System erreichbar bleibt. Wie man heute weiß, führt diese Struktur nicht unbedingt zur Konzentration von
Diese Zwischenüberlegungen lassen die These unangetastet, daß eine Organisation aus nichts anderem Macht an der Spitze, und moderne Theorien der "Führung" in Organisationen beschreiben, wie man sich
"besteht" als aus der Kommunikation von Entscheidungen. Diese Operationsbasis ermöglicht die Schließung verhalten muß, um trotzdem etwas auszurichten. Aber ungeachtet dieses Problems der Machtverteilung reicht
eines besonderen autopoietischen Systems. Autopoiesis heißt: Reproduktion aus eigenen Produkten. Alle die Hierarchie aus, um Kommunikationsfähigkeit nach außen zu garantieren— nicht zuletzt deshalb, weil das
Herkunft — von der Gründung der Organisation bis zur Besetzung der Mitgliedschaftsrollen mit Personen — interne Machtspiel für Außenstehende schwer zugänglich ist und sie sich an das halten müssen, was offiziell
muß daher in der Organisation rekursiv als eigene Entscheidung behandelt werden und nach den jeweils gesagt ist.
aktuellen Entscheidungserfordernissen neu interpretiert werden können. In den Sequenzen der eigenen Offensichtlich geht es hier um hochmoderne Sachverhalte, die man in traditionalen Gesellschaften
Entscheidungen definiert die Organisation die Welt, mit der sie es zu tun hat. Sie ersetzt laufend vergeblich suchen wird. Im historischen Rückblick sieht man auch hier (ähnlich wie im Falle
Unsicherheiten durch selbsterzeugte Sicherheiten, an denen sie nach Möglichkeit festhält, auch wenn Gesellschaft/Interaktion, daß in älteren Gesellschaftsformationen zwischen den Systemtypen nicht deutlich
1377
Bedenken auftauchen. Der jeweils verfügbare Bewegungsspielraum wird durch das Schema unterschieden wird. Die Gesellschaft selbst wird als Mitgliederverband aufgefaßt, als sozialer "Körper", dem
Problem/Problemlösung abgegrenzt, wobei die Probleme zur Definition von Lösungsmöglichkeiten dienen, einige Menschen angehören und andere nicht. Dann muß aber auf die Beweglichkeit der Konditionierung von
aber auch umgekehrt die getesteten Lösungsmöglichkeiten dazu dienen können, die Problemdefinitionen Mitgliedschaften verzichtet werden. In segmentären Gesellschaften findet man hohe Mobilität zwischen den
entsprechend zu adjustieren oder auch Probleme zu suchen, die die vorhandenen Routinen als Problemlösung Siedlungen und Stämmen und auch Vertreibungen, zum Beispiel aus Anlaß von Straftaten. Die
1378
erscheinen lassen. Schließlich findet der Primat der Autopoiesis auch darin Ausdruck, daß alle Strukturen Selbstregulierung der dafür geltenden Bedingungen bleibt jedoch gering. Großräumigere Gesellschaften
den Operationen nachgeordnet, also als Resultat von Entscheidungen begriffen werden. Die Organisation können Mobilitätsprobleme besser intern verkraften. Immer aber geht es um Inklusion oder Exklusion des
kennt Strukturen nur als Entscheidungsprämissen, über die sie selber entschieden hat. Sie garantiert sich dies ganzen Menschen, und darin liegt eine einschneidende Beschränkung der Regelungskapazität. Erst die
über das formale Strukturprinzip der (Plan-)"Stelle", das es ihr erlaubt, über die Einrichtung solcher Stellen moderne Gesellschaft kann darauf verzichten.
bei der Festlegung des Budgets zu entscheiden und in bezug auf diese Stellen dann Stelleninhaber, Aufgaben Auch das, was an Organisationen in traditionalen Gesellschaften gebildet wird, hält sich an das Muster
1381
und organisatorische Zuordnungen durch Entscheidungen zu ändern. der Korporation. Das gilt zum Beispiel für militärische Einheiten oder für Tempel und Klöster.
Während Interaktionssysteme ihre Umwelt nur über eine Aktivierung von Anwesenden und nur über eine Mitgliedschaft heißt auch hier: Vollinklusion — hier und dann nirgendwo anders, auch nicht in anderen
Internalisierung der Differenz von anwesend/abwesend berücksichtigen können, haben Organisationen Haushalten. Es kann strenge Regeln geben, zum Beispiel für Klosterdisziplin, aber sie werden nicht nur als
zusätzlich die Möglichkeit, mit Systemen in ihrer Umwelt zu kommunizieren. Sie sind der einzige Typ Entscheidungsprämissen aufgefaßt. Und erst recht ist Autorität nicht in Entscheidungen fundiert. Offiziere,
1379
sozialer Systeme, der diese Möglichkeit hat, und wenn man dies erreichen will, muß man organisieren. Bischöfe, Äbte und Äbtissinen entstammen dem Adel.
Dies Nach-außen-Kommunizieren setzt Autopoiesis auf der Basis von Entscheidungen voraus. Denn die Über eine solche Alternative von Haushalt oder Korporation geht man jedoch bereits im Mittelalter
Kommunikation kann intern nur im rekursiven Netzwerk der eigenen Entscheidungstätigkeit, also nur als hinaus. Die hoch entwickelte Rechtskultur ermöglicht handlungsfähige Zusammenschlüsse von Haushalten,
Entscheidung angefertigt werden; sie wäre anderenfalls nicht als eigene Kommunikation erkennbar. Die die voraussetzen, daß die Lebensführung "ökonomisch" durch die Haushalte gesichert wird. Das gilt vor allem
Kommunikation nach außen widerspricht also nicht der operativen Geschlossenheit des System; im Gegenteil: für die Zünfte und Gilden, aber auch für die korporative Verfasstheit der Stände. Eben wegen dieser
sie setzt sie voraus. Das erklärt auch ganz gut, daß Kommunikation von Organisationen oft ins nahezu ökonomischen Selbstversorgung der Mitglieder liegen die Motive der Organisationsbildung im Bereich der
Nichtssagende geglättet sind oder anderenfalls für die Umwelt oft überraschende Eigentümlichkeiten an sich Politik und vor allem im Privilegienwesen. Organisationen sind nicht dadurch attraktiv, daß man dort seinen
haben und schwer zu verstehen sind. Am liebsten kommunizieren Organisationen mit Organisationen, und sie Lebensunterhalt verdienen könnte; sie brauchen also auch nicht über Geldzahlungen um Mitglieder zu
behandeln Private dann oft so, als ob sie Organisationen, oder anderenfalls: als ob sie Pflegefälle wären, die konkurrieren.
besonderer Hilfe und Belehrung bedürfen. Die moderne Gesellschaft verzichtet darauf, selbst Organisation (Korporation) zu sein. Sie ist das
Daß Organisationen nach außen kommunizieren können, ist vor allem durch ihre hierarchische Struktur geschlossene und dadurch offene System aller Kommunikationen. Und im gleichen Zuge richtet sie in sich
gewährleistet. Von Hierarchie kann man in einem doppelten Sinne sprechen. Einerseits können sich im Falle selbst autopoietische Systeme ein, deren Operation im sich selbst reproduzierenden Entscheiden besteht, also
von Organisationen Subsysteme nur innerhalb von Subsystemen bilden — und nicht einfach auf Grund der Organisationen in einem Sinne, der sowohl von Interaktion als auch von Gesellschaft zu unterscheiden ist.
1380
internen Umwelt in freiem Wildwuchs. Anders als das Gesellschaftssystem bevorzugt und realisiert die Organisationen können riesige Mengen von Interaktionen aufeinander abstimmen. Sie schaffen das Wunder,
Interaktionen, obwohl sie stets und zwangsläufig gleichzeitig geschehen, trotzdem in ihren Vergangenheiten
und Zukünften zu synchronisieren. Eben das geschieht durch jene Technik des Entscheidens über
1382
1376
Das gilt, wie oft diskutiert, für Polizisten im Außendienst, für Lehrer, für Sozialarbeiter. Man sieht aber auch, daß dies Entscheidungsprämissen auf der Grundlage einer Akzeptanzbereitschaft in einer "zone of indifference" , die
nicht möglich ist, wenn es um die Überwachung hochriskanter Industrieanlagen geht; und spektakuläre Großunfälle zeigen, durch die Mitgliedschaft sichergestellt ist. Nur: Organisation kostet Geld. Und sie erfordert völlige
daß das System an dieser Außengrenze besonders empfindlich sein kann.
1377
Auf die "Unsicherheitsabsorption", die durch das Sequenzieren von Entscheidungen erreicht wird, kommen wir
sogleich zurück.
1378
Vgl. James G. March / Johan P. Olsen, Ambiguity and Choice in Organizations, Bergen 1976.
1379 Organisationen auf unteren Ebenen verbinden und nicht mehr eindeutig hierarchisch zugeordnet werden können. Ein
Normalerweise findet man entsprechende Überlegungen in der Literatur über "kollektive Handlungsfähigkeit". Parsons
Bedarf für solche Firmenverbunde ergibt sich vor allem aus dem "just in time" Prinzip der Zulieferung, mit dem
spricht von "collectivities". Dann muß aber zusätzlich gesichert sein, daß gemeinsames Handeln (Sägen, Lasten Bewegen
Lagerhaltung eingespart und Produktion beschleunigt wird.
usw.) nicht schon als kollektives Handeln gilt. Genau dies kann man aber nur dadurch erreicht, daß man auf
1381
"Kommunikation im Namen des Kollektivs" abstellt. An der evolutionären Errungenschaft einer Differenzierung von Familien und Korporationen hatte bekanntlich
1380 Durkheim das Paradigma der Differenzierung abgehandelt in der Einleitung zur 2. Aufl. von De la division du travail
Wenn sich solche ungeplanten Systeme bilden, spricht man von "informaler" Organisation. Typisch dafür ist dann aber
social.
eine untypische Strukturierung: keine feste Mitgliedschaft, unsichere Identifizierbarkeit, Motivation zu abweichendem
1382
Verhalten — immerhin Motivation! etc. Neuerdings findet man außerdem auch Organisationen, die verschiedene Siehe Chester I. Barnard, The Functions of the Executive (1938), Cambridge Mass. 1987, S. 167 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 379 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 380

Unabhängigkeit der Mitglieder vom Bindungsinstrument der alten Welt, von den eigenen anderen Rollen. Wo Behandlung ihrer eigenen Defekte kann sie nur die gleichen Mittel wiederanwenden, die sie verursacht hatten,
1383 1387
solche Bindungen fortbestehen, erscheinen sie jetzt als Korruption. nämlich Entscheidungen. Außerdem verkümmert unter diesen Bedingungen die strukturelle Kopplung an
Autopoietische Organisationssysteme können Autoritätsverluste kompensieren, die unvermeidlich individuelle Motivation. Da immer noch und immer wieder entschieden werden muß, fehlt es an Motivation,
werden, wenn die Gesellschaft von Stratifikation zu funktionaler Differenzierung übergeht, wenn Buchdruck sich für die Ausführung von Entscheidungen gegen interne und externe Widerstände stark zu machen. Für
1388
und Alphabetisierung der Bevölkerung fortschreiten und wenn die alte "ökonomische" Ordnung der Haushalte diese Aufgabe sondert jede Organisation "Politik" ab, die sich aber oft nicht durchsetzen kann. So wird
in moderne, intim gebundene Kleinfamilien umgewandelt wird. Organisationen bilden dann eigene Verfahren verständlich, daß die moderne Reflexion eine Doppelbegrifflichkeit benutzt, um diesen Sachverhalt zu
1384
der Unsicherheitsabsorption aus. Im Prozessieren von Information werden an jeder Stelle Informationen erfassen. Sie spricht von Organisation, wenn sie die Notwendigkeiten und die positiven Seiten des Phänomens
verdichtet und Schlüsse gezogen, die an den folgenden Stellen nicht mehr nachgeprüft werden — teils weil bezeichnen will, und von Bürokratie, wenn es um die negativen Seiten geht. Ihr fehlt dann freilich ein
dafür die Zeit und die Zuständigkeit fehlt, teils weil es schwer fällt, gute Fragen zu formulieren, und vor allem: Ausdruck für die Einheit organisierter Sozialsysteme und entsprechend fehlt ihr eine für Zwecke der
weil man dazu nicht verpflichtet ist. Unsicherheitsabsorption heißt auch: Übernahme der Verantwortung für Gesellschaftstheorie zureichende Theorie der Organisation.
den Ausschluß von Möglichkeiten; aber sie bedeutet nach den Organisationsgepflogenheiten nicht ohne So wie Interaktionen brauchen auch Organisationen nicht mit Bezug auf die Einheit des
weiteres: Verantwortlichkeit für Fehler. Gesellschaftssystems eingerichtet sein. Sie können ohne gesellschaftlichen "Systemzwang" frei entstehen, und
Dieser Modus der Umsetzung von Entscheidungen in Entscheidungen ist die Autopoiesis des Systems. es gibt zahllose Organisationen (man nennt sie oft irreführend "freiwillige" Vereinigungen oder
Er transformiert weltbedingte Unsicherheiten in systeminterne Sicherheiten — nicht nur, aber auch in der Assoziationen), die sich keinem der gesellschaftlichen Funktionssysteme zuordnen. Alle Organisationen
Form von Akten. Gerade deshalb können Organisationen sich an Risiken, auf die sie sich eingelassen haben, profitieren jedoch von der Komplexität des Gesellschaftssystems, wie sie im heutigen Umfange erst durch
1385
und an Konflikte mit immer denselben Gegnern, an Konkurrenz usw. gewöhnen. Sie finden in der so weit funktionale Differenzierung möglich geworden ist. Insofern kann man, mit nur wenig Übertreibung, sagen,
erfolgreichen Unsicherheitsabsorption eine Bestätigung, die schwer zu ersetzen ist. So läßt sich die den daß es erst unter dem Regime funktionaler Differenzierung zu jenem Typus autopoietischer Systeme kommt,
Organisationen als "Bürokratien" oft zugeschriebene Trägheit erklären. Gerade weil unter aller Sicherheit von den wir als organisiertes Sozialsystem bezeichnen. Erst jetzt gibt es dafür genügend zahlreiche Nischen. Erst
Entscheidungsprämissen Unsicherheit begraben liegt, darf man daran nicht rütteln. Gerade weil es sich um jetzt gibt es dafür genug zu entscheiden. Erst jetzt lohnt es sich, die Umwelt als so komplex anzusetzen, daß
eine selbstgefertigte Konstruktion handelt, bleibt man dabei. Das schließt Irritierbarkeit keineswegs aus; aber dem intern nicht mehr durch Fakten, Zeichen, Repräsentationen entsprochen werden kann, sondern nur noch
sie muß an Ereignissen festgemacht werden, die sich in der Systemkommunikation als neu und durch Entscheidungen.
unvorhergesehen darstellen lassen. Unbestreitbar bilden sich jedoch, wenn nicht die meisten, so doch die wichtigsten und größten
Für diesen Prozeß der Unsicherheitsabsorption sind externe Autoritätsquellen entbehrlich. Die Organisationen innerhalb der Funktionssysteme und übernehmen damit deren Funktionsprimate. In diesem
Organisation kann sich aus ihnen lösen. In gewissem Umfange greifen die Rekrutierungsprozesse über Sinne kann man Wirtschaftsorganisationen, Staatsorganisationen und sonstige politische Organisationen,
Personalselektion auf gesellschaftlich vorgegebene Unterschiede zurück — etwa auf die Schulsysteme, Wissenschaftsorganisationen, Organisationen der Gesetzgebung und der Rechtsprechung
Eigentumsverhältnisse für Wirtschaftsbetriebe, auf politische Kontakte, auf das über Ausbildung garantierte unterscheiden. Ganz offensichtlich unterscheidet sich die Art, wie organisatorische Möglichkeiten realisiert
Niveau fachlicher Kompetenz. Aber damit zwingt die Gesellschaft die Organisationen nicht unter das Regime werden, von Funktionssystem zu Funktionssystem. Darauf können wir an dieser Stelle jedoch nicht eingehen.
vorgegebener (etwa: ständischer) Autorität. Sondern die Organisationen benutzen den Mechanismus der Wir müssen uns darauf beschränken, die Beziehungen zwischen Funktionssystemen und "ihren"
Personalrekrutierung zur Ressourcenbeschaffung; und interne Autorität mag sich dann auch unabhängig von Organisationen zu klären, und dies unter der Prämisse, daß in beiden Fällen autopoietische Systeme vorliegen,
der Ordnung der Zuständigkeiten und der Weisungsbefugnisse daraus ergeben, daß über Personen ein obwohl zugleich unbestritten ist, daß sich solche Organisationen in den Funktionssystemen zum Vollzug ihrer
exzeptioneller und differentieller Zugang zu Umweltressourcen erschlossen werden kann. Ein Handelsvertreter Operationen und zur Implementation ihres Funktionsprimats bilden.
mit guten Kontakten zur Kundschaft kann firmenintern Sonderbedingungen für Kunden durchsetzen. Eine Der Ausgangspunkt für das weitere liegt in der Einsicht, daß kein einziges Funktionssystem seine eigene
glänzende, im Publikum beliebte Schauspielerin kann auf die Regie Einfluß nehmen. Einheit als Organisation gewinnen kann. Oder anders gesagt: keine Organisation im Bereich eines
Die klassischen Beschreibungen Max Webers treffen solche Sachverhalte nicht genau genug und vor Funktionssystems kann alle Operationen des Funktionssystems an sich ziehen und als eigene durchführen.
allem nicht realistisch genug. Jeder, der in Organisationen gearbeitet hat, kennt das hohe Maß an Erziehung gibt es immer auch außerhalb von Schulen und Hochschulen. Medizinische Behandlung findet
Personalisierung der Beobachtungen, insbesondere im Zusammenhang mit Arbeitsbewertungen und nicht nur in Krankenhäusern statt. Die Riesenorganisation im politischen System, die man "Staat" nennt,
Karrieren. Ferner macht die interaktionstypische Einbeziehung eigener anderer Rollen sich gegen die Regeln bewirkt gerade, daß es staatsbezogene politische Aktivitäten gibt, die nicht als staatliche Entscheidungen
auch hier bemerkbar. (Man muß sein Kind morgens erst zum Kindergarten bringen, bevor man zum Dienst fungieren. Und selbstverständlich werden die Organisationen des Rechtssystems, vor allem die Gerichte, nur
kommen kann, und findet dafür Verständnis). Wichtiger ist eine die andere Seite betreffende Erfahrung: daß dann in Anspruch genommen, wenn außerhalb der Organisation stattfindende Kommunikation über Recht und
gerade eine gut funktionierende, in die modischen Richtungen von Rationalisierung und Demokratisierung voll Unrecht dies ratsam erscheinen läßt.
1386
ausgebaute Organisation eigentümliche Irrationalitäten erzeugt. Die Autopoiesis entwickelt bei Aber auch die Organisationen innerhalb von Funktionssystemen müssen als operativ geschlossene, auf
zunehmender Komplexität des Entscheidens über Entscheidungen über Entscheidungen über Entscheidungen der Basis ihres Entscheidens eigenständige Sozialsysteme angesehen werden. Sie übernehmen den
dazu passende Strukturen und eine zunehmende Tendenz, zu entscheiden, nicht zu entscheiden. Auf die

1387
Siehe als ein eindrucksvolles Beispiel die "Bilanz der Entbürokratisierung" im Zweiten Bericht zur Rechts- und
1383
Damit ist nicht ausgeschlossen, daß Korruption ganz normal vorkommt und als Zugang zu Organisationen Verwaltungsvereinfachung, herausgegeben vom Bundesministerium des Inneren, Bonn, Juni 1986. Um unnötige
unentbehrlich zu sein scheint. In diesem Sinne leben auch Patron/Klient-Verhältnisse fort. Jedenfalls ist Korruption in Regulierungen zu vermeiden, soll jedes Regelungsvorhaben danach 10 Prüffragen mit bis zu 11 (insgesamt 48) Unterfragen
diesem Sinne zu unterscheiden von durch Geld vermittelter Korruption, die juristisch (oft ohne Folgen) verboten werden unterworfen werden, die jede für sich wieder unzureichend bestimmte Komplexität in den Entscheidungsprozeß einführen.
kann. Zur Vereinfachung wird daher zunächst einmal jede Entscheidung mit 48 oder, wenn man mit Interdependenzen rechnen
1384 muß, mit 248 multipliziert! Hier kann dann nur noch die Praxis für Vereinfachung sorgen.
Siehe James G. March / Herbert A. Simon, Organizations, New York 1958, S. 165 f.
1388
1385 Über "Mikropolitik" und entsprechende "Spiele" gibt es inzwischen viel Literatur. Siehe etwa Tom Burns,
Dazu am Beispiel politischer Parteien Niklas Luhmann, Die Unbeliebtheit politischer Parteien, Die politische Meinung
Micropolitics: Mechanisms of Institutional Change, Administrative Science Quarterly 6 (1961), S. 257-281; Michel Crozier
37, Heft 272 (1992), S. 177-186.
/ Erhard Friedberg, L'acteur et le système, Paris 1977; Willi Küpper / Günther Ortmann (Hrsg.), Mikropolitik: Rationalität,
1386
Vgl. hierzu anhand schwedischer Erfahrungen Nils Brunsson, The Irrational Organization: Irrationality as a Basis for Macht und Spiele in Organisationen, Opladen 1988; Günther Ortmann, Formen der Produktion: Organisation und
Organizational Action and Change, Chichester 1985. Rekursivität, Opladen 1995.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 381 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 382

Funktionsprimat (oft allerdings mit Konzessionen an andere Funktionen, zum Beispiel mit Unterschied ist als solcher funktionswichtig. Denn nur mit Hilfe der intern gebildeten Organisationen können
Wirtschaftlichkeitsüberlegungen in der Verwendung budgetierter Mittel). Sie übernehmen den binären Code Funktionssysteme ihre eigene Offenheit für alle regulieren und Personen unterschiedlich behandeln, obwohl
des jeweiligen Funktionssystems. Nur unter diesen beiden Bedingungen können sie ihre eigenen Operationen alle gleichen Zugang haben. Die Differenz der Systembildungsweisen ermöglicht es also, beides zugleich zu
dem betreffenden Funktionssystem zuordnen und zum Beispiel als Gerichte, als Banken, als Schulen praktizieren: Inklusion und Exklusion. Und sie ermöglicht es auch, diese Differenz selbst bei hoher
erkennbar sein. Ihre Eigenwelt gewinnen und organisieren sie dagegen durch eine weitere Unterscheidung, Systemkomplexität durchzuhalten und gerade mit Hilfe der Komplexität den Widerspruch
nämlich die von Programmen und Entscheidungen. Programme sind Erwartungen, die für mehr als nur eine Inklusion/Exklusion aufzulösen. Der Gleichheitsgrundsatz wird von Juristen nicht als Verbot von
Entscheidung gelten. Sie zwingen zugleich das Verhalten in die Form der Entscheidung, das Programm Ungleichheit, sondern als Willkürverbot ausgelegt. Das verweist auf Organisation als Instrument der
1389 1393
anzuwenden oder dies nicht zu tun. Alles programmierte Verhalten ist Entscheidungsverhalten, und dies regulativen Spezifikation. Oder anders formuliert: Der Gleichheitssatz ist kein Konditionalprogramm ,
auch dann, wenn das Programm selbst Produkt eines (seinerseits programmierten) Entscheidungsverhaltens sondern ein limitatives Prinzip. Er kann als Voraussetzung vorausgesetzt werden, wenn es um eine konsistente
ist. Der Zusammenhang von Programm und Entscheidung kann also rekursiv geschlossen, kann zirkulär Praxis des Unterscheidens geht.
organisiert sein. In diesem Sinne sind alle Organisationen strukturdeterminierte Systeme, und dies ohne Import Dieser Unterschied in der Behandlung des Inklusions-/Exklusionsproblems beginnt sich auszuwirken.
von Strukturen aus ihrer (funktionssysteminternen bzw. gesellschaftssysteminternen) Umwelt. Einerseits wird der Zugang zu organisierter Arbeit (und nicht mehr: die "Ausbeutung" in organisierter Arbeit)
Das alles gilt auch und erst recht bei sehr vage formulierten Programmen, etwa: Optimiere das zum Problem. Andererseits bilden sich in vielen Funktionssystemen, vor allem aber im politischen System,
Betriebsergebnis, bringe Interessen zum Ausgleich. Es gilt auch, wenn nur Zwecke und keine sonstigen Ressentiments gegen das, was dem Einzelnen als Resultat organisierter Entscheidungsprozesse zugemutet
Konditionen als Programme fungieren. Damit entstehen Probleme der Interpretation oder der "Faktorisierung" wird. Wenn gegenwärtig wieder vermehrt von civil society, citizenship, Bürgergesellschaft gesprochen
1390 1394
des Programms , die aber in der Organisation gelöst werden können und gelöst werden müssen. Denn wo wird , wird damit weder die aristotelische Tradition fortgesetzt noch ein politisches Engagement gegen
sonst? wirtschaftliche Interessen ausgespielt, sondern der Impuls richtet sich auf breiter Fläche gegen Organisation.
Anders als die herrschende, politikorientierte Auffassung es sehen würde, dienen die Organisationen der Es geht um Beteiligung an Öffentlichkeit ohne Mitgliedschaft in Organisationen. Das Problem liegt auch nicht
Funktionssysteme nicht der Ausführung oder "Implementation" von Entscheidungen, die in den Zentralen länger in der besonderen Herrschaftsform der "Bürokratie", sondern eher in den unbefriedigenden Ergebnissen
getroffen werden. Ausführbare Entscheidungen können nur in den Organisationen selbst getroffen werden, organisierter "Unsicherheitsabsorption", die in erheblichem Umfange das beschränken, was in
und die Zentralen sind Teil des Netzwerkes der Organisationen. Um die Funktion von Organisationen im Funktionssystemen möglich ist.
Aufbau einer funktional differenzierten Gesellschaft erkennen zu können, muß man sich daran erinnern, daß Ein weiterer, vielleicht noch wichtigerer Gesichtspunkt ist: daß Organisation der
Organisationen die einzigen Sozialsysteme sind, die mit Systemen ihrer Umwelt kommunizieren können. Die Interdependenzunterbrechung in Funktionssystemen dienen. Über die Notwendigkeit einer solchen
Funktionssysteme selbst können das nicht. Weder die Wissenschaft, noch die Wirtschaft, aber auchnicht die Interdependenzunterbrechung hatte die Theorie von "Staat und Gesellschaft" hinweggetäuscht, die gleichsam
Politik und auch nicht die Familie kann als Einheit nach außen in Kommunikation treten. Um nur einen einzigen Fall von Nichtübereinstimmung konzedierte, dann aber in bezug auf den Staat auf
Funktionssysteme mit externer Kommunikationsfähigkeit auszustatten (die als Kommunikation natürlich einheitliche Politik und in bezug auf die Wirtschaft auf Gleichgewicht wert legte. Die Wirklichkeit funktioniert
immer Vollzug der Autopoiesis von Gesellschaft ist), müssen in den Funktionssystemen Organisationen jedoch seit langem anders, und vermutlich aus guten Gründen. Die politischen Programme werden von
gebildet werden — sei es mit angemaßten Sprecherrollen, so wie die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände politischen Parteien, also von Organisationen, aufgestellt mit dem Systemimperativ, sich zu unterscheiden
1391
angeblich für "die Wirtschaft" sprechen ; sei es mit den Großzentren komplex verschachtelter (was angesichts der Sachlogik von Problemen nicht immer leicht fällt); und die Entscheidung zur
Organisationseinheiten, den Regierungen, den internationalen Korporationen, der Militärführung. Viel davon Aktualisierung von Politik obliegt einer anderen Organisation: dem Staat, der unter anderem auch die
hat, freilich unter theoretisch nicht weiter reflektierten Perspektiven, die neuere Forschung über politischen Wahlen organisiert. Ohne diese Differenzierung auf organisatorischer Ebene und ohne das dadurch
"Neokorporatismus" eingefangen. Auch die komplizierte Theorie gesellschaftlicher Steuerung, an der Helmut ermöglichte kontinuierliche Beobachten von Beobachtungen wäre keine Demokratie möglich. Ähnliches gilt
Willke arbeitet, setzt Kommunikationsfähigkeit der gesellschaftlichen Teilsysteme (zum Beispiel für das Wirtschaftssystem. Auch hier ermöglicht die Vorstellung eines vollständigen
1392
Selbstbindungsfähigkeit durch Kommunikation in Intersystembeziehungen) voraus. Die wachsende Konkurrenzgleichgewichts zwar mathematische Formulierungen in der Reflexionstheorie des Systems,
1395
Bedeutung von Organisationen in Funktionssystemen geht aber einher mit, ja wird ausgelöst durch, die entspricht aber, wie man ebenfalls seit langem weiß , nicht der Realität. Vielmehr organisieren sich auch in
Unmöglichkeit, die Funktionssysteme selbst zu organisieren. Man sieht damit auch, wie sehr Organisationen der Wirtschaft wirtschaftseigene Interdependenzunterbrechungen, die verhindern, daß jeder Preis von allen
auf einen laufend neu entstehenden Synchronisationsbedarf hin gebildet sind, und genau damit auf die anderen Preisen abhängt, und es eben dadurch ermöglichen, wirtschaftliche Rationalität zwar nicht im
Künstlichkeit einer Differenzierung des Gesellschaftssystems nach Funktionen reagieren. Zustand des Gesamtsystems, wohl aber auf der Ebene unternehmensspezifischer Bilanzen zu erreichen. Und
Funktionssysteme behandeln Inklusion, also Zugang für alle, als den Normalfall. Für Organisationen gilt auch hier ermöglicht und erzwingt diese Form der Interdependenzunterbrechung die Ersetzung der
das Gegenteil: sie schließen alle aus mit Ausnahme der hochselektiv ausgewählten Mitglieder. Dieser unerreichbaren Einheitsrationalität durch ein laufendes Beobachten von Beobachtern. Organisationen lassen
sich zwar nicht im Hinblick auf ihre Entscheidungsprozesse, wohl aber an Hand ihrer Preise beobachten.
1389
Zum Zusammenhang von Erwartung und Entscheidung ausführlicher Niklas Luhmann, Soziologische Aspekte des
Entscheidungsverhaltens, Die Betriebswirtschaft 44 (1984), S. 591-603.
1390 1393
Ein gutes Beispiel: Herbert A. Simon, Birth of an Organization: The Economic Cooperation Administration, Public Siehe hierzu Adalbert Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes,
Administration Review 13 (1953), S. 227-236. Berlin 1971, S. 50.
1391 1394
Wer wirklich wissen will, was "die Wirtschaft" meint, ist denn auch besser beraten, wenn er die Börsenberichte liest; Vgl. nur John Keane (Hrsg.), Democracy and Civil Society, London 1988; ders. (Hrsg.), Civil Society and the State:
denn immer wenn Kommunikation organisiert ist, kann auch getäuscht und gelogen werden. New European Perspectives, London 1988; Jean Cohen / Andrew Arato, Civil Society and Political Theory, Cambridge
1392 Mass. 1992.
Vgl. jetzt Helmut Willke, Systemtheorie entwickelter Gesellschaften: Dynamik und Riskanz moderner
1395
gesellschaftlicher Selbstorganisation, Weinheim 1989, insb. S. 44 ff., 103 ff., 111 ff.; ders., Ironie des Staates: Grundlinien In der Wirtschaftstheorie hing das wachsende Verständnis für die Bedeutung von Organisationen mit der Kritik der
einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, Frankfurt 1992; ders., Systemtheorie III: Steuerungstheorie: Grundzüge theoretischen Prämisse des Marktes mit perfekter Konkurrenz eng zusammen. Siehe nur Herbert A. Simon, Models of Man
einer Theorie der Steuerung komplexer Sozialsysteme, Stuttgart 1995. Demgegenüber macht eine scharfe Unterscheidung — Social and Rational: Mathematical Essays on Rational Human Behavior in a Social Setting, New York 1957. Eine
zwischen primären gesellschaftlichen Subsystemen und (deren) Organisationen auf das Problem aufmerksam, daß andere Entwicklung lief über die spezifisch ökonomische Version von Input/Output-Analyse. Siehe aus der Feder des
Organisationen, wenn überhaupt, nur sich selbst aber nicht "die Politik", "die Wirtschaft", "die Wissenschaft" usw. durch Erfinders: Wassily W. Leontief, Die Methode der Input-Output-Analyse, Allgemeines statistisches Archiv 36 (1952), S.
Kommunikation festlegen können. 153-166.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 383 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 384
1399
An die Stelle einer hierarchischen Konzeption des Verhältnisses von Funktionssystem und Sympathisanten sagen ihnen sogar nach, sie erhöhten die Produktionsgeschwindigkeit guter Gründe. Aber
1396
Organisationen tritt mithin eine Art Netzwerk-Konzept. Die Organisationen entfalten eine Eigendynamik, die Beobachtungstechnik des Teufels, das Ziehen einer Grenze in einer Einheit gegen diese Einheit, wird
die im Funktionssystem mit Verfahren der Beobachtung zweiter Ordnung aufgefangen wird, und dies unter copiert; und auch die Folgewirkung tritt ein: das unreflektierte Sich-für-besser-halten. Entsprechend wird mit
der Bedingung laufender Reaktualisierung — etwa in der Form des Marktes, über die öffentliche Meinung, in Schuldzuweisungen gearbeitet. Das Schicksal der Gesellschaft liegt nicht im unergründlichen Ratschluß
laufend neu erscheinenden wissenschaftlichen Publikationen oder Rechtstexten. Statistische Überwachungen Gottes. Das Schicksal der Gesellschaft — das sind die anderen.
bleiben möglich, sofern es besondere Organisationen gibt, die Daten auswerten. Aber im Wirtschaftssystem Daß die Protestbewegungen nicht fallen, sondern aufsteigen, mag mit der Umstellung der Gesellschaft
zum Beispiel zeigt sich deutlich, daß die das System bestimmenden Entscheidungen bei der Firmenpopulation auf funktionale Differenzierung zusammenhängen. Das führt uns zu einer weiteren Paradoxie. Im Anschluß
liegen und Übersichtsinstanzen wie Börsen oder Zentralbanken mit ihren eigenen Rekursivitäten wiederum nur an Parsons können wir von einem Zusammenhang von stärkerer Differenzierung und stärkerer
als Organisationen das Geschehen beeinflußen. Keine Organisation repräsentiert das System im System, und Generalisierung der symbolischen Grundlagen, insbesondere der "Werte" ausgehen, mit denen die Gesellschaft
1400
jede ist nur für sich selbst verantwortlich. Die sich dabei einstellenden Rückkopplungen lassen sich nicht in der ihre Einheit zu formulieren versucht. Was aber geschieht, wenn die generalisierten Werte in der
Form von Gleichgewichtsmodellen begreifen. Sie neigen zu plötzlichen Effektaggregationen, die wiederum differenzierten Gesellschaft gar nicht mehr untergebracht werden können? Wenn sie zwar formuliert und
von außen auf die Organisationen einwirken und die dann eintretenden Erschütterungen auch in andere anerkannt werden, aber ihre Realisierung zu wünschen übrig läßt? Es scheint, daß die sozialen Bewegungen
Funktionssysteme übertragen können. eine Antwort auf dieses Problem suchen, und daß diese Antwort die Form eines anderen Paradoxes annimmt,
Gewiß, es ist nicht ganz einfach, sich an diese unüblichen Theorieperspektive zu gewöhnen. Ob es sich nämlich als Protest der Gesellschaft (und nicht nur: einzelner Akteure oder spezifischer Interessen) gegen die
lohnt, entscheidet sich am Ertrag. Jedenfalls verdeutlicht eine so entschieden auf operative Geschlossenheit Gesellschaft zum Ausdruck gebracht wird. Geleitet durch diese Vermutung fragen wir zum Abschluß des
und Autopoiesis abstellende Theorie, wie sehr das Entstehen von Organisationen einerseits nur in Kapitels über Differenzierung nach den strukturellen Gründen für diese offensichtlich neuartige Erscheinung.
Gesellschaften möglich ist, dann aber auf eigenständige Weise zur gesellschaftlichen Differenzierung beiträgt, So viel dürfte unbestritten sein: die Protestbewegungen unserer Tage sind weder mit den religiösen
und dies in einem doppelten Sinne: zur Differenzierung des Gesellschaftssystems und seiner Funktionssysteme Erneuerungsbewegungen noch mit den ökonomisch veranlassten Unruhen und Rebellionen der alten Welt zu
1401
gegen die Autopoiesis der Organisationen und, mit Hilfe dieser Autopoiesis, zur Differenzierung der vergleichen. Deutlich erkennbar ist auch eine thematische Diversifikation, vor allem in der zweiten Hälfte
Funktionssysteme gegeneinander und gegen ihre jeweilige Umwelt. Auf diese Weise kann eine augenfällige unseres Jahrhunderts. Die sogenannten "neuen sozialen Bewegungen" passen nicht mehr in das Protestmuster
strukturelle Diskrepanz verdeutlicht werden, daß nämlich die moderne Gesellschaft mehr als jede ihrer des Sozialismus. Sie beziehen sich nicht nur auf die Folgen der Industrialisierung und haben nicht mehr nur
Vorgängerinnen auf Organisation angewiesen ist (ja erstmals überhaupt einen eigenen Begriff dafür das eine Ziel einer besseren Verteilung des Wohlstandes. Ihre Anlässe und Themen sind sehr viel heterogener
1397
geschaffen hat ); daß sie aber andererseits weniger als jede Gesellschaft zuvor in ihrer Einheit oder in ihren geworden. Man hat an die prohibitionistische Bewegung in den USA der zwanziger Jahre zu denken oder an
Teilsystemen als Organisation begriffen werden kann. die feministische Bewegung unserer Tage, und vor allem die ökologische Thematik ist in den Vordergrund
gerückt. Um so schwieriger scheint es zu sein, diese neuen sozialen Bewegungen von ihren Zielen her zu
1402
begreifen. Dies gilt besonders, wenn man auch die dritte Generation, die neueste neue soziale Bewegung
mit in Betracht zieht: die Bewegung der Ausländerfeinde, die nun auch jede Koalition mit den inzwischen
XV. Protestbewegungen klassischen Protestbewegungen aufkündigt und öffentliche Aufmerksamkeit fast nur noch durch spontane
Gewaltakte, also auf kriminellem Wege erreicht. Wenn man nach Motiven fragt, bezeichnen sie ihre Gegner,
Die bisher entwickelte Systemtypologie (Gesellschaft, Interaktion, Organisation) reicht nicht aus, um ein die Ausländer, und die Proteste dienen fast nur noch der "Selbstverwirklichung" im Modus von
1403
weiteres Phänomen zu erfassen. Wir müssen deshalb (ohne Rücksicht auf Theorieästhetik) einen weiteren Unterschichtenverhalten.
Abschnitt anhängen, der sich mit sozialen Bewegungen befassen wird. Dabei genügt es nicht, den in der Große Teile der Öffentlichkeit charakterisieren das Phänomen vor dem Hintergrund der Unterscheidung
1404
Chicago-Schule entwickelten Begriff des collective behavior zu übernehmen. Dieser Begriff war gegen von rationalen und irrationalen (emotionalen) Motiven. Wir halten eine solche Kontroverse für unergiebig.
individualistische Erklärungsansätze gerichtet, beruhte also auf der Unterscheidung Individuum/Kollektiv. Sie gibt nur das herrschende Urteil über Inklusion und Exklusion (eventuell: Selbstexklusion) wieder. Sie
Aber da liegt nicht das Problem. Vielmehr versuchen diese Bewegungen, allein schon durch ihre soziale reformuliert nur die Perspektiven der Teilnehmer und Sympathisanten auf der einen und ihrer Gegner auf der
Offenheit für immer neue Anhänger, die Gesellschaft gegen die Gesellschaft zu mobilisieren. Wie soll das anderen Seite. Statt dessen gehen wir von der Beobachtung aus, daß Protestbewegungen weder als
möglich sein? Organisationssysteme noch als Interaktionssysteme angemessen zu begreifen sind.
Der Versuch, eine Grenze zu ziehen, um von der anderen Seite aus Gott und seine Schöpfung zu
beobachten, galt in der alten Welt als Fall des Engels Satan. Der Beobachter muß sich ja, da er das 1399
1398 So Klaus Eder, Die Institutionalisierung sozialer Bewegungen: Zur Beschleunigung von Wandlungsprozessen in
Beobachtete und anderes sieht, für besser halten und damit Gott verfehlen. In der heutigen Welt ist dies
fortgeschrittenen Industriegesellschaften, in: Hans-Peter Müller / Michael Schmid (Hrsg.), Sozialer Wandel: Modellbildung
Sache der Protestbewegungen. Aber sie fallen nicht, sie steigen auf. Sie verfehlen nicht das Wesen Gottes und theoretische Ansätze, Frankfurt 1995, S. 267-290 (284).
(Theologen schließen sich sogar an), so daß auch das Merkmal der Sünde, die Gottesferne, nicht zutrifft. 1400
Vgl. Talcott Parsons, The System of Modern Societies, Englewood Cliffs 1971, insb. S. 26 ff.
1401
Die Literatur über "moral economy" als Prämisse für Bauernrevolten betont diesen Unterschied. Vgl. die Hinweise
oben Anm......
1402
Die soziologische Darstellung dieser Bewegungen bleibt dieser Zielebene verhaftet und deshalb durchweg deskriptiv.
1396
Hierzu anregend Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie: Selbstreferenz — Selbstorganisation — Was als Theorieleistung angeboten wird, beschränkt sich auf die Darstellung einer historischen Kontinuität in sehr
Prozeduralisierung, Berlin 1992, insb. S. 176 ff. heterogenen Zielen. Siehe typisch Lothar Rolke, Protestbewegungen in der Bundesrepublik, Opladen 1987.
1397 1403
Zu der noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sehr unsicheren Begriffsentwicklung Niklas Luhmann, Man kann deshalb fragen, und darüber wird seit einiger Zeit diskutiert, ob es sich überhaupt um eine soziale Bewegung
Organisation, Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 6, Basel-Stuttgart 1984, Sp. 1326-1328. handelt oder nur um Eruptionen des Selbstverwirklichungsmilieus. Vertreter der alten neuen sozialen Bewegungen
1398 tendieren dazu, den Neuen die Aufnahme in diesen Begriff zu bestreiten. Aber dabei spielen intellektuelle Überheblichkeit
So Marquese Malvezzi aus Anlaß einer Diskussion über die Staatsräson. Siehe Virgilio Malvezzi, Ritratto del Privato
und politisch-moralische Selbstpräferenzen eine allzu deutliche Rolle.
politico, in: Opere del Marchese Malvezzi, Mediolanum 1635, gesondert paginiert, hier S. 123. Für ein Säkularisat dieser
1404
Theoriefigur siehe Hegels Ausführungen über "Das Gesetz des Herzens, und der Wahnsinn des Eigendünkels" in der Als Kritik und als Auflösung dieser Kontroverse in sozialen Konstruktivismus vgl. auch Mary Douglas / Aaron
Phänomenologie des Geistes, zit. nach der Ausgabe von Johannes Hoffmeister, Leipzig 1937, S. 266 ff. Wildavsky, Risk and Culture: An Essay on Selection of Technological and Environmental Dangers, Berkeley 1982.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 385 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 386

Organisationen sind sie schon deshalb nicht, weil sie nicht Entscheidungen organisieren, sondern Motive, Um so mehr muß der Gesichtspunkt abstrahiert werden, der sich eignet, solche Bewegungen zu
commitments, Bindungen. Sie suchen gerade das ins System zu bringen, was eine Organisation voraussetzen katalysieren, zu focussieren, mit Identität zu versorgen — und ihre immer auch psychischen Funktionen zu
und zumeist bezahlen muß: die Mitgliedschaftsmotivation. So wie Organisationen "Politik", so sondern invisibilisieren.
1409
Protestbewegungen "Organisation" nur ab, um Restprobleme zu lösen. Ohne Organisation einer "Vertretung" Die Einheit des Systems einer Protestbewegung ergibt sich aus ihrer Form, eben dem Protest. Mit der
der Bewegung könnte diese nur agieren, nur dasein, nicht aber nach außen kommunizieren. Wenn es straff Form des Protestes wird sichtbar gemacht, daß die Teilnehmer zwar politischen Einfluß suchen, aber nicht
geführte Organisationen gibt (zum Beispiel Greenpeace), setzen diese eine latente, aber auf normalen Wegen. Dies Nichtbenutzen der normalen Einflußkanäle soll zugleich zeigen, daß es sich um
unterstützungswirksame Protestbereitschaft voraus, die zum Beispiel auf Boykottaufrufe reagieren würde ein dringliches und sehr tiefgreifendes, allgemeines Anliegen handelt, das nicht auf die übliche Weise
(solange dies nicht unbequem wird). Die Rekrutierung ihrer Anhänger können Protestbewegungen nicht als prozessiert werden kann. Die Protestkommunikation erfolgt zwar in der Gesellschaft, sonst wäre sie keine
1410
generalisierte Unterwerfung unter Bedingungen der Mitgliedschaft und nicht als deren Respezifikation durch Kommunikation, aber so, als ob es von außen wäre. Sie hält sich selbst für die (gute) Gesellschaft , was
Entscheidungen erreichen. Sie haben, anders als Organisationen, eine unendlichen Personalbedarf. Wollte man aber nicht dazu führt, daß sie gegen sich selber protestieren würden. Sie äußert sich aus Verantwortungfür die
Protestbewegungen als Organisationen (oder als Organisationen im Prozeß des Entstehens) auffassen, käme Gesellschaft, aber gegen sie. Das gilt gewiß nicht für alle konkreten Ziele dieser Bewegungen; aber durch die
man auf lauter defiziente Merkmale: heterarchisch, nicht hierarchisch, polyzentrisch, netzwerkförmig und vor Form des Protestes und die Bereitschaft, stärkere Mittel einzusetzen, wenn der Protest nicht gehört wird,
allem: ohne Kontrolle über den Prozeß ihrer eigenen Veränderung. unterscheiden diese Bewegungen sich von Bemühungen um Reformen. Ihre Energie und auch die Fähigkeit,
Aber auch Interaktionssysteme sind es nicht. Gewiß: Interaktion ist hier wie überall unentbehrlich. Sie Themen zu wechseln, sofern sie nur als Protest kommuniziert werden können, erklären sich, wenn man dem
dient aber vor allem dazu, die Einheit und Größe der Bewegung zu demonstrieren. Deshalb das Interesse an, Rechnung trägt, daß hier ein Oszillieren zwischen Innen und Außen eine Form gefunden hat.
und die Focussierung der Aktivität auf, "Demonstrationen" (wobei die Assoziation von Demonstration und Außerdem kommt auf diese Weise eine spezifische Form gesellschaftlicher Differenzierung zum
Demokratie ein hilfreicher linguistischer Zufall ist). Interaktion beweist Engagement; "kommt!", lautet die Ausdruck, nämlich die Differenzierung von Zentrum und Peripherie. Die Peripherie protestiert — aber nicht
Parole. Aber der Sinn des Zusammenseins liegt (wie in anderer Weise auch in Organisationen) außerhalb des gegen sich selbst. Das Zentrum soll sie hören und dem Protest Rechnung tragen. Da es aber in der modernen
Zusammenseins. Er setzt sich für die Teilnehmer aus höchst individuellen Problemen der "Sinnsuche" und Gesellschaft kein gesamtgesellschaftliches Zentrum mehr gibt, findet man Protestbewegungen nur in
"Selbstverwirklichung" zusammen, die sich durch soziale Focussierung nur auf stets prekäre Weise bündeln Funktionssystemen, die Zentren ausbilden; vor allem im politischen System und, schwächer ausgeprägt, in
1405
und ausbeuten lassen. zentralistisch organisierten Religionen des Religionssystems. Gäbe es diese Zentrum/Peripherie-Differenz
Die sozialistische Bewegung des 19. Jahrhunderts hatte mit Hinweis auf Klassenlage und nicht, verlöre auch der Protest als Form seinen Sinn, denn es gäbe dann keine soziale (sondern nur noch eine
Fabrikorganisation eine relativ einheitliche, daher auch einheitlich ansprechbare Motivlage voraussetzen sachliche oder zeitliche) Grenze zwischen Desiderat und Erfüllung.
können. Oder zumindest hatte sie ihre Welt so konstruiert. Sie war deshalb auch organisations-, ja sogar Mit der Form des Protestes fällt eine deutliche Entscheidung gegen ein kognitives und für ein reaktives
1411
theoriefähig gewesen. Das ist für die heutigen "neuen" sozialen Bewegungen anders. Sie haben es mit stärker Vorgehen. Man verwendet anerkannte, resonanzfähige "scripts" (etwa: Erhaltung des Friedens), spitzt sie
individualisierten Individuen zu tun, und wie man gesagt hat: mit Individuen, die die Zumutungen ihrer aber auf bestimmte Problemlösungen zu (hier: gegen Rüstung), die nicht mehr ohne weiteres konsensfähig
1406
Lebenslage als paradox empfinden und deshalb Externalisierungen, "Sinngebungen", Unterscheidungen sind. Man begnügt sich mit einer stark schematisierten Darstellung des Problems, oft verbunden mit einer
zur Entfaltung der Paradoxie benötigen. Sie vertreten den Anspruch (den jeder auf seine Weise auslegen Aufmachung als "Skandal", und stellt die eigene Initiative als Reaktion auf unerträgliche Zustände dar. Und
kann), in den Aussichten auf selbstbestimmte Lebensführung nicht oder nur aus einsichtigen Gründen auch von den Adressaten wird Reaktion verlangt — und nicht weiteres Bemühen um Erkenntnis. Denn
beeinträchtigen zu werden. Sie argumentieren als "Betroffene" für "Betroffene". Vor allem Jugendliche und während Bemühungen um mehr Information und gut abgesicherte Zukunftsplanung sich verzetteln und in eine
Akademiker scheinen in dieser Weise selbstbezüglich paradoxieempfindlich zu sein. Das heißt aber auch, daß Zukunft ohne Ende ausweichen würden, verspricht reaktives Vorgehen schnell erreichbare Wirkungen. (Daß
die neuen sozialen Bewegungen, die darauf ansprechen, ihre Teilnahmemotive in einem notorisch instabilen dies keine Spezialität der Protestbewegungen ist, zeigt ein Blick auf die Planungen in der Wirtschaft, von den
Publikum finden. Ihr Rekrutierungspotential beruht auf einer weitgehenden Abschwächung der Bedeutung der monetären Politik der Zentralbanken bis zu den Produktions- und Organisationsplanungen der Firmen.
von Zugehörigkeiten, vielleicht auch auf einer tief ins Privatleben eingreifenden Filigranarbeit des Auch hier scheint Zeitdruck einen Übergang von eher kognitiven zu eher reaktiven Strategien zu erzwingen.)
1407
Rechtsstaates, die es unnötig macht, sich um Angewiesensein auf andere zu kümmern. Auch hängen sie In der Form des Protestes wird mitkommuniziert, daß es Interessierte und Betroffene gibt, von denen
damit stärker, und zwar gerade in ihrer Ausdifferenzierung, von sozialstrukturellen Bedingungen ab, zum man Unterstützung erwarten kann. Wie oft gesagt, dienen Protestbewegungen daher auch der Mobilisierung
Beispiel von einem Restvertrauen in die Adresse Staat, der helfen könnte, wenn er nur wollte, und von der von Ressourcen und der Fixierung neuer Bindungen. Erst wenn eine solche Mobilisierung auf Ziele hin
1412 1413
sozialen Normalität scharfer Meinungsunterschiede zwischen den Generationen (auch und gerade: in zustandekommt , kann man von einem sich selbst reproduzierenden autopoietischen System sprechen. In
1408
Familien). erheblichem Umfange kommt es daher auch zu Protestaktionen (etwa der Organisation Greenpeace), die nicht
zur Bildung sozialer Bewegungen führen, aber ein Protestklima reproduzieren.
Die Form "Protest" leistet für Protestbewegungen das, was Funktionssysteme durch ihren Code
erreichen. Auch diese Form hat zwei Seiten: die Protestierenden auf der einen Seite und das, wogegen
1405
Kai-Uwe Hellmann, Systemtheorie und soziale Bewegungen: Eine systematisch-kritische Analyse, Diss. Berlin (Freie
protestiert wird (einschließlich die, gegen die protestiert wird) auf der anderen. Und darin steckt schon das mit
Universität) 1995, sieht hier eine "latente Funktion" der neuen sozialen Bewegungen im Unterschied zur "manifesten
Funktion" ihrer Ziele (aber darf man dann, wie soziologenüblich, vermuten, daß die latente Funktion die eigentliche 1409
Vgl. Klaus P. Japp, Die Form des Protestes in den neuen sozialen Bewegungen, in: Dirk Baecker (Hrsg.), Probleme der
Funktion ist?).
Form, Frankfurt 1993, S. 230-251.
1406
So Helmuth Berking, Die neuen Protestbewegungen als zivilisatorische Instanz im Modernisierungsprozeß?, in: Hans 1410
Oder mit Klaus Eder a.a.O. S. 286 für das Zentrum der Gesellschaft jenseits der Funktionssysteme.
Peter Dreitzel / Horst Stenger (Hrsg.), Ungewollte Selbstzerstörung: Reflexionen über den Umgang mit katastrophalen
1411
Entwicklungen, Frankfurt 1990, S. 47-61 (57). Siehe zu dieser Unterscheidung Jacques Ferber, La kénétique: Des systèmes multi-agents à une science de l'interaction,
1407 Revue internationale de systémique 8 (1994), S. 13-27 (21 ff.).
Diese Hypothesen müssen natürlich regional modifiziert werden. Sie gelten zum Beispiel nicht in Süditalien, wo diese
1412
Zugehörigkeiten und Abhängigkeiten geradezu lebenswichtig geblieben sind und die individuelle Beweglichkeit durch Otthein Rammstedt, Sekte und soziale Bewegung: Soziologische Analyse der Täufer in Münster (1534/35), Köln 1966,
internalisierte, fast maffiose Pressionen eingeschränkt ist. S. 48 ff. hat in anderem historischen Zusammenhang von "Teleologisierung der Krise" gesprochen.
1408 1413
Eine Ausarbeitung dieser Variablen könnte, zum Beispiel in einem Vergleich Deutschland/Italien, erklären, daß Dies betont vor allem Heinrich W. Ahlemeyer, Soziale Bewegungen als Kommunikationssystem: Einheit,
Protestbewegungen in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich günstigen Nährboden finden. Umweltverhältnis und Funktion eines sozialen Phänomens, Opladen 1995.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 387 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 388

dieser Form nicht zu überwindende Problem: Die Protestbewegung ist nur ihre eigene Hälfte — und auf der Programme einem Code. Sie verdeutlichen, weshalb man sich als Protestierender auf der einen Seite der Form
anderen Seite befinden sich die, die anscheinend ungerührt oder allenfalls leicht irritiert das tun, was sie findet. Sie dienen der Selbstplacierung in der Form. Es muß sich deshalb um zwiespältige Themen handeln;
sowieso wollen. Der Protest negiert, schon strukturell, die Gesamtverantwortung. Er muß andere um Themen, an denen mit hinreichender Drastik deutlich gemacht werden kann, was anders sein sollte und
voraussetzen, die das, was verlangt wird, ausführen. Aber wieso wissen die anderen, daß sie sich auf der warum. Außerdem muß es sich um individuell aneignungsfähiges Wissen handeln, und damit ist analytische
anderen Seite der Protestform befinden? Wie können sie dazu gebracht werden, diese Situationsdefinition zu Tiefenschärfe ausgeschlossen. Von Protestbewegungen ist nicht zu erwarten, daß sie begreifen, weshalb etwas
akzeptieren, statt ihren eigenen Konstruktionen zu folgen? Offenbar nur durch drastische Mittel, durch so ist, wie es ist; und auch nicht, daß sie sich klarmachen können, was die Folgen sein werden, wenn die
alarmierende Kommunikation, auch durch den massenhaften Einsatz von Körpern, die sich selbst als Protest Gesellschaft dem Protest nachgibt.
1414
demonstrieren , vor allem aber durch ein heimliches Bündnis der Protestbewegungen mit den Zur Themenerzeugung eignen sich spezifische Formen, und zwei von ihnen haben, weil sehr allgemein,
Massenmedien. Es fehlt, anders gesagt, die Reflexion-in-sich, die für die Codes der Funktionssysteme typisch besondere Prominenz erreicht. Die eine ist die Sonde der internen Gleichheit, die, wenn in die Gesellschaft
ist; und das wird zusammenhängen mit dem unstillbaren Motivationsbedarf der Protestbewegungen, der weder eingeführt, Ungleichheiten sichtbar macht. Die andere ist die Sonde des externen Gleichgewichts, die, wenn
auf der einen noch auf der anderen Seite ihrer Leitunterscheidung Protest ein re-entry der Unterscheidung ins eingeführt, die gesamte Gesellschaft als im ökologischen Ungleichgewicht erweist. Beides sind utopische
Unterschiedene vertragen könnte. Formen, denn Ungleichheit und Ungleichgewichtigkeit ist gerade das, was ein System auszeichnet. Beide
Es fehlt auch eine Berücksichtigung der Selbstbeschreibungen derjenigen, gegen die man protestiert. Formen garantieren also ein im Prinzip unerschöpfliches Reservoir der Erfindung von Themen (so wie es in
Man versucht nicht: zu verstehen. Ansichten auf der anderen Seite werden allenfalls als taktische Momente der Wissenschaft immer Theorien und Methoden, in der Wirtschaft immer Bilanzen und Budgets, in der
des eigenen Vorgehens in Rechnung gestellt. Und deshalb ist die Versuchung stark, auf fremden Pferden Politik immer konservative und progressive "policies" gibt). Das Problem und die innovative Begabung von
1415
moralisch zu voltigieren. Man kann von Protestbewegungen also keine Reflexion zweiter Stufe, keine Protestbewegungen liegt in der Spezifikation ihres Themas; das ist: in der Spezifikation dessen, wogegen
Reflexion der Reflexion der Funktionssysteme erwarten. Sie halten sich statt dessen an die Form des protestiert wird. Aber jede Thematisierung hat sich vor dem Hintergrund der Gesellschaft zu profilieren, der
Protestes. im Protest das Gegenteil ihrer Strukturmerkmale zugemutet wird: Gleichheit im Inneren und Gleichgewicht in
Die Form des Protestes unterscheidet sich damit von der Form der politischen Opposition in einer den Außenbeziehungen. Insofern beschreibt der Protest letztlich immer die Gesellschaft, die das, wogegen
verfassungsmäßig geordneten Demokratie. Die Opposition ist von vornherein Teil des politischen Systems. protestiert wird, offenbar erzeugt, deckt, billigt und nötig hat.
Das zeigt sich daran, daß sie bereit sein muß, die Regierung zu übernehmen bzw. an ihr mitzuwirken. Das hat Funktionssysteme haben in beträchtlichem Umfange Protestthemen aufnehmen und resorbieren können.
einen disziplinierenden Effekt. Man mag die Kritik der Regierung zwar rhetorisch und wahltaktisch Das gilt für die kapitalistische Wirtschaft, für die Massenmedien, aber auch für das sich an der öffentlichen
überziehen, aber letztlich muß man darauf gefaßt sein, die eigenen Ansichten als Regierung vertreten und Meinung orientierende politische System. Das hat auf die Protestbewegungen zurückgewirkt — teils als
ausführen zu können. Die Protestierenden berufen sich auf ethische Grundsätze; und wenn man eine Ethik hat, Verlust attraktiver Themen, teils als Verhärtung eines inneren Kerns, der dann um so mehr auf dem
ist es eine zweitrangige Frage, ob man in der Mehrheit oder in der Minderheit ist. Der Protest braucht in all Nichtdurchsetzbaren bestehen muß, aber damit an Gefolgschaft verliert. Protestbewegungen leben von der
diesen Hinsichten keine Rücksicht zu nehmen. Er geriert sich so, als ob er die Gesellschaft gegen ihr Spannung von Thema und Protest — und gehen an ihr zu Grunde. Erfolg und Erfolglosigkeit sind
1418
politisches System zu vertreten hätte. Insofern ist es nicht falsch, den Entstehungsgrund für gleichermaßen fatal. Die erfolgreiche Umsetzung des Themas erfolgt außerhalb der Bewegung und kann
Protestbewegungen neueren Stils in der Ausdifferenzierung und der relativen Resonanzlosigkeit des ihr bestenfalls als "historisches Verdienst" zugerechnet werden. Erfolglosigkeit entmutigt die Teilnehmer.
politischen Systems zu sehen. Die Verfassung dient der Beschränkung des politischen Systems auf sich Vielleicht ist dieses Dilemma ein Grund dafür, daß neue soziale Bewegungen untereinander Kontakte suchen
1416
selbst. Für die Protestbewegungen liegt darin eine Provokation zur Provokation. und miteinander sympathisieren, sofern nur die Mindestbedingung einer Alternativvorstellung, eines Protestes
Protest ist kein Selbstzweck — auch nicht für Protestbewegungen. Sie brauchen ein Thema, für das sie und der Nichtidentität mit den "herrschenden Kreisen" gegeben ist. Aber auf diese Weise wird allenfalls
sich einsetzen. Daß dies in der Form des Protestes zu geschehen hat, führen sie auf die Renitenz der erreicht, daß sich eine Kultur des Protestierens bildet mit der Möglichkeit, immer neue Themen aufzugreifen.
Gesellschaft zurück. Das, was sie zu Protestbewegungen macht, rechnen sie also den äußeren Umständen zu. Wir hatten schon angedeutet: die Form des Protestes ist nicht die Form der Sünde; und es lohnt sich
Das erlaubt eine gewisse Unschuld des Operierens "um der Sache willen". Immerhin dient ihnen die Gestik der genauer zu fragen: weshalb nicht. Offensichtlich hat die Rhetorik des Warnens, Mahnens und Forderns die
Gesellschaftskritik und die Form des Protestes dazu, hinter anderen Themen Gleichgesinnte zu erkennen und Seite gewechselt. Sie zielt nicht mehr im Interesse der Ordnung gegen den Sünder, sondern begünstigt den
entsprechende Sympathien zu bilden. "Die neuen sozialen Bewegungen sind als Bewegung nur in Protest. Institutionelle Kriterienkontrollen entfallen oder sind nur noch für Organisationen relevant. Die Armen
1419
unspezifischem Protestmilieu und nur in bezug auf gesamtgesellschaftlich relevante Themen einheits- und predigen das Evangelium selber. Entsprechend liegt auch die Gefahr auf der anderen Seite, und mit ihr all
1417 1420
aktionsfähig". Dabei kann das, was die Charakteristik der Form des Protestes ausmacht, für die das, was zum Wiedergewinnen einer Kontrolle über die Symbolik von Bedrohung und Abwehr zu tun ist.
Einzelbewegung durch ihr Thema verdeckt, also latent bleiben und in ihre Außenbeziehungen verlagert Die Ordnung der Sünde hatte von der Möglichkeit profitiert, die Gesellschaft in der Gesellschaft verbindlich
werden. zu repräsentieren. Die Ordnung des Protests profitiert davon, daß dies nicht mehr möglich ist. Aber während
Die Themen, die Anlaß zum Entstehen von Protestbewegungen geben, sind heterogen und bleiben auch in der alten Ordnung alle Sünder waren (allerdings einige weniger als andere), müssen die Protestbewegungen
dann heterogen, wenn man sie zu Großgruppen zusammenfaßt wie: Umwelt, Krieg, Lage der Frauen, Anhänger rekrutieren und Gegner zu beeindrucken versuchen. Im Vergleich zu Sündern haben sie es leichter,
regionale Eigenarten, dritte Welt, Überfremdung. Die Themen entsprechen der Form des Protestes wie
1418
Siehe dazu Jens Siegert, Form und Erfolg — Thesen zum Verhältnis von Organisationsform, institutionellen
1414 Politikarenen und der Motivation von Bewegungsaktivisten. Forschungsjournal Neue soziale Bewegungen 2/3-4 (1989), S.
Zu dieser "Ornamentik der Bewegung" vgl. Hans-Georg Soeffner, Rituale des Antiritualismus: Materialien für
63-66.
Außeralltägliches, in: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt
1419
1988, S. 519-546 (Zitat S. 527). Diese Formulierung findet man bei Jean Paul, Siebenkäs, Drittes Kapitel, zit. nach Jean Paul, Werke Bd. 2, München
1415 1959, S. 95, hier aber noch bezogen auf Bettlerauftritte aus Anlaß einer spezifischen Situation, einer Kirmes.
Wie Fichtes Ich auf seinem Nicht-Ich nach Jean Paul, Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana, zit. nach: Werke Bd. 3,
1420
München 1961, S. 1011-1056 (1043). Man lese, um sich diesen Seitenwechsel der Gefahr zu verdeutlichen, nochmals Mary Douglas, Purity and Danger: An
1416 Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, New York 1966. Siehe auch dies., Risk as a Forensic Resource, Daedalus
Hierzu Niklas Luhmann, Politische Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems, Der Staat 12 (1973), S. 1-22,
119/4 (1990), S. 1-16 (4 ff.). Als daran anschließende Fallstudie zu sozialen Bewegungen aus Anlaß von
165-182.
Arbeitsplatzrisiken vgl. Janet B. Bronstein, The Political Symbolism of Occupational Health and Risks, in: Branden B.
1417
So Wilfried von Bredow / Rudolf H. Brocke, Krise und Protest: Ursprünge und Elemente der Friedensbewegung in Johnson / Vincent T. Covello (Hrsg.), The Social and Cultural Construction of Risk: Essays on Risk Selection and
Westeuropa, Opladen 1987, S. 61. Perception, Dordrecht 1987, S. 199-226.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 389 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 390

aber auch schwerer, und der Grund für diese Differenz liegt im Wechsel der Form gesellschaftlicher Das ist bisher nicht gelungen, und offenbar ist der dafür bereitstehende Platz inzwischen anders besetzt,
Differenzierung. nämlich durch die Symbolik des "Alternativen". Sie ist nicht erfunden worden, sie hat sich eingestellt, kann
Dies gibt uns auch einen Schlüssel für das Verständnis der Unterscheidung von Vordergrundthema und aber als eine der überzeugendsten und wirkungsvollsten Formformeln dieses Jahrhunderts angesehen werden.
1425
gesellschaftlichem Hintergrund. Protestbewegungen beobachten die moderne Gesellschaft anhand ihrer Die Funktionssysteme, die ja selbst ihre eigenen Alternativen konstruieren, halten sich sichtlich zurück.
Folgen. Die sozialistische, auf Folgen der Industrialisierung bezogene Bewegung war nur ein erster Fall. Auf der anderen Seite ermöglicht es die Identifikation mit Alternativität, Gleichgesinnte mit anderen
Solange sie der einzige Fall war, konnte sie sich auch eine Gesellschaftstheorie leisten, die ihrem Protest thematischen Obsessionen zu erkennen und ein Netzwerk wechselseitiger Unterstützung zu bilden. Sie
entsprach und ihn sogar miterklärte. Noch heute interessiert man sich deshalb für Karl Marx. Seitdem gestattet Themenwechsel unter Wahrung der Form des Protestes. Man ist und bleibt alternativ. Viele sind auf
zahllose andere Folgen der Strukturen der modernen Gesellschaft sichtbar geworden sind, läßt diese diese Weise vom marxistischen in den ökologischen Protest umgesiedelt und sind heute als Übersiedler nur
Vereinfachung sich nicht mehr halten — und zwar weder als Monopol für Proteste noch als Theorie. Die noch an ihrem Akzent zu erkennen. Die biographische Identität bleibt erhalten, sie läßt sich sogar stärker
Gesellschaft wird zum Hintergrundthema der Themen, zum Medium immer neuer Anlässe für Proteste. Eine individualisieren, da sie nicht mehr bestimmten Theoriekonzepten verpflichtet ist. Und vor allem ist die
dafür geeignete Gesellschaftstheorie müßte jetzt die Gesellschaft als funktional differenziertes System mit Alternative ein Angebot an die andere Seite. Der Protest lebt von der Grenze, die er als Beobachtungsweise
zahllosen (und dann im einzelnen nicht mehr attraktiven) Protestgründen beschreiben. Sie ist schlimmer (und zieht. Aber die Alternative kann ihre Grenze kreuzen. Man ist, und ist nicht, als Alternativer auch auf der
natürlich auch besser) als je eine Protestbewegung es sich vorstellen kann. Der Protest lebt von der Selektion anderen Seite. Man denkt im genauen Sinne in der Gesellschaft für die Gesellschaft gegen die Gesellschaft.
eines Themas. Wollte er die Selektivität seines Themas und damit sich selbst als Selektor reflektieren, müßte Wenn Autopoiesis, dann auch strukturelle Kopplung. Eine solche Beziehung hat sich vor allem zwischen
er die Paradoxie des Protestes in der Einheit gegen die Einheit erkennen und damit an den Bedingungen der Protestbewegungen und Massenmedien ergeben und inzwischen zu einem deutlich erkennbaren "structural
1421 1426
eigenen Möglichkeit zweifeln. drift" geführt. Die Beziehungen sind heute so eng, daß ihre kontinuierlichen Auswirkungen die
1422
Dies wird deutlich, wenn man Protestbewegungen als autopoietische Systeme eigener Art versteht Vorstellungen über "öffentliche Meinung" geändert haben; man erwartet nicht mehr eine Art
und den Protest als ihr katalysierendes Moment. Der ein Thema herausgreifende Protest ist ihre Erfindung, Bewährungsauslese des Guten und Richtigen, sondern die Endform der öffentlichen Meinung scheint nunmehr
ihre Konstruktion. Gerade daß die Gesellschaft das Thema bisher nicht oder nicht richtig beachtet hatte, ist die die Darstellung von Konflikten zu sein — von Konflikten mit ständig nachgeschobenen neuen Themen. Dem
Bedingung dafür, daß die Bewegung in Gang kommt. Die Gesellschaft zeigt sich überrascht bis trägt auch die Planung der Proteste Rechung. Der Protest inszeniert "Pseudo-Ereignisse" (wie die
1427
verständnislos. In ihren Organisationen ist das Thema unbekannt. Erst die Autopoiesis der sozialen Bewegung Massenmedienforschung sagt ), das heißt: Ereignisse, die von vornherein für Berichterstattung produziert
konstruiert das Thema, findet die dazugehörige Vorgeschichte, um nicht als Erfinder des Problems auftreten sind und gar nicht stattfinden würden, wenn es die Massenmedien nicht gäbe. Protestbewegungen bedienen
zu müssen, und schafft damit eine Kontroverse, die für die andere Seite im Routinegeschäft ihres Alltags sich der Massenmedien, um Aufmerksamkeit zu gewinnen, aber nicht (wie neuere Forschungen zeigen) zur
zunächst gar keine Kontroverse ist. Es genügen unscheinbare Anfänge, die erst im Rückblick zu Anfängen Rekrutierung von Anhängern. Zirkuläre Verhältnisse spielen sich ein. Schon in der Planung ihrer eigenen
auserkoren werden, und die Kontroverse ist und bleibt die Kontroverse der Protestbewegung. Aktivitäten stellen die Bewegungen sich auf die Berichtsbereitschaft der Massenmedien und auf Televisibilität
Gegen Komplexität kann man nicht protestieren. Um protestieren zu können, muß man deshalb die ein. Diese komplizierte Beziehung zu den Massenmedien, für die selbst Tschernobyl längst eine kalte
1423
Verhältnisse plattschlagen. Dazu dienen die Schemata und vor allem die Skripts , die sich in der Kartoffel ist, erfordert außerdem Unabhängigkeit vom Auslöseereignis, aber auch Nachschub neuer
öffentlichen Meinung mit Hilfe der Massenmedien durchsetzen lassen. Vor allem kurzgegriffene Ereignisse im Kontext einer Generalisierung des Protestes. Die Zeit der Protestbewegung ist nicht die Zeit der
Kausalattributionen, die den Blick auf bestimmte Wirkungen lenken, haben eine Alarmierfunktion und Massenmedien, aber sie läuft ebenfalls schnell. Im Mißerfolgsfalle versickert die Bewegung bis zu einer
machen auf bedrohte Werte und Interessen aufmerksam. Schematisierungen haben aber den Effekt, auf günstigeren Stunde. Im Erfolgsfalle geht das symbolische Management von Gefahr und Abhilfe auf die
Probleme hinzuweisen, die mit weiteren Schematismen behandelt werden. Sie erzeugen "distilled Funktionssysteme und ihre Organisationen über. Als Resultat der Bewegung gibt es nun eigene Ämter in den
1424 1428
ideologies". Selbst, wenn man die Welt unter nur einem Gesichtspunkt betrachtet, entsteht mit der Zeit Verwaltungen , und als Flaggschiff in Ausnahmefällen sogar eine eigene "grüne" oder "alternative" Partei.
Komplexität. Dann bietet es sich an, sich vom Anfangsthema zu lösen; und dies um so mehr, als auch die Es gibt eigene Experten, und es gibt zur Beruhigung der Öffentlichkeit und als Regelvorgabe an
Multiplikation von Effekten über die Massenmedien ständig neue Themen erfordert. In diesem Stadium festigt Organisationen die Form von "Grenzwerten", deren Überschreiten als gefährlich, deren Unterschreiten als
1429
sich ein Bedarf für eine Ideologie, die die Konsistenz in der Inkonsistenz von Protestthemen ausarbeitet. ungefährlich gilt. Organisationen sind als zahlungsfähige "Verursacher" identifiziert und die notwendigen
Kompromisse sind ausgehandelt. Aber es gibt als Folge eines solchen Arrangements ganz neue Arten von
Risiken — etwa die, daß kleinere Firmen als Folge der Regulierung aus dem Geschäft gedrängt werden, daß
Tankstellen wegen neuer Sicherheitsvorschriften schließen müssen und daß große Firmen auf Alternativen
1421
Auch der Teufel hatte, wenn man auf die Spitzenleistungen theologischer Reflexion (vor allem im Islam) zurückblickt, ausweichen, deren Gefährlichkeit man noch nicht entdeckt hat. Für eine Weile scheint das symbolische
dieses Problem. Aber er konnte im Sündenkosmos der Tradition eine einzigartige Position für sich selbst finden. Er hatte Managen der Gefahren und Benachteiligungen in die dafür zuständigen Stellen zurückgekehrt zu sein. Aber es
als einziger die Sünde begangen, die man nicht bereuen kann: die Sünde der Beobachtung Gottes. Vgl. dazu Peter J. Awn, kann jederzeit neue Proteste geben.
Satan's Tragedy and Redemption: Iblis in Sufi Psychology, Leiden 1983. Auf elegante und in der Theoriestruktur
überzeugende Weise löst schließlich der absolute Geist der Metaphysik Hegels dieses Problems. Er unterscheidet sich in
sich (nicht: gegen sich). Nur hat sich dafür keine soziale Realisation finden lassen, so daß der Geist am Ende nichts
anderes ist als die Form, die für dieses Problem empfindlich macht. Er symbolisiert ein Innen ohne Außen, eine 1425
Siehe dazu Wolfgang van den Daele, Der Traum von der "alternativen" Wissenschaft, Zeitschrift für Soziologie 16
Gesellschaft ohne Umwelt.
(1987), S. 403-418.
1422
Auch Ahlemeyer beschreibt soziale Bewegungen als autopoietische Systeme eigenen Typs, aber nicht bezogen auf die 1426
Siehe hierzu die Fallstudie über die (amerikanische) "Neue Linke" von Todd Gitlin, The Whole World Is Watching:
Kommunikation von Protesten, sondern auf die Mobilisierung als elementare, sich selbst aus eigenen Resultaten
mass media in the making and unmaking of the new left, Berkeley Cal. 1980. Siehe auch Rüdiger Schmitt-Beck, Über die
reproduzierende autopoietische Operation. Siehe Heinrich W. Ahlemeyer a.a.O. (1995). Vgl. auch ders., Was ist eine
Bedeutung der Massenmdien für soziale Bewegungen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 42 (1980),
soziale Bewegung? Zur Distinktion und Einheit eines sozialen Phänomens, Zeitschrift für Soziologie 18 (1989), S. 175-
S. 642-662.
191,
1427
1423 Siehe z.B. Hans Mathias Kepplinger, Ereignismanagement: Wirklichkeit und Massenmedien, Zürich 1992, S. 48 f.
Zu den Begriffen Kap. 1 .......
1428
1424 Vgl. für ein schon reifes Stadium Richard P. Gale, Social Movements and the State: The Environmental Movement,
So formulieren Gerald R. Salancik / Joseph F. Porac, Distilled Ideologies: Values Derived from Causal Reasonings in
Countermovement, and the Transformation of Government Agencies, Sociological Perspectives 29 (1986), S. 202-240.
Complex Environments, in: Henry P. Sims, Jr. / Dennis A. Gioia et al., The Thinking Organization: Dynamics of
1429
Organizational Social Cognition, San Francisco 1986, S. 75-101. Speziell hierzu Niklas Luhmann, Grenzwerte der ökologischen Politik: Eine Form von Risikomanagement. Ms. 1990.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 391 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 392

Die Ergebnisse haben, von den Einzelfällen her gesehen, kleines Format, und anders sind die Probleme
auch nicht zu lösen. Das sollte jedoch den Blick für die Neuartigkeit des Gesamtphänomens nicht trüben. Es Kapitel 5 Selbstbeschreibungen
handelt sich um eine Art autopoietischer Systeme, die weder auf das Prinzip Anwesenheit (Interaktion) noch
auf das Prinzip Mitgliedschaft (Organisation) zu bringen ist. Auch die Form der interne Differenzierung von I. Die Erreichbarkeit der Gesellschaft
Protestbewegungen kann weder der Undifferenziertheit oder der einfachen Rollenasymmetrie von
Interaktionssystemen folgen, denn dazu ist die Bewegung zu groß; noch kann es sich um eine
Positionshierarchie handeln wie in Organisationen, denn dazu ist die Personallage zu instabil. Vielmehr Im abschließenden Kapitel wird unser Thema zum Thema, nämlich die Gesellschaft der Gesellschaft.
1430
tendieren soziale Bewegungen intern zu einer Differenzierung nach Zentrum und Peripherie — so als ob sie Unser Ausgangspunkt ist, daß keine Gesellschaft sich selbst mit ihren eigenen Operationen erreichen kann.
ihre externe Situierung an der Peripherie eines gesellschaftlichen Zentrums in sich selbst hineincopierten. Es Die Gesellschaft hat keine Adresse. Sie ist auch keine Organisation, mit der man kommunizieren könnte. Dies
gibt typisch einen stärker engagierten Kern, eine Anhängerschaft, die für gelegentliche Aktionen zu aktivieren ist, empirisch gesehen, ein wohl unbestreitbarer Sachverhalt. Auch die Erklärung bereitet uns keine
ist und, so vermutet die Bewegung jedenfalls, einen weiteren Kreis von Sympathisanten, der es ihr ermöglicht, Schwierigkeiten. Wir können uns auf die Analyse des Mediums Sinn berufen, das mit jeder kommunikativen
anzunehmen, daß sie allgemeine gesellschaftliche Interessen vertritt. Eine Zentrum/Peripherie-Differenzierung Verwendung neue Möglichkeiten reproduziert, die das verändern, was als Gesellschaft vorausgesetzt werden
kann relativ voraussetzungslos entstehen, ist mit Personalfluktuation zwischen Sympathisanten, Anhängern muß. Einen anderen Zugang bietet die Mathematik selbstreferentieller Systeme. Wenn das
und Kern kompatibel und erlaubt relativ unscharfe Grenzen, die sich erst im Prozeß der Selbstaktivierung der Gesellschaftssystem die Differenz von System und Umwelt nicht nur erzeugt, sondern sich außerdem noch
Bewegung klären und sich in ihrer trajektförmigen Entwicklung ändern können. daran orientiert, liegt ein Fall eines "re-entry" einer Form in die Form (einer Unterscheidung in die
1431
Trotz dieser internen Lockerheit, die auf Fluktuationen eingestellt ist, auf Erfolge und Mißerfolge Unterscheidung) vor, der das System in den Zustand einer "unresolvable indeterminacy" versetzt.
reagiert und sich im structural drift der Bewegung verändert, handelt es sich natürlich um gesellschaftliche "Unresolvable" heißt, daß die normalen mathematischen Operationen der Arithmetik und der Algebra nicht
Subsysteme — und nicht etwa um eine Möglichkeit, außerhalb der Gesellschaft zu kommunizieren. Wollte mehr zu eindeutigen Ergebnissen führen. Das System braucht imaginäre Zahlen oder imaginäre Räume, um
man auch für Protestbewegungen noch eine Funktion angeben, so könnte man sagen: es geht darum, die sich weiterzuhelfen. Dies ist sicher kein Argument, das für die Gesellschaftstheorie irgendetwas beweist, aber
Negation der Gesellschaft in der Gesellschaft in Operationen umzusetzen. Es geht also um ein genaues die kommunikative Unerreichbarkeit der Gesellschaft, also das Versagen der Operationen, die das System
Korrelat der Autonomie und operativen Geschlossenheit des Gesellschaftssystems, um das, was man, als man reproduzieren, steht empirisch eindeutig fest, und auch hier gibt es statt dessen imaginäre Konstruktionen der
noch in Paradoxien formulieren konnte, als "Utopie" bezeichnet hatte. Einheit des Systems, die es ermöglichen, in der Gesellschaft zwar nicht mit der Gesellschaft, aber über die
Die moderne Gesellschaft hat anscheinend eine Form der Autopoiesis gefunden, um sich selber zu Gesellschaft zu kommunizieren. Wir werden solche Konstruktionen "Selbstbeschreibungen" des
beobachten: in sich selbst gegen sich selbst. Widerstand gegen etwas — das ist ihre Art, Realität zu Gesellschaftssystems nennen.
konstruieren. Sie kann als operativ geschlossenes System ihre Umwelt nicht kontaktieren, also Realität auch In der abendländischen Tradition, der wir (auch in diesem Buch) zunächst unreflektiert folgen, liegt es
nicht als Widerstand der Umwelt erfahren, sondern nur als Widerstand von Kommunikation gegen nahe, Selbstbeschreibung als Kognition aufzufassen. Das setzt voraus, daß das erkennende Subjekt und das
Kommunikation. Nichts spricht dafür, daß die Protestbewegungen die Umwelt, seien es die Individuen, seien erkannte Objekt sich unterscheiden und trennen lassen, daß die Kognition besonderen Regeln unterworfen
es die ökologischen Bedingungen, besser kennen oder richtiger beurteilen als andere Systeme der Gesellschaft. wird, die verhindern, daß die Eigenarten und Vorurteile der einzelnen Subjekte sich auswirken, und daß das
Genau diese Illusion dient jedoch den Protestbewegungen als der blinde Fleck, der es ihnen ermöglicht, Objekt (in unserem Falle: die Gesellschaft) sich nicht dadurch ändert, daß es einem Verfahren des
Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation zu inszenieren und damit die Gesellschaft mit Erkanntwerdens ausgesetzt wird. Die Erkenntnis sucht intersubjektive Gewißheit auf der Seite des Subjekts
Realität zu versorgen, die sie anders nicht konstruieren könnte. Es kommt nicht darauf an, wer Recht hat; aber und setzt stabile Objekte voraus.
es kommt darauf an, in welchen Formen bei dieser Art von Widerstand von Kommunikation gegen Wir wissen, daß die Physik aus mehrfachen Gründen diese Annahmen gesprengt hat. Für die Soziologie
Kommunikation Realität in die Kommunikation eingeführt wird und in ihr weiterwirkt. stellt sich die Frage, ob nicht das Subjekt/Objekt-Schema einerseits ein Produkt gesellschaftlicher
Die Gesellschaft kann auf diese Weise mit Unwissen in bezug auf die Umwelt (wie immer: der Sinnmanipulation ist. Wäre dies der Fall, dann hätten wir es mit einem Zirkel zu tun: Das Kognitionsschema
Individuen und der ökologischen Bedingungen) zurechtkommen. Ergänzt durch die zahllosen ist ein Aspekt des Objekts, das mit Hilfe dieses Schemas erklärt werden soll. Das muß nicht auf ein Desaster
Realitätskonstruktionen der Funktionssysteme, zum Beispiel der Wissenschaft oder der Wirtschaft, kann sie hinauslaufen. Speziell für die Gesellschaftstheorie führt dies aber vor die Frage, ob und in welchem Sinne sie
über ein ständiges Oszillieren zwischen Fremdreferenz (Umweltbezug) und Selbstreferenz sich als Kommunikation eines Subjekts begreifen kann, das ein Objekt erkennt. Mit dem Begriff der
(Kommunikationsbezug) ihre eigenen Operationen fortsetzen. Sie reagiert in dieser hochtemporalisierten, imaginären Konstruktion = Selbstbeschreibung haben wir eine Position vorbereitet, auf die man übersetzen
raschen Form auf ihre eigene Intransparenz, auf die Risiken ihres Redundanzverzichts, auf die hochgetriebene kann, wenn man auf das Kognitionsschema Subjekt/Objekt verzichtet.
Entscheidungsabhängigkeit aller Vorgänge bei Fehlen jeder gesamtgesellschaftlichen Autorität für das Allerdings ist Vorsicht angebracht. Der Begriff des Subjekts, das Objekte zugleich in sich und außer sich
Bestimmen des Richtigen. Und sie reagiert damit vor allem natürlich auf die vielen negativen hat, war als ein Modell für das laufende Operieren mit der Unterscheidung von Selbstreferenz und
Begleiterscheinungen ihrer eigenen Realisation. Die Funktionssysteme und ihre Organisationen beginnen, sich Fremdreferenz entworfen, das unserem Problem des kognitiven Status von Selbstbeschreibungen sehr nahe
1432
irritiert (aber wie sonst?) darauf einzustellen. Sie suchen "Verständigungen", um Konflikten eine kommt. Diese Lösung war aber nur, darauf kommen wir unten zurück, eine Verlegenheitslösung für eine
vorübergehend haltbare Form zu geben. Was auf diese Weise nicht zu gelingen scheint, ist jedoch die Zeit, die ohnehin nicht in der Lage war, adäquate semantische Ressourcen für eine Beschreibung der
Anfertigung angemessener Texte, also angemessener Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft. Aber modernen Gesellschaft zu mobilisieren. In dem Maße, als die moderne Gesellschaft dieses Defizit abarbeitet
damit sind wir bei Thema des nächsten Kapitels. und zugleich auf Erfahrungen mit sich selbst zurückgreifen kann, verliert das Subjekt an Überzeugungskraft
und verblaßt schließlich zu einem Alternativausdruck ohne eigenes Gewicht für Menschen, Individuen,

1430
Ich übernehme diese Formulierung, obwohl mit etwas anderem Zuschnitt, von Peter Fuchs, Die Erreichbarkeit der
Gesellschaft: Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt 1992.
1431
Siehe George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck der 2. Aufl. New York 1979, S. 57.
1432
Hierzu mit Bezug auf Husserl Niklas Luhmann, Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, Wien
1996.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 393 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 394

Personen. Das bedeutet jedoch nicht, daß die historische Semantik der Subjektivität uns nichts mehr zu sagen "Schematismus" bedienen, der den Gegenstand nicht abbilde, sondern ein Verfahren der Konstruktion des
hätte. Sie reflektiert ja, zumindest das, im Subjekt die Differenz von Subjekt und Objekt. Wir müssen daher Gegenstandes (wie zum Beispiel das Ziehen eines Kreises) an die Hand gebe und damit seinerseits Zeit in
einen kurzen Umweg über dieses schwierige Terrain nehmen (eine wissenssoziologische Analyse verschieben Anspruch nehme. Das muß als Hinweis für weiterführende Überlegungen interessieren, aber bei Kant selbst
1433
wir auf einen späteren Abschnitt ), um zu prüfen, ob und wieviel in der Theorie des Subjekts für eine liegt diese Lösung ganz im Bereich der Subjektivität, nämlich im Verhältnis des inneren Sinnes zu den
Theorie gesellschaftlicher Selbstbeschreibung schon vorgearbeitet war. Vorstellungen des Verstandes — und nicht im Verhältnis des Subjekts zur Außenwelt. So war denn auch der
Rückschluß Schleiermachers auf die Notwendigkeit einer externen (transzendenten) Begründung der Einheit
dieser Differenz eine verständliche Konsequenz, was immer man von der religiösen Fassung dieses Auswegs
halten mag. All das mitbedacht, muß man dem Subjektbegriff, wenn er denn mit Einmaligkeitsprätentionen
auftritt, die Frage stellen, von was das Subjekt sich selbst unterscheidet: von der Welt? von Objekten? von
anderen Subjekten? Oder nur von sich selbst, vom Nicht-Ich?
II. Weder Subjekt noch Objekt Wenn man das (transzendentale) Subjekt so versteht, daß es nur von sich selbst abhängt, transformiert
man das Problem des In-der-Welt-Seins in ein Problem des In-sich-selbst-Seins. Das hat zur Folge, daß das
Als Subjekt bezeichnet man nicht eine Substanz, die durch ihr bloßes Sein alles andere trägt, sondern Subjekt irreflexiv wird in Bezug auf die primären Unterscheidungen, denen es die Möglichkeit des
Subjekt ist die Selbstreferenz selbst als Grundlage von Erkennen und Handeln. Die Erfahrungen mit dieser Beobachtens verdankt. Zumindest insoweit kann es dann auch, selbst wenn es wollte, die eigene Einbettung—
Denkfigur sind jedoch nicht derart ermutigend, daß man der Versuchung nachgeben sollte, sie ohne weiteres sei es in die Welt, sei es in die Gesellschaft, nicht mehr reflektieren. Es wird seine Bedingungen der
auf die Gesellschaft zu übertragen — die Gesellschaft als das eigentliche Subjekt ansehend, sie vielleicht Geist Möglichkeit des Beobachtens unterscheiden müssen von dem, was andere ihm dann als Ideologie, als
titulierend oder Intersubjektivität und ihr dann all das zumutend, was man vordem dem individuellen historische Bedingtheit, als "male bias" usw. zurechnen. Es kann auf dieser Ebene nicht mitdiskutieren, weil es
Bewußtsein zugemutet hatte. Man braucht die Ergebnisse der Subjektphilosophie nicht zu ignorieren; aber die eigene Kontingenz nicht voll reflektieren kann. Es hat dann nur noch die Möglichkeit, sich selbst
man kann sie wie Untiefen ansehen, auf die das Schiff der Gesellschaftstheorie nicht auflaufen sollte. dogmatisch vorauszusetzen.
Eine Reihe von Ergebnissen bleiben wichtig und übernehmbar. Dazu gehört, daß die auf operativer Außerhalb dieser akademisch diskutierten Möglichkeiten zeigt die Form des Subjekts noch eine ganz
Ebene (klassisch: als Denken) etablierte Selbstreferenz alle codierten Vorgaben unterläuft, auch die von wahr andere andere Seite, in der sie sich ebenfalls als paradox spiegelt. Das Subjekt strebt nach
und unwahr. Sie kann sich selbst daher auch mit unwahren Resultaten bestätigen. Mit dem Entfall der "Selbstverwirklichung" — und erreicht dies über ein Copieren von Individualitätsmustern, die es im Leben
1437
Code-Vorgabe entfallen auch die Kriterien, die man braucht, um sich für den einen oder den anderen Wert des und vor allem in der Literatur vorfindet. Es operiert bewußt, braucht aber, um dies tun zu können, eine
Code zu entscheiden. Sowohl Codierungen als auch Kriterienbildungen sind Eigenleistungen der unbewußte Grundlage, die all das aufnimmt, was nicht bewußt werden kann. Diese Zwei-Seiten-Form reagiert
selbstreferentiellen Operationsweise, sind, wie Mathematiker sagen würden, Eigenwerte ihres rekursiven bereits genau auf das Problem, das uns unter dem Stichwort Selbstbeschreibung beschäftigen soll. Eine
Operierens. Im Anschluß an die Bewußtseinstheorie kann man daher auch von kriterienloser Selbstbeschreibung kann gar nicht anders als: etwas bezeichnen und anderes im Unbezeichneten belassen. Sie
Selbstidentifizierung des selbstreferentiellen Operierens sprechen.
1434
Ebenso beachtenswert bleibt die legitimiert und delegitimiert sich selbst in einem Zuge. Dies kann zwar noch bemerkt, aber nicht "aufgehoben"
operative Fassung des Reflexionsbegriffs mit der Implikation, daß die Operation in ihrem Vollzug weder die werden; denn das Bemerken ist nur noch autologisch möglich, es vollzieht selbst die Differenz, die es bemerkt.
Möglichkeit hat noch darauf angewiesen ist, sich selbst ihrem Thema einzuordnen, sich selbst Wahrscheinlich liegt hier der verborgene Grund, der dann auch die zugelassenen
mitzureflektieren. Die klassische Subjektphilosophie hatte auch dieses Problem noch mit dem Schema Subjekt-Unterscheidungen in Schwierigkeiten bringt. Wenn es um die kognitiven Operationen des
Subjekt/Objekt einzufangen versucht, hatte auf eine sub-objektive Operation gesetzt, wie Jean Paul ironisch Beobachtens und Beschreibens geht, wird man in der Tradition vermutlich die Unterscheidung von Subjekt
1435
anmerkt , und war daran gescheitert. Kant hatte zwar in dem schwierigen, jedenfalls zu knapp gefaßten und Objekt heranziehen. Dem Subjekt kann zugemutet werden, diese Differenz in sich selbst zu reflektieren
Hauptstück "Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe"
1436
den Versuch unternommen, das und sie (und sich) auf diese Weise herzustellen. Das Subjekt bestimmt sich als Subjekt im Unterschied zum
Problem des Verhältnisses von Außenwelt und Erkenntnis im Subjekt selbst zu lösen, und zwar mit Hilfe Objekt, und genau dies ist die Weise, in der es den Unterschied zum Objekt erzeugt. Dann bleibt allerdings der
eines "re-entry" der Unterscheidung in sich selbst: ins Subjekt. Dabei kam es zu einer auffälligen Status von Welt unbestimmt und vor allem der Unterschied eines Subjekts von anderen unberücksichtigt. Ein
Verschiebung des Problems aus der Sachdimension (Übereinstimmung) in die Zeitdimension. Kant betont, solches Subjekt kann weder in der Welt vorkommen, denn das würde heißen, daß die Welt selbst sich
1438
daß trotz der radikalen Verschiedenheit von Gegenstand und Vorstellung in deren Verhältnis "Gleichartigkeit" reflektiert ; noch könnte es ein Individuum sein, das sich von anderen Individuen unterscheidet. Es kann
1439
erforderlich sei; und er hatte diese Gleichartigkeit nicht in einer Abbildung des einen in der anderen gesehen, daher auch nicht an Kommunikation teilnehmen. Erst recht kann kein Subjekt, wenn es ein Individuum sein
sondern im Verhältnis zur Zeit. Die Mannigfaltigkeit der Gegenstände sei dem inneren Sinn als ein soll, "dasselbe denken" wie ein anderes; denn Individuum kann es nur sein auf Grund einer operativen
Zeitverhältnis gegeben, und eben deshalb müsse sich die Vorstellung eines Gegenstandes eines
1437
Wie Hans-Georg Pott, Literarische Bildung: Zur Geschichte der Individualität, München 1995, zeigt, kommt es
daraufhin zu fiktionalen Texten (Prototyp Don Quijote), die den Unterschied von Subjektheit und Literatur als
1433 unentscheidbar darstellen. Das Subjekt lebt, was es gelesen hat und macht sich damit selbst zur Lektüre.
Vgl. unten .....
1438
1434 ein Gedanke, der sich im Anschluß an Wittgenstein von George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck New York
Vgl. Sidney Shoemaker, Self-Knowledge and Self-Identity, Ithaca 1963; ders., Self-Reference and Self-Awareness, The
1979, S. 105, und von Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, z.B. Bd. 1, Hamburg
Journal of Philosophy 65 (1968), S. 555-567. Im übrigen wehrt sich Dieter Henrich, 'Identität'- Begriffe, Probleme,
1976, S. 382 f. aufgenommen wird.
Grenzen, in: Odo Marquard / Karlheinz Stierle (Hrsg.), Identität. Poetik und Hermeneutik VIII, München 1979, S. 133-186
1439
(178), explizit dagegen, diese und andere Einsichten über Selbstverhältnisse vom Individuum auf die Gesellschaft zu Hier ist allerdings einzuräumen, daß selbst Kant der Logik seiner Begrifflichkeit nicht folgt, sondern sich gleichsam
übertragen. Aber was genau spricht dagegen, wenn man es unter Beachtung der gar nicht zu bestreitenden durch die Alltagswelt zu Inkonsequenzen verführen läßt. Neben der Selbstreflexion auf Tatsachen des Bewußtseins gibt es
Systemunterschiede tut? Daß das Phänomen der kriterienlosen Selbstidentifizierung historisch zuerst am Bewußtsein auch einen zweiten Weg des Testens der Verallgemeinerbarkeit: das Heraussortieren des Mitteilbaren, was wohl nur durch
entdeckt wurde, muß nicht bedeuten, daß dies der einzige Fall ist und bleibt. faktische Kommunikationsversuche (und nicht: durch Selbstillusionierung) geschehen kann. Im § 21 der Kritik der
1435 Urteilskraft spricht Kant von der "notwendige(n) Bedingung der allgemeinen Mitteilbarkeit unserer Erkenntnis, welche in
"Es ist das", heißt es in Flegeljahre, Erstes Bändchen Nr. 12, "die jetzige Philosophie des Witzes, die, wenn der
jeder Logik und jedem Prinzip der Erkenntnisse, das nicht skeptisch ist, vorausgesetzt werden muß". Für Zwecke
ähnliche Witz der Philosophie das Ich-Subjekt zum Objekt und umgekehrt macht, ebenso dessen Ideen sub-objektiv
theoretischer Konsistenzsicherung scheint für Kant die Behauptung auszureichen, daß es sich nicht um eine psychologische
widerscheinen lässet" zit. nach Jean Paul, Werke Bd. 2, München 1959, S. 641.
Beobachtung handele, sondern um eine "Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntniskräfte" (a.a.O. § 20), die dann
1436
Kritik der reinen Vernunft B 176 ff. als Gemeinsinn (sensus communis, also common sense) bezeichnet wird. Philosophie in Verlegenheit!
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 395 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 396
1445
Schließung und Selbstreproduktion seines eigenen Erlebens. Heute liest man sogar, daß Selbigkeit immer also: die Autopoiesis der Gesellschaft, nicht von "Intersubjektivität", geschweige denn von "Konsens" ab.
1440
schon Institution ist. Ohne Individualität wäre aber das Subjekt nichts anderes als die semantische Figur — Weder ist Intersubjektivität immer schon gegeben, noch läßt sie sich herstellen (was voraussetzen würde, daß
oder die "Regel" — der Selbstreflexion. Es wäre danach nichts anderes als die Fähigkeit zu unterscheiden, man feststellen kann, ob sie erreicht ist oder nicht). Ausschlaggebend ist statt dessen, daß Kommunikation
1441
zumal auch diese Fähigkeit Selbstreferenz impliziert. Dieses zunächst zirkuläre Implikationsverhältnis fortgesetzt wird — wie immer das dazu notwendige Bewußtsein zum Mitmachen bewogen wird. Nie läßt sich
kann man dadurch entfalten, daß man den beiden Begriffen unterschiedliche Gegenbegriffe attachiert und sie in der Kommunikation feststellen, ob Bewußtseinssysteme "authentisch" dabei sind oder nur das zum
1446
dadurch unterscheidet. Von Selbstreferenz spricht man im Unterschied zu Fremdreferenz, von Unterscheidung Fortgang Notwendige beitragen. Genau das haben die bekannten Experimente von Garfinkel ergeben. Die
1447
im Unterschied zu Bezeichnung. Damit werden reichere Formulierungen möglich, etwa mit der Frage, was ein Prämisse der "Intersubjektivität" bzw. des Konsenses kann man also schlicht aufgeben. Sie läßt sich nicht
selbstreferentielles System operativ unterscheiden und bezeichnen (= beobachten) kann und wie es beim auf ein Subjekt, nicht auf ein Sozialapriori, nicht auf die "Lebenswelt" oder auf sonst etwas zurückführen im
Beobachten Selbst- und Fremdreferenz zugleich aktualisiert, weil es nur auf diese Weise eine Beobachtung, Sinne einer Reduktion auf etwas, was als Voraussetzung aller Kommunikation immer schon gegeben sein
auch wenn nicht auf sich selbst gerichtet, als eigene Operation vollziehen kann. müßte.
Was "zugrundeliegt" ist demnach die Benutzung einer Unterscheidung zur Differenzierung von Andere Probleme der Subjektphilosophie werden, wenn dies Kernstück herausgebrochen ist, erst recht
1442
gleichzeitig praktizierter Selbst- und Fremdreferenz. Die Benutzung einer Unterscheidung zur Bezeichnung problematisch. Solange man von einer Mehrheit von Subjekten ausgehen konnte, machte es keine
ihrer einen (und nicht der anderen) Seite ist aber immer eine nur momenthaft aufblitzende Operation, die Schwierigkeiten, sich den Beobachter des Subjekts als externen Beobachter, nämlich als anderes Subjekt
aufhört, sobald sie zustandekommt. Das legt es nahe, die bereits in Kants Schematismus-Text zu findende vorzustellen. Die Gesellschaftstheorie muß dagegen auf die Möglichkeit adäquater externer Beobachtung
1448
Tendenz weiterzuführen und das Problem der Erkenntnis einer unabhängig von ihr bestehenden Welt in die verzichten. Sie kann zwar formell konzedieren, daß die Gesellschaft durch die Bewußtseinssysteme der
Zeitdimension aufzulösen. Die Realitätsgarantie kann nur in der Art und Weise liegen, in der ein System die Einzelmenschen oder auch durch ihre Körper, ihre Immunsysteme usw. beobachtet wird; aber solche
Zeitdifferenzen seiner eigenen Operationen überbrückt, und dies gleichzeitig mit dem, was es als Umwelt Beobachtungen sind angesichts der als Gesellschaft gegebenen Komplexität hoffnungslos inadäquat. Wir
voraussetzt. Wenn es aber dies ist, was die "Gleichartigkeit" (Kant) des Erkenntnisverfahrens mit der haben also einen Fall, den die Subjektphilosophie nicht zu berücksichtigen brauchte, den Fall, daß alle
1449
Gegenstandswelt, die es konstruiert, sichert: was spräche dagegen, nach anderen empirischen Systemen mit Kognition über Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung gesteuert wird. Auf eine kompetente (wenn
der Fähigkeit zur Selbstreflexion zu suchen? auch eigensinnige) externe Beobachtung muß man verzichten. Das System selbst muß auch die Beobachtung
1443
Der Fall des Gesellschaftssystems ist ein solcher Fall. Er ist zudem, jedenfalls unter heutigen seines Beobachtens, die Beschreibung seiner Beschreibungen leisten. Es kann deshalb weder als Subjekt noch
Bedingungen, ein Fall ohne andere Subjekte, das heißt: ohne andere Gesellschaften. Insofern gibt es in diesem als Objekt im klassischen Sinne dieser Unterscheidung begriffen werden.
Fall keine Subjektivität, also auch keine Intersubjektivität, also auch keine an Intersubjektivität ausgewiesene Mit dem Verzicht auf die Unterscheidung Subjekt/Objekt vermeiden wir auch die leichtfertige
Objektivität. Aber es gibt die operative Möglichkeit der Selbstbeobachtung und der Selbstbeschreibung. Es Gleichsetzung von "subjektiv" und "willkürlich". In der Realität gibt es keine Willkür, die gleichsam am
gibt im Vollzug dieser Operationen Autologieprobleme. Die Kommunikation über Kommunikation ist selbst Subjekt haftet. Der Begriff kann zwar beibehalten werden, aber nur zur Bezeichnung der begrenzten
eine Kommunikation, der Begriff der Generalisierung generalisiert selber. Jede Operation dieses Systems Kompetenz externer Beobachter. Wir können es deshalb vermeiden, einer vermeintlichen Objektivität oder
produziert, wie man es auch dem Subjekt zugestehen mußte, eine Differenz von System und Umwelt. entsprechend: einer Intersubjektivität Willkürkontrollfunktionen zuzuschreiben. Wir kommen aus mit der
Manche Probleme der Subjektphilosophie lösen sich dadurch auf, vor allem das Problem der Beschreibung von Systemverhältnissen auf der Ebene der Beobachtung erster bzw. zweiter Ordnung, und
1444
Intersubjektivität. Anders als oft angenommen, hängt das Funktionieren von Sozialbeziehungen, für uns "Willkür" wird damit zu einem Beschreibungsnotbehelf.
An die Stelle des klassischen Problems der Intersubjektivität, die sich teils von selbst versteht und teils
erarbeitet werden muß, tritt jetzt die Tatsache, daß gesellschaftliche Selbstbeobachtungen und
1440 Selbstbeschreibungen, da sie ja nur als Kommunikation überhaupt vorkommen können, sich ihrerseits der
bei Mary Douglas, How Institutions Think, Syracuse N.Y. 1986, S. 55 ff. — freilich mit einem ungeklärt
vorausgesetzten Begriff der Institution (Institution als "legitimized social grouping", S. 46).
Beobachtung und Beschreibung aussetzen. Das führt zu einer ständigen Neubeschreibung bereits vorliegender
1441
Beschreibungen und damit zur laufenden Erzeugung inkongruenter Perspektiven. Selbstbeschreibung ist
"At least one distinction is involved in the presence of self-reference. The self appears, and an indication of that self can deshalb zwar ein und nur ein Problem; aber es generiert, wenn es überhaupt thematisiert wird, fast
be seen as separate from the self. Any distinction involves the self-reference of 'the one who distinguishes'. Therefore, self-
reference and the idea of distinction are inseparable (hence conceptually identical)", liest man als Ausgangspunkt einer
zwangsläufig mehrere Lösungen. Das System tendiert zur "Hyperkomplexität", zu einer Mehrheit von
1450
Serie von mathematischen Ableitungen bei Louis H. Kauffman, Self-reference and recursive forms, Journal of Social and Auffassungen seiner eigenen Komplexität.
Biological Structures 10 (1987), S. 53-72 (53).
1442
Darauf würde man auch mit einer "Dekonstruktion" im Sinne Derridas stoßen, nämlich mit einer Dekonstruktion von
Asymmetrieannahmen, die das Objekt nur als "supplément" des Subjekts führen, während in Wahrheit das Subjekt ohne 1445
Objekt (ohne die andere Seite seiner Form) gar kein Subjekt sein könnte — so wie die Philosophie ohne Schrift keine Siehe von anderen (semiotischen) Ausgangspunkten her auch Dean MacCannell / Juliet F. MacCannell, The Time of
Philosophie. Siehe hierzu: Le supplément de copule: La philosophie devant la linguistique, in: Jacques Derrida, Marges de the Sign: A Semiotic Interpretation of Culture, Bloomington Ind. 1982, S. 94f.
la philosophie, Paris 1972, S. 209-246. Für uns ist allerdings Dekonstruktion nichts anderes als Rückführung auf die 1446
Siehe Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs N.J. 1967.
operative Einheit Selbstreferenz/Unterscheidung, die ihrerseits nur als Medium möglicher Formbildung interessiert. 1447
Wir sehen hier ganz ab von einer tiefergehenden Problematik, mit der Husserl in der für ihn selbstverständlichen
analytischen Strenge gerungen hat, nämlich der Frage, ob nicht die Vorstellung der Intersubjektivität dem Subjektbegriff
widerspricht.
1448
1443 Die Konsequenzen für die Erkenntnistheorie sind ausgearbeitet in: Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der
In der philosophischen Diskussion bleibt dieser Fall von Selbstreferenz/Paradoxie typisch außer Betracht. Vgl. z.B.
Gesellschaft, Frankfurt 1990.
Steven Bartlett (Hrsg.), Reflexivity: A Source-Book in Self-Reference, Amsterdam 1992. Dies liegt einerseits an
1449
Traditionsbindungen der Philosophie, aber auch an mangelnder Zuarbeit der Gesellschaftstheorie. Zur Bedeutung von Fremdbeobachtung für die Identitätsfindung des Subjekts siehe neben vielen nur den Exkurs über
1444 das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?, in Georg Simmel, Soziologie: Untersuchungen über die Formen der
Insofern ist auch der neueren Sozialphilosophie im Anschluß an Alfred Schütz das Recht zuzugestehen,
Vergesellschaftung, zit. nach: Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt 1992, S. 42 ff.
Intersubjektivität schlicht als gegebene Tatsache einzuführen. Vgl. zur aktuellen, sich auf dieser Grundlage verzweigenden
1450
Diskussion Richard Grathoff / Bernard Waldenfels (Hrsg.), Sozialität und Intersubjektivität: Phänomenoloische Vgl. hierzu im Kontext der allgemeinen Systemtheorie Lars Löfgren, Complexity Descriptions of Systems: A
Perspektiven der Sozialwissenschaften im Umkreis von Aron Gurwitsch und Alfred Schütz, München 1983. Nur ist damit Foundational Study, International Journal of General Systems 3 (1977), S. 197-214, sowie die anschließende Studie von
theoretisch noch nicht viel gewonnen. Robert Rosen, Complexity as a System Property, International Journal of General Systems 3 (1977), S. 227-232.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 397 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 398
1455
Ein weiteres Problem kann man an der Form verdeutlichen, die ein Beobachter verwenden muß, um ein man sich dadurch nicht sollte entmutigen lassen. Speziell in der Soziologie gibt es sehr ähnliche
System als System zu beschreiben, nämlich die Unterscheidung von System und Umwelt. Wenn der Vorstellungen in einer etwas einfacheren, nicht erkenntnistheoretisch ausformulierten Fassung. So zeigt
Beobachter diese Unterscheidung verwendet, um die Welt entsprechend zu spalten in das jeweilige Anthony Giddens, daß alles Handeln reflexiv in Strukturen und Kontexte, darunter in durch Handlung
Referenzsystem und dessen Umwelt, muß er sich selbst entweder in diesem System oder in dessen Umwelt erzeugtes Wissen eingebunden ist. Man könnte auch von einem zirkulären Verhältnis von Handeln und
verorten. In jedem Falle tritt die Beobachtung selbst in die Form ein, die sie der Beobachtung zugrundelegt, Wissen sprechen. "Sociolocal knowledge spirals in and out of the universe of social life, reconstructing both
1456
und sie hat allenfalls die Wahl: auf der Innenseite oder auf der Außenseite der Form. Die Möglichkeiten itself and that process as an integral part of that process." Und die Folge sei, daß es in den
können dann immer noch unterschiedlich bewertet werden. Eine Beschreibung der Gesellschaft zum Beispiel Sozialwissenschaften keine Wissensakkumulation gebe und daß mehr Wissen nicht, wie nach der klassischen
1457
müßte entschlossen sein, auf Kommunikation zu verzichten, wenn sie sich selbst als externe Beschreibung Erkenntnistheorie, zu mehr Sicherheit führe, sondern zu mehr Unsicherheit. Die abstrakten Fragen eines
beschreiben will, aber diese Konsequenz dürfte wenig attraktiv sein. dafür angemessenen autologischen Theoriedesigns lassen sich im Moment zwar nicht befriedigend
Wenn es zu Beschreibungen gesellschaftlicher Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen kommt, beantworten. Man kann dazu aber etwas beitragen, indem man am Falle des Gesellschaftssystems klärt, wie
muß dem Rechnung getragen werden. Das sich selbst beschreibende System findet sich stets nur auf der einen hier Selbstbeschreibungen funktionieren. Daß sie vorkommen, daß sie also möglich sind, steht fest. Nach den
Seite einer Differenz, die es selber erzeugt hat. Es kann die Unterscheidung ja nur durch Bezeichnung der Bedingungen der Möglichkeit kann man dann immer noch fragen.
einen (und nicht der anderen) Seite aktualisieren. Es muß daher die Differenz in das durch sie Getrennte auf
1451
einer der Seiten wiedereintreten lassen. Es muß in den Begriffen von Spencer Brown ein "re-entry" der
Form in die Form, der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene, des Unterschiedes von System und
Umwelt in das System vollziehen. Und damit verwandelt sich der unbestimmte Ausgangszustand, der III. Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung
"unmarked state" Spencer Browns, in den "imaginären Raum", von dem man zumindest dies sagen kann: daß
er Selbstbeobachtungen und re-entries vorkommen läßt. Vorkommen und also beobachtbar werden läßt! Schon auf operativer Ebene ist das Gesellschaftssystem zur Beobachtung seines Kommunizierens und in
Während aber die Transzendentaltheorie auf "functional prerequisites" setzte, um die Syntheseleistungen zu diesem Sinne zur Selbstbeobachtung gezwungen. Dafür genügt es jedoch zunächst, die Mitteilung als
erklären, die der Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit des Subjekts als Bedingungen ihrer Möglichkeit 1458
Handlung zu beobachten, so als ob sie ein (durch sich selbst) bestimmtes Objekt wäre. Im Anschluß daran
zugrundeliegen, führt die Mathematik des re-entry zu einer selbsterzeugten Unbestimmtheit, zu einer entwickelt sich die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz, mit der das System darauf reagiert,
1452
"unresolvable indeterminacy" , mit der das System sich selbst das Ungenügen seiner eigenen Operationen daß es durch sein Operieren die eigene Form erzeugt, nämlich die Differenz von System und Umwelt. Ein
bescheinigt. laufendes Beobachten an Hand der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz kondensiert die
Humanisten pflegen vor allem nach dem Verbleib des Subjekts zu fragen und auf die Wichtigkeit dieser entsprechenden Referenzen und verdichtet sie zur Unterscheidung von System und Umwelt. Das ermöglicht
Denkfigur hinzuweisen. Mit dem Subjekt fällt aber auch das Objekt, und das hat möglicherweise die eine Selbstbeobachtung neuen Stils, nämlich die Zurechnung von Themen auf das System selbst im
gravierenderen Konsequenzen. Das Objekt (im neuzeitlichen Verständnis dieses Begriffs) hatte von der Unterschied zu seiner Umwelt. Das System reflektiert seine eigene Einheit als Bezugspunkt für
Unterscheidung Subjekt/Objekt gelebt. Es war, vom Subjekt aus gesehen (und anders konnte man nicht von Beobachtungen, als Ordnungsgesichtspunkt für ein laufendes Referieren. Und dann empfiehlt es sich, Texte
"gesehen" sprechen) die andere Seite der Unterscheidung, und es diente als Form für Zuschreibung von anzufertigen, die eine Vielzahl solcher immer nur ereignishafter und situationsgebundener
Identität. Was immer in den zahlreichen empirisch diversifizierten Individuen als "das Subjekt" (oder besser: Selbstbeobachtungen koordinieren. In einfachster Form gibt das System sich einen Namen, eine rigide,
als ihre Subjektität) bestimmt wird, führt spurentreu zu entsprechenden Identitätskorrelaten in der Umwelt. invariante Bezeichnung, die eben wegen dieser Rigidität wiederholt und in unvorhersehbar verschiedenen
Die Identität eines Objektes bestand darin, daß es allen Subjekten, die ihren Verstand recht gebrauchen, als Situationen verwendet werden kann. Auf solche Eigennamen können sich dann Kontrastierungen stützen, die
dasselbe erschien. Wenn wir das Subjekt durch den Beobachter ersetzen und Beobachter definieren als das eigene System einem anderen entgegensetzen, um es im Kontrast zu identifizieren — so Griechen und
Systeme, die sich selbst durch die sequentielle Praxis ihres Unterscheidens erzeugen, entfällt jede Barbaren, Christen und Heiden oder, moderner und unter Verzicht auf Eigennamen, Zivilisierte und Wilde.
1459

Formgarantie für Objekte. Es kann bei allem Identischsetzen immer nur darum gehen, die Unterscheidungen Das erlaubt, wie die Beispiele zeigen, eine allmähliche Auffüllung des Kontrastes mit Strukturbeschreibungen,
zu unterscheiden, die ein Beobachter benutzt. Es geht, anders gesagt, um Wiederholungen, um eine im zuletzt genannten Falle zum Beispiel Arbeitsteilung, und damit eine inhaltliche Anreicherung der Texte, mit
kondensierende und konfirmierende Praxis, die immer mit Bezug auf die Systeme zu beschreiben ist, die sie denen das System sich selbst bezeichnet. Solche Texte, inclusive Namen, wollen wir Selbstbeschreibungen
operativ durchführen (was auch für den Beschreiber dieser Beschreibungen und seine "Objekte" gilt). Objekte nennen.
1453
konstituieren sich, so gesehen, nur im Kontext einer Beobachtung zweiter Ordnung. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts besetzt der Begriff der Kultur den Platz, an dem
Daß diese Überlegungen in schwierige logische und theorietechnische Probleme führt, besonders wenn Selbstbeschreibungen reflektiert werden. Kultur im modernen Sinne ist immer die als Kultur reflektierte
man einsehen muß, daß sie nicht einfach durch Verlagerung der Analyse auf eine Metaebene logischer oder Kultur, also eine im System beobachtete Beschreibung. Das harmoniert um 1800 mit der Umstellung des
linguistischer Art (Russell, Tarski) zu lösen sind, sei zugestanden. Aber entsprechende Probleme werden
1454
inzwischen auch in den Naturwissenschaften und in den Maschinentheorien so allgemein diskutiert, daß
1455
Siehe nur: Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside Cal. 1981; Francisco J. Varela, Principles of Biological
Autonomy, New York 1979; Fritz B. Simon, Unterschiede, die Unterschiede machen: Klinische Epistemologie: Grundlagen
einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik, Berlin 1988; Lars Löfgren, Towards System: From Computation to the
Phenomenon of Language, in Marc E. Carvallo (Hrsg.), Nature, Cognition and System I: Current Systems-Scientific
1451 Research on Natural and Cognitive Systems, Dordrecht 1988, S. 129-155; Niklas Luhmann et al., Beobachter: Konvergenz
A.a.O. S. 56 f., 69 ff.
der Erkenntnistheorien?, München 1990.
1452
Spencer Brown a.a.O. S. 57. 1456
Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, Stanford Cal. 1990, S. 15-16 (Hervorhebung durch Giddens).
1453
Das zwingt übrigens nicht zu der Konsequenz, die Ranulph Glanville, Objekte, Berlin 1988, zieht: Objekte seien nur 1457
A.a.O. S. 36 ff.
als Selbstbeobachter beobachtbar. Und selbst dann hätte man noch die Frage, ob Objekte sich selbst auch anders
1458
beobachten können, als sie es üblicherweise tun — Dampfmaschinen zum Beispiel nicht als Dampfmaschinen, sondern als Und um den Unterschied noch zu verdeutlichen: man muß sie nicht als unselbständiges Moment der Unterscheidung
feuerspeiende Ungetüme, als Schwerstarbeiter, als Explosionsrisiken. von Mitteilung und Information behandeln.
1454 1459
und in populären Schriften. Siehe nur John P. Briggs / F. David Peat, Looking Glass Universe: The Emerging Science Vgl. Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in ders., Vergangene
of Wholeness, o.O. 1985. Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, S. 211-259.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 399 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 400

Begriffs der Individualität von Unteilbarkeit auf Selbstbeobachtung der eigenen Besonderheit und mit der bereits hochselektiv formierten Gedächtnis zu tun haben. Das gilt auch für die Anfertigung und Benutzung
Forderung, daß Individuen sich Kultur in einer individuell passenden Weise "aneignen" müssen (Bildung). von Texten. Das System kann seiner eigenen Geschichtlichkeit nicht entrinnen, es muß immer von dem
Kultur kann durchaus so verstanden werden, daß die Selbstbeschreibung die Beschreibung der Welt, in der sie Zustand ausgehen, in den es sich selbst gebracht hat. Gerade weil dies so ist und gerade weil die zeitliche
stattfindet, keineswegs ausschließt, vielmehr über die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz Sequenz der Operationen irreversibel ist, haben Strukturen im allgemeinen und Texte im besonderen die
gerade einbezieht. Kultur ist dann gleichsam die in der Gesellschaft verankerte expressive Form einer Funktion, Wiederholbarkeit und in diesem Sinne Reversibilität zu gewährleisten. Man kann, aber auch dies
Weltdarstellung, die in anderen Gesellschaften andere Formen annehmen könnte. Kultur ist, wie man oft liest, geschieht nur, wenn es geschieht, auf sie zurückgreifen. Reflexion ist, und das kann man doppelsinnig
1460 1463
gelerntes Verhalten. Der Kulturbegriff impliziert Kulturvergleich und historischen Relativismus und (strukturell und prozessual) verstehen, "das Resultat des Resultats".
Selbstverortung der eigenen Kultur in diesem Kontext. Er vermittelt den Anschein von "Objektivität", das Auch Gesellschaften, die nicht über Schrift verfügen, fertigen Selbstbeschreibungen an. Sie produzieren
heißt die Annahme, daß alle Beobachter von Kulturen gerade dann, wenn man die Relativität des Objektes Erzählungen für wiederholten Gebrauch und setzen bei der Erzählung voraus, daß die Erzählung bekannt ist
anerkennt, zu übereinstimmenden Ergebnissen kommen müßten. Dabei waren in der Entstehungszeit im und nur das Beiwerk, die Ausschmückung, das Geschick des Erzählers überraschen. So können auch Mythen
auslaufenden 18. Jahrhundert eine Europazentrierung des Kulturvergleichs und eine Modernitätszentrierung über das Menschengeschlecht, den Stamm, den ersten Ahnen usw. fixiert werden, in denen die Gesellschaft in
des geschichtlichen Rückblicks selbstverständlich gewesen. Das hat man inzwischen aufgegeben, ohne damit der Gesellschaft repräsentiert wird. Im täglichen Gebrauch, in der mündlichen Rede genügen jedoch "indexical
auf den Begriff der Kultur zu verzichten. Der Begriff bleibt jedoch undefiniert oder kontrovers definiert. Er expressions", deren Referenz sich von selbst versteht. Erst Schrift hebt diese Unmittelbarkeit des
lebt nur davon, daß ein Vorschlag, auf ihn zu verzichten, wenig Erfolgsaussichten hätte, solange keine "Wir"-sagen-Könnens auf und führt damit in ein Referenzproblem. Denn wenn der Leser liest, was
Nachfolgebegrifflichkeit mitangeboten wird. Die spezifischen Probleme von Selbstverhältnissen und reflexiven geschrieben ist, ist der Schreiber längst mit anderem beschäftigt oder gar gestorben. Erst mit der Schrift
Operationen werden durch diese Ambivalenz des Kulturbegriffs der Analyse entzogen. Sie werden nicht entsteht ein Bedarf für begrifflich elaborierte Selbstbeschreibungen, die zu fixieren versuchen, worüber
1461
aufgedeckt, sondern zugedeckt ; und deshalb scheint es in dem, was als "Kulturwissenschaft" angeboten kommuniziert wird, wenn in der Gesellschaft über die Gesellschaft kommuniziert wird.
wird, auch keinen theoretischen Fortschritt zu geben, sondern nur Phasen der Stimulierung, der Ermattung Ebenso wie Selbstbeobachtungen sind auch Selbstbeschreibungen (Anfertigen von Texten)
und der Neuauflage des Appells an Kultur. Ob man auf den Kulturbegriff verzichten kann, wird man erst Einzeloperationen des Systems. Überhaupt handelt es sich bei Beschreibung und Beschriebenem nicht um
1464
entscheiden können, wenn eine ausgearbeitete Theorie der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung vorliegt. zwei getrennte, nur äußerlich verknüpfte Sachverhalte ; sondern bei einer Selbstbeschreibung ist die
1465
Auch Selbstbeschreibungen sind und bleiben im strengen Sinne Beobachtungen. Wir erinnern: eine Beschreibung immer ein Teil dessen, was sie beschreibt , und ändert es allein schon dadurch, daß sie
Beobachtung bezeichnet etwas, indem sie es unterscheidet. Sie produziert mit dem, was sie bezeichnet, auftritt und sich der Beobachtung aussetzt. Diese Einsicht konnte vermieden werden, solange die
zugleich einen unmarkierten Bereich, der nicht intentional oder thematisch erfaßt (bezeichnet) aber als Welt- Beschreibung der Welt und der Gesellschaft als religiöse Wahrheit begriffen wurde. In der Soziologie
1466
im-übrigen vorausgesetzt ist. Und sie sondert die Operation der Beobachtung (und damit: den Beobachter) ab Durkheims wird dieses Konzept nochmals wiederholt — und zugleich zerstört. Die Religion symbolisiert
von dem, was beobachtet wird. Daß all dies auch für Selbstbeschreibungen gilt, hat erhebliche theoretische die Gesellschaft und konzentriert das Bewußtsein der Individuen auf sakrale Objekte und muß eben deshalb
Konsequenzen. Zunächst: In der Darstellung von Gesellschaft ist immer auch Welt impliziert — teils mit verschweigen, daß dies nur eine Gesellschaftsbeschreibung ist.
bekannten Formen (zum Beispiel Steine, Pflanzen, Tiere, Götter), teils aber auch mit unbekannten Anders als in der üblichen Erkenntnistheorie gibt es auch keine nachträgliche Übereinstimmung von
Eigenschaften bzw. einem nicht weiter erklärbaren Ordnungspostulat vom Typ kósmos, Schöpfung. Die Erkenntnis und Gegenstand — weder in der Form Beobachtung, noch in der Form Beschreibung. Das System
andere Seite der Unterscheidung Gesellschaft ermöglicht fremdreferentielle Bezeichnungen; aber sie kann nie kann nichts anderes tun als kommunikativ operieren, und das, was die Kommunikation letztlich meint und
als Einheit bezeichnet werden. Sie ermöglicht ein Kreuzen der Grenze, aber nur dadurch, daß auf der anderen bezeichnen will, hat nie auch nur die geringste Ähnlichkeit mit kommunikativen Formen, und es gibt selbst
1467
Seite wieder etwas unterschieden wird — etwa Himmel und Erde. Dazu kommt dann noch ein zweiter blinder dann, wenn die Gesellschaft (wie hier) als Kommunikationssystem beschrieben wird. Das gilt auch für
Fleck: der Beobachter selbst. Die Beschreibung kann operieren, sie kann sich aber im Vollzug nicht selbst Selbstbeschreibungen. Deshalb ist die Frage nach der Wahrheit der Beschreibung hier unangebracht. Das
beschreiben, denn dies würde eine andere Operation, eine andere unterscheidende Bezeichnung erfordern. Sie pharaonische Ägypten hat die eigene, mehrtausendjährige Geschichte als unveränderte Wiederholung
kann nur im nachhinein wiederbeschrieben werden. Keine Thematisierung von Gesellschaft erreicht mithin beschrieben, was den geschichtlichen Tatsachen natürlich nicht entspricht und trotzdem nicht ohne Wirkung
1462 1468
eine volle Welttransparenz. Und das muß man, wenn diese Theorie stimmt, an allen gesellschaftlichen geblieben ist. Auch hier muß man sich also hüten, die Landkarte mit dem Territorium zu verwechseln. Jede
Selbstbeschreibungen zeigen können — auch und gerade dann, wenn sie die Form von Soziologie annehmen. Einzeloperation ist eine unter zahllosen anderen, und das gilt ganz unabhängig von ihrem Sinn, also ganz
Wir kommen im Abschnitt über Invisibilisierungen darauf zurück. unabhängig auch von der Frage, ob sie das Gesamtsystem als Einheit zu beschreiben sucht, oder sich mit
Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen der Gesellschaft sind immer kommunikative
Operationen, existieren also nur im Ereigniszusammenhang des Systems. Sie müssen voraussetzen, daß das
1463
System schon vorliegt, sind also nie konstitutive, sondern immer nachträgliche Operationen, die es mit einem Eine Formulierung von Novalis, Philosophische Studien 179/96, zit. nach: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von
Hardenbergs, (Hrsg. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel) Darmstadt 1978, Bd. II, S. 11.
1464
Entsprechend kritisiert Quentin Skinner, Language and Political Change, in: Terence Ball / James Farr / Russell L.
1460
Zum Beispiel bei Alfred Kuhn, The Logic of Social Systems: A Unified, Deductive, System-Based Approach to Social Hanson (Hrsg.), Political Innovation and Conceptual Change, Cambridge Engl. 1989, S. 6-23 (21 f.) die übliche
Science, San Francisco 1974, S. 154: "Culture is communicated learned patterns". Im weiteren kann es sich dann um Behandlung von language und social reality als zwei getrennten Sphären.
Fernsehapparate, durchbohrte Ohren und Nasen, Flüche, Nägel, Behandlung von Frauen und alles andere handeln, was nur 1465
Vgl. für den Ideologiebegriff die Einleitung von Jennifer Daryl Slack zu: dies. und Fred Fejes (Hrsg.), The Ideology of
über Abweichungsverstärkung zustandekommt bzw. in einer Kultur nur so erklärt werden kann. Bei diesem Begriff von
the Information Age, Norwood N.J. 1987, S. 2: "Ideologies are implicated in and part of the very reality that they map".
Kultur muß man dann zwischen Kultur und Kultiviertheit unterscheiden. Die Behandlung von Frauen ist immer Kultur,
1466
aber nicht immer kultiviert. Siehe dazu Horst Firsching, Die Sakralisierung der Gesellschaft: Emile Durkheims Soziologie der 'Moral' und der
1461 'Religion' in der ideenpolitischen Auseinandersetzung der Dritten Republik, in: Volkhard Krech / Hartmann Tyrell (Hrsg.),
Und wenn man sie aufdeckt, kommt es zu Formulierungen wie: "Le propre d'une culture, c'est de n'être pas identique à
Religionssoziologie um 1900, Würzburg 1995, S. 159-193. Die oben im Text gegebene Deutung würde es allerdings nicht
elle-même". (Jacques Derrida, L'autre cap: Mémoires, réponses, responsabilités, Liber (Ausgabe Le Monde) 5 (Okt. 1990),
erlauben, von "Sakralisierung der Gesellschaft" zu sprechen. Eher geht es bei Durkheim um eine Neubeschreibung religiös
S. 11-13 (11).
fundierter Gesellschaften mit Hilfe des Schemas manifest/latent.
1462
Das muß nicht ausschließen, daß Selbstbeschreibungen sich als Erkenntnis des "Wesens", der "Natur", der "Wahrheit" 1467
Beweis: Die Beschreibung erfordert nur einen Satz. Aber die Gesellschaft ist nie und nimmer ein Satz.
der Sache stilisieren; aber das kann in der Beobachtung zweiter Ordnung nur als Eigentümlichkeit einer bestimmten Art
1468
von Selbstbeschreibungen registriert werden. Wir kommen darauf bei der Behandlung alteuropäischer Welt- und Siehe für dieses Beispiel Jan Assmann, Stein und Zeit: Das "monumentale" Gedächtnis der altägyptischen Kulture, in:
Gesellschaftssemantiken zurück. Jan Assmann / Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt 1988, S. 87-114.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 401 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 402

irgendwelchen Details beschäftigt. Anders gesagt: auf operativer Ebene kann das System nie seine eigene Das milliardenfach gleichzeitige Vorkommen von Operationen mit impliziter oder expliziter
Einheit sein; es kann sie nur, wie immer flüchtig, bezeichnen. Selbstreferenz darf nicht als Chaos aufgefaßt werden. Schon im Übergang von nur okkasionellen
Hieraus folgt, daß das System, das die eigene Autopoiesis nur in Einzeloperationen prozessieren kann, Selbstbeobachtungen zur Fixierung von Texten liegt ein erster Korrekturschritt, und dieser Schritt wird bereits
sich selbst unzugänglich ist. Es ist für sich selbst intransparent, und zwar ebenso intransparent wie die in den Erzähltraditionen oraler Kulturen getan. Texte werden für Wiedererkennung und für
1469
Umwelt. Man kann daher auch sagen: Selbstreferenz und Fremdreferenz verweisen in prinzipiell Mehrfachgebrauch geschaffen und koordinieren dann die zu ihnen passenden Selbstbeobachtungen. Wir
unendliche Horizonte immer weiterer Möglichkeiten, deren Ausschöpfung an der geringen operativen wollen, wenn immer es um solche bewahrenswerten Sinnvorgaben geht, von "Semantik" sprechen. Das
Kapazität und an dem Zeitbedarf der Operationen scheitert. Das Thema von Tristram Shandy! Also ist jede System erleichtert sich mithin das Selbstreferieren in oft ganz heterogenen Situationen, indem es dafür eine
Selbstbeschreibung des Systems eine Konstruktion. Aus gleichem Grunde kann ein System sich mit sich selbst Sondersemantik bereitstellt. Diese kann dann, eine weitere Unterscheidung generierend, richtig oder falsch
überraschen und sich selbst neue Erkenntnisse abgewinnen. Das System dirigiert durch die eigene verwendet werden. Mit dieser Bifurkation entsteht ein Bedarf für Interpretationsexperten, die den richtigen,
Selbstbeschreibung das, was es als Inkonsistenz bemerken kann, es begrenzt und verstärkt dadurch "orthodoxen" Gebrauch des Textes überwachen und ihr Sozialprestige aus der Qualität des Textes herleiten.
Irritabilitäten vor dem Hintergrund all dessen, was damit verdrängt wird und unbeachtet bleibt. (So verdeckt Der richtige Sinn des Textes nimmt dann sehr leicht eine normative Qualität an. Das heißt nichts weiter, als
die Gesellschaftstheorie des 19. und 20. Jahrhunderts durch die Beschreibung als Klassengesellschaft die das er notfalls kontrafaktisch aufrechterhalten wird. Was wichtig ist, wird diesen Charakter nicht dadurch
gravierenden Konsequenzen funktionaler Differenzierung und wärmt sich, allzu lange, an dem Glauben, daß verlieren, daß Fehler oder Irrtümer oder mißbräuchliche Verwendungen vorkommen. Im Gegenteil: die Fehler
durch Revolution oder andere Formen der Einebnung von Ungleichheit zu helfen sei.) Selbstbeobachtungen fallen ja gerade dadurch auf, daß man sie am Abweichen vom richtigen Sinn erkennt. In den folgenden
und Selbstbeschreibungen haben, mit anderen Worten, einen Informationswert, aber dies nur deshalb, weil das Analysen werden wir diesen Trend zur normativen Fixierung mehrfach bestätigt finden, zum Beispiel am
System für sich selber intransparent ist. Und nur weil dies so ist, kommt der historischen Semantik der alteuropäischen Begriff der Natur und dann wieder im modernen Kontext von Ideologien. Im Augenblick
Selbstbeschreibungen von Gesellschaft, dem Thema dieses Kapitels, eine eigenständige Bedeutung zu. kommt es nur darauf an, die Funktion von Vertextungen und Normativierungen zu erkennen: Sie
Auch Kommunikationen, mit denen das System sich selbst beschreibt, bleiben Kommunikationen, also kompensieren die auf operativer Ebene unausweichliche Einzelheit und Ereignishaftigkeit aller
distinkte Ereignisse, die sich als solche beobachten lassen. Gleichzeitig passiert im selben System und erst Selbstbeobachtungen des Systems.
recht in der Welt vieles andere. Nur die Beobachtung "digitalisiert" das, was geschieht; nur sie hebt das eine Außerdem ist mit dem faktisch-kommunikativen Vollzug aller Selbstbeobachtungen und
im Unterschied zum anderen hervor. Die Zeit selbst bleibt ein Kontinuum der Transformation; sie modifiziert Selbstbeschreibungen die Beobachtbarkeit und Beschreibbarkeit eben dieses Operierens gegeben. Das System
1470
die Verhältnisse, um eine bekannte Unterscheidung zu verwenden, nicht digital, sondern analog , nämlich in kann ja nicht anders als real operieren. Jede Selbstbeobachtung und jede Selbstbeschreibung setzt sich daher
einem Kontinuum der Fortsetzung von Gleichzeitigkeit. Daran ändert sich nichts, wenn es um unvermeidbar ihrerseits der Beobachtung und Beschreibung aus. Jede Kommunikation kann ihrerseits Thema
Selbstbeschreibungen geht. Denn auch dann muß das System das zeitlich analog verlaufende Verhältnis zu einer Kommunikation werden. Das heißt aber, daß sie positiv oder negativ kommentiert, daß sie angenommen
sich selbst digitalisieren. Auch dies erfordert also eine Konstruktion, eine Form, einen Einschnitt in die oder abgelehnt werden kann. Relativ stabile Selbstbeschreibungen bilden sich daher nicht einfach in der Form
Realität, der immer auch anders verlaufen oder überhaupt unterbleiben könnte. des überzeugenden Zugriffs auf ein gegebenes Objekt, sondern als Resultat eines rekursiven Beobachtens und
Im Begriff der Selbstbeschreibung ist denn auch weder Konsens noch Konsensfähigkeit impliziert. Wenn Beschreibens solcher Beschreibungen aus. In der mathematischen Kybernetik nennt man ein solches Resultat
1472
anspruchsvolle Texte angefertigt werden, wird Konsens in einer Gesellschaft, die nur sehr begrenzt die auch einen "Eigenwert" des Systems.
Fähigkeit zum Lesen vermitteln und Texte auch oral tradieren kann, sogar eher unwahrscheinlich. Das gilt Die Einrichtung und Stabilisierung eines Textes hat den Vorteil, daß die Operation der Herstellung des
1471
bereits für die Bedingungen der Zentrum/Peripherie-Differenzierung und der Stratifikation. Ungeachtet Textes und mit ihr der Autor und mit ihm seine Interessen und Perspektiven vergessen werden können. Auch
solcher struktureller Kanalisierung von Konsens, Dissens und Ignoranz muß diese Frage als eine Variable das kann dem Schutze des Textes dienen. Der Text wird zu einem heiligen Text oder zu einem Text, dessen
behandelt werden. Unter Selbstbeobachtung soll daher immer nur eine im System auf das System gerichtete Alter und bewährte Tradition ihn gegen Kritik schützen. Seine Offensichtlichkeit verdeckt, daß es andere
Operation verstanden werden und unter Selbstbeschreibung die Anfertigung eines entsprechenden Textes. Möglichkeiten gegeben hatte. Besonders in Schriftkulturen mit noch primär oraler Tradition dient gerade das
Geschriebensein des Textes als Symbol seiner Invarianz. Falls Autorennamen bewahrt werden, nehmen sie
eine quasi mythische Qualität an, gleichsam als Duplikat der Bedeutung des Textes. Erst mit dem Buchdruck,
also erst seit dem 15. Jahrhundert, bürgert sich eine Autorenschaft im modernen Sinne ein. Im Mittelalter
1469
Mindestens seit Montaigne ist diese Auffassung für den Fall von Bewußtseinssystemen literarisch präsent. (Weniger kommuniziert der Text, eventuell dann die Druckmaschine. Und erst mit einer deutlichen Differenzierung von
bekannt viele andere Zeitgenossen, etwa John Donne, The Progress of the Soul, zit. nach John Donne, The Complete Autor und Text entsteht in Ablösung dessen, was vorher eine prinzipiell orale Tradierung schriftlicher Texte
English Poems, Harmondsworth, Middlesex, England 1982, S. 176 ff.). Hier ist auch deutlich zu erkennen, daß diese gewesen war, die raffinierte, sich auf Kontexte und Intentionen beziehende Interpretationskunst, die wir heute
Problematisierung der Selbsterkenntnis bricht mit der alten Auffassung, die Selbsterkenntnis führe zurück auf die eigene
Hermeneutik nennen.
"Natur" und damit auf den, wie immer durch Sünde korrumpierten Perfektionszustand. Dieser Schritt von Natur zu
Intransparenz ist jedoch, wie es scheint, für die Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems nie vollzogen worden; und Weiter ist zu bedenken, daß zwar das Problem der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung stets
dies wohl deshalb nicht, weil eine vom Menschen ausgehende Reflexionskultur die Gesellschaft immer als etwas Äußeres Dasselbe ist. Das Problem der Identität bleibt in der Identität des Problems erhalten. Aber jede Lösung des
(allenfalls Internalisierbares) gesehen hat. Systemtheoretisch gesehen fällt jedoch die genaue Parallellage (bei aller Problems, jeder Identitätsvorschlag, muß durch die Operationen des Systems durchgeführt werden und setzt
Verschiedenheit der Operationsweisen) von Selbstbeobachtungsproblemen in beiden Fällen auf. sich deshalb im System der Beobachtung aus. Die Beobachtung der Selbstbeobachtung erfolgt aus einer
1470
Vgl. Anthony Wilden, System and Structure: Essays in Communication and Exchange, 2. Aufl., London 1980, S. 155 ff. anderen, "kritischen" Perspektive. Vor allem wird sie heute immer Standorte, Interessen, semantische
Allerdings macht das im Text vertretene Konzept des Beobachtens es fraglich, ob man Wilden folgen sollte, wenn er auch Bindungen mitsehen, von denen aus die primäre Selbstbeobachtung formuliert wird. Nichtidentität von
das Analoge als eine besondere Art von Differenz auffaßt, ja geradezu als "the domain of difference" (a.a.O. S. 174). Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen ist daher ein im Normalgang zu erwartendes Resultat und
1471
Vgl. für die "census-tax-conscription" Systeme traditionaler Herrschaftsbürokratien Stanley Diamond, The Rule of Law dies mit zunehmender Wahrscheinlichkeit, wenn die Primärbeobachtung nicht mehr auf der Basis von
Versus the Order of Custom, in: Robert P. Wolff (Hrsg.), The Rule of Law, New York 1971, S. 115-144 (mit allerdings Autorität und Tradition operieren kann.
sehr einseitiger Auswahl der Belege aus den für diese Struktur bekannten westafrikanischen Königreichen). Dazu auch
Gerd Spittler, Probleme bei der Durchsetzung sozialer Normen, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970),
S. 203-225; ders., Herrschaft über Bauern, Frankfurt 1978. Vgl. ferner Wolfram Eberhard, Conquerors and Rulers: Social
1472
Forces in Medieval China, 2. Aufl. Leiden 1965; Robert Eric Frykenberg, Traditional Processes of Power in South India: Siehe Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside Cal. 1981, insb. S. 273 ff.; dt. Übers. Sicht und Einsicht:
An Historical Analysis of Local Influences, in: Reinhard Bendix (Hrsg.), State and Society: A Reader in Comparative Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig 1985; oder: Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke,
Political Sociology, Boston 1968, S. 107-125. Frankfurt 1993.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 403 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 404

Zusätzlich muß auf eine Besonderheit aller selbstreferentiellen Praktiken, aber besonders der dieser Einsicht verweigert und totalisierend auftritt, wird sie abweichungsempfindlich und intolerant. Und
Selbstbeschreibungen von Gesellschaften hingewiesen werden. Es gibt für sie keine externen Kriterien, nach macht es sich politisch schwer.
denen sie beurteilt werden könnten. Entsprechendes hat man in der cartesischen Tradition bereits für das Die vorstehenden Überlegungen sind auf der Ebene einer theoretischen Beschreibung von
Bewußtsein des Subjekts herausgefunden. Wenn es denkt, daß es denkt, kann man ihm nicht entgegenhalten, Selbstbeschreibungen formuliert, und das gilt auch für alles, was folgt. Auf dieser Ebene einer theoretischen
1474
das sei nicht der Fall. Wenn es sagt, daß ihm dies oder das gefalle, kann man nicht entgegnen, es irre sich. Wiederbeschreibung von Selbstbeschreibungen wird der Begriff "autologisch", er gilt dann auch für sich
Dies ist jedoch nicht, wie Philosophen meinen, eine Besonderheit des Subjekts und ein Indikator für dessen selbst. Auch die Wiederbeschreibung von Selbstbeschreibungen der Gesellschaft ist eine Selbstbeschreibung
einmaligen Weltstatus. Es gilt auch für das Sozialsystem Gesellschaft, und hier erst recht, weil es außerhalb der Gesellschaft. Die Wiederbeschreibung kann dann nicht länger als Erzeugung besseren Wissens,
der Gesellschaft überhaupt keine Kommunikationsmöglichkeiten, also auch keine zum Korrigieren befähigte geschweige denn als Fortschritt angesehen werden. (Das wäre jetzt leicht durchschaubar als
Instanz gibt. Die Gesellschaft ist also erst recht darauf angewiesen, kriterienlose Selbstreferenz zu Voreingenommenheit einer weiteren Ebene, einer Selbstbeschreibung der Wiederbeschreibung, die ihren
praktizieren. autologischen Charakter unbeachtet läßt.) Vielmehr geht es um eine laufende Transformation von Prämissen,
Damit ist keineswegs ausgeschlossen, daß Kriterien für Selbstbeschreibungen entwickelt werden. Von die vordem als notwendig und natürlich angesehen wurden, in kontingente und künstlich gewählte
den Reflexionstheorien, mit denen die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft sich selbst beschreiben, Limitierungen bestimmter Operationen. So zum Beispiel die Wiederbeschreibung tonaler Musik durch die
wird zumeist "Wissenschaftlichkeit" verlangt, was immer das dann im Einzelfall für das Rechtssystem, für Einführung atonaler Musik oder die Wiederbeschreibung der politischen Ökonomie durch die Marxsche
das politische System, für das Erziehungssystem oder für das Wirtschaftssystem besagen mag. Für die Analyse des "Kapitalismus". Der Zugriff solcher Wiederbeschreibungen auf Beschreibungen kann sich dann
Selbstbeschreibungen vormoderner Gesellschaften galten religiöse Kriterien; sie mußten in ihren zentralen nur noch zeitlich rechtfertigen als der heutigen Lage angemessen mit der Aussicht, daß er morgen als von
Komponenten religionsfähig sein. In allen Fällen gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen stehen solche gestern behandelt werden wird.
Kriterien jedoch nicht vorweg schon fest. Sie bilden vielmehr eine Komponente des Textes. Und wenn sie Es ist leicht zu sehen, daß diese zunehmende Sophistik von Beschreibungen ihrerseits
gesondert ausgewiesen werden, wie etwa die Referenz auf Gott in der christlichen Tradition des Abendlandes, Gegenbeschreibungen auslösen — heute zum Beispiel in der Form "fundamentalistischer" Bewegungen. Aber
dann geschieht dies in Übereinstimmung mit dem Text und nicht als Hinweis auf eine unabhängige auch das führt zu keinem Fortschritt, zu keiner Verbesserung der Qualität von Selbstbeschreibungen, sondern
Prüfinstanz. Selbstbeschreibungen können, anders gesagt, nur zirkulär begründet werden, und wenn sie ihren nur, und in diesem Falle besonders deutlich, zu einer Bestätigung der soeben versuchten Analyse.
Begründungszirkel durch Externalisierung zu unterbrechen suchen, dann geschieht eben dies als Komponente
des Textes, als Teil des Vollzugs der Selbstbeschreibung.
Unter diesen strukturellen und operativen Bedingungen entsteht für gesellschaftliche
Selbstbeschreibungen eine eigene Semantik, die ihrerseits evolutionären Veränderungen unterliegt. Zwar ist IV. Die Semantik Alteuropas I: Ontologie
der Spielraum begrenzt, denn Selbstbeschreibungen müssen hinreichend plausibel sein, um sich im Prozeß des
Beobachtens und Beschreibens der Beschreibungen bewähren und ändern zu können. Zugleich gewinnen aber Vormoderne Gesellschaften haben von ihrer Differenzierungstypik her deutliche strukturelle
vorhandene Texte ein Eigengewicht. Selbst bei radikalen strukturellen Veränderungen wird die Gesellschaft Ähnlichkeiten. Sie verfügten aber nur über eine im wesentlichen durch mündliche Lehre tradierte
das, was sie über sich selbst weiß und sagt, nicht abrupt ändern können, um voraussetzungslos neu zu Schriftkultur
1475
und blieben deshalb, bei allen Beziehungen des Handels und bei aller wechselseitigen
beginnen. Sie wird Neues in alten Kontexten wahrnehmen müssen, um es überhaupt spezifizieren zu können. Kenntnis, in ihren semantischen Traditionen getrennt. Sie konnten jeweils sich selbst als Mitte der Welt
Sie kann zum Beispiel Bezeichnungen beibehalten, aber die Gegenbegriffe, die als Unterscheidung fungieren, betrachten und jeweils eigene Kosmologien entwerfen. In diesem Sinne konnten sie Weltgesellschaften sein
1473
heimlich austauschen — so wenn Natur nicht mehr von Gnade unterschieden wird, sondern von und andere Gesellschaften in ihrer eigenen Kosmologie unterbringen.
Zivilisation; oder wenn man von utilitas/honestas zu nützlich/nutzlos bzw. nützlich/schädlich übergeht und auf Im folgenden beschränken wir uns auf die Beschreibung der Selbstbeschreibung der Gesellschaft in der
diese Weise eine andere Grundlage für die Wertung der gesellschaftlichen Stellung des Adels findet. Man muß alteuropäischen Tradition, also auf griechisch-römisch-christliches Gedankengut, denn nur diese Tradition hat
also gerade in Zeiten radikalen Strukturwandels mit Traditionsüberhängen rechnen, die nur allmählich die moderne Gesellschaft in ihrem Entstehen begleitet, und nur sie beeinflußt die an sie gerichteten
abgebaut werden können in dem Maße, als die Differenz zwischen der vergangenen und der aktuellen Welt 1476
Erwartungen noch heute. Die alteuropäische Tradition ist in einer Gesellschaft entstanden, die heute nicht
sichtbar wird. Selbst die moderne Gesellschaft beschreibt, wie wir ausführlich sehen werden, sich selbst daher mehr existiert — und zwar weder im Hinblick auf Kommunikationsweisen noch im Hinblick auf
zunächst einmal historisch, um sich von ihrer Geschichte zu lösen. Sie akzeptiert dabei Blankettbegriffe für Differenzierungsformen. Dennoch bleibt diese Tradition Bestandteil unserer geschichtlichen Überlieferung und
eine offene Zukunft, und erst allmählich können neue Irritationen und mit ihnen neue Erfahrungen eingebaut in diesem Sinne orientierungsrelevantes Kulturgut. Sie kann nicht absterben — gerade weil sie offensichtlich
werden und die Überreste der alteuropäischen Semantik ersetzen. nicht mehr paßt, gerade weil sie ständig negiert werden und dafür zur Verfügung stehen muß.
Der Begriff der Selbstbeschreibung schließt nach all dem nicht aus, daß es eine Mehrheit von
Selbstbeschreibungen ein und desselben Systems geben kann. Eine andere Frage ist, ob das
Gesellschaftssystems selbst eine Mehrheit von Selbstbeschreibungen anbietet und auch bemerkt, daß dies 1474
In diesem Sinne spricht Mary Hesse, Models and Analogies in Science, Notre Dame 1966, S. 157 ff. von
geschieht. Dies ist, wie wir noch ausführlich sehen werden, erst unter modernen (heute sagt man "redescription" und ordnet diesen Begriff der Diskussion über die Metaphorik theoretischer Erklärungen zu. Auch sonst
"postmodernen"), Bedingungen der Fall, und es hängt offensichtlich mit dem Übergang zu funktionaler findet man in sehr verschiedenen Zusammenhängen ähnliche Analysen. So in der politischen Theorie von
Differenzierung zusammen. In der Konsequenz müßte die Gesellschaft selbst sich dann mit Metabegriffen als Reformbewegungen bei Giovan Francesco Lanzara, Capacità negativa: Competenza progettuale e modelli di interventi nelle
organizzazioni, Bologna 1993, insb. S. 227 ff. oder für die Kunsttheorie bei Michael Baldwin / Charles Harrison / Mel
polykontextural oder als hyperkomplex beschreiben. Jede einzelne Selbstbeschreibung trägt dann als Ramsden, On Conceptual Art and Painting and Speaking and Seeing: Three Corrected Transcripts, Art-Language N.S. 1
Beschreibung ihrer eigenen Kontingenz Rechnung. Sie berücksichtigt (und gibt zu erkennen, daß sie (1994), S. 30-69.
berücksichtigt), daß es auch andere Selbstbeschreibungen desselben Systems geben kann. Oder wenn sie sich 1475
Vgl. für Indien noch am Ende des 19. Jahrhunderts Ananda F. Wood, Knowledge Before Printing and After: The Indian
Tradition in Changing Kerala, Delhi 1985.
1476
Wir lassen damit nicht nur die eindrucksvollen Kosmographien Chinas, Indiens und des alten Orients, sondern auch die
1473
Zu solchem "antonym substitution" Stephen Holmes, Poesie der Indifferenz, in: Dirk Baecker et al. (Hrsg.), Theorie als jüdische Tradition beiseite, die auf Grund des Primats, den sie der Kommunikation Gott/Mensch zuspricht, der
Passion, Frankfurt 1987, S. 15-45; ders., The Permanent Structure of Antiliberal Thought, in: Nancy Rosenblum (Hrsg.), Theoriedarstellung unseres Textes viel näher kommt als die alteuropäische Tradition. Siehe nur Susan A. Handelman, The
Liberalism and the Moral Life, Cambridge Mass. 1989, S. 227-253; ders., The Anatomy of Antiliberalism, Cambridge Slayers of Moses: The Emergence of Rabbinic Thought in Modern Literary Theory, Albany N.Y. 1982, etwa S. 8: "For the
Mass. 1993. Greeks, following Aristotle, things are not exhausted by discourse; for the Rabbis, discourse is not exhausted by things".
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 405 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 406

Ihre Geschlossenheit mitsamt der religiösen Kontrolle systemsprengender Inkonsistenzen beeindruckt normatives Postulat ein, das als Erfordernis von Ordnung begriffen wird. Das Seiende soll das nicht sein, was
noch heute — gerade weil dies für uns unerreichbar geworden ist. Der innere Reichtum der Begrifflichkeit es nicht ist — es sei denn als ein Wunder, das dazu dient, die Überordnung der Religion, die Allmacht des
dieser Tradition beruht vor allem darauf, daß sie sowohl stratifikatorische als auch Schöpfers zu belegen. Die Ontologie garantiert mithin die Einheit der Welt als Einheit des Seins. Nur das
1479
Zentrum/Peripherie-Differenzierungen kannte, daß sie im Laufe ihrer Geschichte sowohl Stadt- als auch Nichts wird ausgeschlossen, aber damit geht "nichts" verloren. Mit den Stoikern kann man, wenn man Sein
Reichsbildungen interpretieren mußte, daß sie sowohl in der Stadt lebenden als auch, im Mittelalter, auf dem als individuiertes Existieren begreift, noch einen Überbegriff des "aliquid" bilden, von dem man dann sagen
Land lebenden Adel kannte und daß sie ihre Religion im Zuge der Christianisierung gewechselt hat mit der kann, es existiere bzw. es existiere nicht. Gerade wenn man aber von einem Primat der Unterscheidung
Folge, Traditionsgut ohne grundlegenden gesellschaftsstrukturellen Wandel neu interpretieren zu müssen. Sein/Nichtsein ausgeht, blockiert man mit diesem "aliquid" die Frage, wovon dies dann zu unterscheiden sei.
Sicher hat auch die geographische Diversität Europas sowohl für das Entstehen der altgriechischen Ferner kann man die Einheit des Seins durch die Einheit Gottes überbieten mit der Möglichkeit, das Sein in
Stadtkulturen als auch für die Bildung der Territorialstaaten im spätmittelalterlichen Europa eine wichtige Unterscheidungen aufzulösen. Alles, was ist, unterscheidet sich dann von anderem und partizipiert nur am
Rolle gespielt. Bei all dieser Diversität blieb jedoch ein entscheidendes Merkmal aller vormodernen Sein. Aber dann zwingt die Ontologie zur Frage nach dem Sein Gottes — und zu den gefährlichen
Gesellschaften ungetastet: Die Differenzierungsform sah jeweils eine konkurrenzfreie Position für die Konsequenzen einer negativen Theologie, die noch die Frage nach dem Sein oder Nichtsein Gottes stellen und
richtige Beschreibung der Welt und der Gesellschaft vor, nämlich die Spitze der Hierarchie, den die Antwort geben muß, daß er selbst überhaupt nicht, also auch nicht so unterscheidet. Das mag dogmen-
Geburtsadel, und das Zentrum der Gesellschaft, die Stadt. Es gab relativ autonome, weil textbezogen und kirchenpolitische Konsequenzen haben, die letztlich zur Ausdifferenzierung religiöser Dogmenbildung auf
arbeitende kulturelle Eliten, die aber die strukturellen Asymmetrien des Gesellschaftssystems nicht in Frage spezifisch kirchlichen Grundlagen führen; aber es macht mit Nikolaus von Kues auch sichtbar, das
stellten, sondern sie nur bisweilen anders interpretierten. Bei allen Schulkontroversen blieb die Anfertigung der Unterscheiden (inclusive Sein/Nichtsein) ein spezifisch menschlicher Erkenntnismodus ist, der diehartnäckige
1480
Beschreibungen Sache einer kleinen Schicht, und dem entsprach die Fortdauer der primär oralen Tradierweise Frage nach der Einheit auf Paradoxien auflaufen läßt.
1481
(Lehre) auch schriftlich fixierter Texte. In Mesopotamien waren dies die Schreibschulen, im Mittelalter die An anderer Stelle hatten wir bereits darauf hingewiesen, daß die Ontologie und die ihr zugeordnete
theologisch und juristisch ausgebildeten Kleriker. Erst im Laufe des Mittelalters beginnen Adelskultur, zweiwertige Logik den Begriff der Welt limitiert. Welt kann nicht als Hintergrundsunbestimmtheit (weder
Klosterkultur und Stadtkultur sich getrennt zu entwickeln. In der Lehre von den drei Ständen wird dies zum Sein noch Nichtsein), sondern nur auf der Ebene designationsfähiger Objekte, als Objektmenge oder als
letzten mal in eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft übersetzt. Gleichzeitig macht jedoch im Übergang zur Objektgesamtheit bezeichnet werden. Sie ist so, wie sie ist; man kann sich nur in den Bezeichnungen irren und
Neuzeit der in Europa (anders als in China und in Korea) kommerziell betriebene Buchdruck die schon muß diese dann korrigieren.
1482
akkumulierte Heterogenität des Gedankenguts mit einer überraschenden Plötzlichkeit sichtbar. Und das zwingt Der Begriff "Ontologie" ist erst im 17. Jahrhundert aufgekommen , und dies offensichtlich im
in der Semantik zu Reaktionen, die sich ihrerseits des Buchdrucks bedienen und eine Vielfalt von Formen Zusammenhang mit den Sicherheitskrisen jener Zeit. Man braucht jetzt ein Wort für das, wovon man vorher
erzeugen, aus denen die Neuzeit dann das für sie passende wird auswählen können. ausgegangen war. In unserem Zusammenhang soll der Begriff definitorisch eingeführt werden, also auch
Die dominierende Welteinstellung Alteuropas kann mit dem Begriff der Ontologie beschrieben werden. unabhängig von den sehr unterschiedlichen Weisen seiner inhaltlichen Ausfüllung in der Philosophie. Der
Die Voraussetzungen der Ontologie werden als Gegebenheiten eingeführt, die der Physik (der Naturlehre) Begriff bezeichnet in unserer Verwendungsweise ein Beobachtungsschema, und zwar eine
vorausgehen: als Metaphysik. Wir brauchen hier nicht zu prüfen, ob dies für jede Denkbemühung gilt, auch Beobachtungsweise, die sich an der Unterscheidung von Sein und Nichtsein orientiert. Das besagt vor allem,
für solche im Bereich einer religiösen Weltdeutung. Aber die Vorherrschaft der ontologischen Beobachtungs- daß die Unterscheidung von Sein und Nichtsein immer abhängig ist und abhängig bleibt von einer
und Beschreibungsweise läßt sich schon daran erkennen, daß das Konzept der Paradoxie zur Verteidigung der vorgängigen operativen Trennung, nämlich der von Beobachten (oder Beobachter) und Beobachtetem. In der
eleatischen Ontologie erfunden, also von vornherein als eine zu vermeidende Denkstörung, wenn nicht als Domäne der Ontologie wird man dazu neigen, diese primäre Differenz ontologisch einzuholen, daß heißt: auch
Fehler vorgestellt wurde; und ferner daran, daß die zweiwertige Logik, auf deren Reflexionsblockierungen ihre beiden Seiten, das Beobachten und das Beobachtete, wiederum nach Sein und Nichtsein zu unterscheiden.
1477
sich die Ontologie gestützt hatte, bis in die jüngste Zeit unbefragt vorausgesetzt wurde. Auf diese Weise wird und bleibt die ontologische Welt geschlossen. Auch das Denken und Reden, auch der
Als Ontologie wollen wir das Resultat einer Beobachtungsweise bezeichnen, die von der Unterscheidung lógos, kommt in ihr vor, wenn er ist, nicht jedoch, wenn er nicht ist. Der Beobachter kann sich also, wenn er
Sein/Nichtsein ausgeht und alle anderen Unterscheidungen dieser Unterscheidung nachordnet. Diese Aussagen über sich selbst machen will, nur auf der einen Seite seines Schemas vorsehen, nicht aber als etwas,
1483
Unterscheidung hat ihre unnachahmliche Plausibilität in der Annahme, daß nur das Sein ist und das Nichtsein was "nicht ist". Er muß am Sein teilhaben ("partizipieren"), weil er anders gar nicht beobachten könnte.
nicht ist. In die Logik wird das dann als Gesetz des ausgeschlossenen Dritten übernommen, mit dem Sein und In einem solchen philosophischen Minimalprogramm dominiert das Sein. Es ist, wie es ist. Da es kein
1478
Denken sich wechselseitig Gleichförmigkeit bescheinigen. Auch wenn nur das Sein ist und das Nichtsein Nichts gibt, ist die als Sein oder als Seiendes bezeichnete Realität einwertig gegeben. Sie läßt sich auf eine
nicht ist, muß jedoch die Unterscheidung selbst beachtet werden, und zwar deshalb, weil auf der Ebene des ontisch-ontologische Grundformel zurückführen. Das Nicht konsumiert sich sozusagen selbst. Es kann daher
Seienden/Nichtseienden Verwechslungen möglich sind. unbeachtet bleiben. Als Bezeichnung im Rahmen der Unterscheidung Sein/Nichtsein kann es nur die
Zu Verwechslungen kommt es vor allem, wenn die Kommunikation das Schema "etwas als etwas" Aufforderung "zurück zum Sein" bedeuten. Das Kreuzen der Grenze von Sein und Nichtsein und zurück
zugrundelegt. In dieses Schema können sich Täuschungen einschleichen, indem etwas bezeichnet wird als ein bringt keinen Zugewinn, es ist nichts anderes als ein Wiederauslöschen der Operation. Nur weil man zum
etwas, das es nicht ist, oder vielleicht auch nur: möglicherweise nicht ist. Man kann dies an den Aussagen über Beobachten eine Unterscheidung braucht, muß man für ein Beobachten des Weltseins, der Realität insgesamt,
Frauen, über Rassen, aber auch über Arbeitspersonen oder über religiös besetzte Gegenstände oder Symbole ein Nichtsein postulieren. Das Nichtsein ist ein notwendiges Implikat der Beobachtung des Seins.
veranschaulichen — um nur die verfänglichsten Fälle mit strukturell eingebauter Tendenz zur Deformation zu
nennen. 1479
Zu dieser vor allem im 16. Jahrhundert weidlich ausgenutzten Paradoxie des "Nichts", das etwas, aber eben "nichts" ist,
Um die Gefahren dieser Als-Schematik — Gefahren der Fehlzuordnung ebenso wie Gefahren des findet man viel Material bei Rosalie Colie, Paradoxia epidemica: The Renaissance Tradition of Paradox, Princeton 1966,
Aufdeckens einer Fehlzuordnung — zu bannen, schließt die ontologische Erstunterscheidung ein quasi insb. S. 219 ff.
1480
"Non est nihil neque non est, neque est et non est". Siehe für viele ähnliche Stellen De Deo Abscondito, zit. nach:
1477
Zur Kritik dieser Voraussetzung und zur Forderung einer strukturreicheren Logik siehe Gotthard Günther, insb. die in Nicolaus Cusanus, Philosophisch-theologische Schriften Bd. 1, Wien 1964, S. 299-309 (Zitat S. 306).
den Beiträge(n) zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, 3 Bde. Hamburg 1976-1980, gesammelten Aufsätze. 1481
Vgl. Kap. 1 ....
1478
Das gilt allerdings nicht für alle Fälle, nämlich nicht für Aussagen de futuris contingentibus. Diese müssen mit Bezug 1482
Siehe die Hinweise s.v. Ontologie in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 6, Basel 1984, Sp. 1189-1200.
auf Sein oder Nichtsein als noch unentschieden behandelt werden. Aber dann kann die Logik sich durch eine
1483
Metacodierung "schon entschieden / noch nicht entschieden" weiterhelfen und dafür wiederum das Gesetz des Man vergleiche damit die Möglichkeiten, die er hat, wenn er vom Schema System/Umwelt ausgeht, in dem er sowohl
ausgeschlossenen Dritten in Anspruch nehmen. als interner als auch als externer Beobachter vorgesehen sein kann.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 407 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 408

In der Sachdimension entspricht dieser ontologischen Unterscheidung der Begriff des Dings (= res). "Zwischen" Vergangenheit und Zukunft ist also "Nichts", und dasselbe gilt für andere "Zwischens", so
1489
Ebenso wie die Einheit der Welt ist auch die Eigenständigkeit (Substanzialität) des Dinges durch sein Sein für das, was Teile eines Ganzen voneinander trennt und dadurch zum Ganzen verbindet. Alle Grenzen, alle
garantiert. Auch Einzeldinge können aus sich heraus existieren, weil ihr Sein nur von ihrem Nichtsein Zäsuren, alle "Zwischens" fallen in den Bereich des "Nichts", oder genauer: in den Bereich des ontologisch
unterschieden werden muß und ihr Nichtsein ihnen nichts anhaben kann. Auf der Ebene der Gattungen und (durch die Beobachtungsform des "Seins") ausgeschlossenen Dritten. Es geht also bei genauerer Analyse um
Arten wird dies Prinzip durch die logische Regel ergänzt, daß eine Bezeichnung ihr Gegenteil ausschließt. Ein zwei verschiedene Ausschließungen: um die Ausschließung des Nichts aus dem Sein (plenitudo) und um das,
Pferd kann also kein Esel sein, aber auch ein Grieche kein Barbare und ein guter Mensch kein böser Mensch. was mit dieser Unterscheidung von Sein und Nichtsein ausgeschlossen ist. Die philosophische Ontologie
Es gibt keine Mischformen, und wenn sie vorgefunden oder fabuliert werden, muß man Analyse ansetzen; übergeht dieses Problem typisch mit der Frage, was das "Seiende" — sei es Objekt, sei es Subjekt — "an ihm
1490
oder es sind Monstren, die nur beweisen, daß es so nicht geht. Somit ist das Ding (ebenso wie die Gattung) ein selbst sei". Aber diese Fragestellung hat eigentlich nur den (fragwürdigen) Effekt, Relationen metaphysisch
Seinskonzentrat, das zwar sein eigenes Nichtsein, nicht aber andere Dinge ausschließt. Entsprechend besteht zu deklassieren.
die Welt aus sichtbaren und unsichtbaren Dingen und aus zwischen ihnen bestehenden Beziehungen. Diese (Aus der Sicht einer operativen Systemtheorie, wie sie hier vertreten wird, fällt auf, daß mit diesem
Denkvorgabe der ontologischen Metaphysik wirkt so stark, daß selbst Kant noch vom "Ding an sich" spricht; Zeitkonzept genau das unterdrückt wird, was die Beobachtung von Zeit erst möglich macht: die Gegenwart, in
und sie führt dazu, daß die Problematisierung des Dings, vor allem in der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der allein Beobachtungsoperationen aktualisiert werden können. Wenn Zeit an Hand der Unterscheidung von
sogenannten "Erkenntnistheorie" und speziell im Neukantianismus, auf methodologische Reflexionen Vergangenheit und Zukunft beobachtet wird, dient die Gegenwart als Grenze, also als unbeobachtbare Einheit
1484
beschränkt wird. der Differenz. Zeit wird dann als Differenz der jeweils inaktuellen Zeithorizonte erfahren und damit in der
Mit der Unterscheidung Ding/Erkenntnismethode wird zugleich verdeckt, daß man zuvor schon und Beobachtung von Zeit detemporalisiert — so als ob es Zeit wie ein Ontologicum immer gäbe — es sei denn,
dominierend zwischen Sein und Nichtsein unterschieden hatte. Diese fundierende Asymmetrie bildet den sie selbst habe als tempus ein Anfang und ein Ende.)
Grund für alle anderen asymmetrischen Oppositionen der Tradition, auch für die der normativen und der Nach dieser Verdrängung des Zeitproblems und des Sachproblems der Dinggrenze bleibt "Sein", wenn
ästhetischen Wertung. Immer ist die positive Seite der Unterscheidung die, mit der man etwas anfangen kann, es sich nur von "Nichtsein" zu unterscheiden hat, ein extrem allgemeiner Begriff — ein Medium für alle
weil sie seinsbezogen oder, als Variante des 19. Jahrhunderts, geltungsbezogen gedacht ist. Mit ihr steht man möglichen Dinge oder Formen. Um dem Sein fassbare Realität zu garantieren, muß dann ein Zusatzbegriff
auf sicherem Grund, steht man gut da. So ist die Unterscheidung von gut und schlecht selbst gut, weil sie das wie "Materie" eingeführt werden. Das Sein ist, könnte man also sagen, als Sein indifferent gegen alle Formen,
Schlechte als schlecht ausweist. Wie Louis Dumont gezeigt hat, liegt diese Asymmetrie der Opposition (dieses die es annehmen kann, und insofern kompatibel mit dem Begriff der Schöpfung, durch die erst entschieden
"englobement du contraire") der hierarchischen Weltarchitektur zugrunde und gibt ihr die Möglichkeit, wird, was als Welt zustandekommt und was nicht. Und auch die Zeit ist dann als tempus im Unterschied zu
1485
Vollständigkeit zu beanspruchen. Die Hierarchie ist die "Fülle des Seins". aeternitas, ein Teil dieser Schöpfung. Sie verdankt ihr Sein einem Anfang, einem Ursprung.
Selbst die Analyse der Zeit wird diesem ontologischen Schema unterworfen. Man fragt, von Aristoteles All das gilt auch für das Beobachten und den Beobachter selber, da man auch der Praxis des
1486
bis Hegel , ob die Zeit ist oder ob sie nicht ist — und muß dann in Kauf nehmen, daß diese Frage das Beobachtens nicht das Attribut des Seins verweigern wird. Sie kommt schließlich vor mit all der
Ontologieschema selbst paradoxiert. Ein Verständnis von Zeit kann dann nur noch über eine Auflösung dieser Unbestreitbarkeit, die Descartes zum Ausgangspunkt seines Philosophierens machen wird. Erst recht gilt das
Paradoxie zustandegebracht werden. Das geschieht vor allem mit der Zweitunterscheidung von für alle weiteren Unterscheidungen — etwa die von Zeichen und Bezeichnetem in der traditionellen Semiotik
unveränderlichen und veränderlichen Dingen. Ins Ontologieschema projiziert, hat das Unveränderliche oder die von phýsis (natura) und téchne (ars), die darauf abstellt, ob etwas von sich aus, gleichsam als
Seinsqualität. (Es hätte keinen Sinn, von unveränderlichem bzw. veränderlichem Nichtsein zu sprechen.) Daß Seinsentfaltung, so wird, wie es wird, oder ob es als etwas, das hergestellt sein muß, sowohl sein als auch
Unveränderliches ist, entspannt gleichsam den Beobachter. Er braucht nicht ständig darauf zu blicken, denn es nichtsein kann. Die (für uns) erste Differenz von Beobachter und Beobachtetem ist für dieses Denken eine
gäbe nichts zu entdecken. Er kann das unveränderliche Sein als Weltrahmen voraussetzen und sich dem zweite Differenz, die das Sein artikuliert und es für das Denken reflexiv werden läßt. Deshalb konnte man
Geschehen in der Welt zuwenden. Das erleichtert auch die Beobachtung der Zeit selbst. Man kann eine der annehmen, daß das Denken, indem es das Sein feststellt, sein natürliches Ende erreicht.
Zeit (tempus) entzogene Zeit (aeternitas) annehmen und entsprechend (zeitabhängiges) Schicksal und Das scheint zunächst flächendeckend zu funktionieren. Auch das Alltagsleben rechnet ja nicht mit
1487
(zeitlose) Ordnung unterscheiden. Oder man geht vom (einteilungsfähigen) Begriff der Bewegung aus, nur Löchern im Sein. Was verschwunden ist, muß irgendwo geblieben sein — und sei es in Trümmern, in Staub
um zu erkennen, daß die Zeit nicht einfach Bewegung oder Prozeß oder dialektischer Prozeß ist. Offenbar hat und Asche. Seelen kommen entweder in den Himmel oder in die Hölle. Alles, was unterschieden wird, wird
das, was man identifizieren kann, nämlich die Bewegung, eine andere Seite, die sich der Bezeichnung entzieht. am Sein unterschieden. Die irritierende Gegenfigur des abstrakten Nichts kann außer Betracht bleiben. Sie
Aber die Frage danach verdeckt man sich mit der Unterscheidung bewegt/unbewegt. Erst heute beginnt man mag mythologischen Erzählungen ein Profil geben, Entstehungsgeschichten mit einem "Davor" versorgen,
1488
danach zu fragen, was in dieser Thematisierung von Zeit abwesend bleibt. aber das Miterwähnen dient nur dem Bezeichnen, auf das es allein ankommt.
Der entscheidende Vorzug dieser Primärunterscheidung von Sein und Nichtsein liegt darin, daß man
daraufhin nur noch das Sein (und allenfalls noch auf der Beobachterseite: den Irrtum) in Betracht ziehen muß.
Alle weiteren Unterscheidungen können dann als Einteilungen des Seins behandelt werden. Die Form des
1484
Zur Kritik dieser durch das Ding ausgelösten Unterscheidung, zur Kritik also der Supplement-Funktion von Unterscheidens tritt in sich selbst wieder ein und erscheint auf der Seite des Seins als Einteilung.
Methodologie siehe Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding: Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, Primäreinteilungen nennt man seit Aristoteles mit einem aus der Gerichtspraxis übernommenen Ausdruck
Tübingen 1962, Gesamtausgabe Bd. 41, Frankfurt 1984. Neben einer philosophisch-theoretischen Kritik der Ding- Kategorien (so als ob es um die "Anklage" = kategoría ginge, daß das Sein nicht als Einheit erscheinen könne).
Metaphysik und unabhängig von ihr muß man heute mit Veränderungen rechnen, die durch den Gebrauch von Computern
Die Zeit zum Beispiel wird in die Streckenbegriffen Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft eingeteilt und nicht als
ausgelöst werden. Sie benötigen die Dingreferenz nicht mehr, weil sie vorsehen, daß man mit extrem beschränkten
Wahrnehmungen variablen Zugriff auf eine "virtuelle Realität" gewinnt. stets gegenwärtig, als in der Gegenwart praktizierte Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft
1485
behandelt. Darin liegt eine bemerkenswerte Verharmlosung der Paradoxie des Unterscheidens, eine Auflösung
Siehe Louis Dumont, Homo Hierarchicus: The Caste System and its Implications, London 1970; ders., Essais sur dieser Paradoxie der Einheit des Verschiedenen, in Einteilungen, die den Eindruck einer geordneten Welt
l'individualism, Paris 1983; erweiterte deutsche Übersetzung Frankfurt 1991.
1486
Siehe Physikvorlesung IV,10; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften § 258.
1487 1489
"ordo tempus non exigat, fatum exigat", liest man z.B. bei Hieronymus Cardanus, De Uno Liber, zit. nach Opera Überlegungen dazu bei Leonardo Da Vinci, Notebooks, Engl. Übers. Ausgabe New York (Braziller) o.J., S. 73 f. mit
Omnia, Lyon 1662, Bd. 1, S. 277-283 (278). der dann folgenden (paradoxen) Rücknahme solcher Nichts: "In the presence of nature nothingness is not found".
1488 1490
Siehe Jacques Derrida, Ousia et grammè: note sur une note de Sein und Zeit, in ders., Marges de la philosophie, Paris Siehe nur Hans Friedrich Fulda, Ontologie nach Kant und Hegel, in: Dieter Henrich / Rolf-Peter Horstmann (Hrsg.),
1972, S. 31-78. Metaphysik nach Kant?, Stuttgarter Hegel-Kongress 1987, Stuttgart 1988, S. 44-82.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 409 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 410

hinterlassen — in Einteilungen, die im übrigen mit den Inklusionsprinzipien der Gesellschaft harmonieren, die Beobachtens dazu zwingen, am Sein das Bezeichnete von anderem (und sei es: vom Nichtsein) zu
für jeden Menschen einen bestimmten Platz in der gesellschaftlichen Differenzierung vorsehen. unterscheiden. Man unterscheidet im Sein Denken und Sein und kommt mit Hilfe dieser Unterscheidung zu
Der zeitlich laufende Wechsel der praktizierten Unterscheidungen wird erlaubt (wenn man so sagen darf) den Prämissen der klassischen Logik: zum Satz von der Identität, zum Widerspruchsverbot und zu der
dadurch, daß an der Einheit des Ursprungs festgehalten wird. Der Ursprung wird in einer heute kaum mehr Einsicht, daß die zweiwertige Logik alles Dritte ausschließt (während das Sein nur das Nichtsein ausschließt).
begreifbaren Weise als gegenwärtige Vergangenheit und damit als Maßstab gesehen. Der Anfang, der Grund, Es handelt sich, mit anderen Worten, um eine sehr spezifische Form, den Beobachter zu berücksichtigen
arché und origo, das Prinzip der Prinzipien ist aber letztlich Gott. Dessen Herrlichkeit liegt letztlich darin, daß und ihn in die Welt einzuordnen. Sie vereinfacht Welt- und Gesellschaftsbeschreibungen und entspricht damit
er die Welt der Unterscheidungen schafft und, was Menschen betrifft, als Freiheit zuläßt, ohne selbst den Wirklichkeiten der vormodernen Gesellschaft. So kann man davon ausgehen, daß es ein
unterscheidbar zu sein. Das korreliert genau mit einer Adelswelt, die Herkunft und Tüchtigkeit zur Einheit zu Realitätskontinuum der Welt (und entsprechend dann: der Gesellschaft) gibt, in dem alles, was es gibt, die
bringen, die Tugend wie eine Art Familiengut zu behandeln hat, das sich den Nachkommen kommuniziert, Form des Seienden oder noch genauer: die Form des (sichtbaren oder unsichtbaren) Dings (res) annimmt. Die
auch wenn sie die Freiheit nutzen, um zu versagen. Auch Adel gibt es nur, wenn es Einteilungen gibt, die das Unterschiede der Dinge können als Unterschiede der Wesen gefaßt und kosmologisch geordnet werden. Das
jeweils andere nicht ausschließen — es gibt auch Bauern, Knechte usw. — aber ausschließen, daß etwas ermöglicht die "dihairetische" Aufarbeitung der Welt durch Zuordnung der Individuen zu Arten und
1492
zugleich etwas anderes ist. Gattungen , die ihrerseits wieder unterschieden werden können in solche des Seins und solche des Denkens
1493
Aber — obwohl man nicht vom Beobachter ausgeht, sondern vom Sein, gibt es eine irritierende (partitio/divisio). In der Aufarbeitung von gesellschaftlichen Erfahrungsbereichen, sei es der hellenistischen
1494
Erfahrung, die dann Anlaß geben wird zur Entwicklung einer "Logik". In der Gesellschaft kommt es, gerade Wissenschaft , sei es des römischen Rechts mit seinen vorsichtigen, am Fall und an der Tradition
wenn man Ist-Aussagen zu formulieren hat und Gesagtes auf Seiendes bezieht, zu verschiedenen Aussagen. hängenden Abstraktionen, kommt es bereits zu Perspektiven, die wir als Beobachtung zweiter Ordnung
Über Dasselbe sollte man eigentlich derselben Meinung sein, besonders dann, wenn man das Beobachten als kennzeichnen würden, zumindest zu einer Reformulierung dessen, was als Wissen vorausgesetzt wird. Diese
Seinsweise beschreibt, als Zeichengebrauch oder auch als passives Beeindrucktsein von dem, was sich zeigt. Technik der genos-Abstraktion wird nach Platon dann Dialektik genannt und beherrscht das europäische
Aber die Gesellschaft produziert differierende Meinungen. Die auf Seinsidentität bezogene Form-Denken. Sie liegt der mittelalterlichen Kontroverse von Realismus und Nominalismus zugrunde, die
Beobachtungsweise läßt das nur um so auffälliger hervortreten. Wie kommt es, fragt Plato im Theaitetos, daß überhaupt nur dadurch möglich war, daß man auf beiden Seiten Individuen und Arten bzw. Gattungen
einer etwas für wahr hält, was ein anderer für falsch hält; daß also die Gesellschaft Wahrheit als Falschheit unterschied. Sie beherrscht auch die ramistische "Dialektik" der Frühmoderne ebenso wie die
kommuniziert? Man versucht, den Phänomenbereich durch eine darauf abzielende Unterscheidung zu parallellaufenden Erneuerungen des Platonismus. Aus denselben Prämissen ergab sich auch, daß bis weit in
beschränken, also strenges Wissen (epistéme), in dem es bei einiger Überlegung nur Einstimmigkeit geben die Frühmoderne hinein die Absicht oder die Einbildung eines Menschen, ein anderer zu sein, als Anzeichen
kann (wie die Mathematik zeigt) zu unterscheiden von bloßem Meinungswissen (dóxa), von bloßer von Wahnsinn gedeutet wurden — offensichtlich eine ontologische Bestätigung des hierarchischen Aufbaus
Wahr-Scheinbarkeit, und dann diesen Unterschied wiederum ontologisch einzuführen mit dem evidenten der Gesellschaft. Bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts brach jedoch ein neuer Begriff der Person
Argument: das gibt es eben. Aber damit ist das Kommunikationsproblem nicht völlig gelöst. Man braucht und (Thomas Hobbes, John Hall, Baltasar Gracián) mit diesen Voraussetzungen. Denn Person ist jetzt klug
entwickelt außerdem noch eine Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, auf der man Wahrheitsansprüche kontrollierte Erscheinung, nicht mehr Repräsentation eines Seins, sondern Präsentation eines Selbst, das sich
1495
prüfen kann, also beobachtet, wie jemand beobachtet, der "Ist-Behauptungen" mit Wahrheits- oder für Zwecke des sozialen Verkehrs festlegt. Sie ist Seiendes mit Gedächtnis.
Unwahrheitsindex versieht. Wie man an terminologischen Spuren noch feststellen kann, hat die Logik ihren Um so mehr, wenn es denn auf Präsentation ankommt, muß eine paradoxe Kommunikation vermieden
1491
Ursprung in sozialen, in kommunikativen Problemen. werden. Nur die Rhetorik und vor allem die Poesie können sich noch der Paradoxie annehmen; und das
Da sich Meinungsverschiedenheiten nicht leugnen (und vor allem: in der ausgeprägten Debattenkultur geschieht nun speziell mit dem Hintergedanken, mit Gattungsabstraktionen zu täuschen und die Täuschung zu
1496
der griechischen Stadt nicht leugnen) lassen, kommt man nicht umhin, das Beobachten (das Sagen, das entlarven und dadurch die gesamte Generalisierungstechnik der Theologen und Philosophen in Frage zu
1497
Bezeichnen) zu thematisieren. Das geschieht mit Hilfe der selbstinklusiven Unterscheidung von Sein und stellen. Aber diese Abseitsstellung des Paradoxierens kann auch so verstanden werden, als ob die
Denken, also mit Ausdifferenzierung einer Logik, einer Fähigkeit zum Reden, Sammeln, Ordnen. In beiden Angelegenheit mit dem Durchschauen der Täuschung erledigt sei. Jedenfalls wird die Vorherrschaft des
Fällen handelt es sich um Zwei-Seiten-Formen. Das Seinsschema ist jedoch asymmetrisch angelegt und die
Logik symmetrisch. Das Seinsschema besitzt nur einen Wert mit Designationsfunktion. Der andere Wert (die
1492
Außenseite der Form) bezeichnet nichts. In der Logik besteht dagegen ein Umtauschverhältnis zwischen den Als Referenz hierfür wird normalerweise angegeben: Platon Sophistes 253 D - E. Dort bewußt als téchne eingeführt
beiden Werten wahr und unwahr. Sie ist symmetrisch, man könnte sagen: seinsmäßig symmetrisch gebaut. (253 A), und im übrigen mit dem Paradoxievermeidungsgebot, daß man vermeiden müsse, zu sagen, dieselbe Art sei eine
andere bzw. eine andere sei dieselbe (formuliert mit tautòn/héteron in 253 D).
Diese symmetrische Zweiwertigkeit steht jedoch voll im Dienst der (Erkenntnis der) ontologischen
1493
Einwertigkeit. Sie definiert die Freiheit des Beobachtens als Möglichkeit korrigierbaren Irrens (und nicht etwa Hierzu ausführlich Dieter Nörr, Divisio und Partitio: Bemerkungen zur römischen Rechtsquellenlehre und zur antiken
transzendental oder dialektisch oder konstruktivistisch). Um mit Gotthard Günther zu formulieren: die Wissenschaftstheorie, Berlin 1972. Überhaupt darf man anmerken, daß die römische Jurisprudenz eines der
bemerkenswertesten Bewährungsfelder dieser genus-Technik gewesen ist. Siehe dazu auch Aldo Schiavone, Nascita della
Elementarkontextur der Weltbeobachtung ist sowohl einwertig als auch zweiwertig, sowohl asymmetrisch als
giurisprudenza: Cultura aristocratica e pensiero giuridico nella Roma tardo-repubblicana, Bari 1976, insb. S. 92, 94ff.
auch symmetrisch; aber diese Unterscheidung ist im Sinne einer hierarchischen Opposition geregelt. Das
heißt: die Asymmetrie hat als Ordnungswert den Vorrang — so wie der Adel vor dem Volk oder die Stadt vor
dem Land. Man muß deshalb unterscheiden zwischen dem Gebrauch von Zwei-Seiten-Formen in allem 1494
Speziell hierzu Geoffrey E.R. Lloyd a.a.O. (1979); ders., Science, Folklore and Ideology: Studies in the Life Sciences in
Beobachten (also der schlichten Tatsache, daß man etwas nur bezeichnen kann, wenn man es unterscheiden Ancient Greece, Cambridge Engl. 1983.
kann) und der zweiwertigen Logik, die über einen positiven und einen negativen Wert verfügt und eine 1495
Persona dicitur ens, quod memoria sui conservat, liest man bei Christian Wolff, Psychologia rationalis § 741, zit. nach
Bezeichnung als wahr oder als falsch bezeichnet bezeichnen kann. Das heißt nicht, daß die klassische Logik einem Manuskript von Peter Fuchs.
von ontologischen Prämissen abstrahiert, daß sie ontologiefrei argumentieren würde. Sie hat vielmehr ihr 1496
Siehe die raffinierte Aufteilung dieses Vorgehens auf zwei Bücher bei Ortensio Lando, Paradossi, cioe sententie fuori
Problem genau darin, daß ihr Seinskonzept es ihr verbietet, demselben Gegenstand sich widersprechende
del commun parere, Vinegia 1545, und ders., Confutatione del libro de paradossi nuovamente composta, in tre orationi
Prädikate zuzuordnen. Von ihr aus gesehen ist das Sein einwertiges Sein, mag auch die Praxis des distinta o.O. o.J.
1497
Hierzu A.E. Malloch, The Technique and Function of the Renaissance Paradox, Studies in Philology 53 (1956), S. 191-
1491
Siehe Ernst Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen, Göttingen 1965. Zur Entstehung der Logik aus einer 203; Rosalie L. Colie, Paradoxia Epidemica: The Renaissance Tradition of Paradox, Princeton 1966; Michael McCanles,
"politisch" (städtisch) bedingten Debattenkultur vgl. auch Geoffrey E.R. Lloyd, Magic, Reason and Experience: Studies in Paradox in Donne, Studies in the Renaissance 14 (1967), S. 266-287; F. Walter Lupi, Ars Perplexitatis: Etica e retorica del
the Origin and Development of Greek Science, Cambridge 1979, insb. S. 246 ff. discorso paradossale, in: Rino Genovese (Hrsg.), Figure del Paradosso, Napoli 1992, S. 29-59.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 411 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 412

ontologischen Einteilens und Generalisierens dadurch nicht erschüttert, und Gesellschaft (im heutigen Sinne) Unterscheidungen nachdenken. Die Skepsis bezweifelt ganz generell (und mit zunehmenden
ist nur auf der Basis der Gattung der Menschen konzipierbar. Erst Kant vermag diesem traditionellen Denken Aufmerksamkeitserfolg in der frühen Neuzeit), daß es unbezweifelbare Kriterien gebe, nach denen man die
in Arten und Gattungen "keine merkliche Lust" mehr abzugewinnen (das historische Verdienst "zu ihrer Zeit" Werte wahr und unwahr dem Sein bzw. Nichtsein zuordnen könne — ein "performativer Selbstwiderspruch",
1498
anerkennend). Und dann hat man auch den Begriff der Dialektik frei für einen neuen, zeitbezogenen wie man heute sagen würde, da die Skepsis sich damit selber trifft. Auch das, was als Protest gegen die
Gebrauch. Ausarbeitungen der Ontologie und vor allem gegen die These eines stabilen Essenzenkosmos auftritt, denkt
Der Verzicht auf intellektuelle Selbstgenügsamkeit im Gebrauch von Klassifikationen als Form der immer noch in Abhängigkeit von einem Primat der Unterscheidung von Sein und Nichtsein.
Behandlung von Unterscheidungen ist mehr als ein Aus-der-Mode-Kommen; er zeigt an, daß eine andere Immer hat die Ontologie, und darauf weisen uns ihre logischen Schwierigkeiten hin, den Sinn gehabt, die
Gesellschaft einen anderen Umgang mit Unterscheidungen erfordert. Unterscheidungen übernehmen jetzt die letzte Weltkonvergenz der Beobachtungen, nur Irrtümer ausgenommen, sicherzustellen. Wie kann man aber
Funktion, die Beliebigkeit im Übergang vom einen zum anderen einzuschränken; sie verwandeln sich in auf Einheit insistieren, wenn es unvermeidlich ist, zwischen Sein und Nichtsein zu unterscheiden? Niemand
1502
Regulative zur Behandlung von Kontingenzen; sie setzen an die Stelle eines Nebeneinanders in einer wird mehr wagen, das Sein als "Prinzip" oder gar als "Seele" der Welt zu behaupten. An die Stelle treten
artenreichen und deshalb schönen Welt eine Nichtbeliebigkeit in der Abfolge, also eine Vorstellung von Begriffe wie "Unmittelbarkeit" des Weltverhältnisses oder "Existenz", die Selbsterfahrungen meinen, die nicht
geregelter Sukzession, die zugleich Reversibilität und Korrigierbarkeit einschränkt. Die großen auf Zeichengebrauch, also nicht auf Unterscheidungen à la Sein/Nichtsein angewiesen sind. Zum Abschluß
Klassifikationen der Biologie und der Chemie dienen noch als Einteilungen, aber wecken alsbald auch das mag man, noch im Kontext von Metaphysik, die Anwesenheitsprämisse und den Logozentrismus der
Interesse an der Entstehung der unterschiedlichen Arten. Und das motiviert dann auch den neuen, Tradition (also: Einwertigkeit und Zweiwertigkeit) ablehnen und eine Gegenbegrifflichkeit ausarbeiten, deren
zeitbezogenen Begriff von Prozeß, der um 1800 aus teils juristischen, teils chemischen Vorgaben auf die Status jedoch unklar bleibt und die eigentlich nur zu verstehen ist, wenn man weiß, wogegen sie sich richtet.
1499
Weltgeschichte übertragen wird. Radikalisiert man aber das Konzept des unterscheidungsabhängigen Beobachtens, findet man sich in
Nicht unabhängig vom Denken in Arten und Gattungen und dem entsprechenden Generalisierungsstil einer anderen Welt. In dieser Welt geht es darum, Unterscheiden und Bezeichnen als Momente einer
erlaubt die ontologisch konstituierte Metaphysik den Gebrauch von Analogien (analogia entis) mit ihren einheitlichen Operation sicherzustellen. Das geschieht, indem man freistellt, wovon das jeweils Bezeichnete
1500
typisch konservativen, weltbewahrenden und (in einem religiösen Sinne) weltverkehrenden Implikationen. unterschieden wird, und gerade den Wechsel der benutzten Unterscheidungen als dasansieht, was die Welt als
1503
Der Naturbegriff deckt alles ab, was nicht hergestellt ist: auch den Menschen, auch die soziale Ordnung. Er Bedingung dieser Möglichkeit konstituiert. Man muß dann ein laufendes "recutting the world" zulassen
enthält, wir werden darauf zurückkommen, Naturdinge, die ihre eigene Natur kennen — eben Menschen und und in den Begriff der Welt einarbeiten. Die Zwei-Seiten-Form des Seins wäre dafür dann nur der
andere höhere Wesen. Alles Erkennen hat, zumindest in der aristotelischen Tradition, ein natürliches Ziel (und allgemeinste Begriff. Dann kann man auch noch fragen, wie dieser Wechsel sozial so kontrolliert wird, daß die
Ende) in der Feststellung des Seins. Dasselbe gilt für poietisches wie für praktisches Handeln. Auch dies Autopoiesis der Gesellschaft möglich bleibt; und man kann an Hand dieser Frage den Wechsel der
überzeugt auf der Grundlage eines Seinskontinuums und gibt der Logik nur die Funktion, Irrtümer zu Weltbegriffe, der Zeitbegriffe, der Rahmenvorstellungen für Dinge und für die soziale Ordnung mit
korrigieren, die sich daraus ergeben, daß jemand etwas für wahr hält, was unwahr ist oder umgekehrt. Das Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur korrelieren — unter der einzigen unabdingbaren Bedingung: daß
Schlechte wird auf die Kategorie des Irrtums zurückgeführt, denn seiner Natur nach strebt der Mensch nach die Autopoiesis der Kommunikation erhalten bleibt.
dem Guten. (Spinoza wird dies, schon in der Neuzeit, bekanntlich umkehren und meinen, der Mensch halte für Jetzt wird die Unterscheidung Sein/Nichtsein als fundierende Unterscheidung (primary distinction)
gut, wonach er mit klarer und deutlicher Vorstellung strebe; aber auch in der Umkehrung bleibt der ersetzt, und zwar ontologisch völlig unplausibel ersetzt durch die Unterscheidung von innen und außen oder
Zusammenhang erhalten). Selbst eine noch so weit getriebene Auflösung des Seins ins einzeln Seiende, etwa Selbstreferenz und Fremdreferenz des Beobachters. Denn erst muß, nach der neuen Version, ein Beobachter
in der Monadologie von Leibniz, verläßt sich noch auf eine ontologische Rückversicherung in Form der erzeugt sein, bevor er die Unterscheidung Sein/Nichtsein anwenden kann. Aber es gibt keine metaphysische
1504
berühmten prästabilierten Harmonie; während in einer evolutionären Kosmologie die Kompatibilität sich nicht oder logische Regel für die Wahl einer Ausgangsunterscheidung , es gibt hierfür nur
mehr aus dem Sein sondern, qua Evolution und qua Aussortierung des Unpassenden, sich nur noch aus der gesellschaftsgeschichtliche Plausibilitäten und darunter in der Neuzeit ein Interesse an einer De-
1501
Geschichte ergibt. ontologisierung der Welt.
Es gibt auf dieser Ebene der Ausarbeitung durchaus Gegenpositionen. Aristoteles selbst nimmt, wie Bei allen Perlen der Philosophie, die man auf diesem Gebiet bewundern kann, wird man sich als
bereits bemerkt, die Zukunft aus, über die gegenwärtig noch keine Urteile über Wahrheit oder Unwahrheit von Soziologe fragen, welche ursprüngliche Verschmutzung sie erzeugt haben mag. Es dürfte wenig Erfolg
Aussagen möglich sind (aber dies, ohne in diesem Zusammenhang Freiheit zu thematisieren, wie es uns versprechen, wollte man in der Manier der älteren Wissenssoziologie nach "dahinterstehenden Interessen"
naheliegen würde). Auch am anderen Ende der Zeitdimension, in der Frage des Ursprungs (origo) kommt es fragen. Das liefe letztlich auf die empirisch kaum auflösbare Tautologie hinaus, daß derjenige, der etwas
zu Paradoxien, denn das "Sein" des Ursprungs kann nicht festgestellt werden, ohne daß es zu der Frage behauptet, auch daran interessiert ist, es zu behaupten. Wir greifen deshalb auf die
kommt, was vorher war. Ferner findet man in der Tradition prinzipiell dualistische Weltsichten, die die differenzierungstheoretischen Analysen des vorigen Kapitels zurück. Sie zeigen, daß sowohl
primäre Sekundäreinteilung nach Sein und Nichtsein auf Moral beziehen, also kosmologisch himmlische und Zentrum/Peripherie-Einteilungen als auch hierarchische Ordnungen Positionen im Zentrum oder an der Spitze
höllische Mächte unterscheiden, und Philosophen können dann über das Verhältnis dieser beiden ausweisen, von denen aus die Welt und die Gesellschaft konkurrenzfrei beschrieben werden können. Die dort
überzeugenden Entwürfe sind ontologisch plausible Seinsentwürfe. Sie können in der Kommunikation
Autorität in Anspruch nehmen. Dort wird die Welt, wird die Gesellschaft mit all ihren Undurchschaubarkeiten
1498
Kritik der Urteilskraft, Einleitung VI. repräsentiert und von da aus kann mit Durchsetzungserfolg über Wahrheit und Irrtum disponiert werden. Man
1499
braucht nicht so weit zu gehen und eine allgemeine Akzeptanz der Weltsichten der städtischen oder der
Vgl. dazu Kurt Röttgers, Der Ursprung der Prozeßidee aus dem Geiste der Chemie, Archiv für Begriffsgeschichte 27
(1983), S. 93-157.
adeligen Kommunikationsweise behaupten. Es mag durchaus sein, daß südchinesische Fischersleute nie etwas
1500
von konfuzianischer Ethik oder solche auf den Outer Hebrides nie etwas von der Weltarchitektur des Thomas
Zu griechischen (und älteren) Ursprüngen vgl. Geoffrey E. R. Lloyd, Polarity and Analogy: Two Types of von Aquino gehört haben. Aber die Ontologie ist (im Vergleich zu allem, was wir uns heute an Physik und an
Argumentation in Early Greek Thought, Cambridge Engl. 1966.
1501
Frühe Versionen dieser geschichtlichen Begründung findet man in der Jurisprudenz, gerade hier aber bezogen auf eine
1502
durch Erfahrung, Gedächtnis und rationales Urteil gelenkte fachliche Begrifflichkeit. Siehe vor allem Matthew Hale, A So in der Renaissancespekulation eines Girolamo Cardano. Vgl. im Folgenden Anm. ...
History of the Common Law, posthum 1713, zit. nach der Neuausgabe Chicago, 3. Aufl. 1971. Vgl. auch: Reflection by the 1503
Diese Formulierung bei Richard N. Adams, Energy and Structure: A Theory of Social Power, Austin 1975, S. 281.
Lrd. Cheife Justice Hale on Mr. Hobbes. His Dialogue of the Lawe, gedruckt in: William Holdsworth, A History of the
1504
English Law, 3. Aufl. 1945, Nachdruck London 1966, Bd. V, Appendix III, S. 500-513. Auf eine entsprechende Siehe zur Gleichrangigkeit einiger Möglichkeiten (darunter internal/external und is/is not) Philip G. Herbst,
Naturgeschichte wird man noch hundert Jahre warten müssen. Alternatives to Hierarchies, Leiden 1976, S. 88 f.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 413 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 414

Logik leisten) sehr nahe an Alltagsplausibilitäten gebaut — nur schöner, festlicher, nachdenklicher. Sie dessen, was jenseits der Grenze liegt. Alles wird vom Standort aus, von innen her gesehen und nicht in der
erlaubt es, ja erzwingt es durch die Bindung an eine zweiwertige Logik, weiteres Fragen einzustellen, wenn Weise eines Beobachters, der jede Grenze als Zwei-Seiten-Form sieht.
das Sein erreicht ist — sei es in den Besonderheiten adeliger oder "ziviler" Lebensführung, sei es in den Die Dominanz dieses Schemas eines aus Teilen bestehenden Ganzen ist nur verständlich, wenn man
offensichtlichen Unterschieden des Lebens auf dem Lande und in der Stadt. Man kann mithin berücksichtigt, daß dabei an "Natur" gedacht war, und dies in mehrfacher Hinsicht. Als Natur waren die Teile
wissenssoziologisch der Hypothese eines solchen Zusammenhangs von Semantik und Sozialstruktur auf gedacht, aus denen das Ganze zusammenwächst, also insbesondere die individuellen Menschen als denkende
Grund gewisser Anfangsplausibilitäten weiter nachgehen. Aber das überzeugendste Argument ist vielleicht, Körper, die in der Stadt zusammenleben. Als Natur galten aber auch die Einteilungen selbst, also die
daß die Änderung der Sozialstruktur in Richtung auf funktionale Differenzierung erst Risse in, dann den Unterscheidungen von Mann und Frau, Herr und Sklave, Bürger und Einwohner, Stadt und Haus, natürlicher
vollständigen Zusammenbruch der ontologischen Metaphysik ausgelöst hat — selbst wenn es sogar unter Reichtum und Geld, Perfektion und Korruption. Die Natur teile die Aufgaben und die Plätze in der
1507
Philosophen auch heute noch Fischersleute geben mag, die davon nie etwas gehört haben. Gesellschaft zu, und Gerechtigkeit sei daran zu messen, daß sie dies beachte. Die Vorstellung, solche
Unterschiede seien durch die Natur gegeben, entzog sie nicht nur dem Zweifel, sondern schloß auch die Frage
1508
aus, wie die Gesellschaft ihre eigene Einheit produziere. Die Natur wuchs auf diese Weise in das
gesellschaftliche Leben hinein.
V. Die Semantik Alteuropas II: Das Ganze und seine Teile Die Natur enthält Teile, die ihre eigene Natur kennen (und verkennen) können: die Menschen. Ihnen wird
durch ihre Natur Selbsterkenntnis abverlangt. Aber Selbsterkenntnis zielt nicht auf die Faktizität der
Für jede Beschreibung von Selbstbeschreibungen (wie für jede Beobachtung von Beobachtungen) ist es individuellen Subjektheit, die sich selbst genügt, sondern über eine analogia entis auf das Wesen der eigenen
wichtig, darauf zu achten, mit welchen Unterscheidungen gearbeitet wird. Zu den wichtigsten Natur als einen Mikrokosmos im Makrokosmos, als imago Dei, als Widerspiegelung der Weltseele in der
1509
Unterscheidungen, mit denen im Anschluß an Aristoteles (und an eine vermutlich umfangreiche Diskussion individuellen Seele, als Symbol der Einheit von Gott und Kreatur in der Kreatur. Die Ethik kann deshalb
seiner Zeit) die alteuropäische Gesellschaft sich selber beschreibt, gehört die Unterscheidung des Ganzen von die Metapher des Spiegels verwenden — nicht um die Faktizität zu verdoppeln, sondern um den Menschen
seinen Teilen. Dies Schema könnte direkt durch die Erfahrung des Lebens vieler Menschen in der Stadt oder mit dem zu konfrontieren, was er nach Maßgabe seiner sozialen Stellung eigentlich ist, aber ohne Spiegel
1510
auch durch die handwerkliche Produktion komplexer Objekte, zum Beispiel von Schiffen, motiviert gewesen nicht sehen kann. Auch die Vernunft ist danach Natur (des Menschen), und zwar die Form, mit der die
sein. Es leistet jedenfalls eine geniale und höchst erfolgreiche Auflösung der Paradoxie einer Einheit, die Natur sich selbst einschränkt.
zugleich Vieles und Eines ist (unitas multiplex). Die Paradoxie wird auf zwei Ebenen verteilt, die Die Gesellschaft war mithin der Sonderfall einer Natur, die ein Beobachtungsverhältnis zu sich selbst
auseinandergehalten werden, ohne daß die Einheit dessen, was auseinandergehalten wird, thematisiert werden herstellen kann (und die Begründung dafür war: weil sie aus Menschen besteht). Hierfür gab es die übliche
1505
müßte. Die eine Ebene wird durch das Ganze gebildet, die andere durch die Teile. Die Metaeinheit dieser Doppelform: Handeln (Wille) oder Erleben (Vernunft), die die maßgebenden Kontroversen stimulierte. Man
beiden Ebenen, die Einheit ihrer Differenz, wird nicht gesondert expliziert. Das Problem der Einheit von konnte sich das Selbstverhältnis als Herstellung von Gesellschaft denken, dann kam man zu Theorien über
Identität und Differenz wird vielmehr verdeckt durch die Aussage: "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Gewalt oder über Vertrag als "Ursprung" von Gesellschaft. Dabei waren zunächst stadtpolitische Verhältnisse
Teile". Das mysteriöse "mehr" zeigt einen Explikationsbedarf an, der im Sinne eine Rechtfertigung der und mit ihnen die in der Stadt (und nicht auf dem Lande) üblichen Einteilungen vorausgesetzt gewesen. Diese
sozialen Ordnung und ihrer Repräsentanten genutzt werden kann. Man kann dann in der Transzendentalien- Voraussetzung hatte jedoch schon zu römischen Zeiten ihre Grundlage verloren — zunächst mit der
Lehre die Einheit in den Dingen wie in der Welt wie als Gott positiv bewerten, sie in die Reihe unum— verum Ausdehnung des Stadtbürgerrechts auf alle Bürger anderer Städte, sodann mit der Geschichte der territorialen
— bonum — pulchrum einsetzen und sie vom Gegenfall einer bloßen multitudo unterscheiden. Wenn Gott Expansion, Verteidigung, schließlich Teilung des römischen Reiches (das aber immer noch als imperium =
sich in die Welt und die Welt in die Dinge hineincopiert, gibt es überall Einheit. Aber um das sagen Herrschaftsgewalt bezeichnet wurde). Der stadtpolitische Bezug von "politisch" wird allmählich vergessen
(unterscheiden, bezeichnen) zu können, braucht man eine Grenze mit einer anderen Seite — eben bloßer und der Mensch in seiner Natur nicht mehr als politisches, sondern als soziales Wesen verstanden. Das führt
Vielheit. in den Schulen zu einer neuartigen Unterscheidung von Politik und Ethik.
Unter dem Gesichtspunkt des Werdens betrachtet, bietet dieses Schema zwei Möglichkeiten. Geht man In seiner Natur — denn das ändert zunächst nichts an der Vorstellung, der Mensch sei durch seine Natur
von den Teilen aus, kann man ihnen eine Tendenz, ein Streben zur Einheit zuschreiben. Geht man von der bestimmt. Die Situation bleibt auch dadurch unentscheidbar, daß der Hauptkonflikt des Hochmittelalters, der
Einheit aus, entfaltet sich das Ganze in Teile; man kommt dann zu einer Emanationstheorie. Das Thema bleibt von Kaiser und Kirche, nicht territorialisiert werden kann. Gerade dieser Konflikt regt aber die Entwicklung
kontrovers (etwa auf der Linie Aristotelismus/Platonismus), weil im Ausgangsschema beide Möglichkeiten einer besonderen Lehre von Kollektivkörpern (universitates) an, auf die die Vorstellung naturgemäßer
1506
angelegt sind. Die Paradoxie entfaltet sich in den Unterschied von eher mechanistischen oder eher
animistischen Weltbeschreibungen.
Die Unterscheidung des Ganzen und seiner Teile lenkt den Blick auf die Innenverhältnisse des Ganzen.
Sie sind es, die der Paradoxieauflösung dienen. Die Ungleichheit der Teile kann akzeptiert, ja geradezu als 1507
So wird Digesten 1.1.10.1. (iustitia est constans et perpetura voluntas ius suum cuique distribuendi) in der Glossa
Harmonie gefeiert werden, weil die Teile auch gleich sind, nämlich insofern gleich sind, als sie derselben ordinaria (Irnerius) auf seine Voraussetzungen hin interpretiert. Dazu Gaines Post, Studies in Medieval Legal Thought,
Ganzheit angehören und ihr "dienen". Die Außenverhältnisse bleiben demgegenüber relativ unartikuliert. Sie Princeton 1964, S. 540 mit Abdruck der Glosse.
können in einer nicht weiter reflektierten Weise durch Wiederholung des Schemas, durch Hinweis auf ein 1508
Bei allen Vorbehalten gegenüber "Erstmals"-Aussagen kann man hier vielleicht doch sagen: Erstmals wird
umfassendes Ganzes beschrieben werden. Nur einem beharrlichen Weiterfragen stellt sich das Problem eines Giambattista Vico diese Frage stellen, und das ist dann schon 18. Jahrhundert.
letzten Randes der Weltsphäre. Aber diese Frage kann dann an die Religion abgegeben und im Schema von 1509
Vgl. M.-M. Davy, Essay sur la symbolique romane, Paris 1955, S. 24 ff.
Immanenz/Transzendenz weiterbehandelt werden. Und es gibt auch keine Begrifflichkeit für die Bezeichnung
1510
Siehe ausführlicher Herbert Grabes, Speculum, Mirror und Looking Glass: Kontinuität und Originalität der
Spiegelmetapher in den Buchtiteln des Mittelalters und der englischen Literatur des 13. bis 17. Jahrhunderts, Tübingen
1973. Vgl. auch Gustav Friedrich Hartlaub, Zauber des Spiegels: Geschichte und Bedeutung des Spiegels in der Kunst,
1505 München 1951. In einer langen Verfallsgeschichte dient die Metapher des Spiegels zunächst als vanitas-Symbol (was
Auch dies kann freilich geschehen. Siehe z.B. die komplizierten begrifflichen Bemühungen von Hieronymus Cardanus,
voraussetzt, das ornatum/ornato nicht mehr im Sinne der älteren Rhetorik als Herausstellen des Wesentlichen verstanden
De Uno Liber, zit. nach Opera Omnia, Lyon 1663, Bd. 1, S. 277-283.
wird, sondern nur noch als Zierrat) und schließlich als bloßes Kompensat für nicht mehr funktionierende interne
1506
Siehe z.B. das Bewußtsein einer Option bei Cardanus a.a.O. S. 279: "non ergo tendunt in unum, sed ab uno procedunt" Kontrollen: "Für Weltleute ist der Spiegel noch das einzige Gewissen, das ihnen ihre Fehler vorhält", wie Jean Paul, Die
und die Begründung: beim Ausgang von den Teilen käme es zur aberratio. unsichtbare Loge, zit. nach Werke Bd. 1, München 1960, S. 7-469 (178) es sieht.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 415 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 416
1511 1512
Bestimmtheit übertragen werden kann. Seit Johannes von Salisbury's Policraticus gibt es eine auf daß ohne höhere Fürsorge für ein Ganzes lokale, besonders strukturierte Entitäten (Atome, Sonnen,
Selbsterkenntnis der eigenen Natur abstellende Version, die in der Form einer Organismus-Analogie gearbeitet Lebewesen usw.) entstehen können, die dann Anpassungsbedingungen setzen für andere Entitäten dieser Art.
ist und die Ursprungsfrage als Angelegenheit der Schöpfung behandelt. Das erlaubt es, die Unterscheidung Die Trennung der beiden Beschreibungsebenen Ganzes und Teile erfordert das Zugeständnis, daß das
eines natürlichen (perfekten) und eines korrupten Zustandes der Natur auf den politischen Körper zu Ganze auf der Ebene seiner Teile nicht nochmals vorkommen kann. Das führt, und auch dies ist ein deutlicher
übertragen und zur Bestätigung bzw. Kritik politischer Herrschaft zu verwenden. Beide Versionen des Beleg für die Kreativität von Paradoxieauflösungen, zu der Frage, wie denn das Verhältnis des Ganzen zu
Selbstverhältnisses — artifiziell bzw. natürlich — leben wechselseitig von ihrer Differenz. Das blockierte jede seinen Teilen zu denken sei. In Übereinstimmung mit den Plausibilitäten einer stratifizierten
Möglichkeit, Gesellschaft als autopoietisches System zu beschreiben. Dennoch waren für die Gesellschaft Gesellschaftsordnung und eines organisierten Stadtwesens diktiert Aristoteles: "In allem nämlich, was aus
ausreichende Freiheitsgrade eingebaut. Sie lagen einmal darin, daß die Natur — ihrerseits ein Begriff des mehreren Teilen besteht und aus diesen zu einer gemeinsamen Einheit (hén ti koinón) erwächst, sei es nun aus
zeitlichen Werdens — nicht auch die Zeitpunkte menschlichen Handelns bestimmte; und zum anderen darin, zusammenhängenden oder aus getrennten Teilen, tritt immer auch ein Regierendes (to árchon) und ein
daß die Natur sich nicht ausnahmslos durchsetzte nach der Art der modernen naturwissenschaftlichen Regiertes (to archómenon) hervor." (Pol. 1254a 28-31). Aristoteles beruft sich dafür massiv auf Natur,
Gesetze, sondern selbst der Korruption unterlag. Beides ist zwar Natur, aber während das Feuer immer heiß Notwendigkeit und Nützlichkeit und läßt als Argument der Gerechtigkeit angesichts dieser Ungleichheit nur
ist, wenn es brennt, und die brennbaren Dinge immer verbrennt, erreicht der Adelige nicht immer die seiner gelten, daß es die besseren Teile sind, die regieren. Später wird man von maiores partes, sanior pars, valentior
Natur entsprechende Perfektion, und dies, obwohl die Natur immer die Richtung vom Imperfekten aufs pars etc. sprechen und behaupten, daß die schichtmäßigen Qualifikationen dieser Teile mit Moral in Einklang
1513
Perfekte nimmt. Das, was durch Natur wird, kann daher im ethisch-politischen Zusammenhang der stehen. Selbst "communalistisch" orientierte Korporationstheorien, die sich an Stadtverfassungen des
Gesellschaft als Gabe verwendet werden, und nur in dieser Hinsicht, nur in den Bedingungen für das Mittelalters orientieren, setzen mit Begriffen wie populus oder civis oligarchische Strukturen voraus. In der
Erreichen oder Verfehlen der eigenen Perfektion ist der Mensch frei und die politische Gesellschaft autark. Formulierung der Dialogfigur des "Philosophen" in einem Text von Salamonius tritt an die Stelle der
1515
Der Naturbegriff verdeckt auf diese Weise, daß das Problem der Einheit des Vielen und Verschiedenen "argumentatio de toto ad se ipsum" die "argumentatio de parte ad partem". Die "Eminenz" der höheren
1516
ebenso wie das Problem der Verwendung bestimmter und nicht anderer Unterscheidungen nicht gelöst, ja Teile läßt sich kosmologisch als naturtypisch belegen , und das Bild einer Pyramide erlaubt es zusätzlich,
nicht einmal gestellt, sondern in gegebener Form hingenommen wird. In einer parallelgeführten Kosmologie die oberen Teile noch von der Spitze der Pyramide zu unterscheiden, die keiner der Seiten der Pyramide
kann dasselbe Problem anders, nämlich in der Form eines erzählbaren Mythos, in der Form einer zugerechnet werden kann und so in gewisser Weise zum Ganzen gehört, aber nicht eigentlich Teil des Ganzen
Emanationsmythologie gelöst werden. Die Enneaden Plotins lehren zum Beispiel, daß die Einheit, das ist.
summum ens, die Differenz von Einheit und Vielheit aus sich entläßt. Emanation wird dabei nicht als Man sieht: die Unterscheidung Ganzes/Teil wird durch die Unterscheidung oben/unten, also durch einen
Erzeugung von etwas Neuem verstanden, und schon gar nicht als Produktion, sondern als Entfaltung des Hinweis auf Hierarchie ergänzt und interpretiert. Die Paradoxieauflösung läuft über eine Mehrheit von
Ursprungs, als Werden von etwas, das schon ist. Die Naturphilosophie der Spätrenaissance stellt dieses hintereinandergeschalteten Unterscheidungen und gewinnt mit jedem Schritt sowohl Unsichtbarkeit als auch
Problem noch einmal in aller Schärfe und postuliert ein genau darauf angesetztes wirkmächtiges Prinzip der Plausibilität. Mit der Abstraktion der Zusatzunterscheidung wird verdeckt, daß es sich bei dem
1514
Einheit der Welt nach dem Paradigma der Seele. Gleichzeitig laufen jedoch bereits Bemühungen an, die oben/unten-Schema sowohl um eine Inklusionshierarchie (Adel und Volk sind Teile des Ganzen) als auch um
Einheit der Welt als ein dynamisches Prozessieren von Differenzen zu begreifen, für das Gesetze gesucht eine auf eine Ämterorganisation gegründete Weisungshierarchie handeln kann.
werden müssen. Damit wird die Problemstellung in die so erfolgreichen empirisch-mathematischen Der Transformation des Einheitsparadoxes in die Lehre von der Rangordnung der Teile entspricht eine
Naturwissenschaften überführt. weitere, recht verwunderliche, ebenfalls aristotelische Lehre, nämlich daß eine Ordnung, die aus perfekten und
Mit der Unterscheidung des Ganzen von seinen Teilen wird die Einheit des Gegenstandes, sei es die weniger perfekten Teilen bestehe, zum Beispiel aus Männern und Frauen perfekter sei als eine Ordnung, die
1517
Welt, sei es die Gesellschaft, um den es zunächst geht, nur dupliziert, also zweimal beschrieben. Sie ist nur aus perfekten Teilen bestehe. Im Mittelalter wird man dann sagen, daß eine Welt, die Engel und Steine
einerseits das Ganze und andererseits die Summe der Teile, deren Zusammenwirken jenen Mehrwert enthalte, sei perfekter als eine Welt, in der es nur Engel gebe. Auch hier ist dann ein semantischer
produziert, demzufolge sie ein Ganzes sind. Zugleich wird verdeckt, daß es sich um eine Doppelbeschreibung Ausgleichsmechanismus eingebaut: Gerade die Imperfektheit und natürliche Schwäche der Frauen läßt ihre
desselben Phänomens handelt, und dies muß unsichtbar bleiben, weil anderenfalls die Paradoxie offen zu Tage Tugend um so strahlender und rühmenswerter erscheinen, denn sie muß sich unter ungünstigeren natürlichen
1518 1519
träte. Erst die Mythologie der "invisible hand" wird dies Problem direkt bezeichnet, aber dann mit einer Bedingungen bewähren. Ja selbst das Übel hat, wenngleich nur per accidens, einen guten Sinn. Die
Metapher, die selber paradox ist. Miserabilität des Miserablen wird auf diese Weise gleich mitgerechtfertigt. Sie ist die notwendige andere Seite
Auch diese Metapher setzt noch voraus, daß das Problem in der Aufgliederung des Ganzen in Teile liegt. der Form.
Das führt vor die Frage, wer diese Aufgliederung vollzieht und verantwortet. In dieser Hinsicht verweist das Den Reichtum von Anschlußunterscheidungen, die vor allem durch die zunehmend rechtliche Fixierung
Schema Ganzes/Teil auf eine höhere Instanz, auf einen umfassenden Naturbegriff oder auf den Schöpfer. Das der römischen und dann der mittelalterlichen Sozialordnung bedingt waren, können wir nur noch andeuten.
Schema bleibt mithin an eine religiöse Weltsetzung gebunden. Mit Begriffen wie Evolution, Emergenz, Aus dem römischrechtlichen Figur rechtswirksamer Vertretung (repräsentatio) entwickelt sich eine Lehre von
Ausdifferenzierung, Selbstorganisation setzt dagegen eine ganz andere Denkhaltung ein, die davon ausgeht, der Vertretung sozialer Körperschaften und schließlich, aus Anlaß von Kirchenreformbemühungen während

1515
1511 Siehe Marius Salamonius, De Principatu (1513), zit. nach der Ausgabe Milano 1955, S. 26. Im Anschluß daran kann
Zur Begriffsgeschichte Anton-Hermann Chroust, The Corporate Idea and the Body Politics in the Middle Ages, Review
man sich damit begnügen, die Herrschaft der civitas über sich selbst durch die Unterscheidung von "sanior" und "stultior
of Politics 9 (1947), S. 433-452; Brian Tierney, Foundations of the Conciliar Theory: The Contributions of the Medieval
pars" zu begründen.
Canonist from Gratian to the Great Schism, Cambridge 1955; Ernst H. Kantorowicz, The King's Two Bodies: A Study in
1516
Medieval Political Theology, Princeton 1957; Pierre Michaut-Quantin, Universitas: Expressions du mouvement Siehe für viele: Henry Peacham, The Compleat Gentleman, 2. Aufl. Cambridge 1627, S. 1 ff. (S. 2: "Nobilitie then is
communautaire dans le Moyen Age latin, Paris 1970. nothing else than a certaine eminency, or notice taken of some above the rest, for some act performed... More particularly,
1512 Nobilitie is the Honour of blood in a Race of lineage conferred formerly upon some or more of that family .....
Benutzte Ausgabe: Ioannis Saresberiensis, Policratici.... Libri VIII, (Hrsg. Clemens C.I Webb) London 1909, Nachdruck
1517
Frankfurt 1965. de Generatione Animalium II, 1, 713b 18
1513 1518
Vgl. diese Unterscheidung am Beispiel ignis/civiliter vivere bei Aegidius Columnae Romanus (Egidio Colonna), De Dies (heute würde man sagen: in der Blickrichtung des Mannes liegende) Argument findet man oft. Siehe etwa
Regimine Principum, zit. nach der Ausgabe Rom 1607, Nachdruck Aalen 1967, S. 406. Nervèze, OEuvres morales, Paris 1605, fol. 63 v.
1514 1519
Wir hatten Girolamo Cardano bereits zitiert. Siehe oben S. ... und a.a.O. S. 279: "Praeterea est anima in nobis ut in nach Alexander von Hales, zit. bei Wolf Hübener s.v. Ordnung, Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 6,
mundo: at anima in mundo nullibi est, sed perpetua est & immortalis: talis igitur in nobis." Stuttgart 1984, Sp. 1263.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 417 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 418

des Basler Konzils, ein allgemeiner Begriff der "repraesentatio identitatis" (im Unterschied zu: repraesentatio durchzusetzen. Die fehlende Sozialsynthese wird durch einen religiös fundierten Essenzenkosmos
1520
potestatis) mit dazugehörigen Begründungskontroversen. Kein Teil kann das Ganze im Ganzen sein; aber aufgefangen, der dieselben Strukturmerkmale aufweist: ein Ganzes, das aus Teilen besteht, die je ihre
es gibt Teile, die zur Repräsentation des Ganzen im Ganzen befugt und befähigt sind. Funktion zu erfüllen haben und dafür ausgestattet sind; ein Ganzes, dessen Perfektion in seiner Diversität
Der Begriff der Repräsentation läuft auf verschiedene Schwierigkeiten auf. Er läßt offen, was zu besteht; ein Ganzes, das in der Art einer series rerum hierarchisch geordnet ist, indem jeder Teil sowohl der
geschehen hat, wenn der Repräsentant sich irrt (und das ist im Mittelalter um so wichtiger, als man noch von eigenen Selbsterhaltung als auch den höheren Teilen dient und alle zusammen qua Partizipation Gott dienen
1524
einem aristotelischen, stark kognitiv getönten Begriff des Handelns ausgeht und Ziele für etwas Erkennbares und dazu beitragen, daß er die Welt, die er geschaffen hat, genießen kann.
hält). Außerdem kann man über Repräsentation nicht gut die Ausschließung des oder der Repräsentierten aus In der Naturphilosophie selbst hatte es durchaus Gegenstimmen gegeben. Lukrez zum Beispiel hatte
dem Organhandeln rechtfertigen; denn, wenn er es möglich macht, anwesend zu sein, warum sollte er nicht gemeint, die Natur fasse sich nicht von sich her zur Einheit eines Ganzen zusammen, sondern summiere nur
mitentscheiden? Diese Probleme geben Anlaß zu juristischen Erörterungen, und damit schiebt sich im Laufe das Verschiedene. Dies konnte jedoch nicht berücksichtigt werden, wollte man die Einheit der Natur von der
des 13. und 14. Jahrhunderts die juristische Kategorie der universitas an die Stelle, die seit der Rezeption der Einheit Gottes her denken. Die Ordnung der Teile zum Ganzen entspricht den Zwecken Gottes. Man kann
1521 1522
Politik des Aristoteles durch den Begriff der civitas wahrgenommen worden war. Marsilius sich also von jeder Ganzheit aus, in die man eingeschlossen ist, auf den religiösen Sinn des
beispielsweise spricht von universitas civium. Das macht es möglich, die juristische Einheit der universitas Gesamtunternehmens Schöpfung beziehen. Die Schöpfung "hält" (im Sinne des periéchon) das, was sie
von der bloßen Menge der einzelnen Bürger zu unterscheiden und über die juristische Regelung der Wahl- enthält. Sie ist keine Umwelt der Systeme (das Wort "Umwelt" gibt es noch nicht) sondern die sinngebende
oder Ernennungsverfahren zugleich die Implikationen des Irrtums- und Ausschließungsproblems vom Tisch Form der Welt, deren andere Seite den Namen Gott führt. Natura, id est deus, und die Teilhabe an dieser
zu bekommen. Ob in evidenten Fällen ein Widerstandsrecht zugebilligt wird und wem, wird damit ein ordinata concordia ist natürliche Einsicht, ist Vernunft.
Rechtsproblem. Die Rechtsförmigkeit macht es schließlich möglich, daß der Begriff der Repräsentation seinen Im Zusammenhang einer religiösen Weltbeschreibung wird wichtig, daß das Ganze/Teile-Schema auch
gesellschaftlichen Entstehungskontext überlebt und als verfassungsrechtlicher Begriff noch heute gebraucht die Unterscheidung von sichtbaren und unsichtbaren Teilen inkorporieren kann, — und wieder: ohne die Frage
wird. nach der Einheit des Sichtbaren und des Unsichtbaren zu stellen. Dies kann bedeuten, daß die unsichtbaren
Während Repräsentation, das besagt der Begriff, immer nur einzelnen Teilen des Ganzen obliegen kann, Teile nur verehrt, aber nicht begriffen werden können. Dabei mochte es der Ausdifferenzierung und den
beschreibt der Begriff der Partizipation das Verhältnis aller Teile zum Ganzen. Der eine Begriff denkt von Legitimationsbedürfnissen einer Oberschicht besonders entgegenkommen, wenn gelehrt wurde, daß man auf
oben nach unten, der andere von unten nach oben. Auf den Begriff der Partizipation beziehen sich dann die Gnade Gottes angewiesen sei und nicht durch gute Werke allein, sondern nur durch den rechten Glauben
moralische Desiderate, die artikulieren, daß jeder Teil qua Partizipation Rechte besitzt und Pflichten zu das Seelenheil gewinnen könne. Im 16. und 17. Jahrhundert kann man aus der Intransparenz des Selbst und
erfüllen hat, auf Schutz und Unterhalt Anspruch hat, aber dafür auch Dienstleistungen für das Ganze zu der Welt (Montaigne, Donne, Gracián) aber auch ganz andere Schlüsse ziehen, vor allem in Richtung auf
erbringen hat. Das Spannungsverhältnis von Ganzem und Teilen wird durch die Unterscheidung von Probleme des Umgangs mit dieser Intransparenz, auf Beobachtung zweiter Ordnung (Beobachtung der
herrschenden und beherrschten Teilen und diese durch die Unterscheidung von Repräsentation und Selbstbeobachtung) und auf eine Reflexionstheorie, die Beobachtungen und Beschreibungen als Täuschungen
1525
Partizipation reformuliert. Auf Partizipation wird die Unterscheidung von Rechten und Pflichten angesetzt, beobachtet und in diesem Sinne bereits vor der "Aufklärung" darüber aufklärt. Das Schema
deren Einheit als ius bezeichnet wird und in dieser Form wieder der sozialen Differenzierung nach Rang und sichtbar/unsichtbar dient somit als ein Rahmenkonzept für die Steigerung der Erwartungen in ein (technisches)
Stellung zur Verfügung steht. Form erzeugt Form erzeugt Form erzeugt Form. Können, bis schließlich nur noch die Schlußfigur der unsichtbaren Hand garantiert, daß das Ganze als Einheit
1526
Neben der anspruchsvollen (ethisch-politischen) Formen der Repräsentation und der Partizipation, die angelegt ist. Außerdem beginnt in dieser Zeit vor allem im Blick auf den Territorialstaat die Auflösung der
versuchen, von Teilen aufs Ganze zu schließen und den Sinn des Ganzen als solchen zu bestimmen, gibtes — Vorstellung, die politische Gesellschaft bestehe aus Menschen. Schon Althusius konstruiert im Begriff der
immer noch im Schema des Ganzen und seiner Teile — auch die weniger anspruchsvolle Form des consociatio symbiotica universalis der politischen Gesellschaft eine universitas spezifischer (und zugleich
Argumentierens mit Beispielen, mit lehrreichen exempla. Sie wird in der juristischen Argumentation, in der universeller) Art, die den Einzelmenschen, aber auch Familien oder collegia, nicht mehr als Teil ihrer selbst
1523
Rhetorik und vor allem in der Pädagogik gepflegt. Sie läßt in respektvoller Weise den Sinn des Ganzen enthält, sondern nur noch über den Begriff des Zusammenlebens (symbiosis) miterfaßt. Die
offen und nimmt darauf nur durch Bindung an eine religiöse Weltsetzung oder durch das Kriterium der Territorialorganisation dieser universitas besteht nur noch aus homogenen Teilen, nur noch aus
1527
Gerechtigkeit in der Behandlung der Fälle bezug. Territorialorganisationen. Daraufhin wird man im 17. Jahrhundert auf die Figur des Vertrages ausweichen
Das Modell des Ganzen, das aus Teilen besteht, kann auf sehr verschiedene Einheiten angewandt und nicht nur die Einsetzung von Herrschaft, sondern die Gesellschaft selbst auf einen Vertrag, auf ein
1528
werden: auf Haushalte und Städte, auf Körperschaften wie Klöster oder Universitäten, auf Reiche undauf die pactum unionis zurückführen. Individualität gewinnt jetzt einen neuen Sinn als Gegenhalt für den
1529
neu sich bildenden Territorialherrschaften, die man dann "Staaten" nennen wird. Das Mittelalter entwickelt Strukturwandel der Gesellschaft , und wenn jetzt noch versucht wird, Individuum und Kollektiv als Einheit
keine Gesellschaftstheorie, keine Theorie des umfassenden Sozialsystems. Die Vorstellung eines zu denken, endet man bei einer totalitären Logik und bei einem "totalen Staat", der keine Grenzen mehr
Gesamtreiches der Christenheit (als corpus Christi im Unterschied zum corpus diaboli) vermag sich nicht respektiert.

1520
Vgl. hierzu Antony Black, Monarchy and Community: Political Issues in the Later Conciliar Controversy 1430-1450,
1524
Cambridge 1970. Zur Begriffsgeschichte von Repräsentation im allgemeinen Hasso Hofmann, Repräsentation: Wort- und Wir paraphrasieren Thomas von Aquino, Summa Theologiae I, q. 65 a.2, zitiert nach der Ausgabe Turin - Rom 1952,
Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974. Zur Breite der mittelalterlichen Diskussion siehe Bd. 1, S. 319.
besonders Albert Zimmermann (Hrsg.), Der Begriff der Repraesentatio im Mittelalter: Stellvertretung, Symbol, Zeichen, 1525
Hier (und speziell bei Gracián) findet man denn auch erste Ansätze zur These der Reflexionsüberlegenheit von Teilen
Bild, Berlin 1971.
über das Ganze, die dann im 20. Jahrhundert ausgebaut werden wird.
1521
Reiches Material bei Michaut-Quantin a.a.O. (1970). 1526
Zur Ideengeschichte vgl. unten Anm. .....
1522
Marsilius von Padua, Defensor Pacis, lateinisch-deutsche Ausgabe Darmstadt 1958. 1527
Vgl. Johannes Althusius, Politica methodice digesta (1614), zit. nach der Ausgabe der Harvard Political Classics,
1523
An der bereits erwähnten Stelle in: Marius Salamonius, De principatu (1513), zit. nach der Ausgabe Milano 1955, S. Cambridge Mass. 1932, Cap. 5 n. 10, S. 39. Vgl. auch Cap. 9 n.5, S. 88. Der Text ist, unter unserer Fragestellung gelesen,
26, überläßt der Philosoph dem Theologen die Auflösung des Paradoxes (das hier im Fürsten zum Ausdruck kommt) und allerdings nicht eindeutig; und seine Hauptintention scheint gewesen zu sein, die (gleichsam seinsrechtlich begründete)
beansprucht für sich nur die argumentatio de parte ad partem und nicht die de toto ad seipsum. Die Quelle für diese direkte Mitwirkung (participatio) des Einzelnen an politischen Angelegenheiten auszuschließen.
Unterscheidung dürfte sein: Aristoteles, Anal.priora 69a 13-15. Dort wird allerdings der Schluß von einem Teil auf einen 1528
Zur Weiterentwicklung über Konsens-, Integrations- und Legitimationstheorien vgl. Kap. 1 ...
anderen dem Schluß vom Ganzen auf den Teil oder vom Teil auf das Ganze kontrastiert, und nicht dem (theologisch
1529
inspirierten) Schluß des Ganzen auf sich selber. Dazu unten Abschnitt ........
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 419 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 420

Für lange Zeit garantiert die Religion in ihrer theologischen Fassung eine einheitliche Weltbeschreibung die Zweiwertigkeit selbst auferlegt. Die zweiwertige Logik hat nur einen Wert, den positiven Wert, für die
mit hoher Inkonsistenzbewältigung. "Diversitas" wird geradezu zum Synonym für Perfektion, weil Gott die Bezeichnung des Seins zur Verfügung, und einen zweiten Wert für die Selbstkorrektur des Beobachters, für
Welt so reich und bunt und verschiedenartig gewollt hat, daß damit menschliches Begreifen ausgeschlossen die Kontrolle von Irrtümern. Legt man zusätzlich die Unterscheidung von Denken und Sein zu Grunde, kann
ist. Inkonsistenzerfahrungen tauchen wohl erstmals mit Schrift auf, also mit der Möglichkeit, Texte man das Sein als eine Form betrachten, deren andere Seite das Nichtsein ist. Man kann dann Sein und
nebeneinanderzuhalten und zu vergleichen, und die zu bewundernde Vielfalt der Erscheinungen scheint die Nichtsein als Beobachter richtig bzw. unrichtig bezeichnen. Damit sind die Möglichkeiten einer zweiwertigen
Lösung für dieses Problem zu sein. Erst nachdem auch theologische Texte inkonsistent werden, also seit dem Logik erschöpft. Zieht man zusätzlich Modalitäten der Zeit oder der Möglichkeit in Betracht, gelangt man
Hochmittelalter, und erst nachdem der Buchdruck dies auch zum Bestandteil einer Laienkultur werden läßt, bereits an die Grenzen dieses Beobachtungsschemas; und das gilt erst recht, wenn mit einer Beobachtung
wird die Einheit trotz Inkonsistenz zu einem Problem, das schließlich in unserem Jahrhundert selbst das zweiter Ordnung auf das Beobachten (erster und zweiter Ordnung) reflektiert werden soll. Strukturreichere
Verhältnis von Ontologie und Logik tangieren wird. Sachverhalte können nicht dargestellt, sondern müssen, wenn man so sagen darf, ontologisch komprimiert
Aber das setzt ein jahrhundertelanges Experimentieren mit (schriftlichen, gedruckten) werden. Entsprechend können Probleme der Referenz von Problemen der Wahrheit bzw. Unwahrheit nicht
Selbstbeschreibungen voraus. Nachdem die Welt/Gott-Unterscheidung semantisch nicht mehr ausreicht, um unterschieden werden. Eine Aussage ohne Referenz ist eben eine unwahre Aussage, und Unsicherheiten der
die Einheit der Kosmologie des Ganzen und seiner Teile zu begründen (oder: nachdem der Buchdruck Referenz, zum Beispiel im Zusammenspiel von selbstreferentiellen und fremdreferentiellen Komponenten des
verschiedene Versionen der Textinterpretation verbreitet und damit die religiös begründete Einheit der Beobachtens, werden automatisch zu Wahrheitsproblemen. Das wird in der "Skepsis" genannten
Weltsicht auflöst), wiederholt sich das Problem noch einmal am Menschen. Es wird seit dem 18. Jahrhundert Traditionslinie ausweglos diskutiert.
in ihn hineinverlegt. Ihm wird zugemutet, als Teil der Gesellschaft Ganzes und Teil zugleich zu sein: einerseits Das Resultat einer solchen logisch-zweiwertigen Weltbeschreibung erscheint als Ontologie und in den
als homme universel oder dann als transzendentales Subjekt das Allgemeinmenschliche zu verkörpern und Begründungsbemühungen als ontologische Metaphysik. Danach hat das Sein nur die Möglichkeit, zu sein
andererseits im Höchstmaße individuell und damit einzigartig zu sein. Und diese Doppelung wiederholt sich in oder nicht zu sein; und das Denken nur die Möglichkeit, das Sein bzw. das Nichtsein zutreffend bzw.
zeitlich-prozessualer Perspektive, also in der Perspektive der Erziehung. Einerseits ist der empirische Mensch unzutreffend zu bezeichnen. Das Denken muß als "Repräsentation" und Kunst muß als "Imitation" des Seins
immer schon geboren und muß zur Bildung gebracht werden, das heißt zur Reflexion auf das, was an ihm das begriffen werden, denn anderenfalls müßte es als Fehlleistung aufgefaßt werden. Eine Mehrzahl von
für jeden Menschen als Menschen Gültige ist. Und andererseits findet man auch die Frage: "Wie wird das Beobachtern wird folglich angewiesen, im Beobachten übereinzustimmen. Sie beobachten gemeinsam das
1530
absolute Ich ein empirisches Ich?" Wie findet es eine individuelle Lebensform? Ein solches Zeitschema Sein, sei es zutreffend, sei es unzutreffend. Und da es nur eine zutreffende Repräsentation des Seins im
steckt auch in der kantischen Unterscheidung von unmündig/mündig und in Vorstellungen über Aufklärung Denken geben kann, gibt es Autorität. Wer es richtig sieht, kann die anderen belehren. Das Beobachten des
oder Emanzipation. Die Zeitdifferenz dient deutlich der Auflösung einer Paradoxie: was man nicht zugleich Beobachtens hat hier keine andere Funktion als das Ausfiltern von Erkenntnisfehlern. Auch die anderen
sein kann, muß man nacheinander sein. Aber die Paradoxie bleibt als Zielvorstellung erhalten, sie wird nur in Beobachter sind, wenn man sie beobachtet, Objekte. Sie haben eine Sachqualität wie jedes andere Ding. Auch
eine Idee, in eine allenfalls approximativ erreichbare Zukunft ausgelagert, in die Sehnsucht, als Individuum über sie können daher Beobachter seinsrichtige und seinsunrichtige Meinungen haben. Im Theaetet stellt Plato
Mensch zu sein. Und nichts aufgeben zu müssen! Vor allem in der Ästhetik des Deutschen Idealismus findet folglich die Frage, wie es möglich ist, die Beobachtung eines anderen Beobachters auf wahre Weise als
1531
man entsprechende Formulierungen. Die Paradoxie, um die es letztlich ging, ist aber immer noch die des unwahr zu bezeichnen, auch wenn der andere sie für wahr hält. Die Platonische Philosophie ergibt sich aus
aus Teilen bestehenden Ganzen. der Suche nach einer Antwort auf diese Frage.
Während die Figur des sinngebenden Schöpfergottes und dann, auf sie folgend, die Apotheose des Es ist nicht unsere Aufgabe, die ungeheuren Anstrengungen der Philosophie nachzuvollziehen und die
Menschen im Menschen diese Weltbeschreibung für die, die sie benutzen, abschließen, müssen wir, die wir Fruchtbarkeit ihrer Resultate zu würdigen. Bei einer soziologischen Analyse fällt auf, daß die
diese Beschreibung beschreiben, einen Schritt darüberhinaus gehen und nach ihren logischen und logisch-zweiwertige Beobachtungsweise korreliert mit einer Sozialstruktur, die eine konkurrenzfreie Position
ontologischen Grundlagen fragen. Entscheidend sowohl für die Struktur dieser Semantik als auch für die Art für Welt- und Gesellschaftsbeschreibungen vorsieht, sei es als Spitze der Hierarchie, sei es als Zentrum, von
und Weise, in der sie Paradoxien behandelt, ist die fraglose Geltung einer zweiwertigen Logik. Diese Logik dem aus die Welt zu sehen ist, sei es als Fachkompetenz der Schreiber oder der Kleriker. Auch die
akzeptiert ihrerseits eine Unterscheidung und gewinnt damit ihre spezifisch Form, nämlich die Unterscheidung vorherrschend mündliche Tradierweise stützt diese Unterstellung der Möglichkeit einzigrichtiger
der logischen Werte positiv und negativ. Für die Einschätzung dieser Errungenschaft ist deshalb wichtig, daß Beschreibungen. Die Autorität zur Belehrung der Nichtwissenden und der Irrenden ist schon in der
man Unterscheidungen gewinnen und Formen markieren kann, bevor man über die Operation des Negierens Sozialstruktur, schon in der Differenzierungsform der Gesellschaft und in ihrer Rollenordnung angelegt. Sie
verfügt; denn die Negation verdankt sich selbst der Form und nicht umgekehrt, sie ist nur möglich dank einer hat eine vorhandene Position nur sachgemäß auszufüllen. Und sie tut dies, indem sie ihre eigene Lage mit der
1532
Unterscheidung, deren andere Seite die Position ist. Einschneidende Beschränkungen sind dagegen durch Anwendung des Schemas auf sich selbst reflektiert. Ihre Weisheit ist das Wissen des Wissens und des
Nichtwissens.
1530 Und deshalb kann man sich mit Aristoteles eine Ethik leisten, die das Handeln als Streben nach einem
Mit dieser fichteschen Formulierung Novalis, Philosophische Studien 1795/96, zit. nach: Werke, Tagebücher und 1533
Briefe Friedrich von Hardenbergs (Hrsg. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel) Bd. 2, S. 31. Gut versteht und dieses Gut als erkennbar voraussetzt. Es gibt demnach keine unguten Ziele und nichts
1531
absichtlich Schlechtes, sondern allenfalls Irrtum. Auch hier muß man also Autorität voraussetzen als eine
Vgl. z.B. Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Vorlesungen über Ästhetik, hrsg. von Karl Wilhelm Ludwig Heyse, Leipzig
Instanz, die — ohne dadurch Freiheit einzuschränken! — den Handelnden über seine Ziele aufklärt und ihn
1829, Nachdruck Darmstadt 1973, S. 52: "Hieraus erhellt, daß, wenn es ein Schönes geben soll, dasselbe seinen Grund in
einer Region haben muß, wo das ganze Wechselverhältniß zwischen Mannichfaltigem und Einfachem wegfällt .... Es ist gegebenenfalls korrigiert. Erst im 17. Jahrhundert wird man sich der Erfahrung stellen, daß Zwecke und
dies der Punkt des höheren Selbstbewußtseins, und diese Einheit der Erkenntniß nennen wir die Idee." Bei Solger wird Motive auseinanderfallen können und Zwecke, auf Grund welcher Motiv- und Interessenlage immer, ihrerseits
übrigens auch noch von Zeit abstrahiert, da die Einheit vorausgesetzt sein muß, um Resultat sein zu können. gewählt werden können.
1532
Es ist anmerkenswert, daß die Logiker dies Fundierungsverhältnis umgekehrt sehen und meinen, man könne nur mit
Natürlich geht die Rechnung nicht restlos auf. Man entdeckt in der Verteidigung der eleatischen
Hilfe einer Negation unterscheiden. Wir dagegen können sehen, daß hier ein wichtiger Fall der Evolution eines Ontologie und in Kontroversen mit den Sophisten die Paradoxien. Man bildet ambivalente Begriffe, etwa den
autopoietischen Systems vorliegt. Das Unterscheiden ist schon lange in Gebrauch, bevor die Sprache codiert wird und sich Begriff der Bewegung, um Zeitverhältnisse darstellen zu können. In den Begriff der Natur wird mit Hilfe des
1534
die Logik entwickelt. Nur deshalb kann Logik evoluieren. Das Logiksystem dreht dann aber das Fundierungsverhältnis um Schemas Perfektion/Korruption eine normative Komponente eingebaut. Das macht ein teleologisches
und gewinnt damit einen autonomen Zugang zur Welt, der es ermöglicht, alles und auch das Unterscheiden im Duktus der
zweiwertigen Logik zu beschreiben. So erklärt sich im übrigen auch der Einbau der Negation in die Prämissen aller
klassischen und modernen Logiksysteme. Und im übrigen weiß man ja auch, daß mit dieser Prämisse keine 1533
Siehe die Anfangssätze der Nikomachischen Ethik.
widerspruchsfreie Selbstbegründung der Logik gelingen kann. Will man das ändern, muß man mit Wittgenstein die
1534
Sprache oder mit Spencer Brown den mathematischen Kalkül der Logik vorordnen. Siehe oben Kap. 1.....
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 421 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 422

Verständnis der Natur und ein naturrechtliches Verständnis der Sozialordnung möglich ohne offenen VI. Die Semantik Alteuropas III: Politik und Ethik
Widerspruch zur Ontologie. Das prominenteste Opfer der zweiwertigen Logik und zugleich ihr letzter
Ausgleichsmechanismus ist jedoch Gott selber. In die Unterscheidungssemantik des Ganzen, das aus Teilen besteht, fügt sich ein, was bis weit in die
Denn Gott kann nicht irren, folglich braucht er keinen zweiten Wert. Aber wie beobachtet er dann die Neuzeit hinein über die Gesellschaft ausgesagt wird. Jede menschliche Gesellschaft gilt der Tradition als eine
Welt? Er kann sie vollständig in sich hineincopieren. Er weiß alles. Dann aber fehlt seinem Wissen jede Art aus Menschen als Teilen bestehende Ganzheit. Im griechischen heißt sie koinonía, in der lateinischen
von Selbständigkeit, und wie sollte er dann in der Lage sein, sich selbst von der Welt zu unterscheiden? Ein Übersetzung entweder, im naheliegenden juristischen Sinn, societas oder communitas. Die Erfahrung der
Theologe, so Nikolaus von Kues zum Beispiel, mag antworten, daß Gott es nicht nötig hat, unterscheiden zu Stadtbildung suggeriert bereits früh eine erste Unterscheidung, die von Haushalt (oîkos) und Stadt oder
müssen, um erkennen zu können. Auch im Verhältnis zu sich selbst braucht er keine Unterscheidung. Seine städtischer Gesellschaft (pólis, koinonía politiké), später formelhaft mit civitas sive societas civilis
Existenz liegt außerhalb aller Unterscheidungen, auch der von Sein und Nichtsein, ja selbst außerhalb der übersetzt
1538 1539
und nahezu unverändert bis zur civil society des 18. Jahrhunderts beibehalten. Der Begriff
Unterscheidung von Unterschiedensein und Nichtunterschiedensein. Eine solche Theologie kann aber kaum oîkos bezeichnet den selbständigen Haushalt als Wirtschaftsunternehmen und als Familie, also die aus
beanspruchen, offizielle Kirchentheologie zu sein. Die Kirche muß unterscheiden können, was Gott gefällt, segmentären Gesellschaften stammende Einheit, die in der städtisch fortgeschrittenen Gesellschaft, und zwar
und was ihm mißfällt. Sie muß Gott als Beobachter (und das heißt: als Unterscheider) beobachten können. in Stadt und Land, kontinuiert, aber nicht mehr deren Differenzierungsprinzip, also auch nicht mehr das
Und sie kann dann nur noch rühmen und dafür danken, daß Gott selber weiß, wie er mit den Paradoxien der "Wesen" dieser fortgeschrittenen Gesellschaften zum Ausdruck bringen kann. Der Haushalt wird jetzt
zweiwertigen Logik zurechtkommt. Vielleicht als der im Beobachten ausgeschlossene Dritte, als der begriffen als bloße Überlebensvorsorge, während der eigentliche Sinn des Menschenlebens sich erst in der
Beobachter schlechthin? Aber jedenfalls so, daß darin eine Sinngarantie für das Ganze seiner Schöpfung liegt. städtischen Lebensweise, also in der "politischen" Öffentlichkeit erfüllt. Die Unterscheidung von oîkos und
Noch am Anfang des 19. Jahrhunderts, noch nach der Worterfindung "Umwelt", fällt es ausgesprochen pólis kann daher auch als Unterscheidung von bloßem Leben und gutem, tugendhaftem (heute würde man
schwer, die Vorstellung eines Weltganzen aufzugeben. Im Diskussionskontext von Magnetismus, Äther, Geist vielleicht sagen: sinnvollem) Leben zum Ausdruck gebracht werden. Hierzu gehören die erweiterten und
findet man immer wieder das Argument, daß es doch irgendwelche Elemente geben müsse, die in Geist und intensivierten Kommunikationsmöglichkeiten in der Stadt, Schriftkultur, arbeitsteilige Produktion, gesicherter
Natur (wir würden jetzt sagen: System und Umwelt) identisch seien, weil sich anderenfalls ein Begriff der interner Friede (Eintracht) und eine entsprechende Ämterorganisation, die, wie man feierlich beschwört, auch
Welt nicht halten lasse. Noch immer wird also die Welt als ein Ganzes gedacht, das aus Teilen oder aus den Armen gegen den Reichen zu seinem Recht kommen läßt, wenn er im Recht ist.
1535
Elementen bestehe. Daß die Welt selbst durch Bildung von beobachtenden Systemen in ihr für diese als Es fehlt aber jetzt ein Dachbegriff für die Einheit von Haushalt und politischer Gesellschaft. Die Ethik,
Einheit unsichtbar werde, ist ein fast undenkbarer Gedanke; und es liegt daher nahe, daß zunächst einmal die die diese Funktion hätte übernehmen können, übernimmt nur die Unterscheidung und kulminiert als
Gesellschaft selbst, zum Beispiel als Klassengesellschaft mit nur noch ideologischen Selbstbeschreibungen, so Tugendethik ihrerseits in den Anforderungen der pólis. Und die pólis selbst muß, obwohl sie nur auf der einen
beschrieben werden mußte, was immer die großen Welterzählungen der Physik zu sagen wußten. Seite der Unterscheidung angesetzt ist, zugleich das umfassende System, also die Unterscheidung selbst
Erst im Kontext einer Erfahrung von Weltgesellschaft und weltweiter moderner Kultur, also allenfalls im darstellen. Seitdem gibt es zahllose Bemühungen um eine Auflösung dieser Paradoxie der Seite, die zugleich
19. und eigentlich erst im 20. Jahrhundert, wird das kosmologisch fundierte Schema des Ganzen und seiner die Unterscheidung selbst darstellt, — von den hierarchischen Inklusionsarchitekturen des Mittelalters bis zu
1536
Teile definitiv aufgegeben (was nicht ausschließt, daß es semantische "survivals" gibt ). Die 1540
modernen, nur noch moralischen, nur noch normativen Appellen an "Solidarität". Daß es keine logisch
Weltgesellschaft hat zu wenig sichtbare Harmonie, als daß sie so begriffen werden könnte. Das Schema der saubere Lösung mehr gibt, mag man soziologisch als Anzeichen für die Differenzierung von
Tradition wird daher ersetzt durch die weniger anspruchsvolle Unterscheidung partikularer (regionaler, Gesellschaftsstruktur und Semantik interpretieren.
ethnischer, kultureller) und universaler, überall benutzbarer Sinnformen. Das macht es möglich, Partikularität Der Begriff der politischen Gesellschaft bleibt als Formbegriff ambivalent, und vielleicht deshalb greift
in expliziter Opposition gegen universale Strukturen der modernen Welt auszubilden (zum Beispiel: als man zur Doppelformel der pólis e koinonía politiké. Einerseits ist die Stadt die im Raum sichtbare, als
religiöse Fundamentalismen) und gleichzeitig an den technischen Bedingungen der Moderne (zum Beispiel "nómos" ausdifferenzierte Einheit, die alle städtischen Haushalte in sich schließt und sich vom Land
Massenmedien, Reisen, Geldverkehr) teilzunehmen. Weltgesellschaftliche Universalität kann dann geradezu unterscheidet. Zum anderen ist sie das öffentliche Leben, die öffentliche Angelegenheit, die res publica, wie
1537
zur Bedingung werden für die kontrastierende Pflege lokaler Besonderheiten. Aber dies konstitutive man in Rom mit einem juristisch verwendbaren Begriff sagen wird. In diesem Sinne unterscheidet sie sich
Gegeneinanderausspielen setzt voraus, daß die Gesellschaft auf "ganzheitliche" Rahmenvorgaben verzichtet vom Privatleben der Bürger sowie von den zahlreichen Menschen, die nicht für ein politisches Leben in
oder sie bestreitbaren Ideologien überläßt. Dann werden Unterscheidungen mit nur partikularem Betracht kommen: den Sklaven und Unselbständigen, den Frauen und den nicht emanzipierten Kindern, den
Geltungsanspruch gewählt, gerade weil sie sich als Unterscheidungen von global gültigen Unterscheidungen Fremden und andere Arten bloßer Einwohner, also bei weitem von der Mehrheit der Bevölkerung.
(etwa den Codes der Funktionssysteme) unterscheiden und sich damit einer funktionssystemspezifischen Der Begriff der politischen Gesellschaft bezeichnet mithin weder ein ausdifferenziertes politisches
Zuordnung verweigern. Es kommt zu konkreten Idiosynkrasien, zu "Identitätsdiskursen", die ihren Sinn gegen System, das man mit "Staat" im modernen Sinne bezeichnen könnte, noch bezeichnet er etwas, was unserem
den unmarked space aller anderen Sinnmöglichkeiten behaupten und zugleich im scharfen Strahl spezifischer Begriff des umfassenden Systems der Gesellschaft entsprechen würde. Es fehlt zunächst also jeder Begriff für
Ablehnungen globaler Kennzeichen moderner Gesellschaft bestimmte Gegnerschaften beleuchten. Aber auch die Realität des Sozialen schlechthin. Man mag an koinonía denken und dies mit communitas oder mit
dies sind wieder Unterscheidungen — der Gesellschaft. "soziales System" übersetzen; aber dann fehlt immer noch ein Begriff für die Gesamtheit aller koinoníai, für
das umfassende System des Sozialen. Und es fehlt folglich auch eine Unterscheidung, mit der das Soziale von
allem Nichtsozialen unterschieden und bezeichnet werden könnte.
Genau dieser Platz ist besetzt durch den Begriff des Menschen, dem dann die Bezeichnung "politisch"
oder, seit dem Mittelalter, "sozial" hinzugefügt werden kann. Die Gesamtheit des Sozialen wird, und das ist
1535
So z.B. Jean Paul in den "Mutmaßungen über einige Wunder des organischen Magnetismus" nach sorgfältigem
Studium der zeitgenössischen physikalischen Publikationen mit dem Argument, "daß es am Ende ein feinstes Elemente, als
1538
das letzte, geben müsse, das alle übrigen Elemente umschließt und (ihrer, N.L.) nicht bedarf" — zit. nach Jean Pauls Zur Entstehungsgeschichte vgl. Peter Spahn, Oikos und Polis: Beobachtungen zum Prozeß der Polisbildung bei Hesiod,
Werke, Auswahl in zwei Bänden, Stuttgart 1924, Bd. 2, S. 344-45. Solon und Aischylos, Historische Zeitschrift 231 (1980), S. 529-564.
1536 1539
Siehe nur Ken Wilber (Hrsg.), Das holographische Weltbild (engl. Originaltitel: "The Holographic Paradigm and other Vgl. zur Begriffsgeschichte Manfred Riedel, Gesellschaft, Bürgerliche, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 2,
paradoxes"), Bern 1986, oder Pablo Navarro, El hologramma social: Una ontología de la socialidad humana, Madrid 1994. Stuttgart 1975, S. 719-800.
1537 1540
Siehe dazu Roland Robertson, Globalization: Social Theory and Global Culture, London 1992, insb. S. 97 ff. Vgl. auch Speziell hierzu neuere Beiträge und weitere Hinweise in: Giuseppe Orsi et al. (Hrsg.), Solidarität.
S. 131: "Universalism is needed to grasp particularism itself." Vgl. auch Kap. 2 ...... Rechtsphilosophische Hefte IV, Frankfurt 1995.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 423 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 424
1547
eine höchst folgenreiche Begriffsdisposition, am Menschen als Wesen einer bestimmten Gattung abgelesen verderbten. Also kann die Natur natürlich und nichtnatürlich sein. Auch hier also ein Wiedereintritt —
und in der Spezifik menschlicher Lebensform verankert. Der Mensch läßt sich von anderen Wesen (Göttern, diesmal auf der Seite der Natur. Die Natur ist der bessere Teil ihrer selbst.
Dämonen, Tieren, Pflanzen, unbelebten Wesen usw.) unterscheiden und in seiner Stellung im Kosmos durch Aus diesen begrifflichen Doppeldeutigkeiten rettet die Theorie sich durch eine normative Interpretation
diese Unterscheidungen bestimmen. Die soziale Ordnung seines Lebens ist die Manifestation seiner Natur. ihrer Aussagen. Was naturgemäß gut ist, bleibt gut, auch wenn die wirkliche Welt korrupte Züge aufweist.
1548
Diese Natur ist ihm mit den allgemeinen animalischen Merkmalen wie Sinneswahrnehmung, Beweglichkeit, Die Natur strebt unbeirrbar nach Perfektion , und deshalb kann man in der Natur die Perfektion erkennen.
Tod gegeben, aber auch mit der Besonderheit, die ihn von Tieren unterscheidet und die in der Tradition "ratio" Die Ethik als Darstellung natürlicher Verfaßtheit des Menschen, des Hauses, der Stadt verwandelt sich in eine
heißt im Sinne eines zur Selbstreferenz befähigten Seelenteils, der sich der Rede bedienen kann. "Ratio" und normative Wissenschaft mit der Maßgabe, daß man die Normen erkennen könne, wenn man ein Wesen auf
"oratio" halten Gesellschaft in Form, sind das "vinculum", das der Gesellschaft durch ihre Natur auferlegt seine Natur hin befragt. Durch den Rekurs auf Notwendigkeiten der Natur entlastet die Ethik sich aber von
1541
ist. Das begründet die normativen Erwartungen an eine der ratio entsprechende Lebensführung. Der Begründungsanforderungen und damit von offen kommunizierten Konsensproblemen. Daß man für gutes
Mensch und mit ihm die besonderen Eigenarten seiner geselligen Lebensführung werden somit durch seinen Handeln auch noch gute Gründe finden muß, wird erst mit der Neuformierung der Ethik im 18. Jahrhundert
Unterschied vom Tier bestimmt (so wie die Zoologie des Aristoteles ihrerseits darunter leidet, daß sie im Blick zum Problem und, wie sich dann herausstellen wird, zum unlösbaren Problem. Bis dahin lenken sachlich-
1542
auf den Unterschied zum Menschen entworfen ist). Die Mensch/Tier-Unterscheidung besetzt, mit anderen modaltheoretische Formulierungen wie "notwendig" oder "unmöglich" von der Sozialdimension ab, nämlich
Worten, den Platz, den eine Gesellschaftstheorie heutigen Erwartungen entsprechend einzunehmen hätte. In davon, daß Konsens zugemutet wird.
1543
genau diesem Sinne ist die Selbstbeschreibung der alteuropäischen Gesellschaft "humanistisch" konzipiert. Unter der Abschlußformel einer deskriptiv-normativen Darstellung der Natur des Menschen (im
Noch im religiösen Naturverständnis des 12. Jahrhunderts steht die alles durchdringende Seinsanalogie Unterschied zum Tier) hatte das Konzept der politischen Gesellschaft einen ethischen Sinn angenommen, der
im Vordergrund. So wie Gott sich im Spiegel der Welt sieht, so kann der Mensch die visibilia der Natur im Steigerungsmöglichkeiten in Richtung auf Rationalität und Tüchtigkeit (areté, virtus, virtù) anzeigt und in
Hinblick auf die invisibilia, im Hinblick auf die Schöpfungsideen Gottes erkennen und als Symbol für die dieser Form Gesellschaft beschreibt. Es ist dieser Begriff einer ethischen Verfaßtheit (héxis, habitus), der die
1544
Einheit dieser Differenz erfahren. In der gemeinsamen Natürlichkeit der Menschen und der übrigen Natur gute Lebensform des Menschen und damit zugleich das beschreibt, was die Gesamtgesellschaft zusammenhält
kann auch diese Differenz zunehmend stärker betont werden. Dem Mensch sei die übrige Natur nach Gottes und ihre Moral ausmacht. Die Gesellschaft wird dann in der aristotelischen Ethik als ein Gut dargestellt, nach
Willens zugeordnet und untergeordnet, lehren die Theologen. Sie finden sich im übrigen belastet mit der dem der Mensch seiner Natur und seiner politischen Verfaßtheit gemäß strebt und mit dessen Erreichen er
Aufgabe, zu erklären, weshalb Gott Mensch (also Natur!) geworden ist; und das fällt ihnen in dem Maße seine eigene Perfektion erreicht. Das Höchste dieser Güter, das alle anderen (und eben auch die menschliche
leichter, als die Stellung des Menschen in der Natur aufgewertet wird — etwa als Mikrokosmos im Perfektion) in sich einschließt, ist die politische Gesellschaft selber. Deren Umfassendheit, auf die wir auch
1545
Makrokosmos. Aber auch wenn man sich dieser Legitimationsformel nicht bedient, kann diese unseren eigenen Gesellschaftsbegriff bezogen hatten, hat hier einen ethischen, nicht eine empirischen Sinn.
Unterscheidung semantisch verstärkt werden. Sir Philip Sidney spricht zum Beispiel (um den Dichter Abweichungen werden, wie im vorigen Abschnitt bereits gesagt, als Irrtümer behandelt. Gegenüber Logik und
herauszustellen) vom Menschen, "for whom as the other things are, so, it seems in him her (= nature) Kognition wird der Moral damit eine Eigendynamik abgesprochen. Sie ist eine gute Moral (wie es ja auch die
1546
uttermost cunning is employed". Die Natur leistet sich den Menschen als ihr Meisterstück — aber offenbar gleichzeitig entstehenden Hochreligionen lehren) und Sokrates stirbt, um zu bezeugen, daß im politischen
1549
mit gewissen Risiken. Leben der Stadt die Differenz von Recht und Unrecht nicht hinterfragt werden kann.
Fragt man, welche Unterscheidung den Begriff der Natur konstituiert, so stößt man auf kennzeichnende Der Begriff Ethos, ethisch gehört in dieser Konstellation also zu den Selbstbeschreibungsbegriffen der
Ambivalenzen. Einerseits die Unterscheidung von phýsis/nómos im Sinne von notwendig/willkürlich. Hier tritt Tradition. Ihm darf nicht der moderne Sinn einer theoretischen Begründung moralischer Urteile unterschoben
die Unterscheidung auf der Seite der Willkür in sich selbst wieder ein; denn daß bestimmte Dinge willkürlich werden. Er bezeichnet die moralische Komponente des gesellschaftlich-politischen Lebens und gründet sich
geregelt werden müssen, ist in einer Welt, deren Vollkommenheit im Reichtum an Verschiedenartigkeit auf Annahmen über die Natur des Menschen. In den Schulen des Mittelalters wird man dann, noch ganz auf
besteht, seinerseits eine Naturnotwendigkeit. Andererseits findet man die Unterscheidung natürlich/verderbt. dieser Basis, aber mit stärkerer (religiös bedingter) Betonung des Individuums, zwischen Ethik, Ökonomik
Man solle, sagt Aristoteles, die Natur in ihrem natürlichen Zustand beobachten und nicht in einem und Politik unterscheiden je nach dem, ob die richtige Verfaßtheit des individuellen Lebens, des Hauses oder
der politischen Gesellschaft gemeint ist. Mit der Stabilisierung von Schichtungsdifferenzen im späteren
Mittelalter nimmt dann auch die Erkennbarkeit von Unterschieden in Lebensführung und Manieren zu — und
man darf davon ausgehen, daß mit dem Insistieren auf moralischen Anforderungen an den Adel, wie man sie
1550
1541
zunächst in der italienischen Literatur des 15. Jahrhunderts findet , vor allem dies gemeint ist: daß der
Cicero, de officiis I, XVI: "eius (= societas) autem vinculum est ratio et oratio", zitierte lateinische/italienische
Adelige wie ein Adeliger leben sollte.
Ausgabe, Bologna 1987, S. 64.
Solange Ethos in diesem Sinne als natürliche Einstellung verstanden wird, liegt eine latente Funktion
1542
Vgl. Geoffrey E. R. Lloyd, Science, Folklore and Ideology: Studies in the Life Sciences in Ancient Greece, Cambridge dieses Begriffs darin, Schranken der Vorbildhaftigkeit und zugleich Schranken der zulässigen Nachahmung zu
Engl. 1983.
definieren. Auf diese Weise regelt der Begriff zugleich Imitationskonflikte im Sinne René Girards. Das sichert
1543
Dieser ursprüngliche Humanismus ist denn auch von den Neuauflagen zu unterscheiden, mit denen man um 1800 auf
idealistische Weise den Problemen der modernen Gesellschaft beizukommen sucht und die man, etwa hundert Jahre später,
dann als "Neuhumanismus" bezeichnet. Diese Version ist so auffällig neu, das Foucault sogar behaupten konnte, der 1547
Mensch sei erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfunden worden. Jedenfalls ist der Mensch nun nicht mehr die Pol. 1254a 36-37.
Gesellschaft, er ist entweder ein Ideal, das ihr zur Approximation vorgehalten wird. Oder er ist ein Artefakt. "Né sans idée 1548
Siehe Aegidius Columnae Romanus (Egidio Colonna), De Regimine Principum (1277/79), zit. nach der Ausgabe Roma
et sans vertu tout jusqu'à l'humanité est dans l'homme une acquisition", heißt es bei Claude-Adrien Helvetius, De l'esprit 1607, Neudruck Aalen 1967, S. 5: Est enim hic ordo non solum rationalis, sed etiam naturalis. Natura enim semper ex
Disc.III, c. 7, note b, zit. nach Œuvres complètes, London 1776, S. 103. imperfecto ad perfectum procedit."
1544
Vgl. M.-M. Davy, Essai sur la symbolique romane (XIIe siècle), Paris 1955, insb. S. 90 ff. 1549
Vgl. als eine einflußreiche Darstellung dieses Verhältnisses von Ethik und Politik Joachim Ritter, Metaphysik und
1545
Siehe dazu Marian Kurdzia_ek, Der Mensch als Abbild des Kosmos, in: Albert Zimmermann (Hrsg.), Der Begriff der Politik: Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt 1969.
Repraesentatio im Mittelalter: Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild, Berlin 1971, S. 35-75. 1550
Siehe für viele: Giovanni Francesco Poggio Bracciolini, De nobilitate (1440), zit. nach Poggii Florentini Opera, Basilea
1546
So Philip Sidney, The Defense of Poesy (1595), zit. nach der Ausgabe Lincoln Nebr. 1970, S. 9 (Hervorhebung durch 1538, S. 64-87: "Animus facit nobilem qui ex quacunque conditione supra fortunam licet exurgere" (S. 80). Aber dann zählt
mich, N.L.) eben auch die Erinnerung an die Vorfahren, denen man nachzueifern habe (S. 81). Vgl. ferner Cristoforo Landino, De vera
nobilitate (um 1490), zit. nach Ausgabe Firenze 1970. In vielen anderen Traktaten, die dialogförmig präsentiert werden,
bleibt die Gewichtung von Geburt und Ethos offen.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 425 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 426

ihm seine Übereinstimmung mit der Differenzierungsform stratifizierter Gesellschaften, und in dieser Verschwendung), so daß die Kommunikation auf die Situation abgestimmt werden und sich Unterschieden der
Übereinstimmung liegt der Grund dafür, daß die entsprechenden Erwartungen normative Geltung Macht- und Interessenlage anpassen kann.
beanspruchen können. Die Gesellschaft unterstützt mit den internen Grenzen, die sie für Teilsystembildung Deutlicher als je zuvor wird diese Ethik der civiltà als eine Adelsethik aufgefaßt. Man unterscheidet, um
vorsieht, die "interdits" (Girard), die die Nachahmungskonkurrenz limitieren. Und so sehr die Nachahmung dies zu markieren und dem Adel eine Form zu geben, in der Spätzeit (deutlich seit dem 16. Jahrhundert)
der für den eigenen Stand geltender Vorbilder empfohlen wird und entsprechende "Spiegel" aufgestellt werden, honestas und utilitas. Vermittelt durch die höfische Kultur Burgunds und durch den italienischen Übergang
1551
so unangebracht und lächerlich wirkt es, wenn man die dafür geltenden Grenzen zu überschreiten versucht. von Republiken zu Fürstenstaaten entwickelt diese Ethik sich zu einer rein höfischen Ethik und beginnt, auf
Wenn zusätzlich ein teleologisches Verständnis der Naturbewegungen und des Handelns akzeptiert wird, ihre zunehmende gesellschaftliche Isolierung mit gepflegtem Raffinement und mit stilistischen Übertreibungen
1554
kommt hinzu, daß es für die erreichte Ruhe oder für die Perfektion des Wirkens keinen Unterschied ausmacht, zu reagieren. Castiglione ist der hierfür formbestimmende Autor.
daß das Erreichen des Endes Zeit gekostet hat und wieviel. Man denkt nicht an die Geschichtlichkeit des Daß Adel nicht nur durch Geburt, sondern auch durch eine (man nimmt an: erbliche) virtus
Prozesses, nicht an seine Abhängigkeit von Situationen und Gelegenheiten, also auch nicht an seine etwaige ausgezeichnet sei, bleibt unbestritten. Man fordert, daß die Nachkommen eines Adelsgeschlechts sich durch
1555
Einmaligkeit. Auch die Kosten des Zeitverbrauchs werden erst in der Frühmoderne zum Thema, nicht zuletzt eigene Leistungen auszeichnen sollten, bevor sie sich auf ihre Vorfahren berufen. Dies Doppelkriterium
im Zusammenhang mit den Zeitverzögerungen, die der Markt mit sich bringt, und den Kosten eines Kredits. Geburt/Tüchtigkeit ermöglicht es dem Fürsten, besondere Tüchtigkeit (oder was er dafür hält) zu erkennen
In der Diskussion über das Zinsverbot und über seine Umgehungsmöglichkeiten wurde von theologischer und falsche Geburt durch Nobilitierung auszugleichen. Andererseits wirkt fehlende Tüchtigkeit oder gar
Seite immer wieder geltend gemacht, daß für Zeit in der Schöpfung vorgesorgt sei und daß man sie folglich Infamie nicht gleichermaßen auch als Anlaß zum Abstieg ganzer Familien. Versagen wird eher individuell
weder kaufen noch verkaufen dürfe. Erst in der Frühmoderne wird denn auch die Zeit selbst zum Problem, zugerechnet, und der Abstieg wird politisch und rechtlich gebremst.
und dies nicht mehr nur als Aspekt der allgemeinen Unzulänglichkeit der Welt nach dem Sündenfall, wie sie Mehr und mehr wirken Theorien, die die besondere Stellung und moralische Qualität des Adels in der
sich für den Menschen darstellt. Gesellschaft behandeln, gekünstelt, so als ob alte Auszeichnungskategorien nicht mehr ganz überzeugen.
Ein besonderer Begriff des Sozialen (neben dem schon Anforderungen zum Ausdruck bringenden Francesco de Vieri beispielsweise meint, daß an sich alle Menschen, da mit ratio ausgestattet, von Natur aus
Begriff der koinonía/communitas) ist bis weit in die Neuzeit hinein entbehrlich, weil das Soziale seiner Form, adelig seien, aber einige mehr als andere; denn einige entschlössen sich daraufhin zu einer adeligen
1556
seinem Wesen, seiner Natur nach auf Perfektion hin angelegt und damit moralisch ist. Es ist (so wie das Sein Lebensführung oder seien durch Geburt dazu prädisponiert und andere nicht. Was den Adel dem Wesen
von sich aus ist, was es ist) von sich aus auf das Gute hin geordnet. Es ist also nicht nur eine Sonderart von nach (Abirrungen zugestanden) auszeichnet, bleibt umstritten. Seit der Durchsetzung der politischen
Materie, die nach den Regeln der Moral erst noch geformt werden müßte. Erst im 16./17. Jahrhundert beginnt Dominanz des Territorialstaates und der Beendung der politischen Fehden zwischen Adel und Volk tendiert
eine semantische Evolution, die diese Einheit des Sozialen und des Moralischen schließlich sprengen wird. die italienische Diskussion dazu, das auszeichnende Merkmal in besonderen Verdiensten um das Gemeinwohl
Einerseits sieht man Moral jetzt mehr und mehr als Resultat des Gebrauchs von Zeichen in der zu sehen; aber andererseits führt das Fehlen solcher Verdienste nicht zur Aberkennung des Adels, und
Kommunikation, also zusammen mit den artes als erzeugter schöner Schein, ohne den sich in Gesellschaft ebensowenig kann man sich entschließen, Bürgerrechte auf Adelige einzuschränken. "Gentilhuomini" und
nicht leben ließe. Und andererseits trennen sich daraufhin Zwecke und Motive an der Frage, was in der "cittadini" bleiben nichtkongruente Begriffe. In Frankreich wird die durch die Verhältnisse längst überholte
Kommunikation gezeigt werden kann und was nicht. Erst die Durchsetzung dieser auflösungsstarken Betonung militärischer Tüchtigkeit beibehalten (und im Duell konsumiert), vielleicht weil sie zur Begründung
Unterscheidungen wird die Einheit des Sozialen und des Moralischen sprengen, und daraufhin das der Steuerbefreiung und zum entsprechenden Ausschließen wirtschaftlicher Tätigkeiten unentbehrlich zu sein
1557
menschliche Verhalten mit begründungsbedürftigen (heute: diskursbedürftigen) moralischen Anforderungen schien. Jedenfalls schließt das eine genauere Analyse der moralischen Anforderungen speziell an den Adel
konfrontieren. aus und öffnet damit den Zugang zu einer eher psychologisch analysierenden Verhaltensbeobachtung (science
Auch in der alteuropäischen Tradition ist jedoch Moral bereits ein durch die Unterscheidung von Tugend des moeurs). Im mehr juristischen Kontext der Lehre von den drei Ständen hilft Charles Loyseau mit einer
und Laster binär nach gut und schlecht codierter Schematismus, also eine Unterscheidung, eine juristischen Spitzfindigkeit. Er unterscheidet Fragen der Kriterien und Fragen der Einteilung der Gesellschaft.
Zwei-Seiten-Form. Sie zwingt die Beobachtung des Verhaltens in die Alternative, es annehmen oder ablehnen Einerseits haben nur Geistlichkeit und Adel eine spezifische dignité. Der dritte Stand (Der Begriff tritt
1558
zu müssen, und sie sanktioniert diese Beurteilung durch Achtungserweis und Achtungsentzug. Seit der Ethik erstmals im 15. Jahrhundert auf ) habe keine andersartige dignité, sondern überhaupt keine und sei in
Abaelards, also seit dem 12. Jahrhundert, wird man zusätzlich eine moralische Selbstbeobachtung des diesem Sinne kein Stand. Aber im Kontext der Einteilung der gesamten Bevölkerung muß er gleichwohl als
Einzelbewußtseins verlangen. Es muß sich selbst fragen, ob es seinem Verhalten zustimmen kann oder nicht, Stand angesehen werden: "Etant que l'Ordre est une espece de Dignité, le tiers Estat de France n'est pas
und die Institutionalisierung der Beichte sorgt dafür, daß dies auf regelmäßiger Basis geschieht. Die proprement un Ordre.... Mais etant que l'Ordre signifie une condition ou vacation, ou bien une espece distincte
italienische Frührenaissance reaktiviert dann auch die zivilrepublikanische Tradition der Antike und nimmt die
Rhetorik in der durch Cicero gegebenen Fassung erneut in ihrem Dienst. In der sogenannten ars dictaminis
1552
verschmelzen von 13. bis zum frühen 16. Jahrhundert Rhetorik und politische Beratung. Als 1554
Zu dieser italienischen Entwicklung ausführlich Claudio Donati, L'idea della nobiltà in Italia: Secoli XIV-XVIII,
1553
Kommunikationsweisen entsprechend dem das Lob der Tugenden und der Tadel der Laster. Die Worte, Roma-Bari 1988.
mit denen die Tugenden und Laster beschrieben werden, enthalten genug Ambivalenzen. Oft stehen für ein 1555
Ben Jonson, To Kenelm, John, George, zit. nach The Complete Poems, New Haven 1975, S. 240.
und dasselbe Verhalten positive und negative Beschreibungen zur Verfügung (zum Beispiel Freigebigkeit und
1556
Siehe Francesco de Vieri, Il primo libro della nobiltà, Firenze 1574, unter Einbeziehung auch der Unterscheidung vita
activa/vita contemplativa in das Schema der Auszeichnung (S. 42). Und so gilt, auf angeblich einer Dimension: "Alcune
persone sono più eccellenti, & più nobili, che commandono, ò almeno sono degne di commandare, & indirizzare gl'altri nell
1551
Anzumerken ist allerdings, daß die Geldwirtschaft und mit ihr ein ostentativer Luxus es erschweren, diese auf Ethos opere virtuose" — und dies eben deshalb, weil das tugendhafte Leben das Naturziel aller Menschen sei.
gegründete Unterscheidung durchzuhalten. Es mag dann auffallen, daß der König bei einem Besuch der Stadt einen Bürger 1557
Vgl. Ellery Schalk, From Valor to Pediggree: Ideas of Nobility in France in the Sixteenth and Seventeenth Centuries,
als Gastgeber bevorzugt (ein Fall aus Krakau). Und manche Adelsfamilien müssen sich aufs Land zurückziehen, weil sie in
Princeton 1986.
der Stadt die Norm der standesgemäßen Lebensführung nicht durchhalten können — so als ob Bürger das Adelsideal der
1558
"Magnifizenz" erfunden hätten, um den Adel aufs Glatteis der Verschuldung zu locken. Siehe Otto Gerhard Oexle, Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der
1552 ständischen Gesellschaft des Mittelalters, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität,
Hierzu Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought, Bd. 1, Cambridge Engl. 1978, S. 28 ff.
München 1988, S. 19-51 (45). Er reagiert offensichtlich auf die wachsende Heterogenität der nichtadeligen Schicht, die mit
1553
Vgl. z.B. O.B. Hardison, The Enduring Monument: A Study of the Idea of Praise in Renaissance Literary Theory and dem Merkmal des (landwirtschaftlichen) Arbeitens und Produzierens nicht mehr zutreffend zu umschreiben ist. Zur
Practice, Chapel Hill N.C. 1962; John W. O'Malley, Praise and Blame in Renaissance Rome: Rhetoric, Doctrine, and merkwürdigen Kontinuität landwirtschaftlicher Produktion als Merkmal des dritten Standes bis hin zur französischen
Reform in the Sacred Orators of the Papal Court, c. 1450-1521, Durham N.C. 1979. Revolution vgl. Ottavia Niccoli, I sacerdoti, i guerrieri, i contadini: Storia di un imagine della società, Torino 1979.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 427 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 428
1559
de personnes, le tiers Estat est l'une des trois Ordres ou Estats de la France". Der dritte Stand ist ein Stand hatte. Jedenfalls kann er sich nicht mehr darauf verlassen, daß allein die ethische Lebensführung schon zu
und ist kein Stand. Er hat die Paradoxie zu übernehmen, die daraus resultiert, daß die Einheit in der Einheit politischem Handeln befähigt.
repräsentiert werden muß. Und der Jurist hilft ihm — mit einer Unterscheidung! Bereits im 16. Jahrhundert entstehen Verhaltensmodelle, die sich explizit gegen die Beschränkung auf
In dieser semantisch klärungsbedürftigen und zugleich strukturell verunsicherten Situation findet man im Geburtsadel wenden, aber an oberschichtentypischen Merkmalen festhalten. Das gilt für das Modell des
1560
Konzept der "Ehre" eine Art Spannungsableitung, vor allem im 16. und 17. Jahrhundert. Auf die Funktion Moralvirtuosen (homme de bien) und in anderer Weise für das Modell des Kommunikationsvirtuosen (homme
1567
der honor/fortuna-Unterscheidung als Schema der Abwehr von ökonomischen und politischen Abhängigkeiten galant). An diesen Modellen muß sich nun auch der Adel messen lassen, will er bei Hofe oder in den
1561
hatten wir im Kapitel über Differenzierung bereits hingewiesen. Das betrifft naturgemäß die hier stärker Salons mithalten. Auch Juristen versuchen, allerdings vergeblich, allein schon auf Grund ihres Doktortitels als
eingebundenen Oberschichten. Auch die unteren Schichten legen zwar auf Ehre Wert, wie man am adelig anerkannt zu werden; aber da es hier nicht um Interaktionskönnen geht, sondern um Fachwissen, fällt
1562
Ausgrenzungsbegriff der "unehrlichen" Leute und Berufe erkennen kann. Im Adel wird jedoch Ehre es dem Adel leicht, Distanz zu wahren.
zusätzlich als Abgrenzungsmechanismus nach unten forciert, und das zeigt sich vornehmlich in der Institution Bei allen Schwierigkeiten, die Position des Adels in seinem Anspruch auf moralische Überlegenheit
des Duells. Theologische Ablehnungen und juristische Verbote des Duells können sich nicht durchsetzen, weil moralisch zu rechtfertigen, besteht bis ins 17. Jahrhundert kein Zweifel daran, daß mit Moral die wahre Natur
hier die letzte Zuflucht des Selbstbehauptungswillens des Adels liegt, weil er sich selbst durch des Menschen honoriert, eingefordert, auf dem rechten Wege gehalten und gegen Korrumpierung geschützt
"Satisfaktionsfähigkeit" auszeichnet und unterscheidet und hierin nochmals eine Art Originalrecht behaupten wird. In genau diesem "wesentlichen" Sinne gilt der Mensch als Teil der Gesellschaft. Und es ist dann ein
kann als ein Naturrecht des Adels, daß von keiner fürstlichen Gewalt und nicht einmal von der Kirche Anzeichen für den Zerfall der alten Welt, wenn man im 17. Jahrhundert beginnt, die Moral in ihrer
1563
eliminiert werden kann. Unerläßliche Vorkehrungen des Strukturschutzes sind eingebaut: kein Sohn kann Tatsächlichkeit als Sittenlehre (science des moeurs) vom Erleben des Individuums zu unterscheiden und nach
den Vater, kein Untertan den Fürsten, kein Bürger den Amtsträger zum Duell auffordern, wie immer die den psychisch realisierbaren Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und nach den Möglichkeiten der
Adelsverhältnisse im konkreten Fall liegen mögen. Und zugleich beweist der Einsatz des Lebens in Fragen der aufrichtigen Kommunikation zu fragen. Die einst als Natur verstandene Normativität der Moral wird mehr
Ehre, daß es um nichtnegotiable, die ganze Person und ihren sozialen Status betreffende Fragen geht. und mehr als faktisch übliche Verhaltensweise definiert, Normativität wird durch Normalität ersetzt, und
Selbstverständlich bleibt die Ehre des Geburtsadels von Anerkennung abhängig (und deshalb gegen "uso", wie man jetzt sagt, wird als zeitabhängig, als Mode gesehen. Entsprechend denkt man das Individuum
1564
Mißachtung empfindlich) , aber nicht angewiesen auf die mit Ämtern verbundene dignitas und erst recht nicht mehr als durch seine Natur zur (moralischen) Perfektion bestimmt, sondern als ein sich selbst steuerndes
nicht auf die Magister- und Doktorentitel, die man an Universitäten erwerben kann. Einerseits führt das zu Wesen, das gut beraten ist, wenn es sich anpassungsrational verhält (Gracián). Vom Standpunkt des
einer oft demonstrativen Ablehnung der Universitätsgelehrsamkeit. Andererseits ist jedoch unübersehbar, daß Individuums aus muß dann zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterschieden werden. Religion wird
für politischen Einfluß ein entsprechendes Wissen (vor allem: Rechtskenntnis) unentbehrlich ist, will man entsprechend verinnerlicht. Aber sind, so werden Jansenisten wie Pierre Nicole fragen, zivilisierte
nicht der Manipulation durch Kenner oder einer unliebsamen Konkurrenz um Einfluß ausgesetzt sein. Die (anpassungsrationale) amour propre und charité für das Individuum an sich selbst und am anderen überhaupt
Notlösung scheint zu sein, daß viele Adelige zwar, und oft in eigens für sie eingerichteten Schulen oder unterscheidbar? Oder hat Gott seine Kriterien ins Unerkennbare ausgelagert? Die damit gewonnene
1565 1566 1568
Studiengängen , studieren, aber auf den Erwerb der entsprechenden Titel verzichten. Offensichtlich Komplexität wird dann mit der Unterscheidung von menschlichen Tugenden und wahren Tugenden in eine
grenzt der Adel sich damit selbst gegen die Erfordernisse ab, die zu Erfolgen in den Funktionssystemen (hier: Form gebracht, die das Ende der humanistischen Moraltradition besiegelt. Das darauf folgende liberale
Hochschulerziehung und Hochschullehre bzw. staatlich organisierte Politik) führen, und zwar auf Grund einer Naturrecht des späten 17. und 18. Jahrhunderts hält mit seiner Doppelemphase von Vernunft und
Semantik der Ehre, die ihm einst die Wahrnehmung von Führungspositionen in der Gesellschaft gesichert Individualität zwar am Postulat einer moralischen Integration der Gesellschaft fest, aber es entzieht zugleich
der auf Hauspflichten und Stratifikation gestützten alten Ordnung die moralische Legitimation, nämlich die
Möglichkeit, sich auf die Natur des Menschen zu berufen.
1559
Charles Loyseau, Traicté des ordres et simples dignitez, 2. Aufl. Paris 1613, S. 92. Offensichtlich beruht die Annahme, das Verhalten der Menschen könne durch Moral koordiniert und so
1560 als sozialer Körper verwirklicht werden, ihrerseits auf der gesellschaftsstrukturellen Garantie für Positionen,
Zu dieser über Ehre/Duell laufenden Homogenisierung der Adelssemantik, die sich nicht an territorialstaatliche
Bedingungen und Kriterien binden läßt, vgl. Donati a.a.O. (1988), S. 93 ff. Zur breiteren Einbettung des Begriffs in der
von denen aus einzig-richtige Beschreibungen kommuniziert werden können. Der binäre Schematismus der
zeitgenössischen Literatur siehe etwa Ruth Kelso, The Doctrine of the English Gentleman in the Sixteenth Century, Urbana Moral, der als Form die zwei Möglichkeiten des guten und des schlechten (bösen) Verhaltens vorsieht, scheint
Ill. 1929, S. 96 ff.; Arlette Jouanna, La notion d'honneur au XVIème siècle, Revue d'histoire moderne et contemporaine 15 dem zunächst zu widersprechen. Er dient jedoch nur dazu, Verhalten als frei gewählt bezeichnen zu können.
(1968), S. 597-623: dies., L'idée de race en France au XVIe siècle et au début du XVIIe, 2. Aufl. Montpellier 1981, Bd. 1, (Die offizielle Darstellung ist durch die Vorstellung der Natur des Menschen bestimmt und läuft daher
S. 269 ff. umgekehrt: nur frei gewähltes Verhalten könne moralisch beurteilt werden). Mit einer solchen
1561
Vgl. oben ... Freiheitskonzession trägt man der Autopoiesis psychischer Systeme und der Intransparenz der Motivierung
1562
Siehe Werner Danckert, Unehrliche Leute: Die verfemten Berufe, Bern 1963.
ihres Verhaltens Rechnung. Aber die Moral wird, gerade weil sie diese Funktion der Generierung von Freiheit
1563
erfüllt, für insgesamt gut gehalten. Entsprechend sind die Stadt und ihre Politik eine gute Sache. Entsprechend
Siehe dazu Kelso a.a.O., S. 99 f.: In Ehrenfragen ging es weder um die göttliche Ordnung nach Gottes Willen noch um ist der christliche Gott ein guter Gott. Entsprechend gibt es eine Emanationsmythologie, die erzählt, wie aus
eine gerechte politische Ordnung menschliches Zusammenlebens, sondern um eine Realität sui generis. Im übrigen bleiben
die zeitgenössischen Äußerungen ambivalent. Zwar lehrt die Moral, daß Tugend um ihrer selbst willen und nicht um der
dem guten Anfang die Differenz von gut und schlecht entsteht. Es ist die Geschichte vom Fall des Engels (der
Reputationserfolge willen praktiziert werden will; aber zugleich liest man auch, daß "good opinion of the world" einem Engel) und von der Verführung Evas und Adams. Erst in der theologischen Rekonstruktion dieser Geschichte
Anhaltspunkte und Sicherheit gibt und daß man ohne sie verloren wäre wie allein auf hoher See (Siehe Francis Markham, findet man dann die Referenz auf Freiheit als eine Bedingung, deren Gebrauch außerhalb der Verantwortung
The Booke of Honour. Or, Five Decads of Epistles of Honour, London 1625, S. 10).
1564
Dies wird in einer heute vielleicht merkwürdigen Argumentation damit begründet, daß es sich bei der Ehre nicht um
ein äußeres Gut handele, auf das man verzichten könnte; und gerade das mache die Ehre durch Mißachtung angreifbar.
Vgl. z.B. Fabio Albergati, Del modo di ridurre a pace le inimicitie private, Bergamo 1587, S. 57 ff. — immerhin als 1567
Vgl. für italienische Varianten Pompeo Rocchi, Il Gentilhuomo, Lucca 1568, insb. fol. 26, wo, mit ausdrücklicher
Problem gesehen und diskutiert.
Wendung gegen die übliche Meinung, die Unabhängigkeit von Geburt und Stand deutlich herausgestellt wird, und
1565
Siehe als einen knappen Überblick Norbert Conrads, Tradition und Modernität im adeligen Bildungsprogramm der besonders Bernardino Pino da Cagli, Del Galant'huomo overo dell' huomo prudente, et discreto, Venetia 1604, der
Frühen Neuzeit, in: Winfried Schulze a.a.O. (1988), S. 389-403. Moralvirtuosen und Kommunikationsvirtuosen (gleichsam als Nachfolgemodelle für Ethik und Rhetorik) voneinander
1566 unterscheidet und für beide Adel allein nicht genügen läßt.
Siehe hierzu Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität: Zur Interaktion von Politik und
1568
Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16. bis 18. Jahrhundert), Frankfurt 1991, insb. S. 261 ff. Jacques Esprit, La fausseté des vertus humaines, 2 Bde. Paris 1677/78, und, weniger systematisch, La Rochefoucauld.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 429 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 430

Gottes (außerhalb der Ordnungsmöglichkeiten der Gesellschaft) liegt, — so im Traktat de casu diaboli des Funktionssystemdifferenzen werden ignoriert; und man hätte sich ja auch kaum vorstellen können, daß
1569
Anselm von Canterbury. Unterschiede von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Religion, Familie usw. "patriotisch" integriert werden
Sicher hat diese ethisch-politische Version der Moral und auch ihre theologische Reflexion zunächst nur können. Es geht insofern also noch um alte Differenzen: das ungebildete, rohe Volk und die ausschließlich
Ansprüche an die ständische Oberschicht formuliert. Die Bauern, die Knechte, die Sklaven hatten andere lokalen Patrioten müssen aufklärend mit dem echten Patriotismus vertraut gemacht werden. Die
Sorgen, und erst die Figur der Seelenheilssorge wird allmählich auf die Gesamtbevölkerung erstreckt werden Gemeinschaftsidee des 19. Jahrhunderts hat dagegen bereits ganz andere Konnotationen. Sie reagiert auf die
1570
mit Hilfe der Beichte als Instrument sozialer Kontrolle. Für die Landbevölkerung, also für den weitaus modernen Lebensbedingungen dadurch, daß sie sich von ihnen unterscheidet.
überwiegenden Teil aller Menschen, wird man bis weit in die Neuzeit hinein mit dem Fortleben von Moralen Ein letztes Mal wird im 17. und 18. Jahrhundert die Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft
zu rechnen haben, die ihrem Typus nach in segmentäre Gesellschaften gehören — so mit Moralen der in (oder sogar: der "Welt" in der Welt) zelebriert, und zwar in Gestalt des Fürstenhofes. Aber an die Stelle der
engen Grenzen verdichteten Reziprozität, der Nachbarschaft und der Freigabe des Verhaltens nach außen. Die Natur ist jetzt das artifizielle Zeremoniell getreten, das höchste Macht und strengste Unterscheidung — nur
Kenntnis christlicher Lehre dürfte minimal gewesen sein, und erst mit dem Buchdruck und der Konkurrenz noch symbolisiert. Der Neubau von Schlössern — überall zwischen Versailles, Peterhof und Las Granjas —
1571
der Konfessionen setzt eine Art religiöse Volkspädagogik ein. Immerhin wird die Schriftkultur und das, stellt dafür die fast uniforme, nur noch im Prunk und der Wiederholung überbietbare Kulisse bereit. Und statt
was in den Schulen gelehrt wird, durch die Ethik und durch die biblischen Weisungen bestimmt, und dies so einer Ethik des natürlich-perfekten Seins findet man die angestrengte (und die Anstrengung verdeckende)
stark, daß alle Variationen der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, die im Übergang zur Neuzeit neuen Bemühung um schönen Schein. Ein Spiel der Gesellschaft in der Gesellschaft. "Große Welt ist
1575
strukturellen Entwicklungen Rechnung zu tragen suchen, als moralisch anstößig erscheinen. Das erklärt die Gesellschaftsgeist in höchster Potenz", kann man noch am Anfang des 19. Jahrhunderts lesen. Aber das
1572
Explosion des Sündenbewußtseins und der Seelenheilssorge im späten Mittelalter. Und es erklärt auch, daß wird wie ein Spuk verschwinden, sobald man sich genötigt sieht, zwischen Geselligkeit und Gesellschaft zu
Sondersemantiken für einzelne Funktionsbereiche sich gegen eine moralgeladene Begrifflichkeit durchsetzen unterscheiden.
müssen — so die Theorie der politischen Erfordernisse des Territorialstaates, die Theorie der rein individuell
begründeten, verpflichtungsfreien subjektiven Rechte, die Theorie der passionierten Liebe, des
wirtschaftlichen Profitstrebens, der schrankenlosen wissenschaftlichen Neugier. All das wird fast
zwangsläufig als Verstoß gegen die in Religion abgesicherte Moral wahrgenommen, da man nicht zwischen VII. Die Semantik Alteuropas IV: Die Schultradition.
der Moral selbst und ihrem Positivwert des Guten unterscheidet. So muß sich ein neues Denken, dessen
strukturbedingte Zwangsläufigkeit noch nicht erfaßt werden kann, gegen moralische Vorwürfe und Die ontologische Metaphysik und ihre Ordnungsderivate sind nicht als eine Ideenwelt zu verstehen, die
weitgehend auch gegen die Kirche durchsetzen, obwohl es eigentlich nur darum geht, sich der Form der kraft ihrer eigenen Selbstbehauptung für sich besteht. Die Tradition war zwar von einer solchen
Moral, dem Zwei-Seiten-Code der Bewertung als gut-oder-schlecht zu entziehen. Selbstbeglaubigung des Seins ausgegangen. Oder sie hatte angenommen, daß die Idealformen dadurch
Zu einer letzten Apotheose der Tugendmoral (also des éthos im alten Sinne) kommt es im 18. bestehen, daß die Engel die Welt so sehen können. Die letzte Erklärung lag im Mysterium der Schöpfung.
Jahrhundert. Moral wird jetzt ganz deutlich als differenzüberwindendes Konzept eingesetzt (und wenn etwas Eine soziologische Theorie, die davon ausgeht, daß Sinn nur in den Operationen besteht, die Sinn produzieren
an der soziologischen Theorie dran wäre, daß stärkere Differenzierungen höhere und unbestimmtere und reproduzieren, muß diese Frage anders anschneiden. Sie wird nicht zuletzt fragen müssen, wie dieses
Generalisierungen erfordern, so würde man hier fündig werden). Zunächst geht es vor allem darum, Moral semantische Weltgebäude tradiert wurde — vor allem in einer Zeit, in der zwar schriftliche Texte existieren,
aus den Abhängigkeiten von den dogmatischen Querelen der Religion herauszulösen und sie auf menschliche aber die Weitergabe des Wissens primär auf mündliche Kommunikation angewiesen ist, auf Schulen also.
Sensibilität zu gründen. Bald darauf erzwingen die politischen Differenzen der Territorialstaaten Europas eine Das Mittelalter hatte für diese Zwecke der Weitergabe von Wissen eine eindrucksvolle fachlich-
Neuformierung. Während gleichzeitig schon die Ethik versucht, sich als Theorie der Begründung moralischer thematische Organisation entwickelt, die über Jahrhunderte hinweg die Schulen beherrschte. Man unterschied
1573
Urteile neu (und dezidiert akademisch) zu formieren , setzt die Moral noch einmal dazu an, ein moralisch das Trivium und das Quadrivium. Im Trivium wurde Grammatik, Rhetorik und Dialektik gelehrt, im
verbindliches Solidaritätsprinzip zu formulieren. Es erstreckt sich von Schottland bis Polen, erfaßt Quadrivium dagegen Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Einem heutigen Bildungsplaner würde
Residenzstädtchen (in der ironisierenden Sicht Jean Pauls), Nationen und weltbürgerliche Einstellung und die merkwürdige Unvollständigkeit dieses Fachkatalogs auffallen. Bei näherem Zusehen erscheint jedoch eine
1574
heißt "Patriotismus". Dabei wird der antike Bezug auf die Vorfahren (wie in "pátrios politeía", "pátrios eindrucksvolle, geschlossene Konzeption, der man heute nichts annähernd Gleichwertiges entgegenzusetzen
nómos") weggelassen und durch einen aufklärerischen Impuls ersetzt. Offensichtlich reagiert der Begriff auf hätte. Im Trivium geht es um Kommunikation, im Quadrivium geht es um die Welt. Die Lehre der
regionale Differenzen mit dem Versuch, Unterschiede zu registrieren und zu einem allgemeinen Kommunikation wird geordnet nach sprachlichen, pragmatischen und wahrheitsbezogenen (logischen)
weltbürgerlichen Patriotismus zusammenzuschließen (oder so jedenfalls in Deutschland). Gesichtspunkten. Die Welt wird repräsentiert nach Zahl, Raum, Bewegung und Zeit. Das Schema ist so stark
generalisiert, daß es auf professionelle Sonderausbildungen, etwa zum Theologen, zum Juristen, zum Arzt,
1569 keine Rücksicht nimmt. Es verzichtet auch auf ein direktes Hineincopieren von Unterschieden der sichtbaren,
Zit. nach Opera Omnia, Seckau - Roma - Edinburgh 1938 ff., Nachdruck Stuttgart - Bad Cannstatt 1968, Bd. 1, S. 233-
272. erfahrbaren Welt in den Schulunterricht. Es nutzt die Möglichkeiten der Distanz, die die Ausdifferenzierung
1570
von Schulen bietet. Es ist als dialektisches, nicht als edukatives Schema gedacht. Nur der Unterricht findet in
Hierzu Alois Hahn, Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse:
den Schulen statt, die Erziehung ist Aufgabe der Familienhaushalte. Es geht also nur um Weitergabe des
Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), S. 408-
434. Wissens. Die strenge Einteilung in institutio und educatio dient zugleich der Entlastung des Unterrichts von
1571
stofflich nicht fassbaren Aufgaben. Erst um 1800 wird man die hybride Idee eines "erziehenden Unterrichts"
Die übliche, rückwärtsgerichtete These der "Säkularisierung" im Sinne einer Entchristlichung im Vergleich zum
fassen und dessen Konzipierung der neuen Schulpädagogik zumuten.
"christlichen" Mittelalter bedarf angesichts dieser Tatsachen einer tiefgreifenden Korrektur.
Die Dialektik ist auf eine exemplarische Präsentation von Unterrichtsthemen angewiesen. Schon die
1572
Jean Delumeau, Le péché et la peur: La culpabilisation en Occident (XIIIe - XVIIIe siècles), Paris 1983; Peter-Michael Fächer selbst dekomponieren Kommunikation und Welt in getrennt lehrbare, dann aber interdependente
Spangenberg, Maria ist immer und überall: Die Alltagswelten des spätmittelalterlichen Mirakels, Frankfurt 1987.
1573
Dazu ausführlicher Niklas Luhmann, Ethik als Reflexionstheorie der Moral, in ders., Gesellschaftsstruktur und
Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 358-447. 1575
Bei Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, zit. nach Werke Bd. 5, München 1963, S. 340 f. Und weiter heißt es: "Ihre hohe
1574
Siehe dazu Peter Fuchs, Vaterland, Patriotismus und Moral — Zur Semantik gesellschaftlicher Einheit, Zeitschrift für Schule ist der Hof, der das gesellige Leben, das ihm nicht Erholung, sondern Zweck und fortgehendes Leben ist, um so
Soziologie 20 (1991), S. 89-103; ders., Die Erreichbarkeit der Gesellschaft: Zur Konstruktion und Imagination mehr entfalten und verfeinern muß, da er gleichsam die höchsten Gegensätze von Macht und Unterordnung, von eigener
gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt 1992, S. 144 ff. Achtung und von fremder, ins freundliche Gleichgewicht eines schönen geselligen Scheins aufzulösen hat."
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 431 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 432

Sachverhalte. Innerhalb der Fächer kann das Exemplarische ausgebaut werden — sei es in der Form eines VIII. Die Semantik Alteuropas V: Von Barbarei zu Kritik
Lernens einleuchtender Regeln, Proportionen, Gesetze, sei es in der Form des Anekdotischen, der
geschichtlichen Beispiele. Parallel dazu bedient sich der professionsbezogene Unterricht biblischer Gleichnisse Nicht nur die hierarchische Stratifikation, auch die Zentrum/Peripherie-Differenzierung hat in der
bzw. sprichwortartiger Merkregeln, die ihrerseits, vor allem im Rechtsunterricht, zur Systematisierung der Semantik Alteuropas Spuren hinterlassen. Denn die Geschlossenheit der Weltbeschreibung konnte auch damit
1576
Fallpraxis beitragen. gestützt werden, daß Inkompatibles "peripherisiert" und als Randerscheinung behandelt wurde.
Diese dialektische Technik ermöglicht es, Aufmerksamkeit zu lenken, Gedächtnis anzureichern und In einer langen Tradition hat man in der Antike wie im späteren Europa versucht, die eigene Einheit
Prämissen unbemerkt mitzutransportieren. Es mag dann noch Theologie und Philosophie geben, die durch Ausgrenzungsbegriffe wie Barbaren, Heiden oder, in Süditalien noch heute, "saraceni" zu
Inkonsistenzen entdecken und auszugleichen versuchen. Aber das bleibt mehr Einzelbemühung und findet stabilisieren.
1579
Im Unterschied zu Namen oder zu Personalpronomina sind solche Ausgrenzungsbegriffe
fernab vom Schulunterricht statt. "Philosophie" ist nicht, wie heute, eine akademische Disziplin. Man muß nicht auf beiden Seiten gleichsinnig verwendbar. Vielmehr kann, eben weil die Zentrum/Peripherie-
also nicht mit offenen Prämissen arbeiten und kann voraussetzen, daß es eine richtige Weltbeschreibung gibt. Differenzierung realisiert ist, das Zentrum davon ausgehen, daß die eigene Beschreibung der Differenz zutrifft
Erst im 16. Jahrhundert kommt es zu einer Wiederentdeckung der antiken Skepsis und damit zu einer und die Ansichten der Peripherie oder der gänzlich ausgegrenzten Weltteile unberücksichtigt bleiben können.
Problematisierung aller Erkenntnisgewißheit. Die "Dialektik" eines Petrus Ramus kann nur ordnen, aber nicht Das Zentrum wiederholt, nicht ohne dafür Gründe zu haben, in der eigenen Weltbeschreibung die eigene
erklären, woher sie ihre binären Unterscheidungen nimmt. Und selbst die so beweiskräftige Geometrie, die kulturelle Überlegenheit. Die durchgesetzte Ungleichheit wird in die eigene Beschreibung hineingenommen
dem 17. Jahrhundert als Methode strenger Wissenschaft gilt, kann nicht alle ihre Begriffe definiert und zum Ausdruck gebracht. Wie in der Peripherie darüber gedacht wird, kann unbeachtet bleiben.
1577
einführen. Damit muß man rechnen, aber daraus folgt nicht, daß eine Ordnung des Wissens unmöglich Die Welt wird, entsprechend der Selbstdefinition als Zentrum, durch eine primäre zweiseitige
1578
sei. Alle für Wissen notwendigen Prämissen führen seitdem eine offene Flanke der Bezweifelbarkeit mit, Unterscheidung verletzt. Das "Andere" wird ausgegrenzt. Dabei geht es nicht nur um die Anfertigung einer
die jedoch als Skepsis inhaltlich nicht ausgearbeitet werden kann und deshalb nicht in den Schulunterricht Negativ-Copie, sondern um das Aufbrechen einer Totalität in ein Dies und ein Anderes, und so für das Objekt
durchschlägt. Erst der zunehmende Andrang neuen Wissens und neuer, über die Druckpresse verfügbarer Welt ebenso wie für das Objekt Gesellschaft. Mit einer solchen Scheide-Semantik konnte das paradoxe Ziel
Literatur wird hier die alten Fächer und exempla in Frage stellen. realisiert werden, eine Totalität zu entwerfen, und sich selbst zugleich in dieser Totalität als etwas besonderes
Seit dem 16. Jahrhundert kommt es in rascher Entwicklung zu Neugründungen, die zeigen, daß das alte zu isolieren. Damit konnte man die unvermeidlichen Disharmonien einer Großwelt unterbringen, konnte die
Schema als unvollständig empfunden wird. So entstehen "Akademien" für die besonderen Bedürfnisse Inkonsistenzen, die intern nicht verarbeitet werden konnten, externalisieren und im Politischen den faktischen
besonderer Gruppen — etwa "Ritterakademien" oder Akademien für Malerei und Skulptur, für Bereiche also, (vor allem: räumlichen) Schranken von Kommunikation und Kontrolle Rechnung tragen. Daß ein solcher
die vordem der häuslichen Erziehung bzw. den Zünften zugeordnet waren. Teils geht es dabei um Entwurf sich der Imagination seines Konstrukteurs verdankte (also etwa: daß die Barbaren nur für die
Intensivierung der Kommunikation innerhalb gleicher Interessenlagen, teils darum, Anschluß zu gewinnen an Griechen aber nicht für sich selbst Barbaren sind), konnte in der Konstruktion selbst nicht zum Ausdruck
neu sich bildenden soziale Formationen. Die alte Kosmologie des Wissens gerät dabei aus dem Blick — nicht gebracht werden. Deshalb mußte sie entweder als Religion angeboten oder geographisch zurechtphantasiert
unbedingt in ihren Stoffen, wohl aber als Form der Organisation der Tradierung des Wissens. werden.
1580
Dabei wirkten typisch Raumaufteilungen und Zeiteinteilungen (Schöpfungsberichte) zusammen,
Gravierender wirken sich, schon im späten 16. Jahrhundert und seitdem, die allgemeine Verunsicherung um sich gegenseitig zu plausibilisieren. Wenn es trotz allem zu einer Reflexion der Unterscheidung als einer
des Zeichengebrauchs, der sozialen Referenz der Zeichen und der Autorität, ihre Bedeutung zu definieren, auf bloßen Beschreibung kommt — so in Montaignes bekanntem Essai über die Kannibalen
1581
—, muß das
Erziehung und Unterricht aus. Zur Erziehung gehört jetzt mehr und mehr ein selbstreflexives Moment, letztlich zu einer Transformation der Semantik führen: Sie wird ihrer geographischen und demographischen
nämlich die Aufgabe, die Zöglinge zu befähigen, "good breeding" zu zeigen. Das gilt für Aufsteiger und für Basis beraubt, unterscheidet nur noch zivilisierte und wilde Völker und geht davon aus, daß der Unterschied
Angehörige der alten Oberschicht gleichermaßen. Von da her muß nun eingeschätzt werden, ob und wie weit durch Missionierung oder Zivilisierung vom Zentrum aus zu beseitigen sei. Die Endform ist dann der
man die Insignien von Wissen und Bildung beherrschen muß und sie, unter dem Regime des Taktes, auch "patriotisch" differenzierte Kosmopolitismus des 18. Jahrhunderts, der sich des Kulturvergleichs bedient, um
zeigen darf oder ob dies als Pendanterie ausgelegt wird. Generell nimmt damit der Bildungsdruck zu, aber die die Weltgeschichte auf Europa zu zentrieren.
Schulen, die im alten Stil weiterlehren, sind offensichtlich nicht in der Lage, diesen neuen Anforderungen zu Für die historische Semantik der alten Welt müssen diese semantischen Asymmetrien die Form gewesen
genügen. Man muß sich mehr auf Prozesse verlassen, die wir heute als Sozialisation bezeichnen würden — so sein, die jene Kontexterweiterung tragbar machte, die mit dem Übergang zur Hochkultur, mit der Einführung
als ob die gute Gesellschaft sich selber erziehen könnte. Die Konversation mit den Damen der Gesellschaft gilt von Schrift und entsprechenden Gedächtniserweiterungen und mit Ungleichheit als Form gesellschaftlicher
als besonders förderlich. Und Bildungsreisen werden empfohlen, um jemanden in die Lage zu versetzen, Differenzierung eingetreten war. In den religiösen, moralischen und politischen Selbstbeschreibungen jener
authentisch über etwas zu reden, was er selber gesehen hat (wie der griechische "theorós"). Erst gegen 1800 Zeit erscheint dies als Selbstüberforderung und, dadurch ausgelöst, als idealisierende Kontrastierung, als
wird man auch das Erziehungssystem auf funktionale Differenzierung umstellen und entsprechend Erziehung Tugendethik, oder umgekehrt als Sündenbewußtsein und als Erlösungsbedarf. Tugend mußte deshalb als
und Unterricht in einem System zusammenfassen. Seitdem gibt es eine speziell auf Schulen bezogene natürliche Verfaßtheit (héxis) des Menschen begriffen werden; und ebenso Sünde als habitus oder, wenn als
Pädagogik, die sich dieser Aufgabe annimmt. Und erst dann kann man den Schulen zumuten (so paradox dies Schuld, dann als unvermeidbare Schuld. Es gab kein Ausweichen vor den Bedingungen der Hochkultur im
in sich selbst ist), den jeweils neuesten Stand des Wissens zu tradieren. Zentrum der Gesellschaft; aber als Ausgleich dafür wurden die Ausgegrenzten mit Verachtung oder doch mit
dem Siegel kosmischer Minderwertigkeit belegt.
Welche Ausführung immer gewählt wird: sie gilt für das sich selbst beschreibende Zentrum und nicht für
die marginalisierten oder ausgegrenzten Bereiche der Kosmographie. Die Spannung, auf die man sich in der
1576
Siehe zum Beispiel Detlef Liebs (Hrsg.), Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 5. Aufl. München 1991, gesellschaftlichen Kommunikation einlassen mußte, konnte dann über komplexe Welterhaltungsrituale oder
oder für Studienmaterialien der Medizinschule von Salerno, The School of Salernum: Regimen salutatis Salerni: The über eine prinzipielle Unterscheidung von Idee und Realität, über einen normativ gefassten Naturbegriff, über
English Version of Sir John Harington (1607), Salerno, Ente Provinciale per il Turismo, o.J.
1577
"car il est évident que les premiers termes qu'on voudrait définir, en supposeraient de précédents pour servir à leur 1579
Siehe Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Harald Weinrich
explication, et que de même les premières propositions qu'on voudrait prouver en supposeraient d'autres qui les
(Hrsg.), Positionen der Negativität. Poetik und Hermeneutik VI, München 1975, S. 65-104.
précédassent..." so Blaise Pascal, De l'esprit géométrique et de l'art de persuader, zit. nach Œuvres, éd. de la Pléiade, Paris
1580
1950, S. 358-386 (362). Siehe für den Fall des frühen Mesopotamien (Unterscheidung Zivilisation/Wildnis) Gerdien Jonker, The Topography of
1578 Remembrance: The Dead, Tradition and Collective Memory in Mesopotamia, Leiden 1995, insb. S. 38 ff.
"Mais il ne s'ensuit pas de là qu'on doive abandonner toute sorte d'ordre" betont Pascal a.a.O. unter Berufung auf das
1581
(freilich begrenzte) Wissen der Geometrie. Des cannibales, zit. nach: Essais (éd. de la Pléiade), Paris 1950, S. 239 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 433 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 434

die Lehre von den zwei civitates usw. reformuliert werden. Sie blieb aber in umgearbeiteten Formen als In dem Maße, als die Differenzierung der Funktionssysteme an Prominenz gewinnt, ändert sich auch die
Differenz erhalten. Deren Orientierungswert muß darin gelegen haben, daß nur eine einzige Ontizität der Objekte, die Ausschließlichkeit ihres Seins und die Richtigkeit der Einstellungen zu ihnen im
Weltspaltungsdifferenz anzuerkennen war, so daß man mit einem übersichtlichen Zwei-Seiten-Schema Erkennen und Handeln. Die Gesellschaft muß, aus Gründen ihrer Strukturentwicklung, darauf verzichten,
arbeiten konnte und sich nicht auf eine polykontexturale Weltbeschreibung einlassen mußte. feste Positionen für richtiges Beobachten vorzugeben. Seit dem 16. Jahrhundert reagiert man auf der Ebene
Auch bei dieser semantischen Anlage brauchte die Gesellschaft sich selbst nicht so zu akzeptieren, wie der Selbstbeschreibungen mit Unsicherheit, mit Kämpfen um die richtige Wahrheit, mit der Erfahrung eines
sie sich vorfand. Aber die Kritik konnte und brauchte sich nicht auf die Kriterien beziehen; und wenn es zu Ordnungsverlustes, mit semantischen Doppelungen, zum Beispiel der Unterscheidung wahrer und falscher
1585
Kriterienzweifeln kam, dann im Sinne einer Umleitung des Problems in die philosophische und religiöse Tugend, und mit der Fixierung auf eine Welt des Anscheins, auf die der Mensch sich einzustellen habe.
Anerkennung der Unzulänglichkeit der kognitiven Ausstattung der Menschengattung. Was an Kritik möglich Nur in einer sehr langen, ständig auch gegen sich selbst reagierenden semantischen Evolution werden die
1586
blieb, wurde deshalb moralisch schematisiert. Auch und gerade das Zentrum war als moralisch defekt zu Konsequenzen deutlich. Es wäre sicher falsch, diese Entwicklung als "Weltverlust" zu beschreiben , denn
begreifen, und nur so war die Primärdifferenz mit den Realitäten einigermaßen in Einklang zu halten. Noch selbstverständlich findet all dies in der Welt statt; aber die Weltvorstellung muß dieser Evolution auf
die Kritik, die im Namen von "Aufklärung" Geschichte geworden ist, versteht Kritik als Mittel zur struktureller und semantischer Ebene angepaßt werden, letztlich unter Verzicht auf die Beobachtbarkeit der
Verwirklichung einer vollwertigen Menschheit. Man externalisiert nicht mehr, man bringt die Welt und damit auf jede in der Welt gegründete Sicherheit.
Unzulänglichkeiten und Rückständigkeiten in die Gesellschaft ein. Der Gott ist jetzt die selbstkritische Schon in der Antike gab es Anläufe, die überlieferte Adelssemantik durch ein stärker auf
Vernunft, Öffentlichkeit ist ihr Medium und Literaturwerden ihr Schicksal. Daß andere Völker sich dem zu Funktionsbereiche bezogenes Wissen aufzulösen und abzulösen. Das gilt besonders eindrucksvoll für die
1582
fügen haben, versteht sich von selbst , denn gerade Selbstkritik kann ja universalisiert werden. Fraglos Differenzierung verschiedener Diskurse entlang der Differenzierung unterschiedlicher Kommunikationsmedien
1587
verbindet sich damit aber auch ein moralisches Postulat, das dem Menschen den Ausgang aus seiner im klassischen Griechenland. Auch im spätrepublikanischen Rom findet man entsprechende Tendenzen,
1588
selbstverschuldeten (selbst verschuldeten!) Unmündigkeit abverlangt. Die moralische Generalisierung läuft teil abhängig von griechischen Importen, teil in eigener Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition. Für
über Selbstreferenz, aber es bleibt bei einem moralischen Anspruch des Menschen an den Menschen. ein Durchhalten dieser Tendenz reichten jedoch weder die kommunikationstechnischen noch die
Erst im nachrevolutionären 19. Jahrhundert scheint sich das definitiv zu ändern. Die marxsche sozialstrukturellen Vorgaben aus. Regressive Entwicklungen hielten diesen Umbau um mehr als tausend Jahre
Gesellschaftskritik kommt ohne ein moralisches Urteil über die Kapitalisten aus — und handelt sich eben auf. Erst im Hochmittelalter und dann vor allem als Folge des Buchdrucks findet man erneut Vorstöße in
damit die Probleme einer polykontexturalen Gesellschaftsbeschreibung ein. Ihre Charakterisierung anderer gleicher Richtung, und zunächst ein Wiederaufgreifen der römischen Tradition mit Bezug auf die
Gesellschaftsbeschreibungen als "Ideologien" schlägt auf sie selber zurück. Und das zeigt: die Form einer Unterscheidung von Religion, Recht und Politik.
Zentrum/Peripherie-basierten Beschreibung "wir und die anderen" funktioniert nicht mehr. Restprobleme In einem langwierigen Prozeß, der erst um 1800 zum Abschluß kommt, werden allmählich die mehr
lassen sich nicht mehr externalisieren. Sie müssen der Gesellschaft selbst zugerechnet werden. indirekten Bezüge der Semantik auf eine hierarchisch geordnete Welt, gelöscht, und damit wird auch die
Das geschieht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Hilfe eines neuen Begriffs: des Begriffs der Verbindlichkeit von Tradition infrage gestellt. Die alteuropäische Semantik lebt, was ihre Überlieferungsform
Kultur. Kultur heißt jetzt nicht mehr Pflege von ..., sondern meint eine besondere Art von Beobachtung mit angeht, aus dem Gedächtnis. Sie erinnert Dinge und Orte (tópoi). Das Gedächtnis stellt die Welt so vor, wie
Blick für Vergleichsmöglichkeiten. Auch Barbaren, ja selbst die ältesten oder entlegensten Formen sie ist, weil diese Sichtweise sich immer schon bewährt hat. Es kommt nicht darauf an, den Ursprung zu
1583
gesellschaftlicher Lebensführung haben oder sind jetzt Kultur. Auf eigentümliche Weise profitiert Kultur markieren oder sich zu erinnern, seit wann man es weiß. Das "immer schon" genügt. Insofern trifft der Begriff
von Vergleichsmöglichkeiten; denn das Vergleichbare fällt gerade dadurch auf, daß die verglichenen der Natur die Sache. Die Vernunft entfaltet sich als Natur innerhalb der Natur. Nur in Bezug auf den
Sachverhalte in allen anderen Hinsichten verschieden sind und verschieden bleiben. Vor diesem Hintergrund Schöpfungsakt wird die Welt als kontingent vorgestellt. Im übrigen erlebt und kommuniziert man in einer
wird das, was dann trotzdem als gleich erscheint, mit Bedeutung aufgeladen und beweist damit eine Art Tradition, die als solche nicht reflektiert wird. Es wäre undenkbar, wie dann Descartes überlegen wird, daß
Ordnung, die nicht mehr auf ihren Ursprung oder auf das Wesen der Dinge zurückgeführt werden kann. Der alles auf Irrtum und Täuschung beruhe. Die Schule der Skepsis weist zwar nach, daß die Frage nach Gründen
Vergleich selbst wird in die Kultur einbezogen, wird zu einer kulturellen Praktik. Jedes kulturelle Item wird kein Ende hat. Aber das heißt ja andererseits auch, daß man sich an das Gegebene halten muß und nicht
damit der Selbstreferenz und der Fremdreferenz ausgesetzt — wird eine Art Töpferei neben anderen, eine anders kann. Und das gilt nicht nur für das, was ist, sondern auch für das, was sein soll; denn beides ist, von
Religion neben anderen. Und je differenzierter der Vergleich ausfällt, um so deutlicher wird, daß die eigene Akzidentien abgesehen, als Natur gegeben. Undenkbar auch, daß man die Wahl hätte, ob man der Tradition
Kultur nicht auf allen Dimensionen als überlegen gelten kann. Kultur motiviert kritische Selbstreflexion, folgen solle oder nicht — ein Problem, in das sich dann Edmund Burke angesichts der Französischen
1584 1589
nostalgische Rückblicke oder auch Artikulation von Problemen, die für eine künftige Lösung anstehen. Revolution verstricken wird. Undenkbar schließlich, daß die Frage, ob wahr oder unwahr, auf die
Gesamtbeschreibung der Welt oder der Gesellschaft bezogen würde.
Dies Eingebundensein in eine Tradition löst sich im Laufe der frühen Neuzeit nach und nach auf. Das
beginnt damit, daß die Renaissance bezogen auf die Gesellschaft deutlich zwischen Gegenwart und
IX. Die Reflexionstheorien der Funktionssysteme

1585
um "Person" sein zu können, wie dann Baltasar Gracián es darstellen wird. Siehe vor allem das Spätwerk Criticón,
oder: Über die allgemeinen Laster des Menschen, dt. Übers. Hamburg 1957, mit der Konsequenz, "daß alles in diesem
Leben im Bilde vor sich geht, ja sogar in der Einbildung"; und die Konsequenz für die Kommunikation lautet: Übernahme
dieser Einsicht in die Reflexion: "Sehen, hören, schweigen" (a.a.O. S. 108 und S. 49).
1582
Noch für Husserl im übrigen, wie man seinen Wiener Vorträgen entnehmen kann: Alle anderen Menschengruppen 1586
So z.B. ohne ausreichende begriffliche Klärung Günther Dux, Geschlecht und Gesellschaft. Warum wir lieben: Die
werden sich im ungebrochenen Willen zu geistiger Selbsterhaltung europäisieren, "während wir, wenn wir uns recht
romantische Liebe nach dem Verlust der Welt, Frankfurt 1994.
verstehen, uns zum Beispiel nie indianisieren werden" — so in: Die Krisis des europäischen Menschentums und die
1587
Philosophie, zit. nach dem Abdruck in: Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die Vgl. oben
Transzendentale Phänomenologie, Husserliana Bd. VI, Den Haag 1954, S. 314-348 (320). 1588
Siehe zur Ablösung einer "ragione signorile" durch ein spezifisch auf Religion, Recht und Politik bezogenes Wissen in
1583
Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Kultur als historischer Begriff, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. der Zeit von Quintus Mutius Scaevola Aldo Schiavone, Nascita della giurisprudenza: Cultura aristocratica e pensiero
4, Frankfurt 1995, S. 31-54. giuridico nelle Roma tardo-republicana, Bari 1976.
1584 1589
Siehe nur Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen, zusammen mit der Abhandlung über naive Siehe die berühmten Reflections on the Revolution in France (1791), zit. nach der Ausgab der Everyman's Library,
und sentimentalische Dichtung ...... London 1910.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 435 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 436
1595
Vergangenheit unterscheidet. Wenn Vergangenheit als Tradition zunächst eine Form ist, in der die Gegenwart verlegt wird. Das trifft für die unmittelbare Beschreibung sozialer Verhältnisse zu und auch für das
sich dessen versichert, was ihr gegeben und für sie indisponibel ist, wird Vergangenheit in kaum merklichen Verständnis von Geschichte; aber sicher nicht für all das, was an tieferliegenden Denkstrukturen von der
Übergängen (aber vollends im 18. Jahrhundert) zu einer datierten Geschichte, die nicht mehr aktuell ist, Eindeutigkeit der konkurrenzfreien Beobachtungsposition in der Gesellschaft profitiert hatte. Die moderne
1590
sondern allenfalls noch ideologisch re-aktualisiert werden kann. Zunächst macht der Buchdruck die Gesellschaft muß ohne Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft zurechtkommen, und sie hat dafür
Heterogeneität der überlieferten Materialien sichtbar und legt den Autoren die Vorstellung nahe, daß sie für noch keine semantischen Formen gefunden, die der eigentümlichen Geschlossenheit und Überzeugungskraft
die gleichzeitig Lebenden schreiben, um sie zu belehren und zu überzeugen. Das führt zu der Erfahrung, daß der alteuropäischen Semantik die Waage halten könnten.
andere sich nicht überzeugen lassen. Seit etwa 1600 entstehen bereichsspezifische Reflexionstheorien, die mit Um die Kontinuitätsbrüche aufzuspüren, die im Übergang zur modernen Gesellschaft aufreißen, können
Formeln wie Staatsräson oder balance of trade Funktionslogiken ausarbeiten. Das mag in einer bewußten wir uns daher nicht allein an die Oberflächenstrukturen der Wort- und Begriffsgeschichte halten, auch wenn
Aufnahme von Tradition geschehen. So etwa in der gegen politische Übergriffe gerichteten Theorie des deren Material weiterhin die Datenbasis unserer Beweisführung liefert. Wir müssen soziologischer ansetzen
Common Law, die auf die Einheit von Vernunft und Tradition setzt — aber eben schon als Argument, ja fast und gehen zu diesem Zwecke von der im 4. Kapitel ausgearbeiteten These eines Umbaus der
1591
schon als Ideologie. Und in dem Maße, als man sich entweder auf Sachzwänge oder auf Tradition beruft Differenzierungsform aus. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich durch einen Primat funktionaler
und Neuerungen bejaht oder für eher schädlich hält, steht man bereits außerhalb der Tradition und beurteilt sie Differenzierung aus. Wenn das zutrifft, müßten die Bruchstellen im Verhältnis zur alteuropäischen Tradition,
wie ein Beobachter andere Beobachter. Die Begriffe für wirtschaftliche oder wissenschaftliche Rationalität soweit sie nicht schlicht auf die neue Technik des Buchdrucks zurückzuführen sind, sich dort einstellen, wo
oder für selbstkritische Vernunft wenden sich explizit gegen Bindung durch Tradition — ohne allerdings zu Autonomie und Eigendynamik der forciert ausdifferenzierten Funktionssysteme sich bemerkbar machen, und
bemerken, daß sie auf diese Weise selbst eine Tradition begründen. eine Interpretation verlangen. Und das läßt sich in der Tat auf vielfältige Weise zeigen.
Ungeachtet dessen fesseln die Begriffsdispositionen der alteuropäischen Semantik das europäische Die bedeutendsten Errungenschaften moderner Kommunikation bilden und entwickeln sich dort, wo
Denken bis weit in die Neuzeit hinein. Je nach der Tiefenlage der Begriffe gilt dies in unterschiedlicher Dauer. Funktionssysteme sich ausdifferenzieren. Die ersten Ansätze zu einer Selbstbeschreibung der Moderne findet
Der Begriff des Politischen wird noch um 1700 im alten Sinne des öffentlichen Verhaltens, also im Kontrast man nicht als Reflexion der umfassenden Einheit des Gesellschaftssystems — hier blockiert nach wie vor der
1592
zur Privatsphäre des eigenen Hauses verwandt. Der Begriff der societas civilis wird in die modernen Humanismus den Zugang — und auch nicht als Bemühen um eine Nachfolgesemantik für die alteuropäische
Sprachen übersetzt und beherrscht noch im 18. Jahrhundert als société civile oder civil society die Diskussion Beschreibung, die als Einheit gar nicht sichtbar, nämlich gar nicht unterscheidbar, sondern als Tradition
— wie zuvor beschränkt auf selbständige Personen. Im angelsächsischen und speziell im nordamerikanischen schlicht gegeben ist. Was auffällt und sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht nach
Kontext bestimmt dieser Begriff — oder genauer: die Unterscheidung von civil society und government — kommunikativer Behandlung ruft, sind die Autonomieprobleme der neuen Funktionssysteme, die sowohl den
1593
noch die Verfassungsdiskussionen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Auf dem Kontinent gewinnt der Essenzenkosmos als auch die Moralcodierung des Mittelalters sprengen. Die Wahrnehmung dieser Probleme
Gesellschaftsbegriff jedoch, da man Selbständigkeit durch Eigentum gewährleistet sieht und Eigentum beginnt im späten 16. Jahrhundert mit der Souveränitätsproblematik des politischen Systems und mit dem
geldwirtschaftlich versteht, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine ausschließlich wirtschaftliche Ersetzen der Fürstenspiegel durch die Lehre von der Staatsräson. Im 18. Jahrhundert hat sie dann nahezu alle
1594
Bedeutung mit der Folge, daß man die als Wirtschaft begriffene Gesellschaft dem Staat gegenüberstellen Funktionssysteme erfaßt, vor allem auch die Wissenschaft, die Wirtschaft, das Recht, die Erziehung, die
kann. schönen Künste.
Sehr viel länger kontinuieren die tieferliegenden Komponenten der alteuropäischen Semantik. Den Angesichts des Anregungsreichtums dieser Literatur und des unverbundenen Nebeneinanders ihrer
Begriff der Umwelt (entsprechend englisch und französisch environment, environnement), der die Vorstellung Neubildungen müssen wir uns mit wenigen Andeutungen begnügen. Dabei kommt es uns darauf an, die
des periéchon ablöst, erfindet man erst am Anfang des 19. Jahrhunderts, und noch am Ende unseres Mehrgleisigkeit und Heterogenität einer insgesamt doch einheitlichen und nahezu gleichzeitigen Tendenz
Jahrhunderts ist die Umstellung der Systemtheorie auf die Unterscheidung von System und Umwelt (vgl. Kap. aufzuzeigen, nämlich der Tendenz, in den einzelnen Funktionssystemen Theorien der Reflexion ihrer selbst zu
1,..) nicht allgemein akzeptiert. Erst recht gilt der Kontinuitätszwang mangels Ersatz für die zweiwertige entwickeln. Die Erklärung dieses Phänomens kann nicht in wechselseitigen ideengeschichtlichen Einflüssen
Logik und mit ihr für ein ständiges Wiederkehren ontologischer Weltbeschreibungen. Das Ende der liegen (die es in begrenztem Umfange natürlich auch gibt), sondern im Übergang des Gesellschaftssystems zur
alteuropäischen Semantik und mit ihr der an Natur, an Vernunft, an Ethik gerichteten Erwartungen läßt sich, Primärdifferenzierung nach Funktionen.
wenn man überhaupt davon sprechen kann, nicht datieren, bei allen deutlich sichtbaren Es fällt auf, daß diese Bemühungen um Selbstbeschreibung Theorieform annehmen, und das heißt: daß
1596
Korrosionserscheinungen. Entsprechend fraglich ist es, wenn der Umbruch der Semantik von traditional auf sie problemorientiert und begrifflich gearbeitet sind und damit auf Vergleiche abzielen. Aber der
modern (mit viel Plausibilität im einzelnen) in die wenigen Jahrzehnte des ausgehenden 18. Jahrhunderts Vergleichsradius wird auf das eigene System beschränkt. Die Ordnung des Rechts wird nicht mit der Ordnung
der Liebe verglichen, sondern ihr gegenübergestellt. (Man denken nur an das alte, tief wurzelnde Mißtrauen
1590 der Juristen gegen Schenkungen.) Man verzichtet auf alte Formen der Analogiebildung und stützt sich statt
Hierzu aus der Sicht des 19. Jahrhunderts, "Konservatismus" als Ideologie beschreibend, Karl Mannheim,
Konservatismus: Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt 1984.
dessen auf systemeigene Probleme und Unterscheidungen — etwa: wie kommt die Erkenntnis zu ihrem
1591
Gegenstand; oder: was ist die Einheit in komplementären Rollendifferenzen wie Herrscher und Untertan
Siehe Gerald J. Postema, Bentham and the Common Law Tradition, Oxford 1986, insb. S. 3 - 80 zu Coke und Hale. Für (Staat) oder Produzent und Konsument (Markt) oder Lehrer und Schüler (erziehender Unterricht) oder
das 18. Jahrhundert vgl. auch David Lieberman: The Province of Legislation Determined: Legal Theory in Eighteenth-
Century Britain, Cambridge Engl. 1989.
Liebhaber und Geliebte (Passion). In genau dieser Frage nach der Selbigkeit des Verschiedenen steckt ein
1592
verborgenes Paradox, das nur in wenigen Fällen (vor allem in Charakterisierungen passionierter Liebe)
Ein Beispiel: Nicholas Rémond des Cours, La véritable politique des Personnes de Qualité, Paris 1692. Bei Julius ausgearbeitet, im übrigen aber als verborgene Quelle von Theoriebildungen genutzt wird. Dabei werden schon
Bernhard von Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft Der Privat-Personen, Berlin 1728 findet man, unter
Weglassung aller korporativen Bezüge, eine nochmals generalisierte Abstraktion: "Politica - Klugheit zu leben", und zwar,
vorliegende, schon formulierte Generalisierungen (etwa der Jurisprudenz, der historischen Beispiele für
wie sich aus dem Kontext ergibt, nach dem Schema von Nutzen und Schaden. politische Erfolge/Mißerfolge, des Handelns oder der Liebesschicksale) benutzt; aber Reflexionstheorien sind
1593
John G.A. Pocock, The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition,
1595
Princeton 1975, nennt dies treffend "civic humanism". Zur anschließenden Diskussion vgl. auch Istvan Hont / Michael So das von Reinhart Koselleck entworfene Programm für das Wörterbuch Geschichtlicher Grundbegriffe, Stuttgart, ab
Ignatieff (Hrsg.), Wealth and Virtue: The Shaping of Political Economy in the Scottish Enlightenment, Cambridge Engl. 1972.
1983. 1596
Wir setzen hier nicht voraus, schließen aber auch nicht aus, daß Reflexionstheorien der Funktionssysteme im
1594
Mirabeau formuliert z.B.: "Je vois que la société n'est qu'un amas d'achats et de ventes, d'échanges et de rapports des Wissenschaftssystem anschlußfähig sind. Das kann mehr oder weniger der Fall sein. In jedem Falle würde aber die
droits et de devoirs", in: L.D.H. (=Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau), La science ou les droits et les devoirs de wissenschaftliche Auswertung andere Rekursionen in Anspruch nehmen als diejenigen, die für die Funktion der
l'homme, Paris 1774, S. 76. Selbstbeschreibung eines Funktionssystems benötigt werden.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 437 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 438
1600
mehr als nur Erfahrungssammlungen. Sie schließen auch Zukunftsperspektiven ein, fordern Autonomie, von civitas auf respublica und, im Zusammenhang damit, von cives auf subditos. Damit wird eine
erläutern Problemlösungskapazitäten und individualisieren ihr System. spezifisch politische, staatsbezogene Rollenkomplementarität bezeichnet, die davon absieht, den Fürsten als
Vor allem sind Reflexionstheorien durch ein Verhältnis der Loyalität und der Affirmation an ihren civis oder als Adeligen an seine entsprechenden Pflichten zu erinnern und auf der anderen Seite zunehmend
Gegenstand gebunden. Sie werden nicht in radikal skeptischer oder nihilistischer Weise bezweifeln, daß es anerkennt, daß das Untertansein nicht mit dem Menschsein identisch ist, sondern auf Grenzen stößt, die nicht
überhaupt Sinn macht, ein der Funktion entsprechendes System zu bilden. Diese Loyalität ergibt sich wie von mehr ständisch, wohl aber in der Anerkennung von Menschen- und Bürgerrechten zum Ausdruck kommen.
selbst schon aus der Einschränkung des Vergleichsradius auf die im System selbst brauchbaren Während civis die Perfektion des Menschenseins-in-der-Gesellschaft bedeuten sollte, ist der Untertan
Abstraktionen. Aber sie ist oft auch eine Selbstsinngebung von Reflexionseliten, die mit den Grundoperationen rollenspezifisch durch seinen Unterschied vom Menschen definiert.
des Systems nicht mehr befaßt sind — von Pädagogen, die nicht unterrichten, von Juristen, die für Lehre Darin allein lag jedoch noch keine Lösung des Souveränitätsparadoxes der Beschränktheit von Willkür.
freigestellt sind, von Theologen, die nicht predigen, nicht fasten, nicht (oder allenfalls noch "privat") beten. Die Antwort darauf liegt unter Aufgreifen der inzwischen etablierten Menschenrechtssemantik schließlich in
Eine Theorie der Reflexionstheorien kann solche Ähnlichkeiten herausfiltern; aber vor allem wird sie sich der Erfindung von "Verfassungen" mit ihren beiden Komponenten: den Menschenrechten für die Abgrenzung
beeindrucken lassen durch die Verschiedenartigkeit der Formen, die auf diese Weise das strukturelle Resultat nach außen und dem Gewaltenteilungsprinzip als Mechanismus juristischer Selbstkontrolle. Verfassungen
1601
der gesellschaftlichen Evolution semantisch honorieren und verständlich machen. sind — jedenfalls wenn man dem "original intent" der "Federalist Papers" folgen darf — nötig genau
Im politischen System beginnt die moderne Reflexion mit dem Übergang vom mittelalterlichen zum deshalb, weil weder Religion noch Moral die Interessen sortieren und die Leidenschaften kontrollieren können;
modernen Souveränitätsbegriff, der nicht mehr nur die Unabhängigkeit im Verhältnis zu Reich und Kirche, also aus den Gründen, die schon Hobbes bewegt hatten. Auf der Gleitschiene dieses funktionalen Arguments
sondern die Einheit der Staatsgewalt in einem Territorium zu erfassen sucht. Es scheint, daß in der Praxis der läßt sich der Übergang von absoluter Monarchie zur Verfassungstheorie problemlos bewerkstelligen. Die
obersten Staatsgewalt, die durch keine andere Gewalt gezwungen werden kann, ein Moment der (rechtsfreien) politische Theorie wird Theorie des konstitutionellen Staates. Man arbeitet mit neuen Unterscheidungen, eben
Willkür nicht vermieden werden kann. Das ist am Beginn ein gegen den Adel gerichtetes Konzept, der in der von Menschenrechten und Gewaltenteilung als Substanz konstitutioneller Regelungen oder der (für das
1597
Fragen des Rechts, der Ehre und der Moral gewohnt ist, eigenem Gutdünken zu folgen. Die französischen Mittelalter undenkbaren) Unterscheidung von änderbarem und nichtänderbarem positivem (!) Recht. Und
Legisten definieren deshalb Rechtsnormen als Willkür und argumentieren: wenn schon Willkür, dann nur an wieder bleibt das, was diesen Unterscheidungen als Einheit zu Grunde liegt, unreflektiert.
einer Stelle, an der Spitze des Staates. Für das Wissenschaftssystem stellt dasselbe Problem der Identitätsreflexion sich in ganz anderen
Zunächst versucht man, im Begriff der Staatsräson das dafür notwendige Geheimwissen zu Formen. Nach der für Alteuropa gültigen Erkenntnisbeschreibung wird die Erkenntnis von dem Erkannten
1598
organisieren. Die Kenntnis seiner eigenen Tugend genügt dem Fürsten nicht mehr, und der neu gefaßte bewirkt, und zwar in der Weise, wie Gleiches Gleiches bewirkt. Darin liegt die Garantie ihrer
Begriff des Staates und eine beginnende Ämterlehre formieren ein mehr oder weniger administratives Wissen Übereinstimmung mit der Realität. Sie ist jedenfalls kein Willensakt, denn sonst würde sie je nach der Art und
neu. Der "absolute Staat" wird Verwaltungsstaat. Das läßt das Problem der Willkür an der Spitze ungelöst. Richtung des Willens verschieden ausfallen. Vielmehr hat sich der Erkennende dem, was als Erkenntnis auf
Es wird als Ausnahmerecht, als ius eminens, zunächst nur juristisch bezeichnet. Auch spricht man seit den ihn einwirkt, zu stellen; und er muß sich nur vor Irrtümern, Korruptionen, eigenen Leidenschaften schützen.
letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts von "loix fondamentales", um die Bindung des Fürsten über ein Beides, Erkenntnis und Erkanntes, ist Natur.
Selbstreferenz-Argument zu begründen: Er darf nicht so handeln (zum Beispiel Staatsgut veräußern), daß er Mit dieser Version des Erkenntnisvorgangs mußte die neuzeitliche Wissenschaftsbewegung, die forschen
seine eigene Position untergräbt. Diese Regel ist jedoch juristisch unbrauchbar, weil sie keine Abgrenzung und Neues entdecken will, brechen. Zunächst wird zwar zur Abwehr theologischer Kontrollansprüche darauf
gegen Normalpolitik vorsieht. Für andere Funktionssysteme, vor allem für die auf Eigentum gegründete insistiert, daß es sich bei der Wissenschaft um eine natürliche Erkenntnis natürlicher Phänomene handele, um
Wirtschaft, mußte eine Selbstdefinition der Einheit von Politik als Willkür, die ursprünglich gegen den Adel eine doppelte Natur, die keinerlei Geheimnisse verletze und gewisses (nicht nur hypothetisches) Wissen
1602
gerichtet gewesen war, unerträglich werden in dem Maße, als sie ihre Eigenlogik entdeckten. erzeugen könne, besonders mit Hilfe der Mathematik. Sodann kommt ein verändertes Verständnis von
Viel radikaler spitzt Hobbes das Problem der Willkür zu. Es ist zunächst als natürliches Recht ein "Theorie" hinzu, das auf (im Idealfalle mathematische) Abstraktion abstellt und nicht mehr auf die Schau des
Problem der Körper, die töten und getötet werden können. Dann wird die Willkür dupliziert und konzentriert. Ganzen in den Teilphänomenen. Diese neue Version bahnt den Weg in Richtung funktionale Differenzierung.
1599
Durch Vertrag entsteht ein Leviathan, ein artificial man, für den Willkür als Recht gilt. Das instauriert eine In dem Maße schließlich, als die Wissenschaftsbewegung sich erkenntnistheoretisch selbst beobachtet, und
neue Unterscheidung, deren eine Seite der Willkür in Recht transformierende Souverän ist und deren andere das beginnt etwa mit Locke, wird die Selbstbeteiligung des Erkennenden an allen Wissenserwerben bewußt.
die Untertanen, die eine zweite, nicht mehr natürliche Individualität erhalten, die ihnen ein Nach und nach wird dann das Streben nach unbedingt sicherem Wissen und mit ihm die Unterscheidung von
Korrespondenzverhältnis von Rechten und Pflichten garantiert. strengem Wissen und bloßem Meinungswissen (epistéme/dóxa) als Bezugspunkt der Reflexion ersetzt durch
So klar erkennbar ist, daß die Semantik der Willkür einen Vorgang der Abkopplung und das Problem der Einheit in der Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand. Wie immer ist die Einheit des
Ausdifferenzierung beschreibt, so unklar bleibt zunächst die Lösung des damit zugespitzten Problems. Denn Unterschiedenen nur noch als Paradoxie fassbar, womit die Reflexion die Form der Paradoxieauflösung
empirisch gesehen gibt es ja gar keine Willkür, sondern nur mehr oder weniger erfolgreiche, mehr oder
weniger konsensfähige Politik. Eine offensichtliche Reaktion findet sich in der Umstellung der Terminologie

1600
Für das lange Nebeneinanderherlaufen beider Terminologien siehe Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und
absoluter Staat, Wiesbaden 1970, S. 336 ff. und ders., Grundrechtskonzeptionen in der protestantischen Rechts- und
1597
Noch zur Zeit Richelieus charakterisiert Guez de Balzac den Hochadel entsprechend: "Ils manquent point de fidélité, Staatslehre im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: Günter Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen
pourveu qu'on se fie en eux. Ils ne desservent point, mais ils veulent servir à leur mode. Ils veulent estre Arbitres de leur zur spätbürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987, S. 180-214 (200 ff.).
devoir, et de leur obéissance". (Œuvres, Paris 1665, Bd. II, S. 170). 1601
Siehe Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, The Federalist Papers, zitierte Ausgabe New York 1961, insb.
1598
Hierzu Michael Stolleis, Arcana imperii und Ratio status: Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. No. 10.
Jahrhunderts, Göttingen 1980; ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit: Beiträge zur Geschichte des öffentlichen 1602
Siehe dazu Benjamin Nelson, Die Anfänge der modernen Revolution in Wissenschaft und Philosophie: Fiktionalismus,
Rechts, Frankfurt 1990; Niklas Luhmann, Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner
Probabilismus, Fideismus und katholisches "Prophetentum". in: ders., Der Ursprung der Moderne: Vergleichende Studien
Politik, Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 65-148.
zum Zivilisationsprozeß, Frankfurt 1977, S. 94-139; ders., Copernicus and the Quest for Certitude: "East" and "West", in:
1599
Über diese "Paradoxie" eines Rechtsbindungen erst begründenden Vertrages ist viel diskutiert worden. Vor allem aber Arthur Beer / K.A. Strand (Hrsg.), Copernicus Yesterday and Today, New York 1975, S. 39-46; ders., The Quest for
wäre zu beachten, daß nach Hobbes Autorität auf Autorisation beruht (Leviathan II,17), also nicht auf Natur und auch nicht Certitude and the Books of Scripture, Nature, and Conscience, in: Owen Gingerich (Hrsg.), The Nature of Scientific
auf besonderen Vernunftqualitäten. Discovery, Washington 1975, S. 355-372.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 439 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 440
1603
aufnimmt. Damit wird zunächst aber nur altes Gedankengut (etwa: Abbildtheorie) im Kontext einer Außerdem begann man mehr und mehr für den Markt zu produzieren, und zwar auch in der Landwirtschaft.
fundierenden Paradoxie reformuliert. Da die Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand nicht Damit löste sich allmählich die alte Unterscheidung von (prinzipiell selbstgenügsamem) Haushalt und Handel
aufgegeben werden kann, oszilliert man hilflos zwischen empiristischen und idealistischen, zwischen auf. Auch deshalb wird es notwendig, das Profitmotiv aus den herkömmlichen moralischen Beschränkungen
1606
gegenstandsbezogenen und erkenntnisbezogenen Lösungen. Die Innovationen entstehen gleichsam als zu lösen und es auf sich selbst zu stellen ; denn wie anders als profitorientiert sollte man Investitionen für
1607
Nebeneffekt dieses Oszillierens — so die pragmatische Behandlung des Induktionsproblems durch Hume und marktorientierte Produktion kalkulieren? Desgleichen muß die moralische Orientierung am Unterschied
1608
die bewußtseinstheoretische (transzendentalphilosophische) Lösung Kants. Die Neufassung des von Egoismus und Altruismus im Umgang mit knappen Gütern aufgegeben werden. In der Moral wie in
Prozeßbegriffs im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts ermöglicht schließlich eine "dialektische" Theorie des der Ökonomie wird dem Individuum zugemutet, sich selbst als Beobachter anderer Beobachter zu beobachten
Prozessierens von Unterscheidungen. Aber im Anschluß an diese Großtheorien gibt es dann eigentlich nur und zu disziplinieren. Zumindest in der Ökonomie kann es sich dabei an Marktpreisen orientieren, zu denen
noch Reprisen bzw. eine im wesentlichen durch Methodenreflexion (à la Popper) oder durch andere kaufen bzw. verkaufen. Das läßt zunächst aber unerklärt, wie diese Preise entstehen, wenn nicht durch
Theoriengeschichte (à la Kuhn) stimulierte "Wissenschaftstheorie". Da man die Unterscheidung von Verstand oder Willen der Individuen.
Erkenntnis und Gegenstand benutzen muß, um Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden zu können, Der damit entstandene Freiraum für Interpretation wird seit dem 17. Jahrhundert zunächst metaphorisch
1609
kann man nicht zugleich auch die Einheit dieser Unterscheidung reflektieren. Die traditionsträchtige Lösung mit Bildern wie balance, Gleichgewicht, Kreislauf gefüllt , die zugleich strenge interne Ordnung und
dieses Problems, die den Begriff der "Beziehung" benutzt hatte, um sich das Problem der Einheit der Abgeschlossenheit nach außen symbolisieren. Man kann hier eine der wichtigen nicht-mehr / noch-nicht-
Unterscheidung zu verdecken, und ihre Ausformulierung als adaequatio oder als Repräsentation kann man Figuren der Neuzeit erkennen: nicht mehr strikt lineare Kausalität aber noch ohne Analyse der
weder aufgeben noch weiterbenutzen. Die Wissenschaft bleibt als Beobachter der aus sich selbst mathematischen und logischen Probleme der Selbstreferenz. So wird, trotz der Gründung von Banken und
ausgeschlossene Dritte. trotz einer lebhaft-besorgten Diskussion über Staatsverschuldung in England, keine angemessene Geldtheorie
Die erkenntnistheoretische Reflexion nimmt mit ihrer Frage nach den "Bedingungen der Möglichkeit" entwickelt, und auch die Lehre von der Arbeitsteilung und die Umstellung der Werttheorie auf den durch
nur sehr begrenzt auf, was in den Wissenschaften selbst geschieht. Die Einstellung der Naturwissenschaften Arbeit produzierten Wert überläßt die Frage der (wohltätigen) Einheit, statt sie zu beantworten, der "invisible
auf "Materie", der Biologie auf "Population" und der Humanwissenschaften auf "Subjekt" lassen immerhin hand". Nicht zuletzt verrät der Titel "politische Ökonomie", daß man die Wirtschaft jetzt zwar als
erkennen, daß es um zukunftsoffene Forschungsprogramme geht, die eine Festlegung auf Wesen, ja sogar auf gesamtgesellschaftliches (und nicht mehr als häusliches) Phänomen betrachtet und die alteuropäische
invariante Gesetze, die das Vergangene mit dem Zukünftigen verbinden, nach Möglichkeit vermeiden oder Ökonomik damit aufgibt, aber die Einheit der im System benutzten Unterscheidungen nicht weiter reflektiert.
1604
doch immer weiter aufzulösen suchen. Das entspricht einer Gesellschaft, die ihr eigenes "Wesen" nicht Als Ersatz dient das Leitproblem der Knappheit und als Plausibilitätsgrundlage der enorme
mehr bestimmen kann, ihre Geschichte als vergangen behandelt und auf eine selbstbestimmte Zukunft setzt. Produktivitätszuwachs in der Landwirtschaft und in der industriellen Produktion.
Die erkenntnistheoretische Konsequenz lautet zunächst: Pragmatismus, dann Konstruktivismus. Daß es sich, trotz aller theoretischen und "wissenschaftlichen" Aufbereitung, um eine Reflexionstheorie
Für die Wirtschaftstheorie lag der Ausgangspunkt einer eigenständigen Reflexionstheorie im 17. des Wirtschaftssystems handelt, erkennt man daran, daß die Theorie vom rational handelnden Individuum
Jahrhundert (und in Ansätzen wohl schon in den Überlegungen, die im 16. Jahrhundert zur Aufhebung des ausgeht. Darin liegt eine fundamentale Bestätigung der positiven Selbsteinschätzung der Wirtschaft.
Zinsverbots geführt hatten) in der Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Transaktion als solche unter Rationalität ist (1) unschuldige und (2) wirksame Ursache im Aufbau einer sozialen Ordnung — der
Abstraktion von den Befindlichkeiten, dem Wohlergehen, den Intentionen und Motiven der Beteiligten. Diesen Wirtschaft, wenn nicht der Gesellschaft überhaupt. Alle weiteren Entwicklungen findet man, was klassische
konnte es dann überlassen bleiben, sich selbst als "Individuen" zu verstehen, ohne daß dies die Wirtschaft und neoklassische Theorieangebote angeht, innerhalb dieses Ansatzes, in dem dann weder über das Recht zur
ruiniert hätte. Die Anthropologie paßt sich dem an mit dem Theorem des "self-interest", das die subjektiven Rationalität noch über die kausale Wirksamkeit rationaler Dispositionen diskutiert werden kann. Das ändert
Korrelate des Wirtschaftsdenkens re-naturalisiert. sich nicht, wenn man von einer naturalen Ausstattung von Individuen übergeht zu einem lediglich formalen
Damit konnten zunächst einmal traditionelle moralische Sperren überwunden werden, die an die Konzept des rational choice. Es ändert sich nicht, wenn man die Diskrepanz von Gebrauchswert und
Beteiligten adressiert waren. Die Beteiligtenmotive konnten uniformisiert und auf kalkulierten Nutzen bezogen Tauschwert studiert und einsehen muß, daß sie nicht über psychologische, sondern nur über mathematische
werden. Und zugleich ließ sich an der Transaktion verdeutlichen, daß das Verhalten der Teilnehmer aus
Entscheidungen bestand, die unter Rationalitätsgesichtspunkten (oder zunächst einfach unter Gesichtspunkten 1606
1605 Es fehlt eine ausreichende Aufarbeitung des geschichtlichen Materials zum "Profit"-Begriff. Vgl. aber Alfred F. Chalk,
wie: effektiver Einsatz der Kräfte, keine Zeitvergeudung) kritisiert werden konnten. Und nicht zuletzt war
Natural Law and the Rise of Economic Individualism in England, Journal of Political Economy 59 (1951), S. 332-347;
es unter rein ökonomischen Gesichtspunkten unerheblich, ob Motive aufrichtig dargestellt oder nur
Harold B. Ehrlich, British Mercantilist Theories of Profit, The American Journal of Economics and Sociology 14 (1955), S.
vorgetäuscht wurden. Gewinn und Verlust entscheiden. 377-386; G.L.S. Tucker, Progress and Profit in British Economic Thought 1650-1850, New York 1960; John A.W. Gunn,
Da in Transaktionen, in denen mit Geld bezahlt wird, nur einer der Teilnehmer das erhält, was er Politics and the Public Interest in the Seventeenth Century, London 1969, insb. S. 205ff.; Joyce O. Appleby, Economic
unmittelbar wünscht, der andere dagegen nur Geld, kam allmählich der Systemaspekt einer Geldwirtschaft in Thought and Ideology in Seventeenth Century England, Princeton N.J. 1978. Hierbei muß man stets mitsehen, daß ein
den Blick, und nicht nur (wie schon seit langem) der Aspekt der verzögerten Zahlung, also des Kredites. adäquater Verdienst für die Tätigkeit von Kaufleuten, der nur in der Differenz von Einkaufs- und Verkaufspreisen liegen
konnte, selbstverständlich akzeptiert wurde. Das Problem lag in der unsozialen Natur dieser Differenz, die keiner sozialen
Regulierung zugänglich war — es sei denn durch die Lehre vom "gerechten Preis", die dazu bestimmt war, das schamlose
1603
Siehe etwa Novalis, Philosophische Studien 1795/96 (Fichtestudien), zit. nach: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Ausnutzen von Notlagen zu verhindern, nicht jedoch: konstante Preise zu garantieren.
Friedrich von Hardenbergs (hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel) Bd. 2, S. 10 mit den folgenden Schritten: 1607
Max Weber hatte bekanntlich hier das ausschlaggebende Problem für den Übergang zur modernen, "kapitalistischen"
(1) "Was für eine Beziehung ist das Wissen? Es ist ein Seyn außer dem Seyn, das doch im Seyn ist". Gesellschaftsordnung vermutet, hatte aber die Innovation in der Legitimation entsprechender Handlungsmotive (und nicht
die Erschließung von Produktmärkten und Investitionskalkulation) gesehen und deshalb die Vorgaben der
(2) "Das Außer dem Seyn muß kein rechtes Seyn seyn" calvinistisch-puritanischen Religion für entscheidend gehalten.
1608
(3) "Ein unrechtes Seyn außer dem Seyn ist ein Bild" Hier liegt bekanntlich das Problem, das Adam Smith zum Übergang von Theorien der Moralphilosophie und der
Jurisprudenz zur Wirtschaftstheorie brachte. Entsprechende Einsichten finden sich aber schon früher. Bei Daniel Defoe, A
(4) "Das Bewußtsein ist folglich ein Bild des Seyns im Seyn"
Brief Account on the Present State of the African Trade, London 1713, S. 53 (zitiert nach Maximilian E. Novak, Economics
1604
Siehe das Argument bei Gaston Bachelard, Le matérialisme rationnel, (1953), 3. Aufl. Paris 1972, S. 4 ff.: Chemie als and the Fiction of Daniel Defoe, 2. Aufl., New York 1976, S. 20) heißt es zum Beispiel: "It is a Great Mistake to say that
Wissenschaft von der Materie, also als Wissenschaft von der Zukunft. Generalisierungen auf der Basis von überholten every Man is only separately interested in, or concern'd for the Trade he himself carries on: There is a Relation in Trade to
Alltagstauglichkeiten werden dann zu obstacle épistémologiques. itself (!,N.L.) in every Part, every Branch of Trade has a Concern in the Whole, and the Whole in every Part".
1605 1609
Dazu viele zeitgenössische Belege bei Russell Fraser, The War Against Poetry, Princeton N.J. 1970. Siehe hierzu besonders Joyce Appleby, a.a.O.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 441 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 442

Theorien aufgelöst werden kann. Es gibt mächtige Gegenströmungen, die dem Zweifel nachgehen, ob es Prüfung im Rechtssystem. Auch die Vertragsfreiheit wird, gleichsam als Pendant zur Gesetzgebungsfreiheit,
gelingen kann, unter diesen Annahmen den Aufbau sozialer Ordnung zu erklären und rationales Wirtschaften zugestanden, aber im gleichen Zuge entwickelt das 19. Jahrhundert die Doktrin von der richterlichen
ohne weitere Einschränkungen gesellschaftlich zu empfehlen. Man denke an Marx, an den Institutionalismus Auslegung des Willens der Vertragsschließenden.
der Zeit nach dem ersten Weltkrieg oder an Keynes. Aber selbst dann geht es nur um die Frage, welche All das heißt schließlich, daß das Verhältnis von Selbstreferenz und Fremdreferenz im Rechtssystem neu
Zusatzerklärungen (Klassenverhältnisse, Massenpsychologie, Gewohnheitsbildung, Staatsintervention) geordnet werden muß. Das geschieht gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der merkwürdigen Form einer
eingeführt werden müssen, um den Kausalannahmen die Richtung auf gesellschaftliche Akzeptabilität ihrer Kontroverse, die, wie der historische Rückblick heute zeigt, gar keine Kontroverse war. Für Selbstreferenz
Konsequenzen zu geben. steht "Begriffsjurisprudenz". Für Fremdreferenz steht "Interessenjurisprudenz". Und selbstverständlich
Auch im Rechtssystem des 17. und 18. Jahrhunderts lassen sich vergleichbare Entwicklungen arbeiten beide Orientierungen, wenn ihnen der Gesetzgeber Zeit dazu läßt, Hand in Hand. Es handelt sich um
1610
nachweisen. Zunächst muß man davon ausgehen, daß das Recht in Europa bereits im Mittelalter eine im zwei Seiten einer Form.
weltweiten Vergleich ganz ungewöhnliche Bedeutung für die Regulierung sozialer Verhältnisse gewonnen Wieder anders sieht dieselbe Reflexionslage im Erziehungssystem aus. Dies System hält engsten Kontakt
hatte — teils auf zivilrechtlicher, teils auf kirchenrechtlicher Basis, teils über Aufschreibungen von lokalen zum zeitgenössischen Humanismus — nicht nur in der spezifisch deutschen Bildungstheorie (Humboldt),
Rechtsgewohnheiten, teils in der Form von Stadtrechten und mit all dem auch durch ein bereits beträchtliches sondern auch in den französischen Nationalplanungen eines Systems schulischer Erziehung vor und nach der
1611 1614
Maß an Gesetzgebung. Schon die "Kleriker" des Mittelalters hatten in großen Zahlen gar nicht Theologie Revolution. Die eigentliche Innovation geht von einem Wandel in der Auffassung des Objektes der
1615
studiert, sondern kanonisches Recht. So diente das Recht auch der Konsolidierung des Territorialstaates, dem Erziehung aus, von einem veränderten Begriff des Kindes. Das Kind wird nicht mehr als ein unfertiger
1612
Abbau der grundherrlichen Gerichtsbarkeit , der Sicherung von religiöser Toleranz und nicht zuletzt, dem (imperfekter) Erwachsener angesehen, sondern als eine sensitive Einheit in einer Welt für sich, die sich nur
Umbau der Eigentumsordnung von grundherrlichen auf geldwirtschaftliche Bedingungen. Diese hohe eigendynamisch entwickeln kann. Überdies tendieren Pädagogen dazu, die gesamte Menschheit in Erzieher
Verflechtung des Rechts mit anderen Sozialfunktionen macht es, namentlich für die Juristen selbst, schwierig, und Kinder aufzuteilen und als perfectibel zu denken, also als ausgestattet mit der "Fähigkeit, immer
1616
von Ausdifferenzierung eines Rechtssystems zu sprechen. Dennoch lassen sich Parallelen leicht nachweisen. vollkommener zu werden". Das ist ihre Art, sich auf die Gesamtgesellschaft zu beziehen. Erst seit gut
In einer mehr praxisorientierten Sichtweise sprengen die neuen Anforderungen das alte Einheitskonzept hundert Jahren kommt es im Kontext von "Erwachsenenbildung" zu einer Erweiterung, die in ihren
der "iurisdictio" des Fürsten und führen statt dessen auf Probleme der Verteilung der Entscheidungslasten auf Konsequenzen dazu führen müßte, nicht mehr das Kind, sondern den Lebenslauf als Medium der Erziehung
1613
Gesetzgebung bzw. Rechtsprechung. Seitdem beherrscht die Differenz von Gesetzgebung und zu denken.
Rechtsprechung die rechtstheoretische und rechtsmethodologische Diskussion. Das Paradox der Codierung: Mit ihren praktischen und methodischen Bemühungen gerät die neue Pädagogik in das Dilemma von
ob das Recht zu Recht oder zu Unrecht Recht ist, wird durch Verteilung auf Entscheidungskompetenzen Freiheit und Kausalität: von Freiheit, die vorauszusetzen, zu respektieren und herzustellen ist, und von
aufgelöst. Kausalität, ohne die der Erzieher sich selbst überflüssig vorkommen müßte. Daß die Kantische Philosophie,
Daran zeigt sich, daß die Idee der Positivität des Rechts die Reflexionslage bestimmt. Aber damit ist das gerade weil sie den Gegensatz von Freiheit und Kausalität thematisiert, zu dessen Auflösung wenig beitragen
Naturrecht noch nicht ohne weiteres abgeschrieben. Bis weit in die Neuzeit hinein betreut die alte Lehre von kann, wird bald bemerkt. Statt dessen setzt man rein pragmatisch auf die Institutionalisierung der Beziehung
1617
unterschiedlichen "Rechtsquellen" das Verständnis der Geltungsgründe des Rechts. Gerade wenn man auf ein von Lehrer und Schüler, und die Einheit dieser Beziehung ist, wie jedermann sehen kann, die Schule. Die
Konzept der (religiösen, politischen usw.) Autonomie des Rechts zugeht, ist Naturrecht aus legitimatorischen Schule ist in gewissem Sinne die Einheit zweier Funktionen, die in der pädagogischen Reflexion nicht mehr
Gründen unentbehrlich. Aber es muß sich anpassen. Das alte Naturrecht wird über die Figur der Vernunft als integriert werden können, nämlich der Funktion der Erziehung und der Funktion der sozialen Selektion — sei
Natur des Menschen in ein Vernunftrecht transformiert und gibt sich selbst damit einen Freibrief für es für weiterführende Erziehung, sei es für Berufe im Wirtschaftssystem. Als Pädagoge hält der Lehrer sich
spezifisch juristische Argumentation. Die alte Trennung von politikorientierter und jurisprudentieller nur für Ausbildung und Erziehung für zuständig, als Schulmann betreibt er mit dem Urteil, das er
Eigentumsdiskussion fällt, obwohl von wenigen Ausnahmen abgesehen (etwa Grotius und Pufendorf) das kommuniziert, Selektion. Die Form der Erziehung ist mit dem Bildungsbegriff gegen Selektion abgegrenzt,
Naturrecht immer noch wenig Einfluß auf die praktische Jurisprudenz ausübt. Im 18. Jahrhundert wird dann und eben deshalb bleibt die andere Seite der Form, die Beteiligung des Pädagogen an der sozialen Selektion,
aber das Naturrecht explizit in die juristischen Studiengänge eingebaut, und mit Christian Wolff beginnt unterreflektiert. In der Gesamtdarstellung der modernen Gesellschaft begünstigt dieses Reflexionsdefizit dann
oberhalb dieser für die praktische Jurisprudenz gedachten Lehren eine neuartige philosophische Rechtstheorie die Meinung, daß Selektion nach wie vor ein Klassenphänomen sei und im Hinblick auf die
1618
ihren Weg mit dem Ziel, dem Rechtswissen ein philosophisches oder gar mathematisches, jedenfalls Ungleichverteilung der Güter wirtschaftspolitisch und schulpolitisch korrigiert werden müsse.
1619
vernunftorientiertes Fundament zu geben. In diesem Reflexionsbereich geht es auch um Zusammenhänge Als letztes Beispiel wählen wir die Kunst , genauer gesagt: die schönen Künste, die im 17. und 18.
zwischen Recht und Moral (Sittlichkeit, Ethik), die in der juristischen Praxis außer Acht bleiben müssen. Jahrhundert aus dem allgemeinen Bereich der artes ausdifferenziert und der Selbstregulierung überlassen
1620
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gibt der neue Begriff der Verfassung dem Rechtssystem die werden. Die Kunst, und vor allem die Dichtkunst, hat sich gegen die Philosophie zu verteidigen , aber das
Abschlußformel, und Naturrecht ist seitdem nur noch eine mehr oder weniger entbehrliche Zweitbegründung fällt ihr gegenüber den neuen mathematisch-experimentellen Wissenschaften und ebenso gegenüber der
für das, was die Verfassung als Gesetz festlegt. Das Problem des autonom gewordenen Rechts ist seine
Positivität, das heißt: seine Selbstbegründung. Das Verhältnis von Änderung und Nichtänderung des Rechts
1614
muß rechtsintern ausgehandelt werden. Und wenn man der Politik die Kompetenz zur Rechtsänderung Das belegt unter anderem das Helvetius-Zitat oben Anm......
zugesteht, dann in der Form einer rechtlich anerkannten Organkompetenz und unter dem Vorbehalt der 1615
Vgl. Philippe Ariès, L'enfant et la vie familiale sous l'ancien régime, Paris 1960.
1616
So mit einer seit Rousseau modischen Begrifflichkeit August Hermann Niemeyer, Grundsätze der Erziehung und des
1610 Unterrichts, Halle 1796, Neudruck Paderborn 1970, S. 73.
Ausführlicher Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt 1993, S. 496 ff.
1617
1611 Zur weiteren Entwicklung in spezifisch deutschen Kontext der "geisteswissenschaftlichen Pädagogik und ihrer
Dies betont besonders Harold J. Berman, Recht und Revolution: Die Bildung der westlichen Rechtstradition, dt. Übers.,
Organisationsabhängigkeit" vgl. Niklas Luhmann / Karl Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, 2.
Frankfurt 1991.
Aufl. Frankfurt 1988.
1612
Vgl. hierzu etwa, den gegebenen Rechtszustand schlicht als "Mißbrauch" und Usurpation von Seiten des lokalen Adels 1618
Kritisch hierzu aus soziologischer Sicht Helmut Schelsky, Schule und Erziehung in der industriellen Gesellschaft,
definierend, Charles Loyseau, Discours de l'abus des iustices de village, Paris 1603.
Würzburg 1957.
1613
Im 18. Jahrhundert findet man diese Diskussion vor allem im Dreieck von common law, equity and statute law, also in 1619
Ausführlicher Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1995, S. 393 ff.
England and Schottland mit Präferenzen für Änderung durch Rechtsprechung (Blackstone, Lord Mansfield, Lord Kames)
1620
oder durch Gesetzgebung (Bentham). Siehe dazu Lieberman a.a.O. (1989). Vgl. z.B. Philip Sidney, The Defense of Poesy (1595), zit. nach der Ausgabe Lincoln 1970.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 443 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 444

Historie, die nur die Fakten einer unvollkommenen Welt berichten kann, leichter als in der Antike, besonders modernen Staaten, kapitalistische Gesellschaft oder, mit negativem Bezug auf Religion, säkularisierte
in der Situation einer zerfallenden Einheit der religiösen Kosmologie. Noch trennt man sich nicht ganz vom Gesellschaft. Viel von dem, was an spezifisch modernem Gedankengut produziert worden ist, ist auf diesen
Programmbegriff der Imitation. Imitation sei zu einfach, um als Kunst gelten zu können, meint zwar Feldern gewachsen. Deshalb mußten wir mit einigen Details darauf eingehen. Daß das Gesamtergebnis keine
1621
Gracián , aber die Mehrheit seiner Zeitgenossen korrigiert nur innerhalb des Begriffs der Imitation. Man Gesellschaftstheorie ist, dürfte ebenfalls klar geworden sein.
läßt zunächst noch Imitation der Natur, aber nicht mehr Imitation von Kunstwerken zu; und vor allem lehnt Als zeittypische Erscheinung und für sich betrachtet haben die Reflexionstheorien der Funktionssysteme
man um der Einzigartigkeit und Originalität des Einzelwerkes willen jede sich nach Regeln richtende Arbeit viele gemeinsame Eigenschaften. Sie steigern die Beobachtung der Kontingenzen des Systems und erzeugen
und mit ihr die Beurteilung der Werke an Hand von Regeln ab. Wie aber, wenn nicht so, soll man dann den Eindruck, alles könnte auch anders sein; und dies auch und gerade dann, wenn sie sich wie besonders die
wissen, was "schön" ist? Erkenntnistheorie und die Rechtstheorie auf die Suche nach notwendigen Grundlagen begeben. Dies hängt
Schön ist das, was gefällt, wird man um 1700 sagen, und als Kriterium dafür dient der Geschmack, den damit zusammen, daß die Durchsetzung bestimmter Theoriekonzepte ihrerseits beobachtet, kommentiert und
man dank Herkunft oder dank erworbener Kultur hat und der die unmittelbare Intuition so leitet, daß die kritisiert wird. So monieren die (später so genannten) Frühsozialisten, daß in London alle Welt nach dem
Vernunft das Urteil nachher bestätigen kann. Dies Kriterium hat jedoch, wie gerade der Verweis auf das Muster von Adam Smith und David Ricardo denkt. Die Einführung einer Beschreibung in das System ändert
spontane Urteil der Intuition verrät, deutliche Bezüge zur gesellschaftlichen Schichtung. Guter Geschmack ist, das System, und dies verlangt dann eine neue Beschreibung. Typisch ist auch, daß Reflexionstheorien davon
was Leute mit gutem Geschmack dafür halten. Diese irritierende Zirkularität wird zunächst durch Hinweise absehen, sich auf "Anfänge" als Begründung zu berufen. So ist die Herkunft eines Kindes für dessen
1622
auf den Sonderfall des "Sublimen" und Erhabenen und entsprechende Schauergefühle abgeschwächt und Erziehung unerheblich und das althergebrachte Recht kein die Geltung verstärkender Gesichtspunkt. Von
dann im Laufe des 18. Jahrhunderts durch Bodmer, Baumgarten und Kant aufgelöst und mit Hilfe der wann ab Phänomene im System als relevant behandelt werden, muß im System selbst nach ausschließlich
Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem in eine Reflexionstheorie überführt, die nun in einem funktionalen Gesichtspunkten entschieden werden.
1623
neuen Sinne "Ästhetik" heißt. Aufgabe der Kunst ist es, das Allgemeine im Besonderen erscheinen zu "Theorie" — das heißt jetzt: neue Ansprüche an Intelligibilität, auch kontrollierte Sensibilität im
lassen. Damit rückt die Ästhetik in die Nähe zu neuen Ansprüchen an Individualität und erklärt zugleich, Verhältnis zu Varianten, Problematisierung der Konsistenz, auch Offenheit für Kontroversen. Das unklare
weshalb das Kunstwerk sich nicht in ein Räsonnement, nicht in eine begriffliche Analyse auflösen läßt. Verhältnis dieser Bemühungen zur strengen Wissenschaft und zu den Aspirationen eines Descartes, eine
Dennoch wird das Kunstwerk von kognitiven Operationen her verstanden, seine Schönheit ist (für Spinoza, eines Leibniz gibt eine Art Entwicklungshilfe. Aber zugleich ist deutlich, daß das, was sich
1624
Baumgarten) die Perfektionsform sinnlicher Erkenntnis. Das Allgemeine kann in der Folge dann sehr gleichzeitig als Wissenschaft entwickelt, die Theorieunternehmen anderer Funktionssysteme nicht mehr
verschieden verstanden werden — es kann romantisch ins Unglaubwürdige verlagert werden, es kann in der wirklich kontrolliert. Ferner kann man die Reflexionstheorien der Funktionssysteme verantwortlich machen
Distanz zum gesellschaftlich Üblichen liegen oder auch im Symbolischen, das die Aufhebung der für ein neuartiges Anspruchsniveau, das es nicht mehr zuläßt, sich an der Formenwelt der alten Rhetorik und
Unterscheidung von Inhalt und Form des Kunstwerkes postuliert. Wie immer, auch die Kunst verfügt seit dem an den Prudentien der Tradition zu orientieren. Viele, vordem übliche Unterscheidungen geraten außer
1625
18. Jahrhundert über ein eigenes Identitätskonzept, mit dem sie ihre gesellschaftliche Autonomie vertreten Gebrauch. Bei anderen wird nur die eine Seite kontinuiert und der Gegenbegriff ausgetauscht. So wird
kann, was immer man von der "Schönheit" ihrer Werke dann halten mag. Politik nicht mehr im Unterschied zum Haushalt, sondern im Unterschied zur Wirtschaft (Gesellschaft)
Weniger deutlich findet man Reflexionstheorien in den vordem strukturtragenden Bereichen der Religion bestimmt, und die alte Doppelunterscheidung von öffentlich/geheim auf der einen und res publica/res privata
und der Familie. Fast könnte man vermuten: hier war die funktionale Ausdifferenzierung nicht betrieben und auf der anderen Seite wird im Konzept der öffentlichen Meinung so generalisiert, daß auf der anderen Seite
nicht als Fortschritt erfahren, sondern erlitten worden. So drängte sich ein Bedarf für innovative Semantiken nur noch die Privatsphäre vorgesehen ist, und die alte Lehre von den arcana imperii, die man abschaffen will,
nicht unmittelbar auf. Immerhin wendet die Theologie sich im 18. und 19. Jahrhundert verstärkt keine Platz mehr findet. Manche qualitative Unterscheidungen, etwa die von Weisheit (sapientia) und Klugheit
"hermeneutischen" Problemen zu — sich an die Positivität ihrer Texte haltend. Und für die Familie stellt sich (prudentia), die die Tradition beherrscht und sich der Religion analog zu transzendenten und immanenten
mit dem Verlust der politischen und der produktiven Funktion und mit der zunehmenden Beschulung der Bezügen zugeordnet hatten, werden durch neue Konzepte ersetzt, die nur noch formale Gegenbegriffe zulassen
Gesamtbevölkerung, die den Kindern herkunftsunabhängige Karrieren eröffnet, die Frage nach dem inneren — in unserem Fall durch den ehemals ständisch besetzten Begriff der Nützlichkeit mit Gegenbegriffen wie
Zusammenhalt. Die Konsequenzen betreffen um 1800 erst einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung, aber für Nutzlosigkeit (der Mönche zum Beispiel) oder Schädlichkeit. Oder man kehrt Unterscheidungen geradezu um.
ihn wird eine Ersatzsemantik angeboten, in die dann nach und nach größere Bevölkerungsteile hineinwachsen Die "Konstitutionen", die sich als kaiserliche Erlaßpraxis mit quasi Gesetzesgeltung von den alten und
können, nämlich die Vorstellung einer auf Liebesheirat gegründeten und trotzdem haltbaren, persönlich-intim unabänderlichen leges unterschieden hatten (und so noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstanden
verbundenen Lebensgemeinschaft, in der das Individuum für seine konkrete Eigenart Verständnis und werden), werden nun umgekehrt zum nicht oder schwer änderbaren Verfassungsgesetz, woraufhin die
Unterstützung finden kann. Gesetzgebungsmaschinerie selbst in Bewegung gesetzt und das Gesamtkonzept von der Legitimation durch
Daß sich derart heterogene Funktionssystemsemantiken nicht ohne weiteres auf einen gemeinsamen Alter abgekoppelt werden kann.
Nenner bringen lassen, der dann als Theorie der modernen Gesellschaft angeboten werden könnte, liegt auf der Die Beispiele ließen sich vermehren, aber man muß jeweils auf die Formen, das heißt auf die
Hand. Funktionssystembasierte Beschreibungen gelangen allenfalls zu Formulierungen wie: die Welt der Unterscheidungen achten und nicht nur auf den in Einzelworten oder Begriffen fixierten Sinn. Dann sieht man,
daß und wie das Ideengut durch die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme und deren Reflexionstheorien in
1621
Oder als Variable gesehen: "Suele faltarle de eminencia a la imitación, lo que alcanza de facilidad", heißt es im
Bewegung gesetzt wird. Ein anderer Formwandel zeigt sich, wenn man die Veränderung mit Hilfe einer
Discurso LXIII in Baltasar Gracián, Agudeza y arte de ingenio (1649), zit. nach der Ausgabe Madrid 1969, Bd. II, S. 257. soziologischen Hypothese analysiert. Diese lautet, daß stärkere Differenzierung zur einer stärkeren
1622
Generalisierung derjenigen Symbole zwingt, mit der die Einheit des Differenzierten dann noch zum Ausdruck
Vgl. für typische Bemühungen etwa Jean-Baptiste Dubos, Reflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, erw. 1626
Auflage Paris 1733; Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful,
gebracht werden kann. So gesehen löst die Differenzierung der Funktionssysteme — historisch gegen die
2. Aufl. London 1759. Die Romantik wird das Sublime dann nur noch als ein vornehmes Abführmittel wahrnehmen Ständeordnung und zugleich gegeneinander — bemerkenswerte Generalisierungen aus, die sich teils auf "den
können, da ihr andere Mittel (Reflexion, Ironie, Kritik) zur Verfügung stehen, um die intellektuelle Verstopfung zu Menschen" beziehen, teils Leitideen formulieren, nach denen "der Mensch" sich zu richten hat. Zu denken ist
curieren. Siehe August Wilhelm Schlegel, Die Kunstlehre (Bd. 1 der Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst), zit.
nach der Ausgabe Stuttgart 1963, S. 58.
1623 1625
Vgl. hierzu die klassische Monographie von Alfred Bäumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des Zur Technik des antonym substitution in der antiliberalen Polemik vgl. Stephen Holmes a.a.O. Auch der Liberalismus
18. Jahrhunderts bis zu Kritik der Urteilskraft, 2. Aufl. Darmstadt 1967. selbst hatte sich aber dieser Technik bedient.
1624 1626
Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica Bd. I, Frankfurt/Oder 1750, Nachdruck Hildesheim 1970, S. 6 (§ 14). Die Vgl. Talcott Parsons, Comparative Studies and Evolutionary Change, in: ders., Social Systems and the Evolution of
den Bereich definierende Unterscheidung ist demnach die von sinnlicher und rationaler Kognition (Ästhetik bzw. Logik). Action Theory, New York 1977, S. 279-320 (insb. 307 ff.).
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 445 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 446

etwa an die Neuformierung der Moral auf der Grundlage einer Theorie moralischer Empfindungen bis hin kaputt arbeitet, und das Entsprechende gilt für gedankliche oder kommunikative Operationen, die so stark
zum Sympathiekonzept von Adam Smith. Oder an die Bewegung der Vernunftaufklärung, die sich ebenfalls technisiert sind, daß man Fehler (zum Beispiel: logische Fehler) entdecken und ausmerzen kann. Aber warum
1628
an ein Allgemeinmerkmal aller Menschen wendet. Oder an die Leitideen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit soll man das kritisieren?
der Französischen Revolution. Oder an die Singularfassung von Begriffen wie Fortschritt oder Geschichte, die Offenbar lebt diese Diskussion von Vereinfachungszwängen, die sie selbst erzeugt, um dann dagegen zu
sich im 18. Jahrhundert durchsetzt. Und nicht zuletzt an die Überleitung von grundlegenden Denkbemühungen revoltieren. Wir haben gesehen, daß Mediencodes nur sehr begrenzt technisierbar sind und daß die Zirkulation
von den "philosophes" auf die "Philosophie" und an deren akademische Etablierung. Der der Mediensymbole auch und gerade in den hochtechnisierten Codes sich wegen der Nichtlinearität der Effekte
Variationszusammenhang von Differenzierung und Generalisierung kann also mannigfach belegt werden. Er jeder Zentralsteuerung entzieht. Man weiß heute auch, daß kein Logiksystem widerspruchsfrei geschlossen
hat jedoch nicht zu einer Theorie der modernen Gesellschaft geführt, sondern nur zu einer transitorischen werden kann; daß Systeme mit strukturierter (organisierter) Komplexität schon bei geringer Größenordnung
Semantik, die einen ungedeckten Scheck auf die Zukunft ausstellte, weil sie die Gesellschaftsordnung, die im für sich selbst und für andere intransparent werden; daß die Simulation ökologischer Zusammenhänge mit nur
Entstehen begriffen war, noch nicht wirklich beobachten und beschreiben konnte. wenigen Variablen bereits unprognostizierbare Resultate zeitigt usw. Das Problem scheint demnach mehr in
Folgt man unseren Analysen der funktionalen Differenzierung und der Ausbildung entsprechender den Erwartungen zu liegen, die an die Technik gerichtet werden, als in ihrer Realität. Es liegt aber auch, und
Reflexionstheorien läßt sich diese Problemstellung nochmals verschärfen. Alle Funktionssysteme erheben das scheint die Kritik letztlich zu motivieren, in den unterschiedlichen Wachstumsraten technisierbarer und
Universalitätsansprüche — aber nur für je ihren Bereich. Sie lassen keine inhärenten Schranken der nichttechnisierbarer Operationsbereiche. Vollends zeigt die Einführung maschineller Kalkulationsapparate als
Kommunikation mehr zu, aber die Kommunikation muß im System produziert und aus den Produkten des einer der eindrucksvollsten Technisierungsleistungen, daß Probleme, die mit diesem Hilfsmittel gelöst werden
Systems reproduziert werden. Daraus ergibt sich für eine gesamtgesellschaftliche Semantik die können, bevorzugt in Angriff genommen werden und andere Probleme übersehen, als "ill-defined problems"
Notwendigkeit, Universalismus der Thematisierungspotentiale und Spezifikation der Systemreferenzen zu marginalisiert werden und eigentlich die Bezeichnung "Problem" schon gar nicht mehr verdienen.
kombinieren. Und das scheinen Anforderungen zu sein, die bis heute nur über Relativierungen, nicht aber über Man kann dies Problem an einem der folgenreichsten Themen der Selbstbeschreibung der modernen
eine adäquate Selbstbeschreibung des Gesamtsystems der Gesellschaft gelöst werden konnten. Jedenfalls Gesellschaft illustrieren: an der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Hier geht es letztlich um ein
sprengen sie den Traditionszusammenhang von Ontologie, zweiwertiger Logik, Naturbegrifflichkeit und Problem der Technik (wenn man unseren Begriff zu Grunde legt), nämlich um die Simplifikation und
Unterscheidungstechnik nach Arten und Gattungen. Isolierung der "kapitalistischen" Kalkulation, die Materialkosten und Arbeitskosten in Geld verrechnet
ungeachtet der Tatsache, daß Material und Arbeit in sehr verschiedenem Sinne und mit sehr verschiedenen
Folgen ihrer Inanspruchnahme zur Produktion beitragen. Einerseits erscheint das als ein unerträgliches
Unrecht an dem Arbeiter, wenn man ihn als Menschen nimmt; andererseits ist nicht zu sehen, wie anders eine
X. Gegensätze in der Medien-Semantik rein wirtschaftliche Kalkulation durchgeführt werden, etwa die Rentabilität einer Investition oder der
Arbeitsweise eines Betriebes kontrolliert werden könnte. Gibt man der Technikkritik nach, muß das — wie
Die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems folgt in vielen, aber nicht in allen Hinsichten, das Riesenexperiment des Sozialismus mit aller Deutlichkeit gezeigt hat — mit einem Verzicht auf
dem Schema, das die Differenzierung unterschiedlicher symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien Information über Wirtschaftlichkeit bezahlt werden.
1629
vorgibt. Zahlreiche Probleme, die in den Reflexionstheorien der einzelnen Funktionssysteme abgehandelt Ein anderes Beispiel bietet die Wissenschaftskritik Husserls. Der neuzeitlichen, an Galilei und
werden, sind daher durch die bereits ausdifferenzierten Medien vorgezeichnet. Das gilt für die Descartes orientierten Wissenschaft wird vorgeworfen, daß sie mit ihren "Idealisierungen" den
Sonderprobleme, die Anlaß zur Medienbildung geben und zugleich Funktionsprobleme der Gesellschaft sind, Sinnbedürfnissen der Menschen nicht gerecht werde. In der Krisenstimmung der 30er Jahre mit ihrem
also etwa das Problem der mit der wirtschaftlichen Entwicklung zunehmenden Knappheit oder das Problem weltweit expandierenden Faschismus, aber auch in der Rekonstruktionsphase nach dem Ende des zweiten
1630
des neuen Wissens und der zunehmenden Abhängigkeit der Gesellschaft von immer weiterem neuem Wissen. Weltkrieges mochte diese Kritik verallgemeinerbare, auch politisch auswertbare Perspektiven bieten.
Ebenso sind die Probleme der wichtigsten Codes Gegenstand der Reflexionstheorien — also vornehmlich die Inzwischen sind jedoch beide Seiten des Arguments in Auflösung begriffen. Die Wissenschaften orientieren
Inkongruenz im Verhältnis zum Code der Moral und das Paradoxievermeidungssyndrom. Zugleich führt die sich längst nicht mehr an den Linearitäten des cartesischen Modells, und die Vorstellung, daß Sinn ein
Differenzierung der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien aber auch in Probleme, die als Bedürfnis des Menschen sei, wird sich auf der Straße kaum verifizieren lassen, sondern erscheint als
Besonderheit der modernen Gesellschaft erfahren werden, ohne als Problem der Einheit und der Autonomie Verlegenheitsgeste von Intellektuellen, die für etwas gut sein und den am Sinnverlust leidenden Menschen
eines Teilsystems formulierbar zu sein. Wir wollen zwei dieser Probleme herausgreifen, weil hier wichtige helfen möchten.
strukturelle Anstösse für semantische Besonderheiten liegen, die in ihrer Zwiespältigkeit die Beschreibung der Wenn diese Analysen den Sachverhalt einigermaßen treffen, so machen sie die schizophrene Einstellung
modernen Gesellschaft präokkupieren und sie unzufrieden mit sich selbst zurücklassen. Es geht um die in der modernen Gesellschaft zur Technik verständlich: Man lehnt Technisierungen im Blick auf den Vollsinn
Kapitel 2,...., bereits behandelten Probleme des "Schiefwuchses" der Gesellschaft und die damit des menschlichen Lebens ab und muß zugleich zugeben, daß es schlechter geht, wenn man auf Technik
zusammenhängenden Tendenzen zu einer strukturell angelegten Selbstkritik. verzichtet. Man ist mit dem, was erreichbar ist, nicht zufrieden, forciert deshalb Technikentwicklungen und
Obwohl die Kritik der Gesellschaft in der Gesellschaft gern nach einer einzigen Leitformel sucht, handelt kritisiert zugleich den damit ausgelösten Trend. Und beides mit Recht.
es sich um verschiedene Diskrepanzen. Eine erste liegt in den Schranken der Technisierbarkeit. Die übliche Auch ein zweiter Problemkreis wird erst sichtbar, wenn man bestimmte begriffliche Dispositionen
Technikkritik bedient sich einer Aversion gegen Mechanik, eventuell mit einer Entgegensetzung von Maschine akzeptiert. Wir hatten bei der Vorstellung der unterschiedlichen Kommunikationsmedien betont, daß in allen
und Mensch. Das ist jedoch eine für gesellschaftstheoretische Zwecke zu grobe Begrifflichkeit. Sie genügt den
Simplifikationserfordernissen gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen, gibt aber über deren Veranlassungen 1628
Siehe hierzu für den Anwendungsbereich des Erziehungssystems Niklas Luhmann / Karl Eberhard Schorr (Hrsg.),
keinen Aufschluß. Wir sehen das Problem der Technik in der Isolierung entsprechender Operationen gegen Zwischen Technologie und Selbstreferenz: Fragen an die Pädagogik, Frankfurt 1982.
1627
interferierende Sinnbezüge, in der Unirritierbarkeit, wenn man so sagen darf. Durch diese Isolierung 1629
Haupttext Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie,
garantiert die Technik die Wiederholbarkeit der Operationen bei gegebenem Anlaß. Wenn ein technisch Husserliana Bd. VI, Den Haag 1954. Vgl. auch Hans Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung unter den Aspekten der
geplanter Vollzug nicht wiederholt werden kann (nicht "funktioniert"), muß etwas repariert oder ersetzt Phänomenologie, Torino 1963. Heute formiert sich, wohl nicht zufällig mit Übernahme des Begriffes der "Lebenswelt",
werden. Technik ist, mit anderen Worten, eine Beobachtungsweise, die mit der Unterscheidung von heil und eine entsprechende Kritik mit Hilfe der Unterscheidung von Lebenswelt und System, für die sich Habermas stark gemacht
hat.
1630
Vgl. zu dieser Zeitbedingtheit auch Niklas Luhmann, Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, Wien
1627
Vgl. Kap. 3 ....... 1996.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 447 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 448

Fällen eine universalistische Perspektive gegeben ist, in den meisten Fällen auf spezifizierter Basis, in anderen XI. Natur und Semantik
dagegen geknüpft an ein besonderes Subjekt oder ein besonderes Objekt. Die typischen Fälle benutzen die
Parsons'schen pattern variables universalism und specificity, die Ausnahmefälle dagegen die Dichotomie Unter der Überschrift "Technik" hatten wir im Kapitel über Evolution bereits dargestellt, wie sich seit
pattern variable universalism/particularism. In den letztgenannten Fällen beruht die Weltrelevanz der dem späten Mittelalter eine Umstellung von Was-Fragen auf Wie-Fragen ausbreitet. Diese Veränderung der
Orientierung also nicht auf bestimmten Aspekten, wenn immer sie vorkommen, sondern auf besonderen Frageform unterläuft alle semantischen Festlegungen. Sie ist das sich durchhaltende Motiv in der Erosion des
Subjekten oder Objekten und dann auf allen Merkmalen dieser bevorzugten Gegenstände. Aber das Naturbegriffs; und dies nicht nur in den Bereichen, die man heute Naturwissenschaft nennt. Sobald man
widerspricht der in anderen Bereichen üblichen universalistischen und spezifischen Orientierung. beginnt, die Welt nicht mehr nur im Durchblick auf religiöse Konstituentien zu bewundern, sondern zu fragen,
Alle Medien unterscheiden sich je nach Bezugsproblem und Zurechnungskonstellation. Der Unterschied wie ihre Erscheinungsformen zustandegekommen sind und gegebenenfalls hergestellt werden können,
einer spezifisch-universalistischen und einer partikularen Gründung von Geltungsansprüchen fügt dieser verändert das den Kontext, in dem auf Natur Bezug genommen wird. In der frühen Neuzeit bietet der
Differenzierung jedoch eine Kontrastierung hinzu. Liebe und Kunst verstehen sich als gegenstrukturell Naturbezug zunächst einmal jene Sicherheit, die man braucht, um über das schon Bekannte und über die
gebildete Medien. Sie bieten gleichsam Schutz und Halt gegenüber den dominanten Merkmalen der modernen Errungenschaften der Antike hinauszugehen. Die klassischen Formulierungen liefert Francis Bacon. Gerade
Gesellschaft — gegenüber wirtschaftlichem Zwang zur Arbeit und Ausbeutung, gegenüber staatlichen der Erfolg der Naturwissenschaften stimuliert nun aber Wissensbemühungen, die sich unter der Bezeichnung
Regulierungen, gegenüber der ins Technologische drängenden Forschung. Das bedrohte Ich rettet sich in die "Technologie" auf die Wie-Fragen selber richten; und, auch darüber hinausgehend, schließlich die kantische
Liebe, regeneriert sich in der Familie, findet seine Ausdrucksmöglichkeiten in der Kunst. So jedenfalls die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit und die daraufhin konzipierte Unterscheidung empirischer und
1631
Hoffnungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Die typischen Darstellungen dieses Kontrastes arbeiten mit transzendentaler Fragestellungen. Das Denken selbst wird dann quasi technisch analysiert— etwa als "Freyes
anthropologischen Mittel, etwa mit der Entgegensetzung einer Welt des Verstandes und einer Welt des successives Isolieren außerm Raum".
1632
Gefühls, einer Welt der Nützlichkeiten und einer Welt der freien Erfüllung des individuellen Menschseins. In dem Maße, als religiöse und politische Konformitätsansprüche nur noch zu Streitereien führen ,
1633
Sehr bald zeigt sich indes, und zwar sowohl in der Kritik der romantischen Liebe, im neu belebten bietet es sich an, den Begriff der Natur aus diesen Kontroversen herauszuhalten und ihn als semantisches
Feminismus und vor allem in den zunehmenden Selbstzweifeln der Kunst, daß auch auf dieser Seite die Welt Gewißheitssubstrat neu zu formieren unter einem jetzt nur noch wissenschaftsinternen Korrekturvorbehalt.
nicht in Ordnung ist. Die Passion der Liebe wird zur Pathologie des Familienlebens, das sich nicht in eine Natur wird jetzt als mathematisch formulierbar angenommen. Sie folgt der Logik mathematischer
Kette von erwarteten und erbrachten Liebesbeweisen auflösen läßt; und wenn die Kunst die Welt des Bürgers Gleichungen, die reversibel gedacht sind und keine Kausalurteile mehr festlegen. Gleichungen sind
darstellt, dann in Formen, die von milder Ironie bis zu sarkastischer Parodie reichen. Die anthropologische Unterschiede, die keinen Unterschied machen. Der Übergang von einer Seite zur anderen darf nichts Neues
Version des Problems wird mit diesen Einsichten gesprengt; sie könnte allenfalls den Konflikt in den bringen, sondern nur als Regel von Grenzen der Variation dienen. Auch die Theorie des Gleichgewichts dient
Menschen zurückverlagern. Auch in dieser Hinsicht endet die Beschreibung der modernen Gesellschaft mit in diesem Sinne der Vernichtung von Information. Eine Abweichung vom Gleichgewicht kann empirisch zwar
der Feststellung einer Differenz, ja eines Gegensatzes, für den sie keine Erklärung mehr anbieten kann. vorkommen, ändert aber nichts an der Gleichgewichtsformel selbst, sondern weist nur den Weg zu einer
Vor diesem Hintergrund werden religiöse Erneuerungsbewegungen verständlich, die ihrerseits recht Rückkehr ins Gleichgewicht. So kann ein Gleichgewicht jetzt als stabile Ordnung gelten, während in der
heterogene Formen annehmen. Mehr Kirchenorganisation und mehr Symbolismus im katholischen Bereich, aristotelischen Tradition gerade die Instabilität, die leichte Störbarkeit durch minimale
Distanzierung von einer nur kulturellen Interpretation der Religion bei den Protestanten, Empfänglichkeit für Gewichtsveränderungen auf einer Seite der Waage, aufgefallen war. Auch die beginnende
Fernöstliches, für Mystik und Meditation oder für den unbedingten Monotheismus des Islams, um nur einiges Wahrscheinlichkeitsrechnung dient jetzt der Erzeugung von Gewißheiten, die unabhängig davon sind, was als
zu nennen. Auch dafür fehlt derzeit jede soziologische Erklärung. Vielleicht ist es aber hilfreich, daran zu Einzelfall vorkommt. Alles Nichtwissen wird mathematisch als unabhängige Variable, als Störung
erinnern, daß die Differenzierung der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien sich an der Religion externalisiert (während man auf Gödel warten muß, um zu sehen, daß gerade die Widerspruchsfreiheit nur
vorbeientwickelt hatte, weil weder die Bezugsprobleme der Einzelmedien noch die Spezifikation der durch Rückgriff auf Externa begründet werden kann). Und parallel zu all dem setzt sich die Vorstellung
Zurechnungskonstellationen auf Religion passen. Offensichtlich wird derzeit mit Formen experimentiert, ohne durch, daß alles, was man herstellen kann, offenbar der Natur entspricht, so daß Herstellung zugleich als
daß deutlich innovative Lösungen erkennbar wären. Und auch hier erweist sich das anthropologische (oder Entdeckungs- und Beweisverfahren gelten kann. Technik beweist Wissen, während umgekehrt Zweifel durch
humanistische) Verständnis der Religion als ein Hindernis. Denn im Unterschied zu vielen anderen technisches Funktionieren widerlegt werden können.
Funktionssystemen muß die Religion heute akzeptieren, daß der Einzelmensch ohne Religion leben und Es kann nicht ausbleiben, daß eine solche Formalisierung der Natursemantik zurückwirkt auf das
sterben kann. Daß Religion notwendig ist, kann deshalb, wenn überhaupt, nur durch eine Analyse Argumentieren mit der Natur des Menschen. Bereits im 17. Jahrhundert findet man Ansätze zu einer
gesellschaftlicher Kommunikation begründet werden. Andernfalls endet man mit der Feststellung, daß die Umstellung der Gesellschaftsbeschreibung von Natur auf Reflexion, am eindrucksvollsten wohl bei Baltasar
einen glauben und die anderen nicht und daß nach der Meinung derer, die glauben, die Gläubigen besser dran 1634
Gracián. Die Natur enttäusche. Der Sternenhimmel zeige keine Muster — was man doch erwarten könnte,
sind als die Ungläubigen. 1635
wenn er durch Vorsehung und nicht durch Zufall entstanden sei. Um diese Lücke zu füllen, wird das
Auch die Religion ist eine Form. Man kann diese Form "Glauben" nennen. Damit wird die andere Seite bereits eingeübte Verständnis von Kunst als Herstellung schönen Scheins ausgeweitet auf alles, was
der Form zum "Unglauben". Aber die Ungläubigen sind nur für die Gläubigen Ungläubige, nicht für sich herzustellen ist. In der Annahme, daß die Wahrheit in der Welt, wie sie nun einmal ist, sich nicht allein
selber. Auch diese einfache Überlegung zeigt, daß die Religion zwar einen Beitrag zur Selbstbeschreibung der durchsetzen könne, wird das Prinzip der Täuschung universalisiert — und gegen sich selbst gewendet. Der
Gesellschaft leisten kann, aber nicht durchsetzen kann, daß dies die einzig-richtige Beschreibung ist. Man Weise muß versuchen, der Täuschung zu entgehen, indem er sich auf sie einstellt. Es empfiehlt sich dann,
kann sie auf einer Ebene zweiter Ordnung beobachten und beschreiben, ohne sich dabei religiöser
Ausdrucksmittel zu bedienen. Nur die Gesellschaft selbst macht in dieser Hinsciht eine Ausnahme: Sie kann
1632
man nicht beschreiben, ohne sich gesellschaftlicher Ausdrucksmittel zu bedienen, das heißt: ohne zu In der Formulierung von Novalis, zit. nach der Zusammenstellung Philosophische Studien 1795/96 (Fichte-Studien) in:
kommunizieren. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs (Hrsg. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel),
Darmstadt 1978, Bd. 2, S. 12.
1633
Siehe nur Herschel Baker: The Wars of Truth: Studies in the Decay of Christian Humanism in the Earlier Seventeenth
Century, Cambridge Mass. 1952, Nachdruck Gloucester Mass. 1969.
1634
Siehe vor allem die späte Schrift El Criticón (1651-1657), deutsch zugänglich in einer gekürzten Ausgabe Hamburg
1957.
1631 1635
Siehe nur Jules Michelet, L'amour, Paris 1858; und natürlich Baudelaire. A.a.O. S. 17.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 449 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 450
1636 1643
alles, was erscheint, im Umkehrspiegel zu lesen als das Gegenteil von dem, was gezeigt wird. Fürs eigene Zivilisationsentwicklung und moralischer Perfektion. Wenn die Moral nicht mehr durch Adel oder durch
Verhalten empfiehlt sich dann: sehen, hören, schweigen; oder, wenn das nicht möglich ist, die Täuschung, in "politische" Lebensführung in der Stadt verbindlich repräsentiert werden kann, kann sie auch nicht mehr als
dem, was man zeigt, zu reflektieren und die Kontingenz durch Gebrauch rhetorischer Mittel wie Natur des Menschen begriffen und schon gar nicht als Ergebnis von Geschichte erwartet werden. Der Mensch
Mehrdeutigkeit, Eleganz, Paradoxierung zu überwinden; oder sich zu verstecken, indem man wie alle redet ist nicht mehr von Natur aus perfekt (wenn auch korrumpierbar). Er ist nur noch perfektibel, und die
(ohne es zu glauben). Nur so kann man in dieser Welt "Person" sein. Aber wo gäbe es einen solchen Realisation der darin liegenden Möglichkeiten erfordert, wie im "Emile" dann gezeigt werden wird, extrem
1637
Menschen? Man müsse ihn mit der Laterne suchen! artifizielle Vorkehrungen, ist also nicht als Ergebnis einer natürlichen Gesellschaftsgeschichte zu erwarten.
Das mag eine Extremform gewesen sein, die im Übergang zum moralischen Sentimentalismus und zur Mehr Aussichten auf Verbesserung lassen auch mehr Skepsis zu. "Die Menschheit hat also zu einer ewigen
1644
Aufklärung des 18. Jahrhunderts wieder verflacht werden mußte. Was damit ausgedrückt worden war, Verbesserung Fähigkeit; aber auch Hoffnung?", fragt sich Jean Paul. Damit beginnt auch die Auflösung
nämlich der Verlust des Vertrauens in die Naturbestimmtheit der Gesellschaft, bleibt aber durchgehendes der alten Einheit von Sozialität und Moralität, und die Neubegründung einer Ethik, die über die Begründetheit
Motiv der Suche nach Ersatzlösungen. Die Auswirkungen auf die Beschreibung der Gesellschaft können moralischer Urteile befinden wird, bedarf besonderer Anstrengungen. In England machen, annähernd
kaum überschätzt werden. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts ändern sich Grundlagen, auf die man in den gleichzeitig, die Kontroversen zwischen den politischen Gruppierungen der Whigs und der Tories bewußt, daß
Selbstbeschreibungen des Gesellschaftssystems Bezug nehmen kann. Noch die großen naturrechtlichen eine Partei "Prinzipien" benötigt, um sich in der politischen Konkurrenz zu behaupten und von anderen
Synthesen hatten sich auf Natur berufen im Sinne einer invarianten Seinsgrundlage und im Sinne einer Parteien unterscheiden zu können; und das heißt: daß Prinzipien mit der Frage zu konfrontieren sind, wer sie
1638 1645
Wissensgrundlage, die als sich selbst kennende Natur Orientierung garantieren kann. Aber ihre Funktion vertritt und gegen wen. Gegen Ende des Jahrhunderts werden im französischen Sprachgebrauch Einsichten
war zugleich gewesen, Naturgeschichte und rationale Konstruktion zu trennen und der noch vorherrschenden dieser Art unter dem Titel "Ideologie" als Forschungsprogramm vorgestellt. Inzwischen war dann auch die
stratifikatorischen Ordnung ihre Legitimation als Natur zu entziehen. So betont zum Beispiel Pufendorf aus Lehre von den angeborenen (also: natürlichen) Ideen als Voraussetzung für Wahrnehmung und Erkenntnis
Anlaß der Behandlung der natürlichen Gleichheit aller Menschen, daß jedem Menschen eine eigene durch sprachbezogene Theorien aufgelöst und abgelöst worden.
1639
Menschenwürde innewohne und daß alle Differenzierungen auf Zivilrecht zurückgeführt werden müßten. Was Sprache betrifft, reflektiert bereits Novalis die entstandene Situation in ihrer nichtdurchschauten
1646
Vor allem findet man dieses Insistieren auf einem naturbasierten Eigeninteresse des Individuums, gleich Gewalt. Die Sprache spielt nur mit sich selbst. Ihre reine Form ist das Schwatzen. Wenn man ihren inneren
welcher Herkunft, im britischen Liberalismus eines Locke, eines Hume, eines Lord Kames, um nur wenige zu Möglichkeiten gehorcht, und nur so, erzeugt man große Gedanken. Aber offenbar scheint diese
1640
nennen. In dem Maße aber, als sich die Lehre von natürlichen, angeborenen, unveräußerlichen selbstreferentielle Geschlossenheit der Sprache davon abzuhängen, daß die Teilnehmer dies nicht
Menschenrechte durchsetzt, wird auch klar, daß sie zur Interpretation des gegebenen Rechts (das zum Beispiel durchschauen und gerade nicht nur schwatzen, sondern Bestimmtes sagen wollen. Danach wäre dann auch
in den USA noch Sklaverei kennt) nicht taugt, sondern nur Ausblicke auf eine verfassungspolitisch das Reden und Schreiben über Gesellschaft nur die Erzeugung eines sprachlichen Artefakts, die aber nur
1641
vorgezeichnete Zukunft erlaubt. Deshalb können die Menschenrechte uneingeschränkt verkündet werden. möglich ist, wenn es nicht so gemeint war.
Die Lehre von Naturzustand und von seinen Fortwirkungen nach dem Übergang zum Zivilzustand bleibt eine Die Konsequenzen dieser Umstellung von Natur auf Zeichen und von Anthropologie auf Semiotik
1642
Selbstbeschreibung , die nicht die Realität abbilden, sondern Kritik ermöglichen soll. werden nur sehr allmählich sichtbar. Sie brechen mit einer unbenannten Voraussetzung der alten Semiotik und
Die Nachfolgebegrifflichkeit scheint in der Vorstellung eines kritischen Zeitalters zu liegen, das sich in speziell der Rhetorik, die zwar auch zwischen verba und res unterschieden hatten, aber dabei doch immer ein
einer (historischen) Krise befindet und deshalb um kritische Selbstbeurteilung bemüht ist. In dieser Wende, die naturales Kontinuum unterstellt hatten, auf dem diese beiden Formen gegeben waren. Erst Saussure wird die
Sicherheit nur noch in der Selbstbeobachtung suchen und finden kann, wird die Referenz auf Natur mehr und Differenz von Zeichen und Bezeichnetem als rein semiotisch erkennen und jede externe Referenz kappen. Das
mehr aufgegeben (was ihre nostalgische Wiedereinführung, etwa in der Form einer Bewunderung der heißt nicht zuletzt, daß auch Werte nur als Komponenten einer Unterscheidung begriffen werden können und
Natürlichkeit und Authentizität von Wildvölkern nicht ausschließt). Sie wird zersetzt und ersetzt durch ein nicht als aus sich selbst heraus geltend; daß damit aber auch alle Unterscheidungen ihre fraglos vorausgesetzte
Kultur- und Zivilisationsbewußtsein, das auf dessen symbolische, sprachliche, zeichenhafte und damit vor Selbstverständlichkeit verlieren und als kontingente Bedingungen von Beobachtungen und Bezeichnungen
allem geschichtliche Konstitution abstellt. Bereits Vico hatte, noch auf der Basis der rhetorischen Tradition, aufgefaßt werden müssen. Und das heißt, daß die Selbstbeschreibung der Gesellschaft von Was-Fragen auf
diesen Weg gewiesen. Rousseaus preisgekrönter Discours sur les sciences et les arts (1749) löst die Wie-Fragen umgestellt werden muß. Ihr Problem ist dann nicht mehr, was die Gesellschaft ist, sondern: wie,
hergebrachte Einheit von Moral und Manieren auf und entkoppelt damit die Vorstellungen über durch wen und mit Hilfe welcher Unterscheidungen sie beschrieben wird.
Wir begnügen uns mit dieser sehr kursorischen Skizze, um die Hypothese zu belegen, daß sich die
Voraussetzungen für gesellschaftliche und für funktionssystemsspezifische Selbstbeschreibungen zu ändern
beginnen, ohne daß dies zunächst auf der Ebene der Terminologien, die eingesetzt werden, sichtbar werden
1636 muß. Hier kann nach wie vor von societas civilis, civil society, economy usw. gesprochen werden mit der
A.a.O. z.B. S. 51, 67.
Möglichkeit, die notwendigen Modifikationen weniger radikal anzusetzen. Der Gesellschaftsbegriff öffnet sich
1637
A.a.O. S. 101. für primär ökonomischen Inhalte, weil das Politische nun dem Staat zugerechnet wird. Die Ökonomie wird
1638
Siehe etwa Jean Domat, Les loix civiles dans leur ordre naturel, 2. Aufl. Bd. 1, Paris 1697, insb. S. LVI ff. und LXXIII
f. 1643
Dazu ausführlicher oben Kap. .... und unten Abschnitt ....
1639
Bemerkenswert die terminologische Umstellung vom üblichen dignitas auf dignatio, mit der verdeutlicht wird, daß die 1644
Hesperus, sechster Schalttag, zit. nach der Ausgabe Jean Paul, Werke (Hrsg. Norbert Miller) Bd. 1, München 1990, S.
ständischen Schranken, die Menschen mit und Menschen ohne dignitas vorgesehen hatten, unterlaufen werden. Siehe
871. Der Autor selbst entscheidet sich auf den folgenden Seiten dann, auf die ganze Menschheit bezogen, für Hoffnung.
Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo 3.II.I., zit. nach der Ausgabe Frankfurt-Leipzig 1744, Bd. I, S. 313:
1645
"In ipso hominis vocabulo iudicator inesse aliqua dignatio". Vgl. das Hume-Zitat unten bei Anm......
1640 1646
Vgl. zu diesem Sinn des viel kritisierten Individualismus der liberalen Tradition Stephen Holmes, The Anatomy of Es lohnt sich, ausführlich zu zitieren: "Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Angelegenheit;
Antiliberalism, Cambridge Mass. 1993, Kap. 2. das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen — sie
1641 sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß
Vgl. hierzu Ulrich Scheuner, Die Verwirklichung der Bürgerlichen Gleichheit: Zur rechtlichen Bedeutung der
keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimniß, — daß wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er
Grundrechte in Deutschland zwischen 1780 und 1815, in: Günter Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel
gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmtem sprechen, läßt ihn die
von Gesellschaft und Geschichte: Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis
launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen ...... Wenn man den Leuten nur begrifflich machen könnte,
zur Revolution von 1848. Göttingen 1981, S. 376-401.
daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei — Sie machen eine Welt für sich aus — Sie spielen nur
1642
Siehe Hans Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1973. mit sich selbst". (Monolog, zit. nach: Novalis, a.a.O., Bd. 2, S. 438 f.)
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 451 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 452

nicht mehr vom Haus, sondern vom Handel her begriffen und findet schließlich ihren Schwerpunkt in der ja ermöglicht geradezu eine größere Komplexität dessen, was jetzt als (unverbindliche) "Geschichte" zum
"Nationalökonomie". Daß sich zugleich auch auf viel tieferliegenden Sinnebenen Natur in Semantik, in Thema werden kann. An die Stelle der (religiös interpretierbaren) Ewigkeit tritt die unendliche Sukzession des
Zeichen, in Sprache auflöst, braucht auf der Ebene der Selbstbeschreibungsterminologien nicht berücksichtigt Endlichen. So kommt es zu Reformen der Chronometrie, zum Rückwärtsrechnen in eine Vergangenheit ohne
zu werden. Man kann immer noch an die Möglichkeit richtiger Aussagen, zutreffender Beschreibungen, festen Beginn ("vor Christi Geburt") bis hin zur Einrichtung einer welteinheitlichen Zeit im 19. Jahrhundert.
1647
sachhaltiger Begriffe glauben. Friedrich Schlegel wird in der Abhandlung "Signatur des Zeitalters" (1823) Es wird von Beschleunigungserfahrungen gesprochen und von zunehmender Aufmerksamkeit für
den Zerfall aller Bindungen und Sicherheiten durch die Verabsolutierung von Parteistandpunkten, durch die Strukturänderungen. Und dann ist auch das Ergebnis, das télos, von Bewegungen, Verfahren, Handlungen
Phrasen des Ultrageistes, durch Abstraktion und Rücksichtslosigkeit beklagen — und dann doch seine nicht einfach durch die in der Natur vorgesehene Perfektion bestimmt, sondern es hängt unterscheidend davon
Hoffnung auf Religion zu setzen, die ihrerseits nicht zur Partei werden dürfe. ab, in welcher historischen Lage der Prozeß läuft und ob "Fortuna" mitspielt oder nicht. Das alles liegt als
Man hat deshalb wenig Grund für die Annahme, die Umstellung von Natur auf sich-selbst-reflektierende Ertrag einer sorgfältigen Analyse der Quellen vor, bedarf aber noch einer gesellschaftstheoretischen
Semantik sei allein durch den Übergang zu funktionaler Differenzierung des Gesellschaftssystems ausgelöst Interpretation.
worden. Denn gerade die Begriffe, die dies aufzufangen versuchen, variieren in anderen Sinnkontexten. Eher Die Alternative von linear oder zyklisch verdeckt mit ihrer räumlichen Metaphorik den entscheidenden
ist es plausibel, die Veränderung als Folge des Buchdrucks anzusehen — als Folge einer immer weiter Punkt. Sie suggeriert Bewegung in Richtung auf andere Stellen im Raum. Die Umstellung auf einen Primat
ausgreifenden Interpretation von Büchern durch Bücher, die für alle Interessierten zugänglich sind; als Folge der Zeitdimension besagt jedoch, daß die Gesellschaft sich in Richtung auf einen Weltzustand bewegt, den es
1648
eines "self-reading of culture". Wir hatten gesehen: der Buchdruck erzwingt eine Präferenz für Neues, und noch gar nicht gibt. Man bewegt sich ins Bodenlose, aber die Annahme, daß es sich um (motivfähigen)
sei es nur: eine neue Lesart alter Texte. Die gedruckten Zeichen bieten so den Ausgangspunkt für eine Fortschritt handeln müsse, verdeckt zunächst das Unbekanntsein der Zukunft.
expandierende und diversifizierende Semantik, die schließlich zur Erosion aller notwendigen Referenzen führt Geht man von der Theorie selbstreferentieller, autopoietischer Systeme aus, stellt sich als erstes die
und sich mit Selbstreferenz begnügen kann. Die Gesellschaft richtet sich im Gefängnis der eigenen Sprache Frage, wie solche Systeme Zeit in der Zeit unterscheiden. Daß sie zeitlich operieren, besagt ja noch nicht, daß
ein und reflektiert von da aus auf Aprioris, auf Werte, auf Axiome, die aber nur noch in und mit welchen Unterscheidungen sie Zeit beobachten. In der europäischen Gesellschaft des späten
kontingenzkompensierender Funktion benötigt werden; also nur noch zum Abschluß der eigenen Mittelalters hat sich, teils in Rezeption des aristotelischen Zeitbegriffs (Zeit als Maß einer Bewegung in bezug
Unabschließbarkeit; nur noch als verdeckte Paradoxien. auf ein Vorher und Nachher), teils auf Grund der Einführung mechanischer Uhren, ein Zeitbegriff eingestellt,
1650
der die folgenden Jahrhunderte bestimmen sollte. Die Unterscheidung der Zeit in der Zeit wurde als eine
von allen Zeitpunkten aus gleichmäßig vollziehbare (wiederholbare) Zeitrechnung begriffen: aristotelisch als
Zahl, Maß, Chronologie. Das setzte das zu Messende voraus in der Form von Bewegung, Fluß, Prozeß. Es
XII. Temporalisierungen war gut auf das menschliche Wahrnehmungsvermögen eingespielt, da der Mensch ja Dinge als dieselben
wahrnehmen kann, auch wenn sie von der Ruhelage in Bewegung übergehen oder aus der Bewegung zur
Daß die Neuzeit die Zeitbegrifflichkeit ändert, mit der sie die Welt und die Gesellschaft in der Welt Ruhe kommen. Und man konnte diese Zeit als tempus unterscheiden von der Ewigkeit Gottes, für die alle
1649
beschreibt, ist oft bemerkt worden. Bezogen auf historische (gesellschaftliche) Zeit wird in der Renaissance Zeitpunkte immer gegenwärtig sind. Restprobleme wie der logische und ontologische Status des Augenblicks
erstmals deutlich zwischen Gegenwart und Vergangenheit unterschieden. Damit wird die Vergangenheit für blieben ungelöst, konnten aber keine konkurrierende Zeitbeschreibung hervorbringen, und auch die
Segmentierung in historische Epochen freigegeben und die Gegenwart geöffnet für das, was in ihr anders, augustinische Zeitreflexion, die auf ein Nichtwissen hinauslief, konnte die praktischen Probleme der zeitlichen
abweichend, neu vorkommt. Und da ist dann freilich viel zu beobachten und zu berichten. Die tradierten Koordination menschlicher Aktivitäten nicht lösen und blieb theologischer Besinnung überlassen. Die
Zeitvorstellungen deformieren sich unter dem Druck der Notwendigkeit, dem massenhaft auftretenden Neuen Doppelunterscheidung von Maßskala und Bewegung auf der einen und der Messwerte auf der anderen Seite
und dem wachsenden Bedarf für Entscheidungen Rechnung zu tragen; es muß mehr Verschiedenartiges in der blieb das vorherrschende Modell, obwohl die Zeit selbst und mit ihr die Frage Augustins in diesen
Zeit untergebracht werden. Dennoch sind weder die genaue Form noch der Tiefgang der Umorientierung noch Unterscheidungen als das durch sie nicht benennbare Dritte gleichsam verschwand.
ihr Zusammenhang mit sozialstrukturellen Entwicklungen ausreichend geklärt. Oft wird angenommen, die Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit hat an dieser Art, Zeit in der Zeit zu unterscheiden, nichts
1651
Zeitdarstellung gehe von zyklischen bzw. linearen Vorstellungen zu einem Begriff der offenen Zukunft über. Grundlegendes geändert. Zweifellos wurde in der Frühmoderne (oft spricht man global von "Renaissance" )
Entsprechend käme es zu einer Umstellung der Orientierungsgrundlagen von Erfahrungen auf Erwartungen, die Zeitthematik dramatisiert. Einerseits war die Zeit (noch als "tempus") der große Gegner, der die
also von Vergangenheit auf Zukunft. So verlieren im Übergang zur Neuzeit die Dinge ihre Namen und ihr Aufmerksamkeit auf Zeitpunkte, ökonomischen Umgang mit Zeit, Vermeidung von Zeitverlust,
Gedächtnis, das heißt die Eigenschaft, ihren Ursprung — sei es als Natur, sei es als Schöpfung — sichtbar zu Beschleunigung lenkte, wollte man gegen die Zeit seine Ziele erreichen. Andererseits war aber eben dadurch
machen. Sie erinnern den Menschen nicht mehr an einen die Formen begründenden Anfang. Damit nimmt das Alltagsbewußtsein von der Politik bis zur Geschäftswelt so sehr mitZeit beschäftigte, daß Zeit oder die sie
1652
auch die Gewohnheit ab, gegenwärtige Probleme durch kritische Untersuchung der Vergangenheit zu lösen (in vertretende Fortuna zur eigentlichen Herrin des Geschehens wurde. Zeit erschien als eine Macht in der
England gab es hierfür eine besondere Expertenvereinigung, die Elisabethan Society of Antiquaries), und statt Welt, als Gegenspielerin der prudentia. Aber das alles spielte noch vor dem sich allmählich auflösenden
dessen achtet man mehr auf den (künftigen) Nutzen der anstehenden Entscheidungen. Das schließt nicht aus,
1650
Für das frühe Mittelalter lassen sich nun sehr unklare Zeitbegriffe feststellen, die aber für sehr kleinräumige
Verhältnisse, etwa einzelne Klöster oder Gutswirtschaften oder kleinere Siedlungen, ausreichten. Siehe dazu und zum
1647
zitiert nach: Friedrich Schlegel, Dichtungen und Aufsätze, München 1984, S. 593-728. Übergang im 13./14. Jahrhundert Jean Leclercq, Zeiterfahrung und Zeitbegriff im Spätmittelalter, in: Albert Zimmermann
1648 (Hrsg.), Antiqui und Moderni: Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter. Miscellanea
Diese Formulierung bei Dean MacCannell / Juliet F. MacCannell, The Time of the Sign: A Semiotic Interpretation of
Mediaevalia Bd. 9, Berlin 1974, S. 1-20, mit weiteren Hinweisen.
Modern Culture, Bloomington Ind. 1982, S. 27.
1651
1649 Siehe z.B. Ricardo J. Quinones, The Renaissance Discovery of Time, Cambridge Mass. 1972.
Vgl. nur Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979. Ferner Niklas
1652
Luhmann, Temporalisierung von Komplexität: Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Zum Ausbau der Fortuna-Allegorie in der Renaissance vgl. Klaus Reichert, Fortuna oder die Beständigkeit des
Semantik Bd. 1, Frankfurt 1980, S. 235-300; Armin Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft: Auf dem Weg zu einer Wechsels, Frankfurt 1985. An älterer Literatur auch Alfred Doren, Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance, Leipzig
soziologischen Theorie der Zeit, Opladen 1993, insb. S. 249 ff. Die meisten Untersuchungen konzentrieren sich auf 1922. An zeitgenössischer Literatur aus dem 15. Jahrhundert etwa Ioannes Jov. Pontano, De fortuna lib. II, zit. nach Opera
einzelne Texte, Autoren oder Epochen und führen theoretisch nicht sehr weit, so unentbehrlich die Sichtung und Omnia, Basilea 1556, Bd. I, S. 792-931 mit all den Ausklammerungen metaphysiktypischer Festlegungen: Fortunam... non
Interpretation der Quellen ist. Auf Einzelheiten kommen wir bei der Behandlung des Identitätsproblems in sachlicher, esse Deum, ... non esse naturam, ... non esse intellectum, ... non esse rationem (Cap. I-IV) und gerade in diesen Hinsichten
zeitlicher und sozialer Hinsicht (Abschnitt ...) nochmals zurück. spezifisch an den Menschen gerichtet: quae ad hominem spectent (Cap. XV).
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 453 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 454
1658
Gegenbegriff der Ewigkeit, der Dauer, der Ruhe. Gerade diese Dramatisierung der Zeit konnte sich nicht von Naturbegriff unter, der die Natur als sich selbst imitierend versteht. Doch Information gewinnt man nur
den kosmographischen Unterscheidungen wie Ruhe/Bewegung oder Kontinuität/Wandel lösen. Selbst und an Kommunikation nimmt man nur teil, wenn man über ein bloßes Wiederholen des schon als Kunst oder
Heideggers Reflexion und selbst Derridas Kritik ihrer metaphysischen Präsuppositionen sind nicht zu einer als Natur Vorhandenen hinausgeht.
ganz anders ansetzenden Zeitbegrifflichkeit gelangt. Daß von Neuheit im Zusammenhang mit "gefallen" oder "schätzen" die Rede ist und daß die Produktion
Das mag tiefliegende Gründe im Zusammenhang von Wahrnehmung und Kommunikation haben oder von Neuen auf naturgegebenes "Genie" zugerechnet wird, zeigt deutlich an, daß es an begrifflicher Klärung
auch in koordinationspraktischen Vorzügen einer schematisierten Zeitvorstellung. Um so mehr ist die Frage fehlt und daß man sich mit einem bloßen Anbau an die gegebene Ordnung begnügt. Auch die Umstellung von
berechtigt, was dann innerhalb dieser Semantik sich geändert hat, als die Gesellschaft von relativ statischen lateinisch origo auf original verdeckt nur eine Verlegenheit durch Mystifikation der Zurechnung. Die alte, für
regionalen und hierarchischen Differenzierungsformen zu funktionaler Differenzierung überging. Es scheint Adelstheorien wichtige Vorstellung, daß der Ursprung immer auch Gegenwart ist und bleibt, wie immer die
nun, daß das disruptive Moment in der Erfahrung und der zunehmenden Wertschätzung des Neuen gelegen Nachfahren guter Familien sich verhalten mögen, wird mit dem neuen Insistieren auf Originalität aufgegeben.
hat. Denn einerseits konnte man das Neue gut datieren, also in der Zeit unterbringen, aber andererseits konnte Die Rechtswissenschaft ersetzt zum Beispiel die Berufung auf ein die Rechtsordnung stiftendes Gesetz oder,
es nicht aus seiner eigenen Herkunft, aus dem "Vorher" erklärt werden. Es blieb so eine irritierende in England, die Berufung auf die Legitimität der normannischen Eroberung durch Berufung auf den
1659
Provokation, die sich dann auf eine Fülle von supplementären Begriffen wie Genie, Kreativität, Innovation, geschichtlichen Prozeß selbst. Das heißt nicht zuletzt, daß der Prozeß für Reformen geöffnet bleibt ; aber
Erfinden (statt Finden) und schließlich auf ein "progressistisches" Gesellschaftsverständnis übertrug. diese müssen nun ihrerseits begründet werden. Aber woher kommt dann die Originalität, die Inspiration, das
Aber wieso drängt sich das Neue in der Beobachtung und Beschreibung des Gesellschaftssystems auf? Neue? Wahrscheinlich wird man antworten müssen: aus dem unmarked space, aus der nicht beobachteten und
Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts war man im allgemeinen davon ausgegangen, daß das Alte besser nicht bezeichneten Welt. Neu wäre dann eine Information insofern, als sie gerade nicht attribuiert, nicht
sei als das Neue und daß die Bemühungen der Wiederherstellung des Wissens und Könnens der Alten zu legitimiert, nicht erwartet und nicht begründet werden kann — oder all dies, wie in den Geschmackslehren des
1660
gelten haben. So die Renaissance, so die protestantische Reformbewegung, so auch der Humanismus eines 18. Jahrhunderts, nur durch fragwürdige Nacharbeit der unfruchtbaren "connoisseurs" und der Kritiker.
1653
Erasmus. Zu durchgreifenden Änderungen scheint es, trotz Beibehaltung der Vorstellung, die Gegenwart Neu ist natürlich auch die Entdeckung neuer Weltteile oder die zunehmende Beeinflußung des Rechts
sei eine Zeit des Verfalls, erst im Laufe des 16. Jahrhunderts gekommen zu sein. Ein Ausgangspunkt könnte durch Gesetzgebung, neu sind die Verbesserungen in den Agrartechniken oder in den Verkehrsverbindungen
sein, daß die Technologie der Druckpresse in nie dagewesenem Umfange Information verfügbar macht, und in Europa, die Reformen, zum Beispiel im Schulwesen und (seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts)
zwar relativ unabhängig von den traditionalen Kontrollwegen der Kirche oder den regional weiträumigen Gefängniswesen, und nicht zuletzt die Aufklärung mit ihrer nicht mehr natürlichen, sondern den Menschen
Kontaktnetzen des Adels und des Handels. Information ist aber nur Information, wenn sie neu ist. Sie kann zugemuteten Rationalität. Neu ist das Ausmaß der Staatsverschuldung als Form der Entdeckung neuer
nicht wiederholt werden. Parallel dazu kommt es zu raschen Entwicklungen in den Künsten und Finanzinstrumente, neu ist das Ausmaß der am Markt und nicht mehr am bekannten Kunden orientierten
Wissenschaften und auch hier: zur Verbreitung von Information darüber, die ihrerseits wieder zur Produktion. Man kann, spätestens für das 18. Jahrhundert, von einer Gewöhnung an Innovation ausgehen,
Voraussetzung wird für weitere Innovationen. Vor aller Diskussion über die Vorrangigkeit des Alten bzw. des und findet das auch in der Verbreitung der Vorstellung, Fortschritt sei zu erwarten als Normaltrend der
1654
Neuen, die in der Thematisierung der Rangfrage noch den alten Strukturen folgt , gibt es die These, daß neueren Geschichte. Daß die Wertschätzung des Neuen sich auf ein Interesse an Information zuspitzt, zeigt
Neues als Neues gefällt. Aber weshalb? Doch wohl deshalb, weil man nur von Neuem Information und damit nicht zuletzt der zweihundertjährige Kampf, von Milton bis Welcker, gegen Zensur und für Pressefreiheit —
Antrieb für Kommunikation erwarten kann. Gott selbst habe die Natur, so hört man, mit Abwechslung zunächst und bis zur kritischen Diskussion über "Massenmedien" getragen durch eine positive Einstellung zu
1655
ausgestattet, um den Aufenthalt im Exil nach der Vertreibung aus dem Paradies angenehm zu machen ; und "öffentlicher Meinung" und zu kritisch gesicherter Information. Man traut, anders gesagt, der Gesellschaft
1661
dann spricht natürlich nichts dagegen, wenn auch die Menschen mit aller Kunstfertigkeit für Neuheiten einen kritischen Umgang mit Informationen über sich selbst zu, die Warnungen des Predigers Salomo sind
sorgen. Die noch im 16. Jahrhundert vorherrschende Klage über Unruhe und Instabilität tritt mit der vergessen, und daran knüpft die Hoffnung auf Zukunft an.
Konsolidierung des Territorialstaates zurück. Man erkennt den Effekt dieser semantischen Karriere des Neuen nicht daran, daß und wie es begriffen
Die Schätzung des Neuen hält sich in Grenzen. Religion, aber auch Politik sehen sich durch Neuerungen wird, wohl aber an Veränderungen der Vorstellung von Gegenwart, in der allein das Neue neu sein kann.
1656 1657
gefährdet und lehnen sie ab. Die Weisheit liege darin, meint Gracián , am Bekannten etwas Neues zu Gegenwart ist jetzt nicht mehr die Anwesenheit der Ewigkeit in der Zeit; und auch nicht mehr nur die
finden, statt dem Zauber des Neuen zu verfallen und das Alte abschätzig zu beurteilen. Auch innerhalb der Situation, in der man sich seelenheilwirksam für oder gegen Sünde entscheiden kann. Sondern Gegenwart ist
Kunsttheorie gilt noch, wie immer gelockert und gegen bloßes Copieren abgegrenzt, das platonisch- nichts anderes als die Differenz von Vergangenheit und Zukunft.
aristotelische Prinzip der Imitation. Als imitatio ordnet sich die Kunst wie auch die Erkenntnis einem Will man der Beobachtung von Zeit dieses Differenzschema zugrundelegen, ändert das den Sinn sowohl
von Vergangenheit als auch von Zukunft. Schon die christliche Tradition hatte die Vergangenheit von der
1653 Gegenwart aus gesehen und sich nicht mit ihr, so wie sie nun einmal geschehen war, abgefunden. Die in der
Zu letzterem vgl. Juliusz Doma_ski, "Nova" und "Vetera" bei Erasmus von Rotterdam: Ein Beitrag zur Begriffs- und
Bewertungsanalyse, in: Zimmermann a.a.O. (1974), S. 515-528.
Beichte institutionalisierte Lehre von der Vergebung der Sünden machte deutlich, daß es nicht nur um
1654
Erinnern/Vergessen ging, sondern daß an der Vergangenheit noch etwas zu ändern war. Diese Freiheit
Als Beleg dafür dürfte ein Blick auf die Rangkontroversen innerhalb der Künste genügen, die die kunsttheoretische gegenüber Vergangenem ändert sich, wenn der Orientierungsschwerpunkt der Zeitdisposition mehr und mehr
Literatur des 16. Jahrhunderts beleben — Poesie, Malerei, Skulptur usw. betreffend. Hier kommt noch niemand auf den
Einfall, Innovationspotential als Rangkriterium einzusetzen, obwohl geniale Innovationen betont und geschätzt werden. Für
Beispiele siehe die von Paola Barocchi (Hrsg.), Trattati d'arte del cinquecento, 3 Bde. Bari 1960-1963, zusammengestellten
1658
Schriften. Für Ambivalenzen in der Übergangszeit, was Autorität von Alter und Lebenserfahrung betrifft, siehe auch Keith "la natura imita sé stessa", liest man zum Beispiel bei Paolo Pini, Dialogo di Pittura, Vinegia 1548, zit. nach der
Thomas, Vergangenheit, Zukunft, Lebensalter: Zeitvorstellungen im England der frühen Neuzeit, dt. Übers. Berlin 1988. Ausgabe in Barocchi a.a.O. Bd. 1, S. 93-139 (113).
1655 1659
so François de Grenaille, La Mode ou Charactere de la Religion ..., Paris 1642, S. 1 f. Und S. 5: "Si la durée fait Siehe z.B. Hermann Conring, De origine iuris germanici: Commentarius historicus, Helmstedt 1643. Die These der
subsister toutes les partie du monde, la nouveauté les faict estimer". Vgl. auch S. 39, 72 ff. Einführung des römischen Rechts in Deutschland durch ein Kaisergesetz wird in historischen Untersuchungen widerlegt,
1656 und das Schlußkapitel ist den Möglichkeiten der Verbesserung der Gesetze gewidmet.
Unter anderem mit effektiven Eingriffen in die Künste und Wissenschaften im Interesse einer dogmatisch und
1660
geschichtlich akzeptablen Darstellung (Teufel müssen mit Hörnern, Engel mit Flügeln, Christus muß mit Bart dargestellt Zu dieser weitläufigen, vor-romantischen Diskussion vgl. etwa Peter Jones, Hume and the Beginnings of Modern
werden, was immer die ästhetische Komposition erfordere, und natürlich : nicht zu viel Nacktheit). Siehe dazu Charles Aesthetics, in ders. (Hrsg.), The 'Science of Man' in the Scottish Enlightenment: Hume, Reid and their Contemporaries,
Dejob, De l'influence du Concile de Trente sur la littérature et les beaux-arts chez les peuples catholique, Paris 1884, Edinburgh 1989, S. 54-67, oder aus der zeitgenössischen Sicht eines Künstlers William Hogarth, The Analysis of Beauty,
Nachdruck Genf 1969. Written with a view of fixing the fluctuating Ideas of Taste, London 1753, zit. nach der Ausgabe Oxford 1955.
1657 1661
Baltasar Gracián, Criticón a.a.O., S. 19. 1,13-18.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 455 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 456
1666
in die Zukunft verlagert wird. Dann fragt es sich, wie die Vergangenheit so begriffen werden kann, daß sie der noch im Sektor Unterhaltung eine Rolle spielt. Wir haben das Vertrauen verloren, daß die als Text
1667
Gegenwart noch einen Entscheidungsspielraum läßt; daß die Welt aus ihrer Vergangenheit heraus nicht gespeicherte Vergangenheit auch die Garantie für eine Auflösung der Spannung enthält. Jede Gegenwart
einfach so ist, wie sie ist, sondern daß sie Alternativen vorlegt, über die man entscheiden kann. bildet immer eine neue, wieder unbekannte Zukunft. Das ermöglicht es, die Probleme der Gegenwart, ohne
1662
In kaum merkbaren Umstimmungen entsteht dadurch etwas, was wir Tradition nennen. Das Widerstand zu finden, in der Zukunft zu deponieren. Die Zukunft garantiert nun, daß die Welt unverständlich
Vergangene ist nicht mehr selbstverständlich gegenwärtig. Es wird separat ausgewiesen, es wird symbolisiert, ist — und bleibt.
es wird empfohlen und mit all dem einer Kommunikation überlassen, die angenommen oder abgelehnt werden So ist die Gegenwart die Einheit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft, eben damit auch die
kann. Was vordem selbstverständlich war, wird nun besonders vorgezeigt. Handgewebte Stoffe und Einheit der Differenz von Redundanz und Varietät. Genau das ist aber zugleich die Bedingung der
handgestrickte Pullover werden wegen ihrer Qualität gerühmt und in besonderen Läden angeboten. Möglichkeit der Beobachtung von Neuem; denn Neues setzt immer Redundanzen voraus, an denen es als
Überdies wird Vergangenheit zur Geschichte. Sie wird mit Rücksicht auf die damals unbekannte Variation erkennbar ist; selbst die Neuheit des Neuen ist redundant, da man aus der Erfahrung mit Neuheiten
Zukunft (die heute bekannt ist) auf radikale Weise von der Gegenwart unterschieden. Daran zerbricht jede immer schon weiß, um was es sich handelt, und da man über immer denselben Gegenbegriff "alt" verfügt, um
Vorstellung eines linearen Kontinuums. Die Zeit ist dann nicht mehr der Inhalt eines Kontinuums von Neues wiederholt unterscheiden zu können. Gerade das erklärt jene Aura des Rätselhaften, die das Neue und
Ereignissen, die nur Gott alle gleichzeitig lesen kann. Deshalb kann Zukunft auch nicht mehr begriffen werden den Neuerer umgibt (das Genie, den Erfinder, den schöpferischen Unternehmer). Es geht um die Einführung
als Teil der Zeit, der auf uns zukommt und auf deren Aktualisierung man (im Blick auf die Uhr oder den einer Information aus dem unmarkierten Bereich, um das Wiederholbarmachen der unwiederholbaren
Kalender) warten muß. Vielmehr ist die Zukunft die in der Zeit erzeugte, mit ihr laufende verschobene Gegenwart, um Information im Sinne des Unterschieds, der einen Unterschied macht, um die Beobachtung
Konstruktion neuer, noch unbekannter Bedeutungen und in diesem Sinne nicht nur anders als das von Zeit aus einer Gegenwart heraus, die in sich selbst keine Zeit ist, sondern nur als der blinde Fleck dient,
Vergangene, sondern neu. Neuheit (oder Information) ist deshalb dasjenige Moment, das es überhaupt erst den man voraussetzen muß, um Zeit überhaupt als Differenz beobachten zu können. Es geht, dasselbe mit
erlaubt, Zukunft von Vergangenheit zu unterscheiden und mit Hilfe dieser Unterscheidung Zeit zu beobachten. anderen Worten gesagt, um eine Auflösung der Paradoxie der Einheit des Differenten mit Hilfe der leicht
1668
Da aber Neuheit nicht in die Gegenwart eintreten kann, ohne diesen ihren Charakter zu verlieren, und handhabbaren Unterscheidung alt/neu.
erst recht: da Neuheit nicht erinnert, sondern allenfalls als Merkmal einer vergangenen Zukunft rekonstruiert Zu diesem Ausbreiten neuer Information und zu dem Bedarf für Ersatzbeschaffung, denn neue
werden kann, verliert die Zeit sich ständig in sich selbst. Als Differenz bleibt sie instabil und löst damit Informationen sind schon alt, wenn sie bekannt sind, kommt hinzu, daß der Buchdruck in nie vorher möglicher
1663
Beschleunigungen aus. Als Vergangenheit wird, da hier nichts mehr zu ändern ist, Redundanz in die Zeit Weise Zukunftsprojektionen kommunikabel macht. Das Bewußtsein für sich genommen weiß nichts von der
eingeführt; als Zukunft dagegen Varietät. Nicht der Essenzenkosmos oder die Natur, wohl aber das, was als Zukunft. Es benutzt statt dessen "anticipatory reactions". Zeitmessungen ermöglichen Leererwartungen.
Vergangenheit Gegenwart geworden ist, legt die Ausgangslage für die Zukunft fest. Über Zukunft wird Mündliche Kommunikation kann warnen oder verabreden und dabei über selbstverständliche Wiederholungen
dagegen in dieselbe Gegenwart Unsicherheit eingeführt, wobei das System zwischen mehr positiven und mehr hinausgehen; aber doch nur in einem sehr kurzen, vor den Augen liegenden Zeithorizont. Auch die
negativen Einschätzungen, zwischen Hoffnungen und Befürchtungen oszillieren kann. In diesem Sinne handschriftliche Kommunikation war mehr zum Festhalten als zum Projektieren geeignet. Erst der Buchdruck
repräsentiert die Französische Revolution die Gegenwart par excellence, auch und gerade indem sie selbst zur scheint den Übergang zu einer Kommunikation über eine imaginäre, aber doch inhaltlich durchskizzierte
Vergangenheit wird und nur noch als Kontroverse oder als weitere Revolution reaktualisiert werden kann. Das Zukunft zu ermöglichen, und auch dies nicht sofort, sondern mit größerer Breitenwirkung erst im 18.
heißt aber praktisch, daß nur noch das Neue wesentlich ist, da man nur über immer Neues Unsicherheit für die Jahrhundert, wenn Zukunft benötigt wird, um den Verlust von Vergangenheit zu kompensieren. Die
1669
Gegenwart vernichten und in eine immer wieder neue Zukunft hinausschieben kann. Und auch dies wird der Temporalisierung der Utopien wird in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts datiert , aber die
gesamten Gesellschaft paradigmatisch durch ihr Kunstsystem vorexerziert. Formulierung, daß die Gegenwart mit Zukunft schwanger sei, durchzieht das ganze 18. Jahrhundert, so daß
1670
Wenn die Vergangenheit nicht mehr Gegenwart ist, wenn der Sündenfall nicht mehr Sünde ist, kann sich die Französische Revolution als Realisierung einer Voraussage verstehen kann.
1664
auch die Zukunft nicht mehr als Erlösung begriffen werden. Die Zeit verliert ihren heilsgeschichtlichen Die Gegenwart wird damit zum Ereignis, zur Tat, jedenfalls zur Grenzlinie zwischen Vergangenheit und
Sinn. Sie kann ihn nicht mehr "vergegenwärtigen", sondern muß in jeder Gegenwart damit rechnen, daß das Zukunft. Sie kann als Quellpunkt des Neuen aber nur aus dieser Differenz heraus begriffen werden. Sie ist die
sich ändert, was für eine Gegenwart Vergangenheit bzw. Zukunft ist. Der Roman des 18. und 19. Einheit eben dieser Differenz und damit ein paradoxer Bezugspunkt, der alle Beobachtungen scheitern läßt.
Jahrhunderts und alle von ihm abstammenden Formen der Unterhaltung wählen das Unbekanntsein der Denn sie ist einerseits die einzige und immer gegebene Zeitbasis der Operationen und insofern "ewig"; aber sie
Zukunft als Prinzip der Textorganisation — aber mit Aussicht, wenn nicht auf Erlösung, dann doch auf hat diese Eigenschaft nur, weil sie ständig vergeht und autopoietisch erneuert werden muß, was mit hoher
1665
Auflösung der Spannung im selben Text. Es dürfte kein Zufall sein, daß diese narrative Form heute nur Zuverlässigkeit geschieht. Dieses Paradox entspricht der Erfahrung, daß Ereignisse (im Unterschied zu
Strukturen) die einzigen Formen sind, die sich nicht ändern können, weil sie zu schnell vergehen. Es ist nun
genau dieses Paradox, das durch die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft entfaltet wird. Die
Zeitsemantik lehrt dann, daß die Gegenwart nichts anderes ist als der Unterschied von Vergangenheit und
1662
Siehe dazu Edward Shils, Tradition, Chicago 1981.
1663
Aus dem reichen Schatz romantischer Formulierungen zu diesem Thema nur zwei Beispiele: "Aber die Gegenwart,
1666
gleichsam das durchsichtige Eisfeld zwischen zwei Zeiten, zerfließt und gefriert in gleichem Maße, und nichts dauert an ihr Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 96 ff.
als ihr ewiges Fliehen. — Und die innere Welt, welche die Zeiten schafft und vormißt, verdoppelt und beschleunigt sie 1667
"Der Knoten gehe bloß durch Vergangenheit, nicht durch Zukunft auf", wie Jean Paul es dem Romanschreiber
daher; in ihr ist nur das Werden, wie in der äußeren das Sein nur wird." (Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, zit. nach
vorschreibt.
Werke Bd. 5, München 1963, S. 238 f.) Und: "... wie wollte man ohne jede Vorkenntnisse bestimmen, ob das Zeitalter
1668
wirklich ein Individuum oder vielleicht nur ein Kollisionspunkt andrer Zeitalter sei, wo es bestimmt anfange und endige? Zur Paradoxienähe des Neuheits-Schemas vgl. auch Dodo zu Knyphausen, Paradoxien und Visionen: Visionen zu einer
Wie wäre es möglich, die gegenwärtige Periode der Welt richtig zu verstehen und zu interpungieren, wenn man nicht paradoxen Theorie der Entstehung des Neuen, in: Gebhard Rusch / Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), Konstruktivismus:
wenigstens den allgemeinen Charakter der nächstfolgenden antizipieren dürfte? (Friedrich Schlegel, Fragmente 426, zit. Geschichte und Anwendung. DELFIN 1992, Frankfurt 1992, S. 140-159. Die Auflösung der Paradoxie erfolgt hier
nach: Werke in zwei Bänden, Berlin 1980, Bd. 1, S. 253). In der Übertragung dieses Gegenwartsverständnis auf seine allerdings noch ganz traditionell durch Hinweis auf die visionäre Kreativität einzelner Individuen.
eigene Zeit erscheint Schlegel (a.a.O. Bd. 1, S. 235) diese als das "Mittelalter" im eigentlichen Sinne. 1669
Louis Sébastien Mercier, L'an deux mille quatre cent quarante: Rêve s'il en fut jamais, London 1772, gilt als die erste
1664
Wenn trotzdem in diesem Schema gedacht wird (und so interpretiert Gumbrecht das faschistische Abenteuer Fiume), Publikation dieses Typs.
wirkt das anachronistisch. Siehe dazu Hans Ulrich Gumbrecht, I redentori della vittoria: On Fiume's Place in the Genealogy 1670
Abbé Grégoire zitiert als "proverbe que le temps présent est gros d'avenir", um darauf die Hoffnung auf Freiheit in der
of Fascism, Journal of Contemporary History 31 (1996), S. 253-272.
"époche actuelle" zu gründen — so in Henri Grégoire, Refléxions. Mémoires de l'Institut nationale (Classe des sciences
1665
Vgl. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, zit. nach Werke Bd. 5, München 1963, S. 262 ff. morales et politiques, Paris 1798-1804, Bd. 1, 1798), S. 552-566 (556).
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 457 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 458

Zukunft. Was im metaphysisch-religiösen Denken Alteuropas unterschieden war, nämlich die Gegenwart als öffentlich sichtbare Konsequenz liegt jedoch darin, daß die moderne Gesellschaft sich selbst als modern
1671
Anwesenheit der Welt und der platzlose Augenblick, das átopon , fallen nun zusammen. Man kann zwar bezeichnet und mit dieser Bezeichnung eine Bewertung verbindet. Im älteren Sprachgebrauch der Rhetorik
noch ganze Epochen als "gegenwärtige" Zeit bezeichnen, aber das setzt der Auflösung in Kleinsteinheiten und hatten die Begriffe antiqui/moderni sich eher auf Personen und nicht auf Epochen bezogen, hatten nur die
1676
letztlich in einen Begriff des bloßen Übergangs von Vergangenheit in Zukunft keinen Widerstand entgegen. früher bzw. gegenwärtig Lebenden bezeichnet und sich dabei die Bewertung der Taten offen gehalten. Das
Wenn das aber so ist: was bleibt der Gegenwart anderes als die Flucht in die Inaktualität. Jedenfalls löst hat sich mit dem neuen Geschichtsverständnis geändert. Gerade weil die Geschichte verloren und die Zukunft
die neuzeitliche Zeitsemantik, und das allein ist ihr distinktes Merkmal, die Zeitparadoxie auf durch die unsicher ist, sieht die Gesellschaft sich zu einer Selbstbewertung im Hinblick auf ihre Vergangenheit bzw.
Beschreibung der Gegenwart als unbeständig, als flüchtig, als nichtig; und nicht, was ja gleichfalls möglich Zukunft aufgefordert; und diese Bewertung kann dann positiv oder auch negativ, optimistisch oder auch
wäre, als Daueraktualität und als einziger, sich laufend erneuernder Zeitort für die Operationen des pessimistisch ausfallen oder auch, wie bei Rousseau, beides zugleich. Schon im 17. Jahrhundert findet man
Bewußtseins und der Kommunikation, von dem aus dann, den Konsistenzbedürfnissen entsprechend, die Einsicht, daß die Geschichte die Handlungsmöglichkeiten bestimmt und daß die Alten, könnten sie heute
1677
Vergangenheit und Zukunft rekursiv konstruiert werden. Die damit erzeugte Unsicherheit wird zunächst auf wirken, nicht sich selbst wiederholen könnten; sie haben ihre Möglichkeiten gehabt — und verbraucht. Die
die Figur des Subjekts abgeleitet. Dabei wird, merkwürdig genug, von Geburt und Tod abstrahiert. Die Modernität der Diskussion über Modernität kulminiert schließlich in der Schwierigkeit, herauszufinden, um
Reflexion des Subjekts wird auf unendlich eingestellt, ihr Zeichengebrauch wird ironisch, ihr Naturverhältnis was es sich bei dieser Zeitabhängigkeit handelt.
kompensatorisch, ihre Authentizität daher zum Problem. Das jedenfalls sind die Formen, mit denen die Bis in die heutige Zeit hinein war die hierfür benutzte Semantik durch ontologische Grundannahmen und
Romantik der Situation begegnet und sich zugleich davon dispensiert, dies über den logisch unmöglichen durch die zweiwertige Logik bestimmt gewesen. Die ontologische Einbettung der Zeitbegrifflichkeit ist (und
1672
Begriff der "Intersubjektivität" als Gesellschaftstheorie zu formulieren. bleibt) für Menschen schon deshalb plausibel, weil, wie bereits bemerkt, Menschen (im Unterschied zu
Wenn Gegenwart als Differenz, also als Nichtübereinstimmung von Vergangenheit und Künftigem manchen Tieren) davon ausgehen, daß ein Objekt identisch bleibt, wenn es aus der Ruhelage in Bewegung
begriffen wird, liegt es nahe, sie als Entscheidung zu markieren, gleichviel, wie und wem die Entscheidung übergeht, und auch, wenn es wieder zur Ruhe kommt. Die Vorstellung des (seienden) Dinges übergreift mithin
dann zugerechnet wird. Das kann nicht heißen, daß auf diesem Wege die verlorene Übereinstimmung die Differenz von Bewegung und Nichtbewegung, sie überdauert ein Kreuzen der Grenze in dieser
wiedererreicht wird, wohl aber, daß eine selektiv erinnerte Vergangenheit mit einer selektiv projektierten Unterscheidung und verweist damit auf einen Seinsgrund, der diesen Unterschied transzendiert. Zeit kann
Zukunft integriert wird. Die Entscheidung sieht es dann so, als ob die Vergangenheit ihr Alternativen zur deshalb, an Bewegungen wahrgenommen, nur als ein Teilphänomen der Seinswelt verstanden werden. Das
Auswahl zur Verfügung stellte, und als ob die Zukunft nur deshalb unbekannt sei, weil noch nicht feststeht, wird auch durch die Historisierung der Zeitvorstellungen selbst nicht in Frage gestellt. Noch die deutlich an
wie jetzt und wie in künftigen Gegenwarten entschieden werden wird. Jede Entscheidung ist dann der Beginn Zeit und Geschichte orientierte Geistmetaphysik Hegels benutzt einen Begriff der Bewegung bzw. des
einer neuen Geschichte und zugleich die Voraussetzung dafür, daß Prognosen möglich sind — unter dem Prozesses und läuft auf einen Begriff des Geistes zu, der jedenfalls insofern noch eindeutig ist, als er am Ende
Vorbehalt, daß unbekannt bleibt, wie künftig an Hand von Folgen der Entscheidung entschieden werden der Geschichte alle Unterscheidungen in sich aufnimmt und nur Exklusionen ausschließt. Im übrigen werden
1673
wird. Würde man auf dieser Grundlage eine Zeittheorie ausarbeiten, könnte man vermutlich gänzlich Grenzen dieser Semantik als Irrationalitäten markiert. Damit sind aber zugleich Grenzen der Einschließung
darauf verzichten, Zeit mit Hilfe der Unterscheidung von Fließendem und Festem zu identifizieren. Sie wäre dieser Beschreibung in die Beschreibung markiert, die man heute nicht mehr als zwingend hinnehmen wird.
dann das semantische Äquivalent der ständigen Auflösung und Rekombination der Einheit ihrer eigenen Überschreitet man sie in der angegebenen Weise, lassen sich auch die gesuchten Korrelationen zwischen
Paradoxie, der Einheit der Verschiedenheit von Vergangenheit und Zukunft. semantischen und sozialstrukturellen Aspekten der Moderne nachweisen. Das Zeitschema ermöglicht, im
Versteht man Zeit als laufende Reproduktion einer Differenz von Vergangenheit und Zukunft, unterhöhlt Unterschied zum Seinsschema der Tradition, einen größeren Spielraum in der Kombination von Redundanz
1674
das nach und nach die Vorstellung einer kausalen Determination künftiger durch vergangene Zustände. und Varietät. Es kann damit auf die immense Steigerung der Irritierbarkeit gesellschaftlicher Kommunikation
1678
Das Beobachtungsschema Kausalität reagiert darauf auf verschiedene Weise. Es zieht sich auf ein reagieren, die als Folge funktionaler Differenzierung eingetreten ist. Es macht Konsequenzen sichtbar, die
Modellieren wissenschaftlicher "Erklärungen" zurück. Erklärungsmodelle sind jedoch nie vollständig. Je mehr sich daraus ergeben, daß soziale Positionen nicht mehr auf Herkunft, sondern nur noch auf Karriere gegründet
1679
Variable sie einbeziehen, um so mehr muß mit "Schätzungen" ihrer empirischen Ausprägung gearbeitet werden können. Es gibt dann keine Platzkämpfe mehr, die der Verteidigung des eigenen Platzes dienen,
werden. Sie bieten letztlich nichts anderes als Programme für künftige Arbeit an Erklärungen. Ferner ist heute wohl aber Kämpfe um Vorankommen und Zurückbleiben. Status quo Garantien werden nur noch
klar, daß Kausalität Zurechnungsentscheidungen erfordert, da nie alle Ursachen auf alle Wirkungen (oder sozialstaatlich eingefordert und zugleich durch Neuerungen ständig untergraben. Die Zeit räumt
1675
umgekehrt) bezogen werden können. Die Selektion von zu berücksichtigenden und nicht zu gewissermaßen alle Plätze, da sie als gegenwärtige Zeitstellen vergehen. Die Raummetaphorik der festen,
berücksichtigenden Kausalfaktoren obliegt also den Beobachtern, die das Kausalschema verwenden. Folglich besetzbaren und besitzbaren Plätze wird durch eine Zeitmetaphorik ersetzt, in der die Verdrängungsgefahr
1680
muß man diese Beobachter beobachten, will man feststellen, welche Ursachen welche Wirkungen bewirken, durch das Risiko abgelöst wird, durch Entscheidungen auf ungünstige Positionen zu geraten ; und
und keine "Natur" wird heute garantieren, daß darüber Einvernehmen herrscht. Kausalurteile sind "politische" "Geschichte" dient folglich nicht mehr der Legitimation besetzter Plätze, sondern dem Abhängen der
Urteile. Ansprüche im Wettbewerb um künftige Positionen. Die heute milde belächelten 68er sind dafür ein gutes
Diese zeittheoretischen Überlegungen gehen deutlich über das hinaus, was thematisch als Beispiel; sie können sich nicht mehr als Gesellschaft, sondern nur noch in Organisationen halten.
Selbstbeschreibung der neuzeitlichen Gesellschaft vorliegt und möglich gewesen ist. Eine bemerkenswerte,

1671 1676
In der Umgangssprache hatte átopos noch andere Bedeutungen wie: nicht an seinem Platz, widersinnig, wunderbar. Das Literaturhinweise Kap. 3, Anm.
wird man mithören müssen, wenn der Augenblick als atopisch bezeichnet wird. 1677
"...that not only we shall never equal them, but they could never equal themselves, were they to rise and to write again.
1672
Siehe dazu Paul de Man, The Rhetoric of Temporality, in ders., Blindness and Insight: Essays in the Rhetoric of We acknowledge them our Fathers in wit, but they have ruin'd their Estates themselves before they came to their childrens
Contemporary Criticism, 2. Aufl. London 1983, S. 187-228. hands", liest man bei John Dryden, Of Dramatick Poetry: An Essay, 2. Aufl. London 1684, zit. nach der Ausgabe London
1673 1964, S. 106 f. Und als Begründung: "For the Genius of every Age is different" (S. 107).
Um einen entsprechenden Begriff von "choice" hat sich G.L.S. Shackle bemüht. Siehe: Imagination and the Nature of
1678
Choice, Edinburgh 1979. Vgl. oben Kapitel 4 ...
1674 1679
Siehe für eine noch seltene Formulierung dieser Einsicht Bernard Anconi, Apprentissage, temps historique et évolution Als Lektüre dazu ist zu empfehlen: The Education of Henry Adams: An Autobiography (1907), zit. nach der Ausgabe
économique, Revue internationale de systémique 7 (1993), S. 593-612 (598 f.). Boston 1918.
1675 1680
Siehe auch Niklas Luhmann, Das Risiko der Kausalität, Zeitschrift für Wissenschaftsforschung 9/10 (1995), S. 107- Auch das Ende der Ontologie wird auf eine Risikoformel gebracht: "L'être est la risque pur de l'Etre et du Néant".
119. (Michel Serres, Génèse, Paris 1982, S. 209).
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 459 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 460

Wie bereits erwähnt, werden diese Veränderungen in der Zeitsemantik oft als Linearisierung der Zeit (was Deutungen in Bezug auf Künftiges mit sich bringt). Und sie ist zugleich der Zeitpunkt, in dem alles, was
bezeichnet und einem zirkulären Zeitbewußtsein gegenübergestellt. Das bedarf jedoch der Erläuterung, wenn geschieht, gleichzeitig geschieht. Die Zeit wird zugleich als Gleichzeitigkeit und als Nacheinander begriffen,
nicht der Korrektur. Die bloße Gegenüberstellung von Linie und Kreis reicht nicht aus. Wenn ständige ohne daß die Gesellschaft Zeit "hätte", eine prinzipielle Auflösung dieser Paradoxie zu suchen.
Neuerungen und scharfe Brüche zwischen Vergangenheit und Zukunft in die Zeitsemantik eingearbeitet
werden müssen, muß die Zeit ausgebaut werden zu einem Schema, das mit Inkonsistenzen kompatibel ist;
1681
oder geradezu: Inkonsistenzen als "Geschichte" zu einer Einheit kompatibilisiert. Dann kann man sich nicht
länger mit einem kurzen (nur über zwei oder drei Generationen zurückreichenden), gleichsam anschaulichen XIII. Die Flucht ins Subjekt
Zeitgedächtnis begnügen, das in eine undatierte, stets gegenwärtige Vergangenheit übergeht, so wie die
Schöpfung der Welt oder der Ursprung der Herkunftsfamilie nichts anderes besagt als die Gegenwart eben Der moderne Individualismus und vor allem die Vorstellung der Gleichheit der Individuen ist uns derart
dieses Anfangs. Sondern man muß Zeit als messbare Distanz, als datierte Linie denken, als temporalisierte geläufig, daß wir erst einmal künstliche Distanz brauchen, um die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit dieser
Komplexität, auf der viel Verschiedenes eingetragen werden kann, sofern es nur nacheinander vorkommt. Und Disposition zu erkennen. "Individuum" heißt zunächst das Unteilbare. Insofern ist auch ein Teller ein
das hat zur Folge, daß das Vergangene ferner rückt und unverbindlicher wird in dem Maße, als "die Zeit Individuum. Die im 17. und 18. Jahrhundert vollzogene Einschränkung des Begriffs auf den Menschen
fortschreitet". Dann bestätigt in gewissem Sinne die Zeit selber, was man ohnehin erfährt: daß die Herkunft bedeutet zunächst, daß das Individuum dieselben Personmerkmale und verschiedene Situationen hineinträgt
oder das immer schon gewesene Wesen der Dinge keinen Halt mehr bietet. und damit eine gewisse soziale Berechenbarkeit garantiert. Es wird nicht mit jedem Szenenwechsel ein ganz
Diese Veränderungen in der Zeitsemantik werden auf absehbare Zeit dadurch irreversibel, daß die anderes.
Massenmedien als Funktionssystem eigener Art die Beschreibung der Welt und der Gesellschaft übernommen Die Soziologie kann wohl davon ausgehen, daß die Individualität aller, auch der unbekannten Menschen
haben. Das System der Massenmedien operiert in all seinen Programmsektoren (Nachrichten/Berichte, ein kulturelles Artefakt ist, das sich weder biologisch noch psychologisch erklären läßt. Die Einzelheit des
Werbung, Unterhaltung) unter dem Code Information/Nichtinformation. Jede Mitteilung, die als Information Körpers und des Bewußtseins jedes Menschen und die operative Geschlossenheit der entsprechenden
ausgewählt wird, wird damit automatisch zur Nichtinformation, denn Information läßt sich nicht wiederholen. Autopoiesen ist eine Selbstverständlichkeit, die allen gesellschaftsgeschichtlichen Variationen vorgegeben ist.
Der Negativwert des Codes dient zwar auch der Reflexion insofern, als er die Auswahl der Informationen Auch das Gehirn eines jeden Menschen unterscheidet sich von jedem anderen; es gibt keine zwei Menschen
steuert; aber zugleich schluckt er alle Informationen, verwandelt sie durch die bloße Tatsache ihrer Mitteilung mit gleichem Gehirn. Aber erst in der Neuzeit wird das Individuumsein so institutionalisiert, daß den
in Nichtinformation und zwingt damit das System, von Moment zu Moment Neues zu bieten. Das gilt Individuen auch erlaubt, ja daß von ihnen erwartet wird, daß sie entsprechend auftreten. "This myth leads
evidentermaßen für Nachrichten und für Berichte im Hinblick auf einen angenommenen Wissensstand. Aber people to posture as individuals."
1683
Erst jetzt verschiebt sich der Sinn von "Individuum" von (wörtlich)
auch Werbung kann Markentreue nur über ständige Neuerungen, also Redundanz nur über Varietät erreichen; Unteilbarkeit auf Einzigartigkeit.
und Unterhaltung muß einen Raum selbsterzeugter Ungewißheit aufbauen, um die Ungewißheit dann durch Daß das Individuum von der Natur mit eigenen (also jeweils verschiedenen) Wahrnehmungen,
1682
Information auflösen zu können. Man mag über eine derart "unruhige" Zeit klagen. Eine kritische Meinungen und Handlungsrechten ausgestattet sei, hatte schon im 17. und frühen 18. Jahrhundert zu einer
Ablehnung dieses Zeiterlebens müßte sich aber ihrerseits der Massenmedien bedienen, oder sie würde auf Radikalisierung von Problemstellungen geführt, aber die Problemlösungen blieben zunächst die der
Kommunikation verzichten müssen und unbemerkt bleiben. Das Gegenteil braucht nicht verboten werden, es Tradition. Hobbes verweist auf die Notwendigkeit politischer Herrschaft, Berkeley auf Gott als Garanten des
kommt einfach nicht mehr vor. Das herrschende Zeitschema bedarf weder einer wertmäßigen noch einer Realitätsbezugs von Wahrnehmungen. Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts geht man dazu über, die
normativen Unterstützung, so wenig wie das Seinsschema der Tradition. Anders als in der Tradition würde Autonomie der Funktionsbereiche, und das heißt vor allem: ihre Unabhängigkeit von transzendenten
man aber zögern, dies für vernünftig zu halten. Begründungen, auf die Individualität der in ihnen Tätigen zu stützen — so Adam Smith für die Wirtschaft
Wenn dies das Formschema ist, mit dem erzeugt und reproduziert wird, was wir wissen, ist Zeit nicht und die französische Revolution mit dem Konzept der volonté générale für die Politik.
nur thematisch, sondern viel tiefer greifend auch operativ in die Selbstbeschreibung der Gesellschaft und ihrer Das Erstaunliche daran, die historische Einmaligkeit, ja Unvergleichbarkeit dieser Zumutung
Welt eingebaut. Man kann dann eigentlich nicht mehr daran festhalten, daß Identitäten, seien es Objekte, seien einzigartiger und insofern gleicher Individualität war zwar schon im 18. Jahrhundert und schon vor der
es Subjekte, der Zeit vorgegeben sind. Vielmehr werden sie mitten in der Zeit und je gegenwärtig konstruiert Durchsetzung des neuhumanistischen Subjektivismus registriert worden — so wenn Herder bemerkt, daß in
und reproduziert, um für eine gewisse Zeit Zeitbindungen zu erzeugen, die zwischen den extrem verschiedenen 1684
seiner Zeit "jeder sich selbst sein Gott in der Welt" sei. Was soziologisch überraschen muß, ist jedoch, daß
Zeithorizonten Vergangenheit (Gedächtnis) und Zukunft (Oszillation in allen beobachtungsrelevanten diese Individualisierung auf die Ebene der wechselseitigen Wahrnehmung durchschlägt und hier gegen alle
Unterscheidungen) vermitteln. Sowohl philosophische als auch physikalische Zeittheorien (Heidegger, Evidenz durchgehalten werden muß. Wer sich anders verhalten, anders wahrnehmen will, muß Ressentiments
Derrida, Einstein) legen eine entsprechende Umstellung der modernen Zeitorientierung nahe. aktivieren können. Trotz aller spektakulären, sich aufdrängenden Unterschiede— des Alters, des Geschlechts,
Aber das würde dem Zeiterleben widersprechen, das die menschliche Wahrnehmung leitet. Man mag der Rasse, des Aussehens, der Bekanntheit/Unbekanntheit, des Minenspiels, der Situationsbezüge (des
dies als Artefakt oder als Illusion beschreiben, kann den Menschen aber nicht zumuten, in der Wahrnehmung "Atmosphärischen") nehmen wir individuelle Menschen zunächst einmal als Individuen und somit als gleich
oder Anschauung zwischen Illusion und Realität zu unterscheiden. Und damit müssen gerade die wahr — also nicht in schon vorsortierenden Klassifikationen. Selbst Kleinkinder und Bettler, selbst
Massenmedien rechnen. Zelebritäten des Showgeschäfts, selbst Räuber, selbst Betrunkene, selbst Diener. Wenn man gegen alle
Wenn der mehrhundertjährige Umbau der Temporalstrukturen in Richtung auf das Differenzschema Evidenz alle Individuen als gleich behauptet, muß man angeben können, in welcher Hinsicht sie gleich sind;
Vergangenheit/Zukunft hier richtig erfaßt ist, scheint er auf eine Vorwegnahme eines operativen Begriffs der und dies wird, wiederum gegen alle Evidenz, mit dem Begriff der Freiheit abgedeckt. Zumindest von Natur
Systembildung hinauszulaufen. Die Gegenwart der jeweils aktuellen operativen Ereignisse hat dann eine aus sind die Individuen gleich und frei. Alle Tatsachen, die dem widersprechen, geraten auf die Abschußliste
Doppelfunktion: Sie ist einerseits der Punkt, an dem die Unterschiede von Vergangenheit und Zukunft sich der Kritik.
treffen und durch Wiedereintritt der Zeit in die Zeit in ein bestimmtes Verhältnis gebracht werden müssen

1681 1683
Siehe zum Übergang von "historia" im Sinne von "res gesta" zur Einheit der Geschichte das Wörterbuch Geschichtliche So John W. Meyer / John Boli / George M. Thomas, Ontology and Rationalization in Western Cultural Account, in:
Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland s.v. Geschichte/Historie (Bd. 2, George M. Thomas et al., Institutional Structure: Constituting State, Society, and the Individual, Newbury Park Cal. 1987,
Stuttgart 1975, S. 593-717). S. 12-37 (26).
1682 1684
Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996. Erstes Kritisches Wäldchen (1769), zit. nach Herders Sämtliche Werke (Hrsg. Suphan) Bd. 3, Berlin 1878, S. 34.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 461 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 462

Gegen solche Hintergrundannahmen mag dann der Interaktionskontext differenzieren, worauf sich das gesehen, entwickelt sich eine Theorie des Subjekts, um hier Sinn nachzufüllen, und Reflexion (Selbstreferenz)
Interesse richtet und wie spezifische Relevanzen seligiert werden. Das muß jedoch in allen älteren ist die Figur, der man zumutet, dies zu leisten.
Gesellschaftsformationen anders gewesen sein, und Tocqueville zum Beispiel hat das noch mit Seit dem 17. Jahrhundert gibt es verschiedene semantische Techniken, welche Distanz zu den
angemessenem Erstaunen registriert. Wie Balzac (und nach ihm: Pierre Bourdieu) zeigen, muß Ungleichheit traditionellen Sozialunterscheidungen anzeigen. Eine (nur zeitweise prominente) ist die Argumentation "more
jetzt durch Manipulation von Unterscheidungssymbolen erarbeitet werden und setzt deshalb laufend geometrico" in der Ethik und der Sozialtheorie. Darauf folgte im 18. Jahrhundert der Aufklärungsdiskurs. In
1688
reaktivierte Aufmerksamkeit voraus. Gründe für diesen Wandel wird man in großer Zahl finden können — beiden Fällen ging es um Reinheit der Kommunikation, die sich durch Konkretes nicht weiter stören läßt.
etwa das Ausmaß, in dem jeder von uns es mit ihm nicht weiter interessierenden Fremden zu tun hat. Wenn so vorgegangen wird, kann man darauf verzichten, die Individualität des Individuums zu betonen. Unter
Entscheidend ist, sich gegenüber der Normalität und Geläufigkeit jener Unterstellung von Gleichheit und dem Gesichtspunkt einer Ablösung von den Bindungen an traditionelle Einteilungen sind dies funktionale
Freiheit Sinn für die evolutionäre, kontraintuitive Unwahrscheinlichkeit dieser Errungenschaft und für ihre Äquivalente. Die nachhaltigere Wirkung im Kontext gesellschaftlicher Selbstbeschreibung hatte jedoch die
tiefreichenden sozialrevolutionären Konsequenzen zu bewahren. Gegenüber diesem fundamentalen besser einfühlbare Zuspitzung von Ethik und Sozialtheorie auf die positiv oder negativ begriffene
Sachverhalt sind alle semantischen, alle terminologischen Fragen sicher zweitrangig. Aber aus ihnen besteht Selbstreferenz des Individuums, auf Selbstliebe, Eigeninteresse, Selbstreflexion. In Kunst und Literatur sieht
das Material, mit dem die moderne Gesellschaft sich selbst beschreibt. das Individuum sich als beobachteter Beobachter dargestellt — als Beobachter, der gehalten ist, zu
1689
Zu den kaum jemals betonten, aber wohl wichtigsten Gründen für die moderne Favorisierung des beobachten, wie er beobachtet wird. Dann bleibt ihm als Sicherheit nur die cartesische
Individuums gehört, daß Individuen als Personen vorgestellt und in dieser Form das Unbekanntsein der Selbstvergewisserung an der Faktizität, daß dies eben so ist: am cartesischen Begriff des denkenden Ich, das
Zukunft symbolisieren können. Man kann Personen kennen — und kann doch nicht wissen, wie sie handeln seines Denkens (mindestens dessen) gewiss sein könne, ob es gleich wahr oder falsch denke. Einige Zeit später
werden. Diese eigentümliche Integration von Vergangenheit und Zukunft ist in der semantischen Form von wird das Individuum auch noch den Anspruch auf richtiges Denken aufgeben, es wird auf jeden sozialen Rang
Individuum/Person und in der sozialen Konzession von Freiheit institutionalisiert. Das geht, wie leicht zu und selbst auf moralische Rechtfertigung verzichten und nur noch anders sein wollen alsdie anderen. "Si je ne
1685 1690
sehen, auf Kosten sozialer Sicherheit. Wie Personen handeln werden, wird nicht zuletzt davon abhängen, vaux pas mieux, au moins je suis autre". Aber genau darin sind sich, fatalerweise, dann alle Individuen
wie andere Personen handeln werden. Soziale Interdependenzen multiplizieren somit Zukunftsungewißheit. gleich.
Damit bestätigt die Gesellschaft sich jene Verschärfung der Diskonnexion von Vergangenheit und Zukunft, Wenn die Semantik der Individualität benutzt wird, um alte Sozialunterscheidungen zu unterlaufen, hat
die sie durch Systemdifferenzierung erzeugt, aber sich dann in der Form von Personen plausibel macht. dies jedoch tiefreichende Konsequenzen. Wenn Individuen als Zentren je ihrer Welt, als Leibnizsche Monaden
Während die ethisch hochgelobte Person in der Freiheit ihres Handelns bestätigt wird, scheint die latente oder als Subjekte gedacht werden, zwingt das zu einem radikal neuen Verständnis des Sozialen. Man kann
Funktion der modernen Individualisierung/Personalisierung eher in der Plausibilisierung von Zeitverhältnissen dann nicht mehr von unterschiedlichen Seinsqualitäten der Menschen ausgehen je nach dem, ob sie auf dem
zu liegen, die die gesellschaftliche Evolution hervorgebracht hat und die nun zu ertragen sind. Das erklärt auch Lande oder in der Stadt leben und je nach der sozialen Schicht, in die hinein sie geboren sind. Man muß jetzt
die erstaunliche Zumutung von Originalität, Einzigartigkeit, Echtheit der Selbstsinngebung, mit der das erklären, wie soziale Ordnung trotz der individuellen Subjektität der Menschen möglich ist — sei es einen
moderne Individuum sich konfrontiert findet und die es psychisch kaum anders einlösen kann als durch ein Gesellschaftsvertrag, sei es durch wechselseitige Reflexion, sei es durch eine allen gemeinsame
Copieren von Individualitätsmustern. "transzendentale" Residualsubstanz. Aus diesen Annahmen ergibt sich aber nicht mehr eine Theorie der
Der Einfall, das (menschliche) Individuum daraufhin als "Subjekt" (subiectum) zu bezeichnen, war nicht Gesellschaft.
ganz plötzlich gekommen, und es ist auch nicht eine bloße Konstruktion philosophischer Theorie gewesen. Freiheit und Gleichheit sind zunächst noch "natürliche" Attribute der menschlichen Individuen. Da man
Man kann Vorbereitungen bis in die Antike zurückverfolgen — vor allem im Begriff der Seele und ihres sie in den Zivilgesellschaften nicht realisiert findet, werden sie zu "Menschenrechten" aufgewertet, deren
denkenden (und dabei das Denken denkenden) Teiles. Im 16. und 17. Jahrhundert kam es dann im Beachtung gefordert werden kann — bis hin zum Menschenrechtsfundamentalismus unserer Tage. Sie
Zusammenhang mit gesellschaftsstrukturellen Veränderungen, mit der Notwendigkeit, auf die natürliche, werden als Ersatzsymbole für die nicht mehr vorstellbare Einheit der Gesellschaft akzeptiert, und es gibt nun
familiengegebene Sicherheit zu verzichten, mit komplexen Patron/Klient-Verhältnissen im Adel und im keine Hintergrundssemantik mehr, die diese Rechte in Schranken weisen könnte. Sie setzen ehemals als
höheren Bürgertum, mit der Ausdehnung des Handels, mit Geldkrisen, mit neuartigen Karrieremöglichkeiten Religion anerkannte Bindungen zu etwas Äußerem, Indifferenten herab, das als Zwang oder aus Gründen der
an den Höfen oder in den Territorialverwaltungen, zu einer Spaltung von taktischer und innerer Individualität. Opportunität hinzunehmen ist. Religiöse Schriftsteller des 19. Jahrhunderts werden diesen Verlust beklagen
1691
Die Orientierung an dem Guten (le bien), das auch andere beurteilen können, wird verdrängt durch die und sich, vergeblich, gegen diese Kollektivideologie des Individualismus zu wehren suchen.
Orientierung an dem, was gefällt (plaisir), und das kann nur jeder für sich selbst beurteilen. Der Es ist dann nur noch ein kleiner Schritt, um die Unzugänglichkeit des Bewußtseins und vor allem der
Zeichengebrauch verliert seine Sicherheit in der Übereinstimmung mit einer vorliegenden Realität, er wird Gefühle (sentiments) des anderen zu erkennen. Dann muß aber die Theorie des Sozialen auch diese radikale
1686
zum Darstellungsmittel. Daher muß man Interessen kennen, um Simulation und Dissimulation Fremdheit des anderen in Rechnung stellen. Genau dies leistet Adam Smith's Theory of Moral Sentiments
1692
durchschauen zu können. Was jemand ist, verdankt er der Kontrolle seiner Erscheinung. Selbstreferenz und (1759). Die Theorie verzichtet auf jede Voraussetzung naturaler (gattungsmäßiger) Ähnlichkeiten und
Fremdreferenz treten auseinander, weil Selbstselektion und Fremdselektion zusammentreffen müssen. Darauf erklärt das Entstehen von Sozialität (Smith: Sympathie) aus der Beobachtung der Situationen, in denen der
1687
hatten wir schon hingewiesen. Entsprechend schiebt sich allmählich die Unterscheidung innen/außen an die
Stelle, die vordem die Unterscheidung oben/unten eingenommen hatte.
Zunächst ist es deshalb das Problem der Unsicherheit des sozialen Zeichengebrauchs und seiner
fließenden Referenz, das die Aufmerksamkeit auf das Subjekt lenkt. Man sieht sich auf schönen Schein, auf 1688
Und im Falle der Aufklärung dann schon um Mitführung von andersartigen Erfahrungen, um Empfindsamkeit und um
Mit-der-Mode-Gehen angewiesen, aber das kann es doch nicht sein! Vom gesellschaftlichen Kontext her Geschichte, auf der unmarkierten Seite des Diskurses.
1689
Zum Schwanken des securitas-Motiv zwischen objektiver und subjektiver Festlegung vgl. Emil Winkler, Sécurité,
Berlin 1939.
1685 1690
Nicht zufällig wird deshalb "Sicherheit" zu einem Problem, das durch soziale Vorkehrungen zu lösen ist. Siehe dazu So Jean-Jacques Rousseau am Anfang seiner Confessions, zit. nach Œuvres complètes (éd. de la Pléiade) Bd. 1, Paris
Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, Stuttgart 1970. 1959, S. 5.
1686 1691
Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Sign Conceptions in European Everyday Culture Between Renaissance and Early Vgl. z.B. Alexandre Vinet, Sur l'individualité et l'individualisme, in ders., Philosophie morale et sociale Bd. 1,
Nineteenth Century, Ms. 1992. Lausanne 1913, S. 319-335; zuerst in: Semeur vom 13.4.1836.
1687 1692
Vgl. oben... Englische Ausgabe Oxford 1976; dt. Übers. Leipzig 1926.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 463 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 464
1693
andere sich verhält; also aus der Beobachtung seines Beobachtens. Es geht, anders gesagt, nicht um ein Grunde, es ist das allgemeine Besondere. So findet es sich als Tatsache vor. So kann es sich im Akt der
Copieren von Einstellungen, was mit Individualismus unvereinbar wäre, sondern um ein Copieren von Selbstsetzung erzeugen. So bleibt es sich in der Reflexion zugänglich, wenngleich immer nur, nachdem es sich
Differenzen. konstituiert hat. Von Welt kann jetzt nur relativ auf das Subjekt die Rede sein. Es ist nur konsequent, daß
Eine zweite, ebenso wichtige (und ebenso oft vergessene) Konsequenz liegt im Verzicht auf absolut dann auch der vorher gar nicht nötige Begriff der "Umwelt" (später auch "environment", "environnement")
geltende Kriterien. Denn jeder Rückgriff auf solche Kriterien müßte dazu führen, daß Meinungskonflikte als hinzuerfunden wird. All das hat seine Überzeugungsgrundlagen in der individuell zugänglichen, individuell
rational entscheidbar gelten, und dann ist die Folgerung unausweichlich, daß einige Leute es besser wissen aneignungsfähigen selbstreferentiellen Struktur des Bewußtseins. Deshalb tritt das Subjekt sogleich als
und ihre Vernunft besser gebrauchen als andere. Das würde, ebenfalls unausweichlich, zum Rückgriff auf Individuum auf. Da aber die Menschen sich in dieser ihrer Eigenart, Subjekte bzw. Individuen zu sein, nicht
institutionell garantierte Ungleichheiten führen, das ganze Manöver wäre also nichts anderes als ein recycling unterscheiden (sondern bezeichnenderweise nur in dem, was sie daraus machen), kann das Subjekt sehr wohl
von Ungleichheit. in Anspruch nehmen, für "den Menschen" zu sprechen. Es ist gleichsam der Prototyp aller
Der politische Liberalismus englischer Provenienz kann dieses Problem nicht lösen. Er geht zwar davon Kollektivsingularia, das corpus mysticum der Individualität.
aus, daß auch von common sense, auch von Geschmack, auch von geschichtlicher Bewährung falscher Die Figur des Subjekts hatte die Funktion, die Inklusion aller in die Gesellschaft durch Appell an die
Gebrauch gemacht werden könne; aber die dann nötigen Kriterien für die Entscheidung zwischen richtig und Selbstreferenz eines jeden zu begründen — also weder gesellschaftstheoretisch noch empirisch. Zusätzliche
falsch kann er nicht benennen. Er bestreitet "angeborene", also durch Geburt sozial differenzierte Ideen. Plausibilität zieht diese Figur daraus, daß sie eine Antwort gibt auf die Frage, was in der modernen
Vernunft ist jedem zugänglich. Aber dieser neue soziale Universalismus besagt auch, daß jeder sich bemühen Gesellschaft über den Menschen ausgesagt werden kann. Er kann in einer postständischen Gesellschaft nicht
muß und man Trägheit und mangelndes Bildungsstreben vorwerfen kann. Damit legitimiert sich eine neue, mehr über Schichtung, aber auch nicht mehr über Religionszugehörigkeit, Herkunft, Familie, ja überhaupt
selbstbewußte, "bildungsbürgerliche" Schicht. Politisch und ökonomisch bedient sich dieser die alte Ordnung nicht mehr über einen festen sozialen Bezugspunkt "individuiert" werden. Die Gesellschaft muß angesichts der
auflösende Liberalismus der Vorstellung eines individuell-selbstbestimmten Interesses, um Anforderungen an Autonomie und der Eigendynamik der Funktionssysteme auf Inklusionsvorgaben durch das Gesamtsystem
die Politik abzukoppeln von den Determinanten ständischer Ordnung; aber auf all diesen Wegen kommt man verzichten. Sie kann Personen auch nicht mehr ausschließen. Die Regulierung der Inklusionen bleibt den
nicht zu Kriterien, die allen Menschen, wenn sie nur ihre Vernunft befragen, einleuchten müssen. Funktionssystemen überlassen. Die Generalformel dafür muß entsprechend abstrahiert werden. Die Antwort
Genau dies versucht, für eine gewisse Zeit, die Theorie des (transzendentalen) Subjekts zu leisten. Gegen liegt in dem mit neuer Emphase belegten, seit dem 18. Jahrhundert auf den Menschen eingeschränkten Begriff
Ende des 18. Jahrhunderts wird der Mensch im strengen und endgültigen Sinne als Subjekt gedacht und damit des Individuum. "Der Mensch" ist jetzt Individuum und Menschheit zugleich — oder das wird ihm jedenfalls
1695
aus der Natur ausgegliedert. Man mag dies ideengeschichtlich als Folge der kantischen Unterscheidung eines zugemutet.
Reichs der Kausalität und eines Reichs der Freiheit ansehen, der Unterscheidung also von empirischen und Vom modernen Individuum ist verlangt, ein sein eigenes Beobachten beobachtender Beobachter zu sein:
1696
transzendentalen Begriffen. Oder als eine Konsequenz der Fichteschen Einsicht, daß alle Wissenschaft mit ein Selbstbeobachter zweiter Ordnung. Freiheit ist angesagt — Freiheit der Völker, der Weiber, der Neger
1697
dem sich zunächst selbst setzenden Ich zu beginnen habe. Im transzendentalen Sinne garantiert Subjektheit und der Liebe, wie Jean Paul an der Wende zum 19. Jahrhundert voraussieht. Das Hintergrundverständnis
Einheit, im empirischen Sinne Vielheit und Verschiedenheit. Die Unterscheidung transzendental/empirisch dafür bietet der Begriff des Subjekts. Man kann dann jedenfalls erläutern, wovon die Rede ist (oder
ermöglicht also die Vorstellung, daß dasselbe Denken "nur empirisch" verschieden ausfällt. voraussetzen, daß man es weiß), wenn Allgemeinideen wie Freiheit oder Gleichheit als Rechte postuliert
Wie immer lohnt es sich auch hier, die Frage nach der anderen Seite dieser Form zu stellen. Was bleibt werden, wenn eine allgemeine Rechtsfähigkeit und Staatsangehörigkeit zu Attributen der modernen Staaten
1694
unbezeichnet, wenn das Subjekt bezeichnet wird? Was ist nicht gemeint, wenn man einen bestimmten erhoben werden und die Bürgerrechte sehr allmählich von Voraussetzungen des Geschlechts, der
Menschen als Subjekt bezeichnet? Die andere Seite des Subjekts ist offenbar die Welt, die sich mit der ökonomischen Selbständigkeit etc. abgelöst werden. Und andererseits ist ebensowenig einzusehen, wieso
Setzung des Subjekts ins Unbezeichenbare eines unmarked space zurückzieht. Die andere Seite des jemand, der Eigentum bzw. Geld hat, in dessen Gebrauch behindert sein sollte. Man kann ihn doch der
individuellen Menschen, das sind dagegen die anderen Menschen. Man sieht jetzt, was geschieht, wenn die Pädagogik des Eigennutzes überlassen. Formeln wie Freiheit und Gleichheit lassen sich, über Bürgerrechte
Individuen zu Subjekten ernannt werden. Die jeweils anderen Seiten, also unmarked and marked spaces hinausgehend, als Menschenrechte postulieren. Sie verzichten auf Ordnungsmodelle, die sich, sobald
fusionieren, und diese Konfusion besetzt den Platz, den eine Theorie der Gesellschaft zu besetzen hätte. Der kommuniziert, beobachten und kritisieren lassen, sondern lassen eine Vielzahl denkbarer Perspektiven im
Gesellschaftsbegriff wird damit frei und wird provisorisch auf das "System der Bedürfnisse", auf die Unbestimmbaren konvergieren. Der Begriff der Freiheit ist historisch gegen natürliche Notwendigkeiten und
Wirtschaft übertragen. kulturelle Selbstverständlichkeiten gerichtet und bezeichnet eine neue Form von Kontingenz, nämlich die
Die Stärken und Schwächen solcher Argumente brauchen hier nicht zu interessieren. Dem Soziologen Möglichkeit, die eigene Verhaltenswahl durch Zufälle bestimmen zu lassen. Der Begriff der Gleichheit
fällt auf, daß sie in einer Zeit gefunden werden und zu überzeugen beginnen, in der allgemein akzeptiert ist, neutralisiert herkunftsbedingte Ungleichheiten, um die Möglichkeit zu geben, funktionssystembedingte
daß die in Europa sich ausbildende moderne Gesellschaft nicht mehr die Form der Ständegesellschaft hat, die Ungleichheiten zu entwickeln (vor allem zunächst: solche des Eigentums, heute eher: solche der Position in
in der alten Welt vorausgesetzt war; aber daß man gleichwohl nicht deutlich erkennen kann, was an deren Organisationen). Bezugspunkt ist in beiden Fällen das individuelle Subjekt. Kurz: das Subjekt bietet sich als
Stelle getreten ist oder zu treten beginnt. Die merkwürdige Figur des Subjekts scheint diese Kluft zwischen Erlösungsformel für die Umstellung des Inklusionsmodus auf moderne, funktionssystemspezifische
dem "nicht mehr" und dem "was nun?" zu überbrücken. Sie übernimmt, für eine Zeit zumindest, die Funktion Bedingungen an. Und das reicht weit.
einer Gesellschaftsbeschreibung, gerade weil sie sich dazu nicht im geringsten eignet. Sie steht, um es mit
Michel Serres zu formulieren, für das "Problem des Dritten", der in allen Beschreibungen der Welt und der
Gesellschaft vorausgesetzt ist, ohne sich in ihnen objektivieren zu können. Die anderen Subjekte, die in 1695
— vom Geist, nach Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie, zit. nach Werke in zwei Bänden, Berlin 1980, Bd. 2,
solchen Beschreibungen auftauchen (und wie könnte man sie ignorieren?), sind es schon nicht mehr. S. 129-195 (134). Beschränktheit könne der Geist "nicht ertragen, ohne Zweifel weil er, ohne es zu wissen, es dennoch
Vom Subjekt weiß man zunächst nur, daß es sich selber weiß und mit diesem Wissen allem, was es weiß, daß kein Mensch schlechthin nur ein Mensch ist, sondern zugleich auch die ganze Menschheit wirklich und in
weiß, zu Grunde liegt. Es liegt damit auch der Unterscheidung des Allgemeinen und des Besonderen zu Wahrheit sein kann und soll". Die Formulierung verrät, daß dies nur so gesagt, oder, in Schlegels Selbstverständnis als
Autor, nur so geschrieben ist. Immerhin, erstaunlich ist, daß dem Leser zugemutet werden kann, die Menschheit ohne
soziale und ohne kategoriale Vermittlung in jedem Individuum anzutreffen. Entsprechend liegt für Schlegel die (nicht mehr
1693 transzendentale) Garantie von Allgemeingültigkeit allein in der Individualität der Individuen.
In der deutschen Übersetzung lautet der entscheidende Satz: "Sympathie entspringt also nicht so sehr aus dem Anblick
1696
des Affektes, als vielmehr aus dem Anblick der Situation, die den Affekt auslöst." (a.a.O. S. 6). Wir kommen darauf zurück. Siehe Abschnitt .....
1694 1697
Die Schlüsselerzählung ist hier natürlich Fichtes Darstellung der Erzeugung des Nicht-Ich durch das Ich, und zwar: zu in: Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht, zit. nach: Jean Pauls Werke, Stuttgart 1924, Bd. 1, S. 293-308
einem Verhältnis wechselseitiger Bestimmung. (297).
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 465 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 466

Man kann gut nachvollziehen, daß die moderne Gesellschaft gesteigerten Wert darauf legt, daß produzierender) Poiesis adaptiert. Sie war über Ethik und Politik mit Sozialtheorien verbunden gewesen.
Individuen als Individuen beobachtet werden können — durch sich selbst oder durch andere. Mit dem Ethisch-politisches Handeln galt als sich selbst genügende Praxis. Das wird man für das moderne Verständnis
Subjektbegriff versucht man, diesem Desiderat Rechnung zu tragen. Zugleich hat dieser Begriff die staatlicher Politik nicht mehr sagen wollen. Andererseits wird aber die Idee, Selbstzweck zu sein, auf den
rhetorische Funktion, das Individuum gegen die Einsicht in die eigene Bedeutungslosigkeit als eines von vielen Menschen als Individuum, als Subjekt übertragen und mit Kant als Freiheit interpretiert. Das verschärft die
Milliarden zu schützen: Es ist immerhin ein Subjekt (und nicht bloß ein Objekt) und hat Anspruch darauf, Unterscheidung von Praxis und Technik und kuliminiert schließlich bei Habermas in der normativen Idee
entsprechend behandelt zu werden. Kein Wunder, daß besonders Intellektuelle von diesem Wort nicht lassen praktischer Rationalität. Die andere Seite, nun System oder Technik oder strategisches Handeln oder
mögen. Doch dabei übersieht man leicht, daß alles Beobachten von Unterscheidungen abhängt. Mit dem monologförmige Kommunikation genannt, wird mit Konzessionen abgefunden. Aber müßte Gesellschaft nicht
Subjektbegriff wird für Autonomie und gegen Heteronomie, für Emanzipation und gegen Manipulation als Einheit von beidem begriffen werden?
votiert. Selbst Habermas hält sich, unter "nachmetaphysischen" Bedingungen, noch an diese Vorgabe, obwohl Ein anderer Lösungsvorschlag benutzt den Begriff des "Typischen", um die Verstehbarkeit sozialen
er den Subjektbegriff aufgibt. Man kann aber Autonomie überhaupt nur im Hinblick auf Heteronomie Handelns trotz Unzugänglichkeit des "Fremdseelischen" zu garantieren. Man denkt hier gleich an Max Weber,
1698 1700
beobachten, die andere Seite der Form ist immer appräsentiert. Wenn man das Antonym vergißt oder aber auch an Husserl und, beide verbindend, an Alfred Schütz. Aber es geht beim Problem sozialer
verteufelt, bleibt nur die Möglichkeit einer Idealisierung, die dann wenig Verständnis dafür aufbringt, daß die (gesellschaftlicher) Ordnung ja nicht nur um die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens, sondern auch,
reale Welt so wenig Verständnis aufbringt für das Ideal. wenn nicht vor allem, um Annahme bzw. Ablehnung dessen, was man versteht. Und hierauf gibt die Typizität
So wurde die Gesellschaft als Gesellschaft der Subjekte begriffen. Das ist jedoch, wie leicht zu sehen, der Themen der Kommunikation keine Antwort, jedenfalls nicht für "hard cases", wie die Juristen sagen.
eine paradoxe Konstruktion. Ein Subjekt, das sich selbst und der Welt zu Grunde liegt und außer sich selbst Man wird schließlich einsehen müssen, daß die Überzeugungskraft der Semantik des Subjekts genau
keine Vorgegebenheiten erkennen und anerkennen kann, liegt auch allen anderen "Subjekten" zu Grunde. Also darauf beruhte, daß sie die Frage nach der Gesellschaft als einer Sozialordnung effektiv ausschloß oder doch
jedes jedem? Dies kann nur behauptet werden, wenn man dem Subjektbegriff eine transzendentaltheoretische umging. Die Erkenntnistheorie konnte auf "das Subjekt" referieren und damit die heiklen Probleme einer
Deutung gibt; denn wenn es sich um empirische Individuen handeln soll, müßte man Namen und Adresse sozialen (kommunikativen) Konstruktion aller Erkenntnis umgehen. Aber Soziales ist vom Subjekt aus nicht
wissen, um prüfen zu können, ob dieses Subjekt wirklich allem (und allen!) anderen zugrundeliegt. Die zu begreifen; jedenfalls dann nicht, wenn man den Begriff ernst nimmt. In diesem Sinne hatte der Begriff die
transzendentaltheoretische Wende erlaubt es, den Begriff des Subjekts an philosophischen Funktion, in einer Übergangsphase auszuhelfen, in der eine adäquate Gesellschaftsbeschreibung ohnehin nicht
Begründungsdesideraten auszurichten und ganz davon abzusehen, was ein empirisches Bewußtsein wirklich möglich war. Dabei blieb das "Soziale" irgendwo zwischen Mitleid und Polizei angesiedelt, blieb ein
zu leisten vermag. Nur unter transzendentaltheoretischen Prämissen kann man davon ausgehen, daß jedes politisch-ideologisches Programm oder auf rot aufschäumende Unruhe an den Rändern geordneter
Subjekt in sich selbst Notwendigkeiten/Unmöglichkeiten (also Ersatz für die alte "Natur") finden kann, die es Verhältnisse beschränkt.
bei allen anderen in gleicher Form voraussetzen kann. Der Konstruktionsfehler liegt in der Gleichsetzung von Aus diesem Syndrom hat sich die Soziologie seit ihren Anfängen gelöst. Sie hat das Wort "Subjekt"
Subjektität und Allgemeinheit und in der Zurechnung dieser Gleichsetzung auf das sich selbst gegebene zwar als Alternativterm für Individuum, Mensch, Person im Vokabular behalten und versteht darunter den
1701
Bewußtsein. Individualität wird nicht individuell, sondern als das Allgemeinste schlechthin gedacht, indem Menschen als erkennendes, denkendes und handelndes Individuum. Der Vorschlag, den Begriff einzuziehen
man auch in dieser Hinsicht Subjekt und Objekt, nämlich den Begriff des Individuellen (der selbstverständlich oder zu "dekonstruieren", könnte dann in der empirischen Soziologie leicht so verstanden werden, als wollte
ein allgemeiner, alle Individuen bezeichnender Begriff ist) und die Individuen selber ineins setzt. Das macht man bestreiten, daß es so etwas überhaupt gibt. Die Hartnäckigkeit, mit der die heute in der Soziologie
jedoch im Prinzip jede Kommunikation überflüssig. In letzter Radikalität kam dies Problem in der herrschende Meinung sich auf "Handlungstheorie" festgelegt hat, ist zu verstehen als eine zweite
Transzendentalen Phänomenologie Husserls zum Ausdruck, und zwar gerade deshalb, weil diese Verteidigungslinie des Subjekts, die ohne diesen Begriff auskommt. Fachintern lebt diese "Handlungstheorie"
1699 1702
Transzendentaltheorie als Phänomenologie angelegt war. Dies Begriffsdesaster war jedoch immer noch von historischen Reminiszenzen bzw. von methodischen Anweisungen der empirischen Sozialforschung.
1703
schwer zu akzeptieren. Auch wenn man sich gezwungen sieht, dem Subjekt seinen transzendentalen Status "Le retour de l'acteur" ist angesagt. Das Subjekt kehrt unter einem Pseudonym auf die Bühne zurück. Mit
wieder zu nehmen, so fällt es doch schwer, es auch als Bezugspunkt der Selbstbeschreibung der modernen derartigen Diskussionen wird jedoch nichts mehr ausgerichtet, sondern nur die Rückfrage nach der Logik einer
1704
Gesellschaft aufzugeben und es als in ein Naturobjekt zurückzuverwandeln. An ihm hängen gewisse Mehrheit von Subjekten blockiert. Und besser ist denn auch kaum zu dokumentieren, daß der semantische
normative Erwartungen, die sich mit dem Begriff der modernen Gesellschaft verbunden haben, so daß sich Rang und die gesellschaftstheoretische Tragweite dieser Figur historisch geworden sind.
fast der Verdacht aufdrängt, eine Gesellschaft ohne Subjekte wäre nicht mehr eine moderne, sondern eine Schließlich lebt das Subjekt als Teilnehmer an Kommunikation fort. Der transzendentaltheoretische
postmoderne Gesellschaft. Und darum geht heute der Streit. Anspruch wird, jedenfalls von Jürgen Habermas, zurückgenommen und durch einen normativ eingeführten
Man hat Auswege probiert, aber der Erfolg dieser Versuche ist eher ein Indikator für die Verlegenheit. Begriff der Vernunft ersetzt. Das Individuum erscheint als Subjekt, sofern es den Anspruch begründet geltend
So wurde die aristotelische Unterscheidung von (sich selbst befriedigender) Praxis und (Werke

1700
1698 Schütz übernimmt den Begriff der Typisierung (zum Beispiel in: Das Problem der Relevanz, Frankfurt 1971), spricht
So Claudio Baraldi, Condizioni dell'autonomia: forme sociali e psychiche, Rassegna Italiana di Sociologia 33 (1992), S. aber auch von "Idealisierung", wenn es darum geht, die wechselseitige Austauschbarkeit der Standpunkte und die
337-367. Vgl. auch ders., Socializzazione e autonomia individuale: Una teoria sistemica del rapporto tra communicazione e intersubjektive Kongruenz der Relevanzstrukturen zu bezeichnen. Das erfordert ein Absehen von den Operationen, die die
pensiero, Milano 1992. entsprechenden Beobachtungen in Ego bzw. Alter jeweils erzeugen. Auch Habermas spricht in diesem Sinne von
1699 Idealisiierungen, während Parsons an der gleichen Funktionsstelle den Begriff der symbolischen Generalisierung einsetzt.
Als Phänomenologie - das heißt: daß Husserl die Einheit der Differenz von Fremdreferenz (Phänomene, Noemata) und
Selbstreferenz (Bewußtsein, Noesis) gesehen und als bewußtseinsinterne subjektive Leistung in der Form intentionaler Das alles läßt sich bereits ohne den Begriff des Subjekts formulieren auf Grund der bloßen Annahme einer wechselseitigen
Akte beschrieben hatte. Die Konsequenz des Scheiterns am Problem der Intersubjektivität wurde in der Fünften Intransparenz empirischer Individuen.
Cartesianischen Meditation gezogen (Husserliana Bd. 1, Den Haag 1950, S. 121 ff.) was Husserl im Begriff der 1701
Nach Auskunft des Lexikons zur Soziologie, 3. Aufl., Opladen 1994, S. 654.
"intermonadologischen Gemeinschaft" nur knapp verdeckt. Der Tiefgang dieser Analyse zeigt sich nicht zuletzt an der
1702
Flachheit der Kritiken und Reaktionen, die heute unter dem Titel einer Sozialphänomenologie laufen, die keine Siehe repräsentativ: Richard Münch, Theorie des Handelns: Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons,
transzendentaltheoretischen Absichten mehr verfolgt. Man kann natürlich zeigen, daß Husserl trotzdem einiges Verständnis Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt 1982.
für Soziales aufgebracht habe oder daß er mit dem transzendentales Duktus seiner Theorie am Problem der 1703
Von Alain Touraine, Le retour de l'acteur, Paris 1984.
"Intersubjektivität" gescheitert sei, bei dem es sich doch um ein letztlich unbestreitbares, gut beschreibbares "Phänomen"
1704
handele. Nur: Man kann die theoretische Ratlosigkeit einer auf "Subjekten" bestehenden Sozialtheorie kaum dadurch Siehe aber zur Notwendigkeit einer genau darauf reagierenden "mehrwertigen Logik" Gotthard Günther, Beiträge zur
beseitigen, daß man die explizite Paradoxie der "Inter-Subjektivität" als Phänomen (welchen Subjekts?) bezeichnet und sie Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, 3 Bde. Hamburg 1976-1980. In der Soziologie haben diese Überlegungen
dann wie einen geläufigen Weltsachverhalt behandelt. (ein lebhaftes Interesse von Helmut Schelsky ausgenommen) bisher nicht Fuß fassen können.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 467 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 468

machen kann, eigenes Verhalten (inclusive die eigene Anerkennung des Verhaltens anderer) an vernünftigen Geld annehmen wollten — eine Wahlfreiheit, die nicht mit Bezug auf konkrete Bedürfnisse, standesgemäßen
Gründen zu orientieren. Die Unterscheidung von transzendental/empirisch wird durch die Unterscheidung Unterhalt und dergleichen erklärt werden konnte, sondern die neue Ordnung reflektierte, der sie verdankt war.
dieses Vernunftanspruchs von den real vorfindlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten ersetzt. Um die Einheit des Systems auf der Ebene von Individualmotiven zu konstruieren, mußte eine diese
Dies ist sicher schon ein Grenzfall, in dem es kaum noch zulässig ist, von Subjekt zu sprechen. Wie in Unterschiede überbrückende Uniformität der Motivation unterstellt werden und zugleich mußte, da es
der Handlungstheorie handelt es sich auch hier um einen Überlebensversuch mit verminderten begrifflichen eigentlich um die Repräsentation der Transaktionen selber ging, von den bis dahin wichtigen Sozialmerkmalen
Ansprüchen. Das Recht auf vernünftige Selbstbestimmung wird vorausgesetzt und gleichsam negativ, an den wie Stand, Familie, Bekanntsein abgesehen werden. Außerdem mußtedie Motivunterstellung anthropologisch
Durchsetzungsschwierigkeiten erprobt. In Anlehnung an Kant wird dann die juristische Metapher der (humanistisch) so generalisiert werden, daß man begründen konnte, daß der Mensch mit einer
"Emanzipation" zum Leitbegriff für Forderungen an die Ausgestaltung von Kommunikation. Aber: wie kann ausdifferenzierten Geldwirtschaft besser bedient ist als mit älteren Formen der naturalen Reziprozität. Auf
das Subjekt noch streng gedacht werden, wenn man es von der letztlich paradoxen Erwartung her begreift, dieses "utilitaristische" Konzept wurde dann auch die Politik eingeschworen, indem ihr, von liberaler und von
durch Teilnahme an Kommunikation ("Partizipation") "emanzipiert" zu werden? Die Anforderungen an die sozialistischer Seite gleichermaßen, die Aufgabe gestellt wurde, wirtschaftlich ungelöst bleibende
1705
Kommunikation lassen sich, wenngleich mit deutlicher Tendenz ins Utopische, angeben. Aber wenn die Interessenkonflikte — wenn nicht zu lösen, so doch zu entdramatisieren. Auch dabei wurden uniformisierte
durch sich selbst bestimmte und alles andere bestimmende Struktur des Subjekts aufgegeben ist: was bleibt Motivstrukturen unterstellt, nämlich das Interesse am eigenen, selbstbestimmten Interesse.
dann noch als Grund für die Ansprüche an "kommunikatives Handeln" der anderen? Doch wohl nur die Motivation in diesem Sinne ist aber nur eine Unterstellung, die in der ökonomischen und der politischen
Kommunikation selbst, und das heißt: die Gesellschaft. Kommunikation, also im Gesellschaftssystem, in Anspruch genommen wird und der auch die
Auch wenn man die Figur des Subjektes sowohl in ihrer transzendentalen als auch in ihrer Reflexionstheorien dieser Systeme bis heute folgen. Was damit an individuellen Motivlage nicht abgedeckt ist,
1706
sozialempirischen (humanistischen, allmenschlichen) Fassung heute skeptischer betrachtet, wirkt eine ihrer findet man in narrativer Form tradiert, zunächst im Theater seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ,
wesentlichen Konsequenzen auch am Ende des 20. Jahrhunderts noch nach, und zwar deshalb, weil sie sowohl dann auch im Roman und schließlich, am Ende dieser fiktionalen Formen, in der sie zusammenfassenden
in liberalistischen als auch in sozialistischen Ideologien verwendet wurde, also in der dominierenden politisch- Metaerzählung Sigmund Freuds, in der Psychoanalyse. Die moderne Gesellschaft scheint, bisher jedenfalls,
ideologischen Kontroverse der letzten hundertfünfzig Jahre auf beiden Seiten vorausgesetzt war. Die ausgekommen zu sein mit dieser Aufteilung der Frage nach den Motiven, die hinter allen Zwecksetzungen zu
Subjektheit des Menschen wurde als Freiheit begriffen und Freiheit als Abwesenheit von Zwang definiert; und vermuten sind, in eine funktionsspezifische und eine narrative und fiktionale Variante, wobei die fiktionale
nur die Quellen des Zwanges, das staatlich gesetzte Recht bzw. die kapitalistische Gesellschaft, waren Variante den Vorzug hat, die biographische Besonderheit individueller Motive darstellen zu können und dem
Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten. Fast ebenso lange, mindestens seit Freud, weiß man aber auch, einzelnen Zuschauer oder Leser den Rückschluß auf sich selber freizustellen.
daß die Unterscheidung von Freiheit und (äußerem) Zwang unhaltbar ist. Die Differenz ist auf allen Ebenen, Man wird sich am Ende des 20. Jahrhunderts fragen müssen, ob diese Beschreibung des Verhältnisses
psychisch ebenso wie sozial, ein Artefakt von Selbstbeschreibungen, insbesondere von Kausalattributionen. von Individuum und Gesellschaft, die den gesellschaftlichen Kommunikationsbedarf nachzeichnet und dessen
Freiheit kann, und das kann man heute wissen, nicht durch einen Gegenbegriff definiert werden, sondern nur Probleme durch Differenzierung und Fiktionalisierung der Motivbeschreibungen löst, die Krisensymptome im
durch die kognitiven Bedingungen ihrer Möglichkeit. Was sind, das wäre die Frage, die Bedingungen dafür, Verhältnis psychischer und sozialer Systeme noch angemessen erfaßt. Themen wie Inkommunikabilität des
daß man in eine determinierte Welt, die immer so ist, wie sie ist, Alternativen und eine entscheidbare Zukunft Individuellen, Sinn- und Identitätssuche, Indifferenz gegenüber jedem Schema von Konformität und
hineinliest? Und schärfer auf Freiheit zugeschnitten: wann sieht man die Alternativen so, daß man die Abweichung, das die Gesellschaft zu oktroyieren sucht, sind seit langem im Gespräch, und nicht zuletzt gibt
Entscheidung einer Person (sich selbst oder einer anderen) zurechnen kann? Und erst damit wird über die die Attraktivität von fundamentalistischen, nicht auf Übereinstimmung mit allen, sondern auf Abgrenzung
Freiheitsverteilung in der Gesellschaft entschieden. bedachten Identifikationen zu denken. Wir müssen und können diese Frage hier nicht entscheiden. Jedenfalls
Ein weiteres "survival" des Subjekts findet man in der Doppelformel von Entzauberung und hält die Theorie operativ geschlossener Systeme, die eine strikte Trennung psychischer und sozialer
Verinnerlichung der Welt. Diese Doppelung motiviert einerseits die Rede vom Ende der Geschichte, Ende der Autopoiesen annimmt, andere Möglichkeiten der Beschreibung offen.
Kunst, Ende der Philosophie usw., womit nicht gemeint sein kann, daß dies nicht mehr vorkommt, sondern Schließlich muß beachtet werden, daß die Beschreibung des Menschen als Subjekt zwar die
nur: daß es nicht mehr die alte Einheit symbolisieren und verwirklichen kann. Man hat es jetzt nur noch mit philosophische Tradition der Neuzeit beherrscht, daß sie aber keineswegs die einzige semantische Reaktion
Differenzphänomenen zu tun und mit der Enttäuschung des Subjekts darüber, daß es die Welt weder sein noch auf den strukturell bedingten Individualismus der Moderne ist. Es gibt auch ganz anders formierte Interessen
sie sich als Bildung aneignen kann. Auch dies ist aber kein Urteil über die empirische Befindlichkeit wirklich an einer wissenschaftlichen Erforschung des Menschen, die sich, parallel zum Subjektivismus, seit dem 18.
lebender Menschen, sondern nur eine Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft; und vielleicht nicht die Jahrhundert bemerkbar machen. Es kommt zu statistischen Forschungen, in denen das Individuum als
glücklichste Fassung dieses Problems. Erhebungseinheit dient. Ein neuer Begriff von Population (die aus Individuen besteht) löst das alte Denken in
Die Flucht in das Subjekt hatte von humanistischen Prämissen gezehrt, das heißt: von der Annahme, daß Arten und Gattungen ab. Daran schließen demographische Forschungen, evolutionstheoretische Konzepte und
1707
naturale oder dann transzendentale Prämissen im Einzelmenschen ein Mindestmaß an sozialer "eugenische" Politikempfehlungen an. Man versucht außerdem, gerade aus spektakulären Abweichungen,
Übereinstimmung garantierten. Das ermöglichte es zugleich, Verstöße dagegen (vor allem: Verstöße gegen aus der Biographie von Verbrechern oder aus den Chromosomen Einsteins, Informationen über den Menschen
Urteile der Vernunft) als Normverstöße zu behandeln und Abweichler entsprechend abzuurteilen. Erst gegen zu gewinnen. Die Wissenschaft vom Menschen tritt an die Stelle von grundierendem Wissen, die vordem
Ende des 20. Jahrhunderts wird sichtbar, daß dies eine Konstruktion gewesen ist, nach deren religiös besetzt gewesen war. Um den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben zu können, muß die
sozialstrukturellen Korrelaten zu fragen wäre. Auch wenn die Semantik des "Subjekts" und des Forschung, und darin liegt die gesellschaftsstrukturelle Vorgabe, vom Individuum ausgehen, zugleich aber
Kollektivsingulars "der Mensch" nicht mehr unbestritten gelten, beherrschen noch gegen Ende des 20. dessen jeweils konkrete Einzigartigkeit unberücksichtigt lassen und sich für statistische Häufigkeiten,
Jahrhunderts reduktionistische Motivkonzepte, wie sie im 17. Jahrhundert als semantisches Korrelat Durchschnittswerte oder auch für die Spannweite von Extremausprägungen interessieren. Anders gesagt: daß
funktionaler Differenzierung erfunden und durchgesetzt worden waren, die gesellschaftliche Kommunikation. Individuum muß vorausgesetzt — und zugleich neutralisiert werden; wenn nicht über eine
Das gilt vor allem für den ökonomischen Begriff des seinen Nutzen kalkulierenden Individuums. Die transzendentaltheoretische Reduktion dann eben statistisch.
ausdifferenzierte Geldwirtschaft hatte zu der Beobachtung geführt, daß jeweils nur einer der Teilnehmer an
einer Transaktion seine Wünsche direkt erfüllen kann. Der andere bekommt nur Geld. Ferner war zu
berücksichtigen, daß Teilnehmer an solchen Transaktionen die Wahl hatten, wofür sie ihr Geld ausgeben bzw. 1706
Speziell hierzu Jean-Christophe Agnew, Worlds Apart: The Market and the Theater in Anglo-American Thought, 1550-
1750, Cambridge Engl. 1986.
1705 1707
Vgl. das Hauptwerk von Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde. Frankfurt 1981; ferner den Zur letztgenannten Entwicklung siehe Peter Weingart / Jürgen Kroll / Kurt Bayertz, Geschichte der Eugenik und
Band Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1984. Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt 1988.
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Notwendigkeit ausgesetzt, sich auf unbekannte Andere einzustellen, deren soziale Bindungen sie nicht kennen
und nicht erraten können. Darauf reagiert die Gesellschaft mit einer Generalisierung und Universalisierung
moralischer Ansprüche. Zahllose Texte, aber auch Vereine und Diskussionsrunden, dienen der Versicherung
XIV.Die Universalisierung der Moral dieser neuen, allgemeinmenschlichen, "patriotischen" Moral. Es wird erwartet, daß man sich aktiv mit der
guten Seite des Moralschemas identifiziert und dies zeigt. Einerseits destabilisiert die universalistische Moral
Parallel zur Subjektivierung der Semantik Mensch/Individuum/Person findet man im 18. Jahrhundert die für den Einzelnen übersichtlichen partikularen Bindungen, die sich von einer für Moral unerheblichen
Veränderungen im Bereich von Moral und Ethik, die ebenfalls durch den Übergang zu funktionaler Außenwelt der "saraceni" absetzen, aber andererseits kann Achtung oder Mißachtung doch immer nur konkret
1711
Differenzierung und durch den Buchdruck ausgelöst sind. Man kann seit dem Mittelalter eine zunehmende erwiesen werden. Heute scheint es für dieses Paradox eigenartige Lösungen zu geben: Man engagiert sich
Internalisierung der moralhaltigen Erwartungen beobachten, Internalisierung insofern, als die Erwartungen für Hungernde, Unterdrückte, für unschuldige Opfer von Menschenrechtsverletzungen oder sonstigen
sich jetzt an die Selbstkontrolle, an die freie Verfügung über die eigene Freiheit richten und nicht mehr politischen Verfolgungen — für Situationen, in die man selbst nie geraten wird. Das mag man mit Parsons als
umstandslos Schlüsse vom Verhalten auf Achtung oder Mißachtung zulassen. Die alte Fassung der Ethik, die spezifischen Universalismus beschreiben, der dann durch konkrete, für die Massenmedien bestimmte Aktionen
sich an die Unterscheidung des guten vom schlechten Verhalten und der Tugenden von den Lastern gehalten an Überzeugungskraft und Resonanz gewinnt, ohne dadurch partikular zu werden und andere
hatte und die Entgleisung guter Intentionen (wie im Falle Ödipus) als Schicksal hingenommen hatte, wurde Moralisierungen auszuschließen. Im übrigen bleibt das Postulat der Universalisierung auf die Ebene der Ethik
durch einen Vergleich von Intention und Handeln ergänzt. Man konnte so höhere Ansprüche an Intentionen beschränkt.
stellen und zugleich raffiniertere Entschuldigungen bereithalten. Diese Entwicklung konnte lange Zeit sowohl In der Ethik, die diese Art von Moral zu betreuen hat, bemüht man sich um eine vernünftige Begründung
in den Moralvorstellungen der Religion als auch in der Adelsethik absorbiert werden — sei es in der Figur moralische Urteile, und für deren Test sind die philosophischen Fakultäten zuständig und nicht mehr die
1712
einer durch Glaubenszweifel geplagten Seele, die die moralischen Anforderungen der Gesellschaft nur noch Salons. Damit entfällt auch das Lernen des Sinns für Mehrdeutigkeiten, für Ironie , für Lächerlichkeit im
als äußere, nur noch als öffentliche Normierung erlebt; sei es im Sinne eines ethischen Zentralwerts der geselligen Verhalten und jener Schliff im Verbalverhalten, der es ermöglichte, die Untiefen der Moral zu
Selbstkontrolle, mit der schöner Schein, Einheit von Moral und Manieren, also Einheit von innen und außen vermeiden. Die Moral wird zum Medium für Anforderungen, denen selbst die Religion sich zu stellen hat —
hergestellt wird. Besonders die Wiederaufnahme stoischen Gedankenguts im 16. Jahrhundert ermöglichte eine sei es in der Form des Theodizee-Problems; sei es in der Form kultureller Vergleiche, die alle Religionen als
Ethik, die sich auf die Forderung konzentrierte, den Turbulenzen der Zeit in Ruhe und Würde standzuhalten. gleichberechtigt ausweist, sofern sie die Examina der Moral bestehen. Die Begründungsnotwendigkeiten
Seit dem 16. Jahrhundert mehren sich Anzeichen für eine Neubeschreibung der gesellschaftlichen Moral verlagern sich aus der Religion in die Moral selbst, und der Ort dafür wird die (jetzt akademische) Ethik.
als einer Symbiose von Anstand und (lückenfüllender) Heuchelei (hypocrisy als neuer Begriff). Die Wenn religiöse Begründungsvorgaben entfallen, findet die Moral sich zunächst auf den Zirkel der doppelten
Moralwissenschaft (science des moeurs) des 17. Jahrhunderts zeigt daraufhin janusköpfige Züge. Als Kontingenz (wie Du mir, so ich Dir) zurückgeworfen. Sie muß sich dann selbst externalisieren und ihre
1713
Zentralfigur des sozialen Lebens kann Moral nicht aufgegeben werden; aber die Kommunikation moralischer eigenen Absoluta konstruieren. Das kann kaum noch im Bereich der Sozialdimension geschehen, da hier
Einstellungen wird erfahren als diskrepant zu dem, was die Religion oder auch ein humanistisches Selbstbild fast unvermeidlich bewußte oder unbewußte Interessen durchschimmern. Aber auch die Zeitdimension
vom Menschen verlangt. "Person" kann man jetzt nur sein, wenn man Kommunikation als reflektierte Technik versagt. Traditionsanschlüsse werden, wenn als solche ausgewiesen, nicht jederman überzeugen und jedenfalls
beherrscht, aber sich selbst dadurch nicht düpieren läßt. Das direkte Verhältnis des Menschen zu seinem Gott, nach kurzer Zeit veralten. Und die Zukunft ist zu unbekannt, als daß sie eine konfliktfreie Einschätzung
1714
aber auch sein direktes Verhältnis zu sich selbst müssen von "der Welt" getrennt und durch Reflexion der ermöglichte.
Teilnahme an Kommunikation stabilisiert werden. Das sagen in Bezug auf Religion Pascal oder auch Nicole Wenn die Ethik jetzt als Universaltheorie der Moral auftreten will, muß sie auch sich selbst als ein
und in Bezug auf menschliche Selbstbeherrschung und eine Art Ethos des Aushaltens, des Durchstehens moralisches Unternehmen darstellen; denn andernfalls würde ausgerechnet die Ethik im Kosmos der Moral ein
dieser Welt Gracián. Es geht um die Möglichkeit moralischer (= sozialer) Existenz und noch nicht, wie im Loch bilden, durch das die moralischen Pressionen entweichen und sich in den weiten Raum der Passionen
späteren 18. Jahrhundert, um die Begründung spezifisch moralischer Urteile. Noch gilt die Sprache der und Interessen verlieren könnten. Um im Bild zu bleiben: die Ethik muß die Moral unter Druck halten und sich
Tugenden und Laster als bindend, und insofern blickt diese Fassung des Moralproblems auf die Ethik und selbst als Grund dafür zur Verfügung stellen. Gleichwohl besteht ein quasi reflexartiges Bedürfnis nach einem
Rhetorik der Tradition zurück; aber zugleich sucht das Individuum eine in sich selbst ruhende Position, die archimedischen Punkt, nach einer das Gödel-Problem lösenden Transzendenz. Irgendwie (aber theoretisch
dann später mit dem Begriff des Subjekts formuliert werden wird. Noch gelten die Moralkataloge der besteht keine Einigkeit mehr) muß nachgewiesen werden, daß es für gutes Verhalten auch gute Gründe gebe.
Tradition; aber schon wird der Mensch als homme universel
1708
gesehen, der den Sinn seines sozialen Oder anders gesagt: Der Positivwert des Codes wird draufgedoppelt und zugleich benutzt, um zu begründen,
Verhaltens in sich selbst entdecken muß. daß es gut sei, zwischen gut und schlecht oder zwischen gut und böse zu unterscheiden. Das Argument lautet
All dies gibt jedoch noch keinen Schlüssel zur Erklärung von Veränderungen, die man im 18. sehr überzeugend: wo käme man hin, wenn die Unterscheidung gut/schlecht nicht mehr moralisch eingefordert
Jahrhundert findet. Die Einheit von Moral und Manieren zerbricht. Moral wird jetzt als "Selbsteinschränkung werden könnte oder sogar (wie de Sade lehrt) als naturwidrig verboten werden müßte. Aber auch die
1709
des Sozialen durch das Soziale" in Anspruch genommen und mit Pseudonymen wie Natur oder Vernunft
ausstaffiert. Neue "ethische" Anforderungen an die Moral überschreiten die Grenzen familialer, tribaler,
1710
lokaler Einheiten, die nur interne Moralbindungen kannten. Mehr und mehr sehen sich Teilnehmer an
Kommunikation, vor allem als Leser, aber auch in vielen Interaktionen, zum Beispiel auf Reisen, der
1711
So Richard Münch, Modernity and Irrationality: Paradoxes of Moral Modernization, Protosoziologie 7 (1995), S. 84-92.
1712
Andererseits beginnt jetzt eine neue Karriere für Ironie — als Merkmal einer Schriftkultur und als Gegenstand
1708
So der Titel einer französischen Übersetzung des El Discreto Graciàns, Paris 1723. literaturgeschichtlicher Forschungen.
1709 1713
Eine Formulierung von Dietrich Schwanitz, Soziologische Revue 19 (1996), S. 132. Daß Moral sich immer wieder im Unbedingten zu verankern sucht, hat die empirische Forschung vielfach
1710 nachgewiesen. Vgl. nur Gertrud Nunner-Winkler, Wissen und Wollen: Ein Beitrag zur frühkindlichen Moralentwicklung,
Daß man auch heute solche Verhältnisse noch finden kann, soll damit nicht bestritten sein; aber ihre Darstellung ist
in: Zwischenbetrachtungen — im Prozeß der Aufklärung: Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt 1989, S. 574-
nicht immer frei von Übertreibungen. Siehe z.B. Edward C. Banfield, The Moral Basis of a Backward Society, Chicago
600, und, über frühkindliche Sozialisation hinausgreifend, dies., Moral in der Politik — Eine Frage des Systems oder der
1958, und dazu Sydel Silverman, Agricultural Organization, Social Structure and Values in Italy: Amoral Familialism
Persönlichkeit? Festschrift Renate Mayntz, Baden-Baden 1994, S. 123-149.
Reconsidered, American Anthropologist 70 (1968), S. 1-20, und William Muraskin: The Moral Basis of a Backward
1714
Sociologist: Edward Banfield, the Italians and the Italian-Americans, American Journal of Sociology 79 (1974), S. 1484- Das gilt speziell für den Vorschlag von Nunner-Winkler a.a.O. (1994), auf eine unparteiisch beurteilte
1496. Schadensminimierung abzustellen. Hier wird nicht zuletzt das gegenwärtig so brisante Risikoproblem ausgeblendet.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 471 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 472
1715
gegenteilige Ansicht klingt plausibel: es sei höchst unmoralisch, moralische Wertungen zu benutzen , weil Voraussetzung für ökonomisch-rationale Dispositionen behandelt, aber sollte deshalb im Sinne einer
dies unweigerlich zu der Frage führe, aus welchen Gründen, Motiven und Interessen dies geschehe. Die metaphysischen Konvergenz des Rationalen und des Guten der Eigentümer für gut und für Nichteigentümer
Gründe für Berufung auf Moral sind eben nicht mehr ohne weiteres "gute" Gründe. Die Ethik selbst muß auf für schlecht gehalten werden? Das Recht findet sich aufgerufen, Freiheit zu schaffen und zu schützen; und das
Gödel hören. schließt Freiheit zwar nicht zu rechtswidrigem, wohl aber zu unmoralischem und zu unvernünftigem
Die Überzeugungskraft dieser Aufhebung der Paradoxie der (Einheit) binärer Codierungen durch sich Verhalten ein, und soweit man dies nicht akzeptieren kann oder will, muß eben mit rechtlichen Verboten
selbst muß so stark gewesen sein, daß die Ethik sich nur noch mit Begründungsproblemen zu befassen und die nachgeholfen werden. In all diesen Punkten hat die Verinnerlichung moralischer Anforderungen seit dem
Anwendbarkeit ihrer Theorien zu demonstrieren hat. Sie "gödelisiert" ihre Theoreme transzendental durch Mittelalter nach Art von preadaptive advance einer stärkeren Trennung der Codierungen vorgearbeitet.
Rekurs auf Tatsachen (!) des Bewußtseins, die jeder durch Reflexion in sich selbst feststellen kann; oder sie Kurz: die über binäre Eigencodierungen gesicherte Autonomie der Funktionssysteme schließt eine
baut Selbstreferenz ein mit Benthams These, daß alle ethischen Theorien sich letztlich an ihrem eigenen Metaregulierung durch einen moralischen Supercode aus, und die Moral selbst akzeptiert, ja remoralisiert
Nutzen ausweisen müßten. Die theoretischen ("philosophischen") Folgelasten dieser Positionen sind heute diese Bedingung. Denn jetzt werden Code-Sabotierungen zum moralischen Problem — etwa die Korruption
leicht zu erkennen, und man braucht schon die reichen Obduktionserfahrungen der Philosophen, um damit in der Politik und im Recht oder das doping im Sport oder das Kaufen von Liebe oder die Mogelei mit den
1716
zurechtzukommen. Die soziologische Frage ist eher, warum es überhaupt zu derart extravaganten Daten der empirischen Forschung. Die höhere Amoralität der Funktionscodes wird von der Moral selbst
Selbstbegründungsversuchen der ethisch beaufsichtigten Moral gekommen ist. anerkannt; aber daraus folgt auch der Verzicht auf die Vorstellung einer moralischen Integration der
Die uns leitende Hypothese lautet, daß dies mit der Ausweitung von Kommunikation durch den Gesellschaft. Die Moral konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf die Pathologien, die sich aus der
Buchdruck, mit der Erleichterung des interregionalen Verkehrs, vor allem aber mit dem Übergang von primär Verhaltensunwahrscheinlichkeit gesellschaftsstruktureller Vorgaben ergeben und laufend reproduziert werden.
stratifikatorischer zu primär funktionaler Differenzierung zusammenhängt, also mit gesellschaftsstrukturellen Abstrakter gesagt: die Moral stellt sich auf die polykontexturale Form der Selbstbeobachtung der Gesellschaft
Veränderungen, die sich außerhalb jeder moralischen Kontrolle, nämlich durch Evolution vollzogen haben. ein und bietet selbst ihren Code nur als eine Kontextur unter anderen an. Die Gesellschaft erlaubt, ja benötigt,
1718
Alle älteren Gesellschaftsformen hatten moralische, also auf Achtung und Mißachtung bezogene, um mit Gotthard Günther zu formulieren , transjunktionale Operationen, die auch darüber noch disponieren
inkludierende und exkludierende Kommunikation im wesentlichen auf Teilsysteme beschränken können. können, ob für bestimmte Problemlagen eine moralische Codierung angebracht ist oder nicht.
Gegenüber Fremden galt, auch wenn Kommunikation möglich war, moralische Unverbindlichkeit (statt Die Universalisierung der Moral führt einerseits zu einem Verzicht auf Moralisierungen oder auch zu
dessen: Interesse, eventuell auch Rechtsschutz vom Typus der Gastfreundschaft oder des römischen ius Warnungen vor allzu aufdringlichen Belästigungen mit Moral. Sie setzt andererseits das Medium Moral
1719
gentium). Auch in deutlich stratifizierten Gesellschaften konnte man Moral als Binnenregulierung der inflationären bzw. deflationären Trends aus. Das "disembedding" der moralischen Kommunikation hat zur
Teilsysteme ausbauen und sich dabei auf deren Grenzen stützen. Für den Verkehr zwischen indischen Kasten Folge, daß viel in moralisierendem Ton geredet wird, ohne daß daraus kontrollierbare
gab es rituelle Vorschriften und Tabuisierungen, aber keine Variante einer allgemein geltenden Moral. Auf Handlungsverpflichtungen folgten; und daß man andererseits dort, wo es darauf ankäme, sich nicht mehr auf
den Gutswirtschaften Alteuropas wurde zwar eine "moral economy" praktiziert, wie man neuerdings Moral verlassen kann — eine Art "Stagflation", mit der Inflation und Deflation zugleich die Moral entkräften.
herausstellt, aber dann war der Haushalt die entsprechende Einheit und eben deshalb scheiterte die "moral
1717
economy" an der Ausdifferenzierung eines monetären Wirtschaftssystems. Im allgemeinen (in der Strukturelle Veränderungen dieser Art laufen den semantischen Anpassungen voraus, und die
1720
damaligen Terminologie "politischen") Verkehr wäre schwer vorstellbar gewesen, daß die Adelige sich um die eigenständige Ideenevolution kann zu erheblichen Anpassungsverzögerungen führen. Das erklärt zunächst
Achtung eines Bauern bemüht hätte oder umgekehrt. Ein solches Verhalten hätte gegen die Moralprogramme die im frühen 18. Jahrhundert zu beobachtende Exaltation der Moral. Es erklärt ein Grundmerkmal ihrer
der eigenen Gruppe, des eigenen Teilsystems verstoßen. Die Reichweite von Moralen war (auch wenn es modernen Form, nämlich ihre spezifische, code-basierte Universalität. Und es erklärt die
immer um eine gut/schlecht-Codierung ging) durch das Schema gesellschaftlicher Differenzierung vorgeregelt, Begründungsprobleme einer modernen Ethik, die ihre eigenen Bemühungen um regulative Problemlösungen
das seinerseits daran Halt fand, daß die intern gezogenen Grenzen mit unterschiedlichen Moralen nach wie vor für moralisch gut hält, aber stillschweigend darauf verzichtet, den Mechanismus von
konvergierten. Prinzipienbegründung und sozialer Diskriminierung in Gang zu setzen. Denn kaum jemand würde an den
Diese Ordnung wird im 17. Jahrhundert noch einmal emphatisch betont. Die Geldsorgen des Adels Beratungen der Ethikkommissionen oder an sonstigen Ethikdiskursen teilnehmen, wenn das Risiko bestünde,
werden von der Moral ignoriert. Die Tragödien Racines lassen weder Vergleiche in Richtung Alltagsverhalten dort bei kontrovers bleibenden Meinungen Verachtung auf sich zu ziehen. Der Name "Ethik" ist nachall dem
noch einen Blick auf die Relevanz der politischen Geschäfte in der Form des bereits ausdifferenzierten Staates nur noch ein inhaltsleerer Distanziermechanismus, der zum Ausdruck bringt, daß ein Dialog nicht in von
zu. Man konzediert bestimmten Moralproblemen, die sich aus der Ausdifferenzierung der Funktionssysteme vornherein anders codierten oder in bereits organisierten Kontexten stattfinden soll. (Man muß dabei natürlich
ergeben, einen Ausnahmestatus — so vor allem unter dem Titel der Staatsräson. Zugleich operieren die ignorieren, inwieweit dies trotzdem der Fall ist, und dafür mögen akademische Naivitäten gut sein). Der
Funktionssysteme aber bereits unter eigenen binären Codes, die weder von der Politik noch von der Religion semantische Verweis auf "Ethik" spekuliert, anders gesagt, mit der neuzeitlichen Trennung von Politik, Recht
1721
aus gleichgeschaltet werden können. Noch lange wird diesen Funktionssystemcodierungen die und Moral. Aber eben daraus folgt auch, daß die Ethik mit Enttäuschungen zu rechnen hat, wenn sie sich
gesellschaftliche Anerkennung fehlen, und eben daraus folgt die Hypertrophierung der Moral im 18. durchsetzen will. Sie müßte also lernen, Polykontexturalität mit all ihren Konsequenzen zu reflektieren.
Jahrhundert. Aber schließlich: weshalb sollte die Dichtung nicht in der Lage sein, verwerfliches Verhalten
nach eigenen Kriterien gut gelungen (schön) darzustellen. Weshalb sollten die neu aufkommenden Theorien
des Verfassungsstaates sich auf eine Koinzidenz mit Moral einlassen mit der Folge, daß die Amtsträger gut 1718
Siehe Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations, in: Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer
und die ihnen Unterworfenen schlecht sind oder umgekehrt? Weshalb sollten Liebende allem voran die Tugend operationsfähigen Dialektik Bd. 1, Hamburg 1976, S. 249-328.
des Partners lieben und für seine moralischen Entgleisungen kein Verständnis aufbringen? Eigentum wird als 1719
Siehe dazu Richard Münch, Moralische Achtung als Medium der Kommunikation, in ders., Dynamik der
Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt 1995, S. 214 ff.
1720
1715 Daß eine Anpassung wünschenswert sei, ist damit in keiner Weise behauptet. Wenn das behauptet oder bestritten wird,
Siehe z.B. Gilles Deleuze, Logique du sens, Paris 1969, S. 175 mit durchgearbeitetem Sinn für die Paradoxie: "Ce qui
müssen wir auf die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung überwechseln und die Beobachter beobachten. Und sie mögen
est vraiment immoral, c'est toute utilisation des notions morales ..."
gute Gründe haben, semantische Schlechtanpassung zu empfehlen, etwa unter dem euphemistischen Gesichtspunkt einer
1716
Wir haben im Text nur die Positionen des 18. Jahrhunderts (Kant, Bentham) erwähnt. Die Grundfrage stellt sich aber Argumentationsreserve für "Kritik" der Gesellschaft.
nicht prinzipiell anders, wenn man die materiale Wertethik oder das natural language Argument hinzuzieht. 1721
Auch Habermas zeigt heute einen hochentwickelten Sinn für die Unterschiede ethischer und juristischer Diskurse, auch
1717
Und eben von diesem Gesichtspunkt des Scheiterns aus wird sie heute beobachtet. Bekannt dafür: E.P. Thompson, The wenn seine Überlegungen in eine ganz andere Richtung zielen. Siehe Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge
Moral Economy of the English Crowd in the 18th Century, Past and Present 50 (1971), S. 76-136. zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt 1992.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 473 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 474

Andererseits darf auch die Treibkraft der individualistischen Ideologie nicht unterschätzt werden. Man Sprache diskutiert. Der Wortgebrauch Nation, national nimmt (auch in der Form von Composita wie
mag zum Beispiel zweifeln, ob der Übergang zur Marktwirtschaft anders möglich gewesen wäre denn als circulation nationale, éducation nationale) im Laufe des 18. Jahrhunderts zu und befriedigt offenbar den
Nebeneffekt individualistischer Ideologien; und man sieht denn auch, daß die notwendigen Korrekturen nicht Bedarf für einen Gattungsbegriff, wenn man mit Eigennamen wie Frankreich oder England allein nicht
unter dem Stichwort des Individuums sondern unter dem Stichwort des Sozialen eingeführt werden. auskommt. Aber erst die Französische Revolution macht Nation zu einem notwendigen Begriff, der die
1725
Die Hauptlast dieser aufklärerischen, universellen Moral hat die Religion zu tragen. Ihr wird die Aufhebung der hergebrachten sozialen Unterschiede signalisiert. Für den Körper des ermordeten
1726
Aufgabe, Moral zu begründen, abgenommen. Die Aufklärer mögen gute Christen gewesen sein, aber ihre Monarchen mußte eine Nachfolge arrangiert werden, sollte die Nation fortleben. Die Etats généraux
Ethik reflektiert nicht (und kann auch nicht reflektieren), was danach aus Gott wird. Die Theologie kann sich verwandeln sich durch Beschluß in eine Assemblée nationale und proklamieren mit dieser Unterscheidung ihre
1722
nur noch damit befassen, der autonom gewordenen Ethik einen zusätzlichen Sinn zu geben. Souveränität in bezug auf die Unterscheidungen der Tradition und vor allem: die Gründung des politischen
Systems auf sich selbst. Aber dann ist es nicht mehr möglich, Nation gleichsam als Eigenname Frankreichs
beizubehalten. Der Begriff wird anderwärts copiert, aber in einen offenen Begriff für kulturelle und politische
Vergleiche umfunktioniert. Denn in dem Maße, als die Revolution geschichtlich wird, wird auch der
XV. Die Unterscheidung von "Nationen" Universalismus ihrer Prinzipien als Partikularität, als französische Partikularität sichtbar, die andere Nationen
übernehmen können, aber nicht übernehmen müssen. Die Pflege des nationalen Sinnes, nämlich der Einheit
Zu den auffallenden Begleitphänomenen der semantischen Reaktion auf funktionale Differenzierung trotz Revolution, wird zur Sache von Historikern wie Thierry, Quinet, Michelet.
gehört die Auffangsemantik der Nationen, die nicht auf funktionale, sondern auf segmentäre Differenzierung Die Übergangslage macht den Begriff ambivalent: Die Regionalgesellschaft ist eine Nation und soll es
1727
1723
abstellt. Die geschichtlichen Bedingungen einer solchen Selbstbeschreibung liegen sicher in der regionalen, dann politisch auch werden. Die Nation ist zunächst eine imaginäre Einheit, die dann noch mit Realität
sprachlichen und kulturellen Differenzierung Europas; oder in anderen Worten: in der Verhinderung einer gefüllt werden muß, zum Beispiel mit einer gemeinsamen Sprache, einer gemeinsamen Religion, einer
religiös-politischen Reichsbildung.
1724
Zwar gab es schon im Mittelalter den Begriff natio als einheitlichen Währung und einem gemeinsamen Rechtssystem unabhängig von den lokalen Gewohnheiten und
Herkunftsbezeichnung für sich im Ausland Aufhaltende (zum Beispiel Studenten oder Konzilsteilnehmer), und Gebräuchen. Die Nation definiert sich durch ihre Geschichte, aber die Geschichte muß erst noch geschrieben
dies immer dann, wenn mehrere "Nationen" zusammentrafen und es deshalb nicht genügte, einfach von werden (und die Frage bleibt, wie weit das dann auch die Geschichte der Dörfer oder Fabriken, der Bauern
1728
"Lombarden" (in London) oder von Genuesen (in Portugal) zu sprechen. Seit dem 16. Jahrhundert findet man und Arbeiter ist). Jetzt kann man in den neu gefaßten Begriff Inhalte einzeichnen, Probleme politischer
in einigen (aber nur wenigen) Territorien Europas Anfänge einer staatlichen Zentralisierungspolitik auf Formenwahl diskutieren, sie auf Geschichte und Charakter einer bestimmten Nation zuschneiden und einen
sprachlicher, kultureller und administrativer Ebene — vor allem in Frankreich und in Spanien (wo aber die Bezugspunkt für Kollektivbewußtsein erzeugen, an das man von oben nach unten und von unten nach oben
Einbeziehung Portugals militärisch scheitert). Man kann hier ein Experimentieren mit neuen Formen der appellieren kann. Die Weite des Nationbegriffs erlaubt es, Interessenkonflikte innerhalb von Nationen
Integration von Staat, Recht, Kultur und Sprache in regionalen Grenzen erkennen— ein Experimentieren, das zuzugestehen und ihre friedliche Lösung für möglich zu halten. Ausgeschlossen sind nur Konflikte, die auf
seinerseits die regionale (aber noch nicht "nationale") Diversifikation Europas zur Voraussetzung hat. Die Vernichtung des Gegners abzielen. Gefordert sind jetzt neue Formen der Solidarität, bis hin zum Opfer des
frühen Staatsdefinitionen oszillieren zwischen Herrschafts- und Gebietsbezeichnungen. Im übrigen zeichnen eigenen Lebens im Krieg für Leute, die man gar nicht kennt. Damit avanciert die Vorstellung einer staatlich
sich aber in der Frühmoderne vom 15. bis zum 17. Jahrhundert gerade zivilisatorisch, handwerklich und organisierten Nation zum Normalbild territorialer Segmentierung, und Staaten, die sich dem nicht fügen,
1729
kommerziell hochentwickelte Gebiete wie Italien, Flandern und dann die Niederlande durch Fehlen einer als werden seitdem als Anomalien behandelt. Das führt im 19. Jahrhundert zu Bemühungen um die nationale
Nation verstandenen Identität aus. Im ganzen liegt in Europa als Resultat von Seuchen und Hungersnöten, Einigung Italiens und Deutschland, zur Lösung des Norwegen-Problems und des Finland-Problems durch eine
also demographischen Bewegungen vor allem in Land-Stadt Richtung, ferner von Fernhandel und eigene Verfassung, zur Abspaltung Belgiens von den Niederlanden mit der Folge eines neuen multinationalen
Adelsheiraten eine polyethnische Bevölkerungsstruktur vor. (Schon die mittelalterliche Bindung der Bauern an Problems, schließlich zur Auflösung Österreich-Ungarns und des türkischen Großreichs. Aber: warum läßt
das Land ihres Herrn zeigt an, wie stark der Bewegungsdruck gewesen sein muß). Ghettoisierungen, Enklaven
für Händler auf engstem Raum belegen, daß Unterscheidungen nicht in Richtung auf Nation hochgerechnet 1725
Siehe Pierre Nora, Nation, in: François Furet / Mona Ozouf (Hrsg.), Dictionnaire Critique de la Révolution Française,
werden. Begünstigt durch Buchdruck und durch ein allmählich entstehendes öffentliches Recht festigt sich erst Paris 1988, S. 801-811, und zeitgenössisch die berühmte Schrift des Abbé Emmanuel Joseph Sieyès, Qu'est-ce que le Tiers-
im 17. Jahrhundert eine territorialstaatliche Zentralisierungspolitik, aber dies nur in wenigen Fällen auf Etat von 1789. Vgl. auch Pierre Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire Bd. II, 1 und 2, Paris 1986.
nationaler Grundlage. Weder die Baskenpolitik Spaniens im 16. Jahrhundert noch die Elsaß-Politik 1726
So im Anschluß an Marcel Gauchet Marc-Olivier Padis, Marcel Gauchet: La Genèse de la démocratie, Paris 1996, S.
Frankreichs im 17. Jahrhundert konnte sich durch die nationale Zugehörigkeit der Region rechtfertigen. Weder 83: "Le roi en effet incarne l'unité de la Nation dans son corps. Après la mort du roi, où l'unité peut-elle s'incarner?". Daß
die Nobilitierungspolitik Savoiens noch die Heranziehung des böhmischen Adels an den Wiener Hof sind überhaupt eine Nachfolge zustandegebracht werden mußte, ergab sich aus dem Begriff der Nation. Das Problem war vor
nationalpolitische Tendenzen, obwohl es bereits um 1600 Literatur gibt, die spanische, italienische, allem, daß der Körper des Monarchen durch eine Organisation politischer Entscheidungen ersetzt werden mußte.
1727
französische und deutsche Adelsbegriffe einander gegenüberstellt. Dieselbe Ambivalenz hatte kurz vorher den "Patriotismus" ausgezeichnet — aber auf einer rein moralischen Ebene.
Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts wendet sich das Blatt. Es kommt neben historischen verstärkt zu Man erkennt die Defizienzen des Gemeinwesens, dem man angehört und für das man sich eben deshalb einzusetzen hat.
regionalen Kulturvergleichen. Dabei nutzt man den kommunikationspraktischen Vorteil, daß Nationen Aber die Bezugsgrößen sind hier, zumindest in der deutschen Diskussion, noch unbestimmt. Sie reichen vom
Weltbürgertum bis zum Kleinfürstentum oder zum Wohnort. Universalismus und Partikularismus finden sich unter dem
Eigennamen haben, so daß man nicht in die Verlegenheit kommt, erklären zu müssen, was man meint, wenn selben Dach eines moralischen Appells. In den letzten beiden Dekaden des 18. Jahrhunderts wird dieser umfangvariable
man von Spanien, Ungarn, Polen usw. redet. Noch heute wird über die europäische Einigung in dieser Moralpatriotismus bereits ironisch behandelt. Auch insofern war die Zeit reif für den neuen Begriff der Nation. Vgl. Peter
Fuchs, Vaterland, Patriotismus und Moral: Zur Semantik gesellschaftlicher Einheit, Zeitschrift für Soziologie 20 (1991), S.
89-103; ders., Die Erreichbarkeit der Gesellschaft: Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt
1722
"Sans disparaître pour autant, le contenu de la théologie chrétienne ne vient plus avant l'éthique, pour la fonder en 1992, S. 144 ff.
vérité, mais après elle, pour lui donner un sens", wie Luc Ferry, L'homme-Dieu ou le Sens de la vie, Paris 1996, S. 60, dies 1728
Ganz anders im übrigen die Bildung von ethnischen Einheiten, die sehr wesentlich eine Geschichte der Verletzungen
formuliert.
und Unterdrückungen, der Aufrechnungen und des Kampfes ist und in diesem Sinne keine Geschichte der Intellektuellen
1723
Vgl. Alois Hahn, Identität und Nation in Europa, Berliner Journal für Soziologie 3 (1993), S. 193-203, und dazu bereits ist, sondern Erfahrungen der gesamten Bevölkerung aufnimmt. Das sieht man mit aller Deutlichkeit im zerfallenden
oben Kap. ..., Anm. ... Jugoslavien, und es läßt wenig Hoffnung für einen politisch diktierten Ausgleich. Das Gedächtnis ist stärker als ein
1724 Bündnis von Vernunft und Interessen.
Und außerdem: wo es zu Reichsbildungen von ethnisch-homogenen Ausgangspunkten her kam (man denke an die
1729
mazedonische oder die islamische) tendierten diese dazu, in ihrem Zerfall ethnisch inhomogene Gebilde zu hinterlassen. Siehe zu dieser Zäsur William H. McNeill, Polyethnicity and National Unity in World History, Toronto 1986.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 475 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 476

diese Wende zum Nationalbewußtsein mit teils fiktiver Normalität, teils normativen Forderungen sich so exakt "weltanschaulicher" Oppositionen ergeben hatten. Kurz: der Begriff der Nation bietet ein Inklusionskonzept,
auf die Mitte des 18. Jahrhunderts datieren? das nicht auf die Sonderbedingungen der einzelnen Funktionssysteme angewiesen ist und selbst die Politik
1734
Man könnte sagen, daß der intern friedliche Territorialstaat jetzt voll etabliert ist und sich mit Bezug auf dazu zwingt, alle Angehörigen der eigenen Nation als gleiche zu respektieren.
die Bevölkerung legitimieren muß. Man könnte auch auf die Fortschritte in der Seuchenpolitik, in der Die soziale Unterscheidung der alten Welt, die Unterscheidungen nach Adel und Volk und nach
Agrikulturtechnik und in der Übernahme amerikanischer Landfrüchte hinweisen, die alte Anlässe zu Ranggruppen innerhalb dieser Schichten, nach Stadt und Land oder nach militärischer Gewalt und im Handel
umfangreichen demographischen Verschiebungen innerhalb Europas obsolet werden lassen und den Glauben verdientem Geld waren zu stark und zu naheliegend, zu plausibel gewesen, um eine nationale Überformung
an einen relativ stabilen (nur in sich wachsenden) nationalen Bevölkerungszustand ermöglichen. zuzulassen. Es genügte (wer immer davon gehört haben mag) eine religiöse Kosmologie. Sprachliche
Überschüssiger Nachwuchs konnte, obwohl die Bevölkerung weltweit (und selbst auf den amerikanischen Verständigungsmöglichkeiten waren vor der Einführung von Buchdruck und Nationalsprachen sehr
Sklavenplantagen) wuchs, über See auswandern, ohne die nationale Integrität zu berühren. Dies alles kleinräumig gewesen. Im übrigen hatte man Latein. Im Übergang zu funktionaler Differenzierung ändert sich
angenommen, wird es kein Zufall sein, daß die Idee der Nation als Normalform und als normativer Anspruch die Art und die Sichtbarkeit der Unterscheidungen, die jetzt die Gesellschaft gliedern. Neue
sich historisch in genau dem Zeitpunkt durchsetzt, in dem der Übergang zu funktionaler Differenzierung Rollenkomplementaritäten wie Regierung/Untertan, Produzent/Konsument, Lehrer/Schüler, Arzt/Patient,
irreversibel wird und sich in zahlreichen Bereichen bemerkbar macht. Künstler/Kunstliebhaber und selbst Priester/Laie identifizieren nicht mehr konkrete Individuen, sondern nur
Der Zusammenhang der Steigerung der nationalen Rhetorik mit dem Umbruch von stratifikatorischer zu noch Rollen nach Funktionssystemzugehörigkeit. Sie definieren nicht mehr den Sinn der Lebensführung,
funktionaler Differenzierung legt eine Zwischenbetrachtung nahe. Offenbar konkurriert im ausgehenden 18. sondern nur noch Aufgaben und Regeln; und sie lassen auf privater wie auf öffentlicher, auf individueller wie
Jahrhundert die Orientierung an nationalen Unterschieden mit dem Bewußtsein, in einer besonderen Zeitphase auf sozialer Ebene einen Bedarf für neue, zusammenfassende Identifikationen auftreten. Darauf antworten
der Geschichte zu leben und einem besonderen "Zeitgeist" zu folgen; und da diese zeitliche Diskontinuität sich Singularbegriffe wie (individuelles) Subjekt oder eben: Nation.
in allen Nationen bemerkbar macht, tritt der Nationenvergleich gegenüber dem historischen Vergleich zurück. Daher entspricht der Nationbegriff nicht mehr dem ursprünglichen Wortsinn von natio. Es geht nicht
Die Französische Revolution ist deshalb nicht nur eine französische Revolution. Auch die Monetarisierung mehr um Sortierung nach Herkunftsidentitäten. Es wird nicht mehr vorausgesetzt, daß die Einheit schon
und Industrialisierung Europas kann nicht als nationale Eigentümlichkeit begriffen werden. "Gegen diese vorhanden und nur zu erkennen und zu benennen sei. Vielmehr dirigiert der Nationbegriff jetzt die Forderung
europäische Gleichheit verschwindet in der Tat jeder Nationalunterschied", konstatiert Friedrich Schlegel nach Herstellung der Einheit in einem eigenen Staat, und insofern kommt der Unterscheidung von
1730
1802. Kulturnation und Staatsnation allenfalls eine sekundäre Bedeutung zu. Was immer die kulturellen und
Aber das muß nicht auf Kosten der nationalen Identitäten gehen. In die sich erweiterten Perspektiven sprachlichen Wurzeln: um die Einheit zu erreichen, muß man vereinigen und vereinheitlichen.
wird die Nation wie ein entfaltetes Paradox eingebaut: nach außen partikularistisch und nach innen Begünstigt wurde diese Semantik des Nationalen durch eine Überlieferung antiker Texte, die von der
1731
universalistisch konzipiert. So kann sie die Entwicklung zur Weltgesellschaft aushalten — bis im Zuge des Zivilgesellschaft ausgegangen war, die demographischen und ökonomischen Zusammenhänge unbeleuchtet
Verzichts auf "Kolonien" allzu deutlich wird, daß keineswegs alle Territorien der Weltgesellschaft tribale und gelassen hatte und so gesellschaftliche und politische Einheit auf einen Begriff bringen konnte. Diese Tradition
ethnische Differenzen zu Nationen verschmelzen können (und dies auch und gerade dann nicht, wenn ihnen war jedoch von der Stadt als politischer Einheit ausgegangen und hatte nur zögernd, im Nachvollzug der
Staatlichkeit, also Zentralisierung zugemutet wird). römischen Reichsbildung, das Politische territorialisiert. Die Stadt hatte dem Sinn für politische
Im späten 18. und 19. Jahrhundert profitiert die Nationbildung in Europa von dem ohnehin ablaufenden, Zusammengehörigkeit erhebliche Vorteile geboten, zum Beispiel ein topographisches Gedächtnis, mit dessen
jetzt unbestreitbaren Prozeß des gesellschaftlichen Umbaus. Gerade die neuen Differenzierungen und das Hilfe jeder seinen Weg finden konnte, und eine persönlich bekannte Oberschicht. Die Ersetzung der Stadt
Verschwinden alter sozialer Einteilungen stärken den Bedarf an nationalen Zugehörigkeiten. Im Begriff der durch die Nation löscht nicht nur den Sinn für die politische Kultur der Stadt und für die darauf bezogene
Nation ebenso wie im Begriff des Menschen als Individuum und Subjekt schafft die Selbstbeschreibung des Stellung des Stadtbürgers (citizen). Sie muß auch das topographische Gedächtnis durch ein gedrucktes
Gesellschaftssystems sich einen hochplausiblen Ausweg, der es erlaubt, Identitätsressourcen zu aktivieren, die Gedächtnis und die persönlich bekannte Oberschicht zunächst durch den Fürstenhof und dann durch eine nur
die Funktionssysteme in ihren Inklusionsformen nicht bieten können. Der Begriff Nation nimmt dem Begriff noch aus den Massenmedien bekannte Elite ersetzen.
Volk (peuple, people) den Unterschichtengeruch, gibt eine Begründung für die Entaristokratisierung des Andererseits kann man vermuten, daß der Begriff der Nation die alte Zivilgesellschaft mit neuem
politischen Systems und ermöglicht am Beginn des 19. Jahrhunderts die Wiedereinführung des Volksbegriffs Realitätssinn auflädt, besonders nachdem sich die Unterscheidung, ja Trennung von Staat und Gesellschaft als
1732
als eines spezifisch politischen Begriffs. Er wendet sich vom Herkunftsbegriff zum Zukunftsbegriff, zum unvermeidbar erwiesen hatte. Außerdem war man, derzeit durchaus noch mit Recht, davon ausgegangen, daß
Begriff für den Anspruch auf Einheit von personaler und völkischer Identität. Er bietet ein sehr klares, ganz Nationalstaaten Kriege führen und gewinnen oder verlieren können. Über den Begriff der Nation konnte man
einfach zu handhabendes Unterscheidungsschema: Eine Nation unterscheidet sich von anderen Nationen (und Wehrpflicht mit dem Implikat eines Todes fürs Vaterland rechtfertigen, ohne dies auf der Ebene der
nicht etwa von Aristokratie oder von Landleben oder von Wirtschaft oder von Wissenschaft). Er erlaubt es, Staatsverfassung sogleich durch das allgemeine Wahlrecht honorieren zu müssen. Kriege waren letzte
den Universalismen der Funktionsorientierung Partikularismen regionaler Gemeinschaften als höherwertig Entscheidungsverfahren und noch nicht, wie heute, ökologische Katastrophen ohne Sieger und Verlierer. Das
1733
entgegenzusetzen und damit die Spannung der "pattern variables" im Sinne von Parsons auszugleichen. alles deckt der Begriff der Nation mit ab.
Und er scheint es zu ermöglichen, auf der Basis von Identität Brüche zu überwinden, die sich als Folge des Mit der Delegitimierung von Stratifikation im 18. Jahrhundert war auch die Möglichkeit aufgegeben
Freisetzens marktwirtschaftlicher Prozesse (in den sogenannten Klassenstrukturen) und religiöser oder worden, unterschiedliche Lebensschicksale über Geburt, also über Schichtung zu begründen und
Unzufriedenheiten, Proteste und Unruhen als gegen die Ordnung gerichtet zu bekämpfen. Schon der
Liberalismus des 18. Jahrhunderts, dann aber vor allem der Nationalismus und im Laufe des 19. Jahrhunderts
1730
Reise nach Frankreich, zit. nach Werke in zwei Bänden, Berlin 1980, Bd. 2, S. 213-244 (234). Hervorhebung im der Sozialismus bilden elaborierte Formen, in denen die Gesellschaft Unzufriedenheit mit sich selbst
Original.
1731
Hierzu Mathias Bös, Zur Evolution nationalstaatlich verfaßter Gesellschaften, Protosoziologie 7 (1995), S. 159-169.
1732
Zum Verhältnis der Begriffe Volk/Nation ausführlich der entsprechende Artikel Volk, Nation, Nationalismus, Masse
im Wörterbuch Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 7, 1734
Siehe speziell für deutsche Intellektuelle mit unbefriedigender Inklusion in die Wirtschaft, den Staatsdienst und die
Stuttgart 1992, S. 141-431.
sich neu entwickelnde Universitätswissenschaft Bernhard Giesen, Code und Situation: Das selektionstheoretische
1733
Darin liegt, wie leicht zu sehen, eine genaue Umkehrung des traditionellen Bewertungsvorrangs des religiösen Programm einer Analyse sozialen Wandels — illustriert an der Genese des deutschen Nationalbewußtseins, in: Hans-Peter
Universalismus vor dem politischen Partikularismus der europäischen Tradition — ein Vorgang der "Säkularisation" also, Müller / Michael Schmid (Hrsg.), Sozialer Wandel: Modellbildung und theoretische Ansätze, Frankfurt 1995, S. 228-266
was ebenfalls darauf hindeutet, daß dieser Umbau der Semantik vor dem 18. Jahrhundert kaum möglich gewesen wäre. (252 f.), sowie ders., Die Intellektuellen und die Nation: Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt 1993.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 477 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 478
1735
ausdrücken und künftige Besserung einklagen kann. Das hatte allerdings zur Voraussetzung, daß man von Die Neuerungen im Vergleich zur Terminologie der "Stände" (status, états, estates) lassen sich unter vier
1737
der Zukunft einer Realisierung der entsprechenden Ideen erwarten konnte. In dem Maße, als dies zweifelhaft Gesichtspunkten zusammenfassen :
wird und die Hoffnung auf nationale Selbstbestimmung der Völker an eben dieser Idee scheitern, findet man
sich in einer anderen Lage. (1) Nach alter Tradition ist "Klasse" ein klassifikatorischer Begriff. Es geht also um sehr verschiedene
Ironischerweise leitet das Ende des ersten Weltkrieges mit der Erklärung des Rechts auf Einteilungen, die sich auf vielerlei Sachverhalte beziehen können, z.B. Flotten, Heere, Schulklassen,
Selbstbestimmung der Nationen das Ende dieser Idee ein. Ihr Scheitern wird in den Versuchen, sie zu Steuersysteme. Der Begriff wird durchaus realitätsbezogen gehandhabt, aber doch mit dem Bewußtsein,
realisieren, offenkundig. Sie dekonstruiert sich, könnte man sagen, von nun ab selber, indem sie zu daß es vielerlei Einteilungen geben kann, im 18. Jahrhundert dann vor allem auch solche der Lebewesen
Entscheidungen gezwungen wird, deren Folgen sich durch die Idee nicht rechtfertigen lassen. Das gilt (Linné).
spektakulär für die großdeutsche Politik Hitlers, die in einem weltweit akzeptierten "ethnic cleansing" (2) Eingeteilt werden jetzt nicht mehr Familien, sondern Individuen. Soziale Klassen sind keine
1736
endet. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts haben sich die in den Begriff der Nation nicht aufgenommenen Geburtsklassen. Daß die Familie, in die hinein man geboren und in der man aufgewachsen ist, die
und deshalb unsichtbaren Stützbedingungen in entscheidenden Hinsichten geändert. Die Weltgesellschaft Klassenzugehörigkeit beeinflußt, braucht und kann nicht bestritten werden; aber die Zugehörigkeit zu einer
bietet nur in wenigen Territorien (Japan wäre der eindeutigste Fall) Chancen für die Bildung hinreichend sozialen Klasse ist kein vererbbares Merkmals. Vor allem aber liegt in der Herkunft, im Ursprung der
großer Nationalstaaten. Die Erfahrungen in ethnisch oder religiös inhomogenen Staatsgebilden (Südafrika, Familie, in der Erinnerung an die Vorfahren keine normative Bestimmung der Lebensform und des
Libanon, Jugoslavien, Sowjetunion, Indien, Irland, um nur einige zu nennen) zeigen, daß eine rein quantitative, Verhaltens. Das Verhalten ist freigegeben, um sich nach Gelegenheiten richten zu können. Damit ist
auf Wahlverfahren gestützte Repräsentation nicht ausreicht, um die bestehenden Gegensätze in einem (3) die Möglichkeit gegeben, die Klassenzugehörigkeit primär, wenn nicht ausschließlich ökonomisch zu
Territorialstaat nationaler Prägung zu überbrücken. Gerade unter den Vorzeichen von Demokratie erweist bestimmen. Es geht noch um die Unterscheidung reich/arm, aber schon um die Funktion im ökonomischen
sich dann nationale Einheit als undurchsetzbar. Daher führt das Desiderat ethnisch homogener Prozeß, vor allem um die an der Fabrikorganisation abgelesene Unterscheidung von Eigentümer und
Staatsbildungen, sofern räumliche Separierungen überhaupt möglich sind, zu ökonomisch nicht Arbeiter, makroökonomisch und dann politisch generalisiert zur Unterscheidung von Kapital und Arbeit.
überlebensfähigen oder extrem krisenanfälligen Kleinsteinheiten. Der Individualismus ist so weit entwickelt, Diese Generalisierung scheint zugleich sicherzustellen, daß die Klassenverhältnisse sich (trotz eines
daß er sich national nicht mehr vereinnahmen läßt (was nicht ausschließt, daß ethnisch oder religiös zentrierte Austausches der Personen) reproduzieren, solange es nicht zu einer Katastrophe kommt, wie Marx sie als
Fundamentalismen Individuen auf die Barrikaden treiben). Kriege auf dem Stande der modernen Technik sind Revolution vorausgesagt hat.
nicht mehr möglich ohne ökologische Katastrophen. Das heißt: es gibt keine Aussichten mehr, sie im Hinblick (4) Das Klassenschema eignet sich, und die Soziologie des 20. Jahrhunderts wird davon reichlich Gebrauch
auf begrenzte Zielsetzungen zu gewinnen. Riesige, durch ökonomische Ungleichgewichte erzeugte machen, vorzüglich als Theoriehintergrund für die statistische Auswertung empirischer Daten. Auch wenn
Wanderungsbewegungen sind in Gang gebracht oder stehen bevor. All das entzieht dem Begriff einer das Paradigma der Fabrik seit langem an Bedeutung verloren hat: empirische Daten über Ungleichheit
nationalen Identität, mit der ein Einzelner sich identifizieren kann, die Plausibilität. Offenbar gehört die Idee lassen sich mit allen möglichen Indikatoren und Methoden leicht beschaffen. Auch wenn die Ökonomen
der Nation also zu jenem Bündel transitorischer Semantiken, die eine Übergangszeit faszinieren konnten, ohne und Organisationssoziologen längst von Bürokratie, von Revolution der Manager, von absentee ownership
zu verraten, auf welches Gesellschaftssystem sie bezogen waren. Man kann daher vermuten, daß wir uns sprechen, kann das Paradigma der Fabrikorganisation spielend durch immer neue Daten ersetzt werden,
heute in einer Auslaufphase dieser Idee befinden, in der sie mehr Schaden als Nutzen stiftet und in der die durchgreifende Ungleichheiten im Privatvermögen, im Zugang zu Schulen und Universitäten, im
Soziologie eines jener obstacles épistémologique bildet, die auf Grund vergangener Plausibilitäten die jetzt Zugang zu Gerichten, in der Art der Krankheiten und der medizinischen Versorgung und in vielen anderen
nötigen Einsichten blockieren. Hinsichten feststellen. Und Ungleichheit heißt Ungerechtigkeit und beweist den nur ideologischen
Charakter der bürgerlichen Formalwerte Freiheit und Gleichheit.

In dem Maße, als die Unterscheidung der Geburtsstände ihre innere Legitimation als natürlich-
XVI. Klassengesellschaft notwendige Ordnung verlor, mußten sich kompensatorische Vorstellungen entwickeln, die innerhalb der
Gesellschaftsbeschreibung für Ausgleich sorgen. Im späten 17. Jahrhundert und bis weit ins 18. Jahrhundert
Zu den erfolgreichsten, bis vor kurzen vorherrschenden Beschreibungen der modernen Gesellschaft hinein hört man immer wieder, daß jeder Mensch, ungeachtet seiner sozialen Position, die Möglichkeit habe,
1738
gehört die Annahme, es handele sich um eine aus sozialen Klassen bestehende Gesellschaft, und sie lasse sich glücklich zu sein, sofern er nur mit seiner Placierung zufrieden sei. Glücklichsein ist jetzt eine Einstellung
deshalb durch die Ungleichheit im Verhältnis dieser Klassen charakterisieren. Der Erfolg dieser Beschreibung des Individuums zu sich selbst, und die Möglichkeit dazu hängt nicht von der Ausstattung mit "äußeren"
erklärt sich daraus, daß sie mit der alten Vorstellung einer vertikal nach Ranglagen geordneten Gesellschaft Gütern und Ehren ab. Dies kann man mit Beispielen aus den obersten und den untersten Schichten belegen
nicht vollständig bricht, aber sie so stark auflöst, daß wichtige Momente der modernen Gesellschaft darin und narrativ plausibel machen.
eingehen können. Die These der "Klassengesellschaft" zählt zu den eindrucksvollsten Errungenschaften einer Das 19. Jahrhundert ersetzt unter dem Eindruck der französischen Revolution und der raschen
Überleitungssemantik, die, janusköpfig gearbeitet, die alte Gesellschaft noch nicht aus den Augen läßt, aber industriellen Entwicklung diese natürliche Anwartschaft auf Glück durch die moralische Forderung der
1739
schon die Ansatzpunkte bietet für eine Registrierung radikaler Veränderungen. Solidarität. Das gibt der Kompensation für Klassenunterschiede eine stärker moralische und zugleich eine

1737
Vgl. auch Niklas Luhmann, Zum Begriff der sozialen Klasse, in ders., (Hrsg.), Soziale Differenzierung: Zur Geschichte
einer Idee, Opladen 1985, S. 119-162.
1738
Aus der Sekundärliteratur siehe vor allem Robert Mauzi, L'idée du bonheur dans la littérature et la pensée française au
XVIIIe siècle, Paris 1960. Die Glaubwürdigkeit des Arguments ist allerdings schwer einzuschätzen. Schon in der Antike
1735
Shmuel Noah Eisenstadt, Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender Perspektive, in: Bernhard Giesen wurde es als überzogen angesehen und ironisch behandelt. Für uns ist aber nur interessant, daß die Gesellschaft ein solches
(Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität: Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt Argument für notwendig hielt.
1991, S. 21-38 (34) spricht von der Möglichkeit nationalistischer und sozialistischer Ideologien, "gegen die institutionellen 1739
Zur Wortgeschichte vgl. Arthur E. Bestor, Jr., The Evolution of the Socialist Vocabulary, Journal of the History of Ideas
Realitäten der modernen Zivilisation in deren eigener Symbolik rebellieren zu können."
9 (1948), S. 255-302 (273). J. E. S. Hayward, Solidarity: The Social History of an Ideal in Nineteenth Century France,
1736
Seitdem hat sich das Völkerrecht bekanntlich geändert und verurteilt das "ethnic cleansing" als Verfahren der International Review of Social History 4 (1959), S. 261-284. Vgl. ferner Italo De Sandre, Solidarietà, Rassegna Italiana di
Herstellung nationaler Einheit. Aber auch die Resultate dieser Rechtsänderung fallen wenig überzeugend aus. Sociologia 35 (1994), S. 247-263; Giuseppe Orsi et al. (Hrsg.), Solidarität, Rechtsphilosophische Hefte IV, Frankfurt 1995.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 479 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 480

kämpferische Ausrichtung. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit wird Prinzip der Vereinigung der Wirtschaft und Politik unter Vernachlässigung oder Instrumentalisierung der anderen Funktionssysteme. In
Benachteiligten, zugleich aber auch ein Gesichtspunkt des Appells an diejenigen, die von der beiden Lagern wird allmählich der Blick auf die andere Seite und der Konflikt um die Weltherrschaft zum
Ungleichverteilung profitieren. "Sozial" ist jetzt zugleich ein Ausdruck für eine Einstellung und einen Wert. In alles beherrschenden Motiv. Nur im Ostblock hat dann die Überschätzung von Organisation und die
dem Maße, als sich sozialistische Parteien bilden und sich in der politischen Konkurrenz als regierungsfähig Unterschätzung der weltweiten funktionalen Differenzierung zum Zusammenbruch geführt; aber daraus folgt
erweisen, wird schließlich die Angleichung der Lebensbedingungen aller Schichten zum politischen Postulat, natürlich nicht, daß das überlebende System die eigene Gesellschaftsbeschreibung als bestätigt ansehen
das durch wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen, durch Entwicklungspolitik und vor allem: durch Steigerung des könnte.
verteilbaren Wohlstands und durch Präferenzen für eine leicht inflationäre Wirtschaftspolitik eingelöst werden
1740
soll.
Am Ende des 20. Jahrhunderts scheint dies Gesamtkonzept zusammenzubrechen. Daß Ungleichheiten
bestehen, ist evident und mehr so als zuvor. Aber sie lassen sich, wie die Diskussion über "neue" XVII. Die Paradoxie der Identität und ihre Entfaltung durch Unterscheidung
Ungleichheiten lehrt, nicht mehr auf Klassenstrukturen reduzieren. Es gibt zu viele, wie man heute sagt,
milieuspezifische Einflüsse. Auch wirken sich naturale Vorgaben wie Geschlechts- oder Altersdifferenzen Funktionale Differenzierung treibt die Ausdifferenzierung einzelner gesellschaftlicher Teilsysteme ins
stärker aus, als man früher angenommen hatte. Und nicht zuletzt brechen sich die Schematisierungen der Extrem einer vollen, eigenen, autopoietischen Autonomie. Das führt dazu, so können wir voraussagen, daß
Klassengesellschaft an der Öffnung der Kommunikation für hochindividuelle Erwartungen, Ansprüche, auch die Generalisierung der Semantik, die die Einheit des Ganzen noch symbolisieren kann, ins Extrem
1741
Identitätsprojektionen. Gleichzeitig ist kaum mehr zu leugnen, daß die Gesellschaft die Menschen weder getrieben werden muß. Man wird dann auf jede gattungsförmige Zusammenfassung, schließlich sogar auf jede
glücklich gemacht hat noch für Solidarität gesorgt hat noch eine Angleichung der Lebensbedingungen erreicht ontologische Beschreibung verzichten müssen. Es bleibt nur die Möglichkeit, paradox oder tautologisch zu
hat. Statt dessen tritt bei derzeit modischen Nachfolgekonzepten wie "Bürgergesellschaft" der utopische identifizieren. Der Beobachter wird nicht zum Schweigen verurteilt, wie einige Poeten meinen - und sagen!
Charakter solcher Ausgleichsvorstellungen immer deutlicher zutage. Aber er wird eingestehen müssen, daß ein Beobachter (und auch: ein Selbstbeobachter) nicht sehen kann, was
Seit der Auflösung der geburtsständischen Ordnung war das Konzept der Klassengesellschaft an deren er nicht sehen kann, und zwar vor allem sich selber nicht. Die Einheit der Gesellschaft wird in der
Stelle getreten. Es blieb jedoch, und dies im Laufe von zwei Jahrhunderten mit zunehmender Deutlichkeit, auf Selbstbeobachtung zur Paradoxie des Beobachters.
normative Supplemente angewiesen. Die Einheit der Gesellschaft konnte nicht mehr im Unterschied der Am Objekt selbst, an der Gesellschaft, kann man jetzt nur noch den Einheitsverlust als Ordnungsverlust
Klassen gesehen werden. Es entstand daher ein Legitimationsdefizit, dem auf doppelte Weise begegnet wurde: beklagen. Friedrich Schlegel, als einer von vielen, konstatiert zwar die Wiederherstellung der äußeren
durch die Hoffnung, durch Entmachtung und Enteignung der Oberschicht die Unterschiede einebnen zu Ordnung nach den napoleonischen Kriegen, aber nur bei fortdauernder und sich steigender innerer
können, und durch das Einspielen von kontrafaktischen Gegenbegriffen, die das Verhältnis von Differenz und Unsicherheit — der Beobachter!
1742
Ideen machen sich jetzt gerade dadurch verdächtig, daß sie, wie man
Einheit in das Verhältnis von Fakten und Normen überführen sollten. Die Argumente, mit denen dieses 1743
beobachten kann, mit Absolutheitsanspruch vertreten, gleichsam ultraisiert werden. Sie werden zu Phrasen
Selbstbeschreibungssyndrom vertreten wird, verlieren jedoch mehr und mehr ihre Überzeugungskraft, ohne von Parteien.
daß klar wäre, wodurch diese Figur ersetzt werden könnte. Doch wohl kaum durch den Begriff einer Die Französische Revolution hatte noch die Absicht verfolgt, die Menschheitsziele unmittelbar zu
"Erlebnisgesellschaft", der mit der sogenannten Postmoderne kokettiert, ohne ein Angebot zu machen, wie verwirklichen; und zwar durch Revolution, also allein schon dadurch, daß sie sich von der alten Welt löste.
denn auf neuen Grundlagen das Paradox der Einheit des Differenten entfaltet werden könnte. Die Assemblée Nationale stellte sich vor, sie sei die volonté générale. Nachdem dies gescheitert war, reflektiert
Man mag es als einen folgenreichen historischen Zufall ansehen: jedenfalls hat sich die Absicht, die 1744
die Romantik die Lage. "Romantisieren", schreibt Novalis , "ist nichts als eine qualitative Potenzierung. ...
Klassengesellschaft zu revolutionieren, im 20. Jahrhundert zu einem regionalen Konflikt zwischen Indem ich dem Gemeinen eine hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten
"sozialistischer" (kommunistischer) und "liberaler" (kapitalistischer) Gesellschaftsordnung versteift. Damit die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es". Hegels
kamen politische, militärische und organisatorische Anstrengungen ins Spiel. Dieser Gegensatz hat dann die Kritik der romantischen "Subjektivität" trifft nicht den Kernpunkt. Die Frage ist, warum ein derart gepflegtes
öffentliche Aufmerksamkeit so stark präokkupiert, daß sich keine davon unabhängige Gesellschaftstheorie Paradox angeboten wird.
entwickeln konnte. Selbst die "dritte Welt" der unterentwickelten Länder wurde nach diesem Schema beurteilt. Explizites Paradoxieren findet man, wenn man von den üblichen rhetorischen Spielereien absieht, vor
Die These einer einheitlichen Weltgesellschaft hatte angesichts so starker realer und ideologischer allem im Kontext des Sichablösens von Moral
1745
— sei es mit direkt diesem Bezug, sei es im Kontext
Diskrepanzen kaum Aussicht auf Gehör. einzelner Funktionssysteme, die sich auf einer Ebene höherer Amoralität organisieren müssen. In der
Im Rückblick beeindrucken mehr die Übereinstimmungen als der Gegensatz. In beiden Lagern findet 1746
berühmten Bienenfabel Mandevilles (und in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur schon Jahrzehnte
man eine Globalperspektive mit Blick auf eine unsichere Zukunft, die zu meistern ist. In beiden Lagern kam es zuvor) wird ausgeführt, daß eigennützige und deshalb moralisch verwerfliche Motive, aufs Ganze gesehen,
zu einem Verzicht auf Determination durch die Vergangenheit mit der Folge, daß Einheit nicht als etwas durch
Natur oder Schöpfung Gegebenes, sondern als etwas zu Erreichendes oder Herzustellendes gesehen wird. In
beiden Lagern setzt man dabei, wenngleich in sehr unterschiedlicher Weise, auf ein Zusammenwirken von 1742
So in: Signatur des Zeitalters, zit. nach: Friedrich Schlegel, Dichtungen und Aufsätze (Hrsg. Wolfdietrich Rasch),
München 1984, S. 593-728: "Das erste üble Anzeichen dieser Art ist wohl der innere Unfrieden, der bei Fortdauer eines
fest und sicher begründeten äußeren Friedens dennoch überall hervorbricht und allen Beobachtenden so allgemein fühlbar
1740 geworden ist, da er fast in steigender Progression sich zu vermehren und zu verbreiten scheint." Schlegels eigener Rückweg
Siehe nur Amitai Etzioni, The Active Society: A Theory of Societal and Political Processes, New York 1968. in die Religion hat dann seine Zeitgenossen nicht mehr überzeugen können, ja er muß ihnen als ein Fall der negativen
1741 Diagnose des Zeitalters erschienen sein.
Aus der neueren Literatur siehe etwa Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten,
gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Reinhard 1743
Bei Schlegel a.a.O.: Das Absolute als der eigentliche Feind des Menschengeschlechts, das Absolute als "rücksichtslos",
Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten. Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983, S. 35-74; Stefan Hradil, das "Ultrawesen" als Übel usw.
Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft: Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus, Opladen
1744
1987; ders. (Hrsg.), Zwischen Bewußtsein und Sein: Die Vermittlung 'objektiver' Lebensbedingungen und 'subjektiver' Fragment Nr. 1921, zit. nach der Ausgabe von Ewald Wasmuth, Fragmente Bd. II, Heidelberg 1957, S. 53.
Lebensweisen, ............ 1992; Klaus Eder (Hrsg.), Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis, Frankfurt 1989; Gerhard 1745
Siehe zum Beispiel (nach altem rhetorischen Muster gestrickt) Jean-Fréderic Bernard, Eloge d'enfer: Ouvrage critique,
Schulze, Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 1993. Da wir hier nur von
historique et moral 2 Bde. Den Haag 1759. Die Hölle, das eben sei die durchgeführte Moral.
Selbstbeschreibungen handeln, braucht nicht entschieden zu werden, ob tatsächlich eine entsprechende Veränderung
1746
vorliegt oder ob nur die Soziologie das sinkende Schiff "Klassengesellschaft" verläßt und mit dem extrem formalen Siehe Bernard Mandeville, The Fable of the Bees: or Private Vices, Publick Benefits, zit. nach der Ausgabe von F. B.
Konzept der Ungleichheit andere Aspekte beleuchtet. Jedenfalls: "Milieus" hat es wohl immer schon gegeben. Kaye, Oxford 1924.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 481 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 482
1751 1752
wohltätige Folgen haben. Die Französische Revolution lehrt den umgekehrten Fall: daß die besten politischen Gesellschaft" hatten wir schon erwähnt. Die ältere Unterscheidung von imperium und dominium hatte
Absichten in ihren Konsequenzen zu Mord und Terror führen. Die gesamte Maschinerie der Freiheitsrechte noch nicht nach Politik und Wirtschaft getrennt. Erst auf den Zusammenbruch der merkantilistischen
und ihrer Verfassungsgarantien baut noch auf der Annahme auf, daß es einen großen Bereich von Wirtschaftspolitik reagiert man mit Systemunterscheidungen, so in Frankreich mit der Unterscheidung
1753
Handlungsmöglichkeiten gebe, in dem der Einzelne für sich selbst nützlich und für andere folgenneutral (also force/propriété. Zugleich gewinnt die Eigentumsfrage in den verfassungspolitischen Diskussionen an
1754
paretooptimal) handeln oder notfalls vertraglichen Konsens finden könne. Aber zugleich lehrt die Bedeutung. Aber erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird die Unterscheidung von Staat und
Moralreflexion mit Hilfe der utilitaristischen Unterscheidung von Motiven und Folgen, daß es dabei zu Gesellschaft als Realitätsbeschreibung geläufig, und dies unabhängig von ihrer eigentümlichen Situierung in
inversen Beziehungen und damit zu Paradoxien des angegebenen Typs kommen kann. Auch wußte man der Hegelschen Theorie. Denn man will nun diskutieren, ob und wieweit der Staat gegenüber der Gesellschaft
schon, oder man hätte es zumindest wissen können, daß über Mehrheitsabstimmungen keine transitive und ihren Verteilungsproblemen eine besondere Funktion zu erfüllen habe, und für diesen Zweck muß die
Ordnung zu erreichen ist mit der Folge, daß im Laufe der Zeit Widersprüche auftreten, die sich nicht Unterscheidung aus dem Hegelschen Kontext ausgegliedert werden. Bewahrt wird dabei jedoch der
1747
moralisch codieren lassen. eigentümliche Staatsbezug der Unterscheidung selbst: Der Staat ist zwar nicht mehr das alles "aufhebende"
Das Resultat ist eine gut ausbalancierte Lösung, die unter dem Namen "Liberalismus" angeboten wird. Resultat der Geschichtsdialektik, aber er ist diejenige Seite der Unterscheidung, die die Unterscheidung selbst
Eine Lösung ohne Gesellschaftstheorie. Die Paradoxieprobleme werden auf das politische System und auf das zu treffen, zu respektieren, zu vollziehen hat; formal gesehen ein "re-entry" der Form in die Form im Sinne
Wirtschaftssystem verteilt. Für die Kontrolle der guten Absichten der Politiker ist die Verfassung des Staates von Spencer Brown.
1748
zuständig. Ihr Paradox ist die Fixierung von Unruhe. Für die Transformation von Eigennutz in Wohlstand Während, von unserem Gesellschaftsbegriff her gesehen, die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft
sorgt die "invisible hand" der Marktwirtschaft. Und da es nur diese beiden Paradoxien gibt, beschränkt sich eine gesellschaftsinterne Differenzierung beschreibt, geht es in der Unterscheidung von Individuum und
1755
die Reflexion auf das Verhältnis von "Staat" und "Gesellschaft" (= Wirtschaft). Die Moral bleibt der "Ethik" Gesellschaft — seit der Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert man auch: Individuum und Kollektiv — um
überlassen, die sich inzwischen als akademische Disziplin etabliert und sich auf eine Untersuchung der eine gesellschaftsexterne Differenzierung. Mit dieser Unterscheidung deutet man an, freilich ohne es
Begründung moralischer Urteile spezialisiert hat. zuzugeben und theoretisch zu rezipieren, daß die moderne Gesellschaft nicht aus Individuen besteht und sich
In dieser explizit als modern angebotenen Beschreibung ist keine Paradoxie zu sehen — aber auch die so auch nicht mehr beschreiben läßt, sondern den Individuen als körperlich-mentalen Existenzen eine externe
Einheit der Gesellschaft nicht. Man arbeitet im Gravitationsfeld eines Problems, das erfolgreich (und Stellung zuweisen muß. Auch das ist eine zwingende Konsequenz funktionaler Differenzierung; denn diese
folgenreich) invisibilisiert ist. Kein Wunder deshalb, daß im 17. und 18. Jahrhundert "Invisibilität" auch als Differenzierungsform schließt es aus, Individuen je konkret auf die einzelnen Funktionssysteme zu verteilen—
1749
Ordnungsmetapher auftaucht. Der "Fingerzeig Gottes" wird durch die "unsichtbare Hand" ersetzt. Das so wie auf Familien, Haushalte, Dörfer und Städte oder soziale Stände. Jedes Individuum muß nun an allen
1750
Paradox wird nicht erkannt — aber bezeichnet. Die pragmatische Lösung liegt im Angebot einer Vielzahl Funktionssystemen teilnehmen können; und infolgedessen muß das, was soziale Inklusion zu bedeuten hat,
1756
von Unterscheidungen, die eine Ordnung der Phänomene erlauben, aber nicht zulassen, daß die Frage nach der neu durchdacht und über neue Wertbegriffe wie Freiheit und Gleichheit neu geregelt werden. Was dabei
Einheit der Unterscheidung selbst gestellt wird. Und wenn man sie stellt, wie Hegel es tut, wird das Resultat aus den Individuen selbst wird, das eben ist das Thema, über das mit Hilfe der neuen Unterscheidung von
sofort wieder in neue Unterscheidungen dekomponiert — Geist und Materie, Theorie und Praxis usw. Individuum und Gesellschaft neu zu verhandeln ist.
Wir können das hier anfallende Material grob sichten und ordnen, indem wir es nach Sinndimensionen Diese Unterscheidung registriert eine neuartige, im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert errungene
1757
sortieren, nämlich nach der Unterscheidung von Sachdimension, Zeitdimension und Sozialdimension. Mit Höchstwertposition des Individuums (die, wie wir gesehen haben , auch "Subjekt" genannt wird). Diese
sachbezogenen Unterscheidungen erfaßt man Gegebenheiten, die man besonders auszeichnen möchte. Die Positionierung in einer die gesellschaftlich zirkulierenden Wertungen transzendierenden, ihnen vorgegebenen
nach Hegels geläufige, in die Verfassungen als Prämisse eingebaute Unterscheidung von "Staat und Stellung ist, wie gesagt, dadurch bedingt, daß der Umbau der Formen gesellschaftlicher Differenzierung die
traditionale Inklusionssemantik revolutioniert und dazu zwingt, das Individuum als gesellschaftsextern
anzusetzen. Als Externum kann es in gewißem Umfange die (ebenfalls so argumentierende) Religion
1758
1747
Vgl. Jean Antoine Nicolas de Caritat, Marquis de Condorcet, Essai sur l'application de l'analyse à la probabilité des verdrängen oder jedenfalls ihres Privilegs für Höchstwertbestimmungen berauben. So formiert sich die
décisions rendue à la pluralité des voix, Paris 1785, Nachdruck New York 1972. Heute bekannt als Arrow Theorem der
Nichtaggregierbarkeit von Präferenzen.
1748
Mit einer Formulierung von Schlegel a.a.O. S. 713. 1751
Für ihren heutigen Kurswert siehe den Sammelband des Verfassungsjuristen Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.),
1749
Eine ausreichende ideengeschichtliche Forschung fehlt. Vgl. aber mit Bezug auf die wirtschaftswissenschaftliche Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976. Vgl. auch Niklas Luhmann, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in
Literatur Raimund Ottow, Modelle der unsichtbaren Hand vor Adam Smith, Leviathan 19 (1991), S. 558-574. Der Verzicht ders., Soziologische Aufklärung Bd. 4., Opladen 1987, S. 67-73.
auf Spezialprovidenz im 17. Jahrhundert und die Unerkennbarkeitsthese des Puritanismus werden den Boden bereitet 1752
Vgl. z.B. Nicolaus Hieronymus Gundling, Jus naturae ac gentium, 3. Aufl. Halle-Magdeburg 1736, S. 40.
haben. Jedenfalls ist der immer wieder zitierte Adam Smith nicht der Erfinder. "Nature works by an invisible hand in all
1753
things", heißt es z.B. bei Joseph Glanvill, The Vanity of Dogmatizing, London 1661, Nachdruck Hove, Sussex, 1970, S. Siehe z.B. (Francois Véron de) Forbonnais, Principes et observations oeconomiques, Amsterdam 1767, S. 1 f.
180. Und überhaupt hat man im Umkreis der Royal Society of London gegen eine voreilige Erklärung der Phänomene als 1754
Hierzu Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Eigentum und Verfassung: Zur Eigentumsdiskussion im ausgehenden 18. Jahrhundert,
Fingerzeig Gottes, bezogen auf Probleme der Erlösung opponiert. Im 18. Jahrhundert stellt sich dann die gesamte Göttingen 1972.
Kosmologie auf Bewunderung einer unsichtbaren Ordnung als Grund der sichtbaren Unordnung um. Die Gesetze Newtons
1755
sind ja auch "unsichtbar". "Die Unordnung in der Welt, ist nur scheinbar, und wo sie am größten zu sein scheint, da ist die Die semantische Neufassung setzt sich etwa ab 1850 durch und ist anscheinend dadurch motiviert, daß die Begriffe
wahre Ordnung noch weit herrlicher, nur aber um so mehr verborgen", liest man bei Johann Heinrich Lambert, "Individualismus" und "Sozialismus", die aus den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts stammen, inzwischen ideologisch
Cosmologische Briefe über die Einrichtung des Weltbaues, Augsburg 1761, S. 116. Für Einzelaspekte des Themas vgl. besetzt sind — ein gutes Beispiel dafür, daß die Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft beobachtet wird und
auch Edna Ullman-Margalit, Invisible-Hand Explanations, Synthese 39 (1978), S. 263-291, Formen der Begründung entsprechende Reaktionen auslöst. Die ältere Terminologie hatte nur kollektiv/distributiv unterschieden und damit
betreffend, und historisch Stephen D. Benin, The "Cunning of God" and Divine Accomodation, Journal of the History of Verteilungsprobleme bzw. Gerechtigkeitsprobleme angesprochen.
Ideas 45 (1984), S. 179-191; Alfonso M. Iacono, Adam Smith e la metafora della "mano invisibile", Theoria 5 (1985), S. 1756
Hierzu ausführlicher: Niklas Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in ders., Gesellschaftsstruktur und
77-94.
Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 149-258.
1750
Vgl. hierzu auch Jean-Pierre Dupuy, Ordres et Désordres: Enquête sur un nouveau paradigme, Paris 1982; ders., 1757
oben Abschnitt .....
L'auto-organisation du social dans la pensée libérale et économique, in: Paul Dumouchel / Jean-Pierre Dupuy (Hrsg.),
1758
L'Auto-organisation: De la physique au politique, Paris 1983, S. 377-384; ders., Shaking the Invisible Hand, in: Paisley Man beachte das merkwürdige Amalgam von religiöser und individuumbezogener Semantik, das sich, speziell in
Livingston (Hrsg.), Disorder and Order: Proceedings of the Stanford International Conference (Sept. 14-16, 1981). Saratoga Deutschland, um 1800 ausbreitet. Man versucht für einen historischen Augenblick des Übergangs, zumindest in der
Cal. 1984, S. 129-144. Metaphorik noch die Einheit der maßgebenden externen Referenz festzuhalten. Dasselbe Problem haben wir heute, wenn
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 483 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 484
1760
Referenz auf das Individuum, die dann nach einem Gegenbegriff suchen muß und, seitdem in den 20er Jahren Gegenkonzept kann sich dann nur der unakzeptable "Anarchismus" formieren. Kein Zufall denn, daß man
des 19. Jahrhunderts der Terminus "Individualismus" aufkommt, auch als Einseitigkeit der erst im 19. Jahrhundert diese Idee als nicht ganz abwegig aufgreifen und sogar sich selbst (zuerst wohl
innergesellschaftlichen Option kommuniziert werden kann. Seinen Gegenbegriff findet das Individuum jetzt Proudhon) als "Anarchist" bezeichenen kann. Man sagt damit, daß Hierarchie als Form in der modernen
mit Hilfe der Freudschen Theorie des Unbewußten in sich selbst, und das erst vollendet die Semantik der Gesellschaft entbehrlich sei; aber man kann noch nicht sagen, durch welche andere Form sie ersetzt werden
Individualität. Das Individuum kann als Unterschied zu sich selbst begriffen werden — und den Begriff der könnte.
Gesellschaft der Ideologisierung überlassen. Auch in der Zeitdimension zeichnen sich schon in der Frühmoderne markante Veränderungen der Welt-
Eine gewisse Brücke bildet für biologische und für demographische Zwecke der Begriff der Population und Gesellschaftsbeschreibung ab. Darauf hatten wir im Abschnitt über Temporalisierungen (oben unter ...)
— schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblich, aber seit Darwin dann populär. Er ersetzt bereits hingewiesen. In der alten Welt war Zeit in der Beobachtung von Bewegung am Unterschied von
essentialistische Vorstellungen über die Natur des Menschen (oder anderer Lebewesen) durch einen nach bewegt/unbewegt und im Anschluß daran durch die Unterscheidung von Zeit (tempus) und Ewigkeit
außen abgrenzbaren Bestand, der zugleich intern erhebliche Unterschiede, ja letztlich volle Individualität jedes (aeternitas) charakterisiert und damit auf Religion bezogen worden. Im Übergang zur Neuzeit gewinnt das
einzelnen Exemplars zuläßt. Andererseits löst dieser Begriff natürlich das nicht ein, was auf Problem der Zeitlichkeit an Relevanz; aber man ordnet selbst zeitliche Linearisierungen noch dem Schema
subjekttheoretischer Grundlage im Namen des Individuums an Selbstverwirklichungsansprüchen formulierbar Zeit/Ewigkeit zu. Vor dem Tode, lehrt der Jesuitenorden, hat man Zeit, sein Seelenheil zu verdienen. Dann
ist. Dadurch kommt es zu naturwissenschaftlichen und zu geisteswissenschaftlichen Varianten ein und setzt er Tod (als Ereignis!) die Differenz. Nach dem Tod beginnt die Ewigkeit, und dann bleibt einem nur noch
1761
desselben Interesses, nämlich der Frage nach der Differenz von Individuum und Gesellschaft. die ewige Reue. Zugleich beginnt die Entdeckung der Mode (la mode im Unterschied zu le mode nimmt
Weiter wäre die Unterscheidung natürlich/künstlich (artifiziell) zu nennen. Sie reagiert auf die einen zeitlich begrenzten Sinn an) die Dauergeltung der Formen und damit auch die Hierarchisierbarkeit des
1762
Erfahrung, daß Einheiten (zum Beispiel die Einheit einer Nation) sich immer weniger von selbst verstehen, Menschen zu untergraben. Geschick im Hinblick auf Zeitumstände wird wichtiger als Position. Die
sondern erst noch hergestellt werden müssen. Oder man überläßt sie der Evolution, wobei unklar bleibt, ob Formendiskussion läuft zwar noch eingespannt in die Unterscheidung geistlich/weltlich; aber beide Seiten
dies ein natürliches oder ein künstliches, jedenfalls aber ein sich nicht auf den Ursprung stützendes Verfahren dieser Unterscheidung können die jeweils andere umfassen: Devotion wird selbst zur Mode und Mode als
ist. Es gibt, wie schon zu Zeiten der Griechen, religiöse bzw. moralische Vorbehalte gegen das Artifizielle, solche wird zur Sünde, weil sie von dem ablenkt, worauf es im Leben eigentlich ankommt: dem Seelenheil.
aber die Frage, was die Einheit dieser Unterscheidung ist und warum sie relevant ist, wird nicht gestellt. Man Das 18. Jahrhundert leitet einen in vielen Hinsichten grundlegenden Wandel ein. Die neue Gesellschaft
begnügt sich damit, ihre eine Seite skeptisch bzw. ablehnend zu beurteilen. begreift sich nun als unabhängig von ihren Anfängen, als allmählich mehr und mehr zivilisiert (zum Beispiel
Schließlich sei noch die von Ferdinand Toennies vorgeschlagene Unterscheidung von Gemeinschaft und dadurch, daß man Gewalt in Recht transformiert und Frauen besser berücksichtigt). Und an die Stelle der
1759
Gesellschaft genannt. Mit "Gemeinschaft" wird an ein Personen einbeziehendes soziales System erinnert, Geschichten, die man erzählt hatte, um Beispiele für gute und schlechte Lebensführung zu geben, tritt "die
an Nestwärme und an Ländlichkeit, und "Gesellschaft" besagt, daß solche Verhältnisse in der Moderne wie Geschichte", die zur Ablösung der Gegenwart von der Vergangenheit erfunden ist.
auf verlorenem Posten überleben, aber daß sie in einer formalen Soziologie gleichwohl zu berücksichtigen Dies hängt direkt mit dem bereits behandelten Umbau der gesellschaftlichen Zeitbeschreibung
seien. Die Unterscheidung reagiert auch auf den Verlust des Fortschrittsvertrauens in der Manier der frühen zusammen. Wenn an der Gegenwart die ereignisförmige Aktualität und damit die Erzeugung einer Differenz
Soziologie, nämlich strukturell und hier durch eine Typenunterscheidung. Implizit meint die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft betont wird, braucht die Gesellschaft in anderer Weise als zuvor ein
jedoch eine historische Differenz, nämlich die von traditionalen und modernen Gesellschaftsstruktur, deren Gedächtnis. Oder anders gesagt: das schon Bekannte, auf das man sich früher verlassen hatte, muß auf die
gegenwärtige Gemengelage zum Gegenstand der Analyse wird. Differenz von Vergangenheit und Zukunft umgerechnet werden. Die Vertrautheit der Sachwelt, in der das
Die Zusammenstellung dieser drei Unterscheidungen, die zur "sachlichen" Beschreibung der modernen Gedächtnis unbemerkt und folglich unkritisch wirkt (so wie jeder weiß, daß Blumen in eine Vase gehören,
Gesellschaft beitragen, läßt einiges erkennen. Offenbar fehlt es in allen Fällen an einem brauchbaren obwohl er nicht weiß, wann und wie er das gelernt hat), muß temporalisiert werden, damit man prüfen kann,
(hinreichend konkretisierbaren) Begriff für das, was dem Unterschiedenen gemeinsam ist oder was die ob eine Reaktualisierung angebracht ist oder nicht. Und so entsteht Geschichte im Sinne einer nicht mehr
Unterscheidung selbst vor anderen Unterscheidungen auszeichnet. (Und man hätte das merken können, hätte gesicherten Aktualität, die dann fachlich erforscht, nostalgisch gepflegt, nationalpolitisch interpretiert werden
man Hegel konsultiert). Statt dessen wird das, worauf es ankommt, nämlich die moderne Gesellschaft, auf oder auch die verzweifelte Suche nach der verlorenen Zeit auslösen kann.
jeweils eine Seite der Unterscheidung gebracht und durch den Gegensatz zur jeweils anderen unterschiedlich Das macht einen neuen Sinn des Begriffs der "Revolution" verständlich, der erst, gleichsam als
1763
eingefärbt. So entsteht eine Mehrzahl von Gesellschaftsbegriffen je nach dem, wovon Gesellschaft Selbstbezeichnung der Geschehnisse, während der französischen Revolution entsteht. Das Wort war seit
unterschieden wird. Man kann auf diese Weise die Komplexität der neuen Lage registrieren, ohne über einen langem geläufig gewesen — teils zur Bezeichnung einer (beabsichtigten) Rückkehr zur guten alten Ordnung,
einheitlichen Begriff zu verfügen, der sie direkt bezeichnet. Die Gesellschaftstheorie kommt ohne einen Begriff teils zur Bezeichnung eines gewaltsamen Umsturzes. Jetzt wird Revolution zu einer Zäsur, die die alte und die
des umfassenden Systems der Gesellschaft aus. neue Gesellschaftsordnung trennt; also zu einer Form von Unterscheidung, die eine Selbstbezeichnung der
Wahrscheinlich hängt dies Unterlassen der Einheitsfrage damit zusammen, daß man selbst im 19. modernen Gesellschaft ermöglicht, ohne daß man dabei sachliche Sinngrenzen (etwa: System/Umwelt-
Jahrhundert Ordnung noch immer nur hierarchisch denken, dies aber nicht mehr überzeugend darstellen kann.
Die Einheit wird von oben garantiert — sei es durch die unsichtbare Hand, sei es durch den Staat. Als 1760
Einen guten Überblick vermittelt der entsprechende Artikel von U. Dierse im Historischen Wörterbuch der Philosophie
Bd. 1, Basel 1971, Sp. 267-294.
1761
Vgl. Jean Eusebe Nierembert, La balance du temps et de l'éternité, frz. Übersetzung Le Mans 1676.
Emanzipations- und Partizipationsterminologien mit der neuen externen Höchstwertvorgabe, mit dem Ökologieproblem
1762
amalgamiert werden. Vgl. hierzu Ulrich Schulz-Buschhaus, La Bruyère und die Historizität der Moral — Bemerkungen zu De la Mode 16,
1759 Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 13 (1989), S. 179-191, mit dem wichtigen Hinweis auf die
Siehe Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft: Abhandlung des Communismus und des Socialismus als
parallellaufende Zersetzung durch die Berufsrollenspezialisierung, also durch sachliche Komplexität.
empirische Culturformen, Leipzig 1887 (spätere Auflagen mit dem Untertitel Grundbegriffe der reinen Soziologie). Vgl.
1763
ferner René König, Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies, Kölner Zeitschrift für Soziologie Siehe dazu Reinhart Koselleck et al., Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in: Geschichtliche Grundbegriffe:
und Sozialpsychologie 7 (1955), S. 348-420. Vermittelt (und theoretisch verfremdet) durch die Parsonssche Begrifflichkeit Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 653-788 (653, 725 ff.); Mona
der "pattern variables" hat diese Unterscheidung noch die Entwicklungssoziologie und Modernisierungsforschung der 50er Ozouf, Révolution, in: François Furet / Mona Ozouf (Hrsg.), Dictionnaire critique de la révolution francaise, Paris 1988, S.
Jahre unseres Jahrhunderts beeinflußt, und ist erst in den letzten beiden Jahrzehnten in den Sog der Kritik geraten, die 847-858. Die These einer neuen Sinngebung während der französischen Revolution ist vor allem deshalb umstritten, weil
allgemein an der simplen Kontrastierung von traditionalen und modernen Gesellschaften geübt wird. Noch heute dient die in der Diskussion nicht klargestellt ist, worin eigentlich der neue Sinn besteht; denn man muß natürlich davon ausgehen,
Unterscheidung aber als Folie für historische Rückblicke. Siehe z.B. Lars Clausen / C. Schlüter, Hundert Jahre daß sowohl der Zeitbezug als auch das Moment der Gewaltsamkeit längst vorher geläufig waren, und daß es mindestens
"Gemeinschaft und Gesellschaft": Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen 1991. seit der Glorious Revolution auch nicht mehr nur um eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen gegangen war.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 485 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 486

Beziehungen) definieren müßte. Da der Einschnitt historisch deutlich markiert und mit konkreten Erfahrungen zugleich wächst der Entscheidungsdruck in der Gegenwart, denn nur in der Gegenwart, nur im Kontext einer
unwiderruflich besetzt ist, kann man die Ausarbeitung der Folgen wiederum der Geschichte überlassen. gleichzeitig gegebenen Welt, ist man entscheidungs- und handlungsfähig. Entsprechend scheint die Zeit
Offenbar kommt es darauf an, das Vergangene als Bezugspunkt für Externalisierungen zu gewinnen. schneller zu laufen. Wie weit die Entscheidungsorganisationen, vor allem die des politischen Systems, diesen
Man definiert sich durch ein "nicht mehr so wie ..." Eben deshalb muß aber das Vergangene präsentierbar Druck und das damit wachsende Mißtrauen auffangen können, ist eines der wichtigsten Gegenwartsprobleme.
bleiben und wie nie zuvor nachgearbeitet werden. Eine solche Anwesenheit des Abwesenden kann durch Im Vergleich zur alteuropäischen Zeitsemantik hat sich damit die Grundunterscheidung geändert, die die
Schrift hergestellt und durch Buchdruck als Universalpräsenz etabliert werden. Wenn man aber in die Zeitdimension bestimmt und damit festlegt, wie die Paradoxie der Zeit erscheinen und aufgelöst werden kann.
Geschichte hinein externalisieren und die Gegenwart mit dem Paradigma (oder exemplum) "Revolution" als Wenn es um die Unterscheidung Zeit/Ewigkeit geht, liegt die Paradoxie (sieht man einmal von den
Zäsur behandeln kann, läßt sich die Unbestimmtheit der Zukunft aushalten — jedenfalls eine Zeit lang. Sie Zenonischen Bewegungsparadoxien ab) auf der einen Seite der Unterscheidung: in der Ewigkeit, die Zeit und
indiziert nicht zugleich schon: Unbestimmtheit der Welt, sondern nur: Offenheit der Zustände, die sich im doch keine Zeit ist. Hier kann sie mit dem Gottesbegriff absorbiert werden. Die Unterscheidung
realen Fortschritt der Menschheit ergeben werden. Vergangenheit/Zukunft wird paradox, wenn man bedenkt, daß Vergangenheit und Zukunft immer gleichzeitig
Die Geschichte enthält ihre eigene Beschreibung, die ihrerseits dem "Zeitgeist" entspricht und mit dem gegeben sind, nämlich als Horizonte der Gegenwart. Die Gegenwart ist die Einheit der Differenz von
Geschichtslauf variiert, — der wohl erste Fall einer Beschreibung von Selbstbeschreibungen, die sich selbst in Vergangenheit und Zukunft. Sie katapultiert sich als Zeit des Beobachters der Zeit selbst aus der Zeit hinaus.
1764 1765
das Beschriebene einschließt. Dann kann auch von "Gesellschaftsgeschichte" die Rede sein. Diese Sie ist die Zeit, in der man keine Zeit hat, weil alles, was man als Zeit erfassen kann, schon vergangen oder
1766
Geschichte wird nur als Geschichte struktureller Veränderungen aufgefaßt. Sie wird "gefüllt" mit noch zukünftig ist. Diese zeitlose "Gesamtzeitlichkeit" der Gegenwart tritt im modernen Denken an die Stelle
1767 1771
Tendenzangaben (Fortschritt) und mit Epocheneinteilungen der verschiedensten Art, wobei die letzte der Ewigkeit. Und sie wird entparadoxiert, indem man zwischen der gegenwärtigen Vergangenheit bzw.
Epoche durch ihren Unterschied zu den vorangegangenen die moderne Gesellschaft charakterisiert. Die Zukunft und den vergangenen bzw. künftigen Gegenwarten unterscheidet, die Zeitbegrifflichkeit also doppelt
Geschichtswissenschaft konsolidiert sich folglich auf der Ebene einer Beobachtung zweiter Ordnung und fragt modalisiert. Genau das leistet, auf konkreteren Forschungsebenen, die Historisierung des
mehr nach dem "Wie" der Geschichtsschreibung, also nach den Methoden, als nach dem Was, dem Geschichtsbewußtseins.
1768
Sachbegriff der Geschichte. Schließlich löst die Soziologie die zunehmenden Schwierigkeiten der In der Sozialdimension schließlich geht es um die Frage, wie die Gesellschaft im Hinblick auf die
Zuordnung und der Beweisführung durch die extreme Reduktion auf den Unterschied von traditionalen und Formdifferenz von Ego und Alter als Einheit dargestellt werden kann. Der Beobachter erster Ordnung sieht
1769
modernen Gesellschaften, nur um alsbald mit dieser Unterscheidung zu scheitern. Die Ablehnung des die Unterschiede der Menschen und ihrer Schicksale und fragt nach Gerechtigkeit. Auf der Ebene zweiter
Bestimmtseins durch Herkunft (die mit der Ablehnung ständischer Ordnung einhergeht), führt außerdem zu Ordnung kann man beobachten und beschreiben, daß und wie die Gesellschaft selbst reguliert, welche
1770
einer Steigerung des Selbstdeutungsbedarfs der Moderne und im Ergebnis dann zu der Unmöglichkeit, sich Positionen sie Personen zuweist und wie sie dies rechtfertigt. Wir wollen im Hinblick darauf von
1772
darüber zu einigen: zu ideologischen Kontroversen. Inklusionsprinzipien sprechen.
Hinter diese am Geschichtsbegriff vollzogenen Veränderungen führen die Veränderungen im Begreifen Die alte Gesellschaft hatte Inklusion durch Zuweisung fester Plätze an Familien oder Korporationen
der Zeit selbst zurück, jedenfalls in der Literatur. Sie sind von einer sehr viel stärker einschneidenden (und damit indirekt: an Personen) reguliert. Diese einfache Lösung muß im Übergang zu funktionaler
Bedeutung. Mehr und mehr wird die Zeit heute nur noch durch die Differenz von Vergangenheit und Zukunft Differenzierung aufgegeben werden, denn man kann Personen nicht auf die Funktionssysteme aufteilen. Statt
beschrieben. Das führt dazu, daß die Gesellschaft sich zwischen einer nicht mehr gültigen, nicht mehr dessen sucht und findet man neue Inklusionsprinzipien, die die Namen Freiheit und Gleichheit erhalten und die
verbindlichen Vergangenheit und einer noch nicht bestimmten Zukunft findet — wie ein Jugendlicher, dem das Form von Bürger- oder sogar Menschenrechten annehmen. Freiheit heißt: daß die Zuordnung von Personen
Elternhaus keine Sicherheit und keine Maßstäbe mehr bietet und der Beruf noch nicht. Nur solange die (nicht mehr: Familien) zur Gesellschaft nicht mehr gesellschaftsstrukturell determiniert ist, sondern auf einer
moderne Gesellschaft noch nicht voll erkennbar war, konnte man einen Blankoscheck auf die Zukunft Kombination von Selbstselektion und Fremdselektion beruht. Gleichheit heißt: daß keine anderen
akzeptieren. Gegenwärtig scheint dies sich zu ändern. Die Zukunftsperspektiven verdunkeln sich, und damit Inklusionsprinzipien anerkannt werden, als die, die das Funktionssystem selber festlegt. Anders gesagt: Nur
Funktionssysteme haben das Recht, aus systeminternen (und insofern für sie rationalen) Gründen
1764
Vgl. dazu den Beitrag von Reinhart Koselleck zur Entstehung des modernen Geschichtsbegriffe als eines
Ungleichheiten zu produzieren. Alle Vorgaben müssen unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit, also
"Kollektivsingulars" im Wörterbuch Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 647-717. strukturlos, an das System herangetragen werden, also zum Beispiel: Gleichheit aller vor dem Recht mit
1765 Ausnahme der im Rechtssystem selbst begründeten Unterschiede. Die latente Funktion dieser Menschenrechte
Aber keineswegs bei Max Weber, wie Soziologen oft vermuten. Siehe z.B. Louis G.A. Vicomte de Bonald, De la
manière d'écrire l'histoire (1807), zit. nach Œuvres complètes Bd. IX, Paris 1856, Nachdruck Genf 1982, S. 78-122 (91):
liegt also gerade nicht in einer Honorierung und Ratifikation von Vorgaben, die mit der "Natur des Menschen"
"... ce n'est que dans l'ensemble ou la généralité même des faits qu'on peut étudier l'histoire de la société". gegeben sind. Sie liegt vielmehr darin, daß in der modernen Gesellschaft prinzipiell nicht vorausgesagt werden
1766 kann, in welchen Sozialkontexten wer was zu sagen oder sonstwie beizutragen hat. Sie liegt im Offenhalten
Dies ist neben anderen "temporal distortions" auch Anthony Giddens aufgefallen. Siehe: The Constitution of Society:
Outline of the Theory of Structuration, Berkeley Cal. 1984, S. 236 ff. (242).
der Zukunft gegen alle Vorwegfestlegungen, die sich aus einer Einteilung oder Klassifikation von Menschen
1767
(zum Beispiel: in höhere oder niedrigere) und vor allem aus politischen Sortierungen ergeben könnten.
Fortschritt ist freilich immer schon als bilanzierter Fortschritt mit hohen Kosten gesehen worden. Von Naivität in Es fällt auf, daß die Inklusionsprinzipien Freiheit und Gleichheit ihre eigene Form nicht verraten. Zwar
dieser Hinsicht kann gerade für die bürgerlichen Protagonisten des Fortschritts keine Rede sein. Vgl. etwa Jean Blondel,
Des hommes tels qu'ils sont et doivent être: Ouvrage de sentiment, London - Paris 1758; Simon-Nicolas-Henri Linguet,
kann man rasch zwischen Freiheit und Unfreiheit unterscheiden und ebenso rasch zwischen Gleichheit und
Théorie des loix civiles, ou Principes fondamentaux de la société, 2. Bde., London 1767; Victor de Riqueti, Marquis de Ungleichheit. Aber auch dieser Ebene der Abstraktion realisiert die Gesellschaft immer beide Seiten der
Mirabeau, La Science ou les droits et les devoirs de l'homme, Lausanne 1774 (S. XXI: "dégradation necessairement Unterscheidung zugleich. Konkret muß dann immer noch geklärt werden, gegen welche Art Unfreiheit Freiheit
résultant des progrès mêmes de notre perfectibilité possible"). eingeklagt werden kann und gegen welche Art Ungleichheit Gleichheit. Die Inklusionsprinzipien sind, vor
1768
Gegen den Verlust der Frage, "Was ist Geschichte?" wendet sich mit soziologischen Theoriemitteln Friedrich H. allem durch die Französische Revolution, als eine Art Blankoscheck auf die Zukunft proklamiert worden. Sie
Tenbruck, Geschichte und Gesellschaft, Berlin 1986 - nur um dann seinerseits auf die Frage, "Was ist Gesellschaft?", zu
verzichten.
1769 1771
Trotz aller fachhistorischen Kritik sind Epocheneinteilungen in der Soziologie nicht ganz ausgestorben. Und wie sonst Das ist allerdings in der Literatur über Zeit noch kaum untersucht worden. Vgl. hierzu Ingrid Oesterle, Der
sollte man auch Trendangaben empirisch belegen können. Siehe z.B. Darcy Ribeiro, The Civilizational Process, "Führungswechsel der Zeithorizonte" in der deutschen Literatur, in: Dirk Grathoff (Hrsg.), Studien zur Ästhetik und
Washington 1968; Wolfgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979. Literaturgeschichte der Kunstperiode, Frankfurt 1985, S. 11-75. Vgl. auch Armin Nassehi, Zeit und Gesellschaft: Auf dem
1770 Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, Opladen 1993, insb. S. 233 ff.
Vgl. Horst Folkers, Verabschiedete Vergangenheit: Ein Beitrag zur unaufhörlichen Selbstdeutung der Moderne, in:
1772
Dirk Baecker et al. (Hrsg.), Theorie als Passion, Frankfurt 1987, S. 46-83. Vgl. auch oben Kap. 4, .....
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 487 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 488
1776
haben sich so natürlich nicht realisieren lassen. Ein in dieser Form unlösbares Problem wurde nur aus der daher zwischen konkreter Polemik und Reflexion. Den Progressiven genügt eine Idee; und sie sondern
Gegenwart in die Zukunft verschoben. Die Konkretisierung mußte dann durch Ideen erfolgen, die für diese Theorie nur ab, um sich zu erklären, weshalb die Idee bisher nicht zum Zuge gekommen ist.
Funktion den Namen Ideologien erhalten haben. Da aber die Prinzipien den Konkretisierungsschritt nicht Diese Positionen haben unterschiedliche Affinitäten zu anderen Ideenkomplexen. Nur der Konservative
bestimmen können, gibt es mehr als nur eine Möglichkeit ihrer Ideologisierung. zum Beispiel kann "organisch" denken oder sich Skepsis in Bezug auf den Menschen leisten. Vor allem aber
Neben der Verzeitlichung erwähnt das Programm des Wörterbuchs Geschichtliche Grundbegriffe die eignet sich dieser Oppositionsstil dazu, Zeit je verschieden zu sehen. Entweder ergibt sich die Zukunft aus der
"Ideologisierbarkeit" vieler Ausdrücke als eines der Merkmale jener semantischen Wende, in der die Gegenwart und der Kontrast von Vergangenheit und Zukunft sollte eher abgeschwächt werden (ohne daß die
1773
neuzeitliche Gesellschaft sich selbst entdeckt. Auch damit ist die Sozialdimension angesprochen, denn Vergangenheit deshalb einen Selbstwert annehmen oder schlicht kontinuiert werden müßte). Oder man muß
ideologisch denken jeweils die anderen. Die Voraussetzungen dafür liegen im oben bereits behandelten den Kontrast verschärfen und dafür sorgen, daß die Zukunft beseitigen wird, was als Defekt einer obsoleten
Verzicht auf naturale Vorgaben und in deren Ablösung durch eine selbstreferenzfähige Semantik. Der Geschichte, vor allem an Ungleichheit, in die Gegenwart hineinreicht.
Sachverhalt war längst vor der Erfindung des Ideologiebegriffs geläufig. "As no party, in the present age", Der heimliche Paradoxiebezug und der offengelegte Geschichtsbezug führen diese Form der
schreibt Hume 1748, "can well support itself without a philosophical or speculative system of principles, Ideologiebildung zu einem Erfolg, der es ermöglicht, sich die Frage nach der Einheit der kontrovers beurteilten
annexed to its political or practical one; we accordingly find, that each of the factions, into which this nation is Angelegenheit zu ersparen. Eben das wird nun, je nach Standpunkt und politischem Engagement,
divided, has reared up a fabric of the former kind, in order to protect and cover that scheme of actions, which unterschiedlich gesehen. Die Ausmalung der vorgegebenen Formen verstärkt dann nur noch den Eindruck,
1774
it pursues." Die Prinzipien und Ideen differieren nach Maßgabe sozialpraktischer Differenzen; und der daß es sich um "Weltanschauungen" handelte, über die man nicht weiter verhandeln kann. Gleichzeitig beginnt
Ideologiebegriff im Marxschen Verständnis fügt dem nur die Einsicht hinzu, daß auch diese Differenzen aus der Wertbegriff, der dies nur bestätigt, seine Karriere. Er gibt keine Instruktion, aber er trägt dem Bedürfnis
der Sozialordnung heraus erklärt werden können. Rechnung, oberhalb aller Meinungskontingenzen noch eine Ebene unverletztlicher Geltung zu wissen. Und
In einem sehr anspruchslosen Verständnis kann man die Unterscheidung verschiedener Ideologien wieder ist eine Unterscheidung zur Hand, deren Einheit nicht thematisiert werden kann: die Unterscheidung
benutzen, um darzustellen, daß die Französische Revolution eine Option eröffnet hatte: dafür oder dagegen. Es von "Sein" und "Geltung".
gibt folglich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts konstitutionelle und restaurative Bewegungen. Will man genauer wissen, wie damit über die Sozialdimension der Beschreibung von Gesellschaft
Dann kommt, bezogen auf die Folgen der Industrialisierung, die Kontroverse über Liberalismus und entschieden ist, kann man sehr leicht sehen, daß, analog zur zeitdimensionalen Verschärfung des
Sozialismus hinzu. Der Ideologiebegriff bietet eine Form für solche Unterscheidungen. Die Teilnehmer, also Unterschiedes von Vergangenheit und Zukunft, auch die Unterscheidung verschärft wird, die die
die Beobachter der Verhältnisse, reagieren auf diese Weise kontrovers auf Strukturprobleme der modernen Sozialdimension definiert, nämlich die Unterscheidung von Ego und Alter. Etwas deutlichere Anhaltspunkte
Gesellschaft. Als Beobachter dieser Beobachter sieht man, daß damit unterschiedliche Strategien für die gibt der Ideologiebegriff selbst. Nachdem der Begriff Ideologie zunächst nur die Wissenschaft von der
1777
Auflösung der nur noch als Paradoxie erfaßbaren Einheit realisiert werden. Man kann die Gesellschaft Steuerung des empirischen Verhaltens durch Ideen bezeichnet hatte , (also etwa das, was wir "Semantik"
paradox definieren: sie ist (noch) nicht, was sie ist. Sie ist aber schon, was sie noch nicht ist. Sie befindet sich nennen), gewinnt er mit Marx einen neuen Sinn. Es greift zu kurz, wenn man nur die polemische und
auf der Bahn des Fortschritts, den man durch Liberalisierung unterstützen muß; oder sie sammelt bereits die pejorative Komponente bemerkt. Es geht nicht nur und nicht primär um eine Beschimpfung, auch wenn Marx
Kräfte für eine Revolution, indem sie immer tiefer in die dafür notwendige Krise gerät. Die Gegenwart der selbst sich oft im Ton vergreift. Entscheidend ist die Verlagerung des Problems der gesellschaftlichen
1775
Zukunft dient als noch unbestimmter Ort für die Einlösung des Rationalitätsversprechens. Dann sucht man Orientierung auf eine Ebene zweiter Ordnung und der Verzicht auf eine konsentierte Realität. Ein Beobachter
Ideen zu verwirklichen und verhält sich progressiv. Sowohl Planung als auch Utopie bilden hier beobachtet einen anderen Beobachter im Hinblick auf das, was dieser nicht sehen kann. Ideologien sind, in
Gegenbestimmtheiten, die eine Flucht in eine noch unbestimmte Zukunft ermöglichen, und anderen Worten, Texte, die etwas enthalten, was sie nicht enthalten, nämlich eine Auskunft über ihre
"Demokratisierung" verspricht, daß man sich, wenn die Zeit soweit ist, wird einigen können. Oder man löst die Verfasser und Benutzer, und in der üblichen Interpretation besagt dies: eine Auskunft über deren
1778
Paradoxie in die Gegenrichtung auf. Man definiert sie zunächst als Tautologie (das heißt: mit einer Interessen. Es geht, mit anderen Worten, um den blinden Fleck, um das Problem der Latenz. Die
Unterscheidung, die behauptet, keine zu sein) und kommt dann zu der Feststellung: die Gesellschaft ist, was Kapitalisten arbeiten nach Marx an ihren eigenen Untergang, weil sie genau dies nicht wissen und nicht
1779
sie ist. Man kann nichts machen, aber man kann Unglücke verhindern und Abwegen vorbeugen. So wird man korrigieren können.
konservativ.
An den Programmproblemen der Konservativen läßt sich gut ablesen, daß die Historisierung der
gesellschaftlichen Zeit ihre Position zwar ermöglicht, sie zugleich aber benachteiligt. Die Zukunft hat als
Moment einer Unterscheidung ja nur Sinn, wenn sie anders ist als die Vergangenheit. Das können die
Konservativen aber nicht wollen. Ihnen wäre das liebste, wenn alles so bliebe, wie es geworden ist, und man
1776
dies gar nicht erst zu fordern brauchte. Die Progressiven können sich eher als von der Zeit begünstigt Heute haben diese Bedingungen sich in sehr kennzeichnender Weise umgekehrt. Die Progressiven sind ihrerseits
verstehen. Andererseits haben nur die Konservativen die Chance einer höheren Reflexionskultur, weil sich nur ideenkonservativ geworden, und sie selbst oszillieren jetzt, da sie über keine Gesellschaftstheorie mehr verfügen, zwischen
für sie das Problem stellt, inwiefern die Gesellschaft in allen Veränderungen dieselbe bleibt. Sie oszillieren Reflexion und Polemik. Der sogenannten "Neokonservativismus" ist ihre Erfindung, nicht die Selbstbezeichnung einer
anderen Gruppe.
1777
So beim Erfinder des Begriffs: Antoine Louis Claude Destutt de Tracy, Elémens d'idéologie, 5 Bde. Paris 1801-1815.
"Ideen" sind hier als sensualisiert begriffene Vorstellungen verstanden.
1778
Seit dieser Entwicklung diskutiert man, und wie es scheint: ausweglos, wie dieser Interessenbezug "wissenschaftlich"
nachgewiesen werden könne, wenn doch keine Aussicht besteht, darüber allgemeine Einigung auch mit den beobachteten
1773 Interessenten erreichen zu können. Vgl. für eine Ausdehnung dieses Problems auf die Wissenschaft selbst Barry Barnes,
Vgl. die Einleitung von Reinhart Koselleck, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII-XXVII
Interests and the Growth of Knowledge, London 1977, insb. S. 27 ff. Es scheint mithin, daß der Ideologiebegriff schon aus
(XVII f.).
erkenntnistheoretischen Gründen zur Parteilichkeit zwingt.
1774
So David Hume, Of the Original Contract, zit. nach Essays Moral, Political, and Literary. The Philosophical Works Bd. 1779
Man mag sich fragen, wie Marx angesichts dieser Theorie sich selbst als Publizist eingeschätzt hat. Können die Marx
3 London 1882, Nachdruck Aalen 1964, S. 443-460 (443).
lesenden Kapitalisten zumindest lernen, daß sie nicht sehen können, was sie nicht sehen können? Und was würde aus einer
1775
Carlo Mongardini, Dimensionen der Zeit in der Soziologie, in: Friedrich Fürstenberg / Ingo Mörth (Hrsg.), Zeit als rekursiven Vernetzung des Sehens des Nichtsehens folgen? Marx selbst scheint jedoch, wie schon Hegel, nicht in der Lage
Strukturelement von Lebenswelt und Gesellschaft, Linz 1986, S. 37-58 (51), nennt das die "magische Rückführung der gewesen zu sein, die eigene Theorie in der eigenen Theorie zu berücksichtigen — es sei denn als wissenschaftlichen
zunehmenden Zersplitterung des Sozialen in die homogene Einheit unseres Rationalitätsmodells". Beweis für die Aussicht auf, und Klärung der Bedingungen für, die vorausgesagte Revolution.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 489 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 490

Mit Vorläufern im Roman des 18. und 19. Jahrhunderts, ferner in einer Literatur, die man später als Wörterbuch Geschichtliche Grundbegriffe von "Modern: Modernität, Moderne" (Bd. 4, 1978). Es fehlt das
1780
"Gegenaufklärung" bezeichnen wird , und nach Marx mit vielen Neuauflagen, etwa in der Psychoanalyse Stichwort "Modernisierung". Andererseits laufen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts evolutionäre
Freuds oder in der Soziologie latenter Strukturen und Funktionen, breitet sich seit dem 19. Jahrhundert eine Perspektiven und Resultatorientierungen nebeneinander her. Entitäten entstehen durch Evolution, aber sie
radikale Neufassung des Problems der Sozialdimension aus, eben die Fixierung des sozialen Interesses auf ein müssen auch gemacht werden. Somit besteht hinreichender Anlaß, den Begriff der Moderne aufzulösen in eine
Beobachten des Nichtbeobachtenkönnens. Solange man unter "Beobachtern" nur psychische Systeme versteht, Festlegung auf etwas, was noch nicht erreicht ist.
mag das ein belangloses oder allenfalls ein therapeutisch einsetzbares Privathobby bleiben. Aber was Die französische Revolution hatte das Ende der Adelsgesellschaft markiert, hatte die entsprechenden
geschieht, wenn so kommuniziert wird? Rechtsstrukturen aufgehoben und das schon lange brüchige Selbstverständnis einer hierarchischen
All diese komplexen Formen einer Übergangssemantik lassen sich auf eine Frage bringen — auf die Gesellschaftsordnung hinweggefegt. Sie hatte jedoch kein Alternativkonzept der modernen Gesellschaft
Frage: wer ist der Beobachter? Diese Frage kann nicht beantwortet, also auch nicht gestellt werden. Die vorgesehen. Ihre Verfassungsvorstellungen beschränkten sich auf das politische System, und im übrigen gab
übliche Charakterisierung des Beobachters als "Subjekt" gestattet es bestenfalls, das Problem der es nur die Freisetzung der Individuen für eine selbstbestimmte Lebensführung — eine Idee, die schnell im
Sozialdimension als Problem der "Intersubjektivität" zu bezeichnen. Immerhin hat man damit einen strikt Sinne des "enrichessez vous" aufgefaßt werden konnte. Der semantische Leerraum konnte historisch als
paradoxen Begriff an der Hand, aber auch nicht mehr; denn das "inter" kann dem Subjekt, wenn das Subjekt Verweisung auf Zukunft interpretiert werden. Die moderne Gesellschaft ist "noch nicht" wirklich modern. Für
ein Subjekt ist, weder zu Grunde liegen noch nicht zu Grunde liegen. Der Roman, der Liebesroman, aber auch konkrete Orientierungen hielt man sich an die Unterscheidung von entwickelten und unterentwickelten
Hegels Roman der Liebe zwischen Weltgeschichte und Philosophie, lokalisiert den Beobachter, der auch das Gebieten des Erdballs. Das konnte die Leerformeln wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Aufhebung der
sehen kann, was er selber bisher nicht sehen konnte, am Ende der Geschichte. Das macht es erforderlich, den Klassenunterschiede, Herrschaft der öffentlichen Meinung usw. ausfüllen — ohne daß man den Umweg über
1781
Erzähler, der alles immer schon weiß, und also auch Hegel selber, aus der Geschichte herauszuhalten. ein theoretisch und empirisch fundiertes Gesellschaftsmodell hätte gehen müssen. Eine philosophische
Auch das reicht aber nicht, um die Frage nach dem Beobachter zu beantworten. Erst recht versagen die zur Parallelkonstruktion, für die man sich auf Namen wie Husserl oder Habermas berufen kann, liegt in der
Zeit modischen Auskünfte: der Sprachspielpluralismus eines Wittgenstein, die These eines kulturellen Annahme, daß sich im Prinzip der selbstkritischen Vernunft der Individuen ein noch unentdecktes, ungeahntes
Relativismus oder die Diskurspluralität der sogenannten "Postmoderne". Auch hat es wenig Sinn, sich mit Rationalitätspotential verberge, das die Errungenschaften der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation und
Kontroversen zwischen diesen verschiedenen Positionen zu beschäftigen, denn das führt nur zur ihrer wirtschaftlichen ("kapitalistischen") Realisierungen weit hinter sich lassen könne.
wechselseitigen Rekonstruktion der jeweiligen Unzulänglichkeiten. Mit solchen "noch nicht"-Formulierungen wird jedoch das soziologische Problem eher verschleiert,
Unsere Analysen legen die Annahme nahe, daß die moderne Gesellschaft mit dieser Technik des nämlich das Problem, wie eine Modernisierung der schon modernen Gesellschaft überhaupt durchgeführt
Beobachtens des Nichtbeobachtenkönnens das Paradox des Beobachters als des eingeschlossenen werden kann. Was dies betrifft, blicken wir am Ende des 20. Jahrhunderts auf zwei verschiedene
ausgeschlossenen Dritten nachvollzieht. Das zwingt dann aber das Beobachten des Beobachtens zum Experimentreihen zurück, die beide in ihren Prämissen fragwürdig geworden sind, nämlich das sozialistische
autologischen Schluß auf sich selbst und zum Paradox als Abschlußgedanken: Der Beobachter ist das Experiment der Sowjetunion und das Experiment der Modernisierung von Entwicklungsländern. Solange vom
Unbeobachtbare. Das führt jedoch nicht zur Verzweiflung. Im autopoietischen System gibt es keinen "kalten Krieg" ausgegangen wurde, konnte jeder dieser Versuche sich die Fehlschläge des anderen erklären,
Abschluß, weder Anfang noch Ende. Jedes Ende ist Anfang. Das Paradox löst sich damit in Zeit auf. Das und man brauchte nicht zu der Frage einer Modernisierung in der schon modernen Gesellschaft
System versetzt damit das, was als Gegenstand nicht beobachtbar ist, in Operation. Und wenn dies geschieht durchzustoßen. Am Ende des 20. Jahrhunderts befinden wir uns in einer anderen Situation.
und wenn solche Beobachtungsoperationen immer wieder auf ihre eigenen Resultate angewandt werden, In beiden Versuchsreihen fällt zunächst ein regional begrenztes Konzept auf, das die Tatsache ignoriert
1782
könnte es sein, daß das im Ergebnis zu stabilen "Eigenwerten" führt, das heißt zu einer Semantik, die dies oder doch unterschätzt, daß die moderne Gesellschaft als Weltgesellschaft etabliert ist. Das eine Konzept
aushält und deshalb bevorzugt wird. war semantisch eng an den Begriff der Revolution gebunden. Politische Ereignisse wie die in Paris 1789 oder
die in St. Petersburg 1917 wurden als Revolution beschrieben und damit einem Modernisierungsprogramm
zugeordnet. Die Generalisierungsrichtung lief vom Ereignis eines gewaltsamen Umsturzes, wie es das immer
gegeben hatte, zu einem fortzusetzenden Programm mit weltweitem Anspruch und jeweils regionalen
XVIII. Modernisierung Hindernissen. Besonders der Marxismus hatte zwar eine Weltrevolution ins Auge gefaßt, konnte aber
Revolution nur als ein spezifisch politisches Unternehmen, also nur in Regionalstaaten durchführen.
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft, daß sie auch Außerdem waren und blieben Konzepte wie klassenlose Gesellschaft, soziale Verteilungsgerechtigkeit oder
noch einer "Modernisierung" bedarf. So wie man den Individuen zu suggerieren versucht, sie seien nicht nur auch Emanzipation historische Konzepte, die einer Art Parousieverzögerung unterlagen und dadurch an
wirklich, sondern bedürften auch noch einer Selbstverwirklichung, so scheint auch die Gesellschaftstheorie der Glaubwürdigkeit verloren. Man konnte nur versuchen, diese Zielprojektionen über eine Zentralorganisation zu
Moderne davon auszugehen, daß die moderne Gesellschaft noch nicht modern sei und sich selber gleichsam realisieren mit zunehmenden Diskrepanzen zwischen Idee und Wirklichkeit. Schließlich war und blieb die
nacheifern müsse, um endlich modern zu werden. Man kann dies Rätsel zwar leicht auflösen, indem man Weltgesellschaft, in der all dies innerhalb territorialer Grenzen stattfinden sollte, ein funktional differenziertes
verschiedene Begriffe von Modernität unterscheidet. Aber dann bleibt immer noch die Frage, was der Grund System, das seine eigene Leistungsfähigkeit der Autonomie von Funktionssystemen verdankt und mit keiner
dafür sein mag, diese merkwürdige Figur der Modernisierung als Desiderat gerade der modernen Gesellschaft Art von Zentralsteuerung zu kombinieren ist. Das gilt vor allem für das Kreditsystem der internationalen
aufzustellen. (Man käme ja nicht auf die Idee, dem römischen Reich der Antike eine "Modernisierung" Finanzwirtschaft, das eine gewisse Beweglichkeit in der Wahl von Zeitpunkten für Investition und Konsum
zuzumuten und deren Versagen zu beklagen.) garantieren kann, auf die gerade forcierte regionale Entwicklungen kaum verzichten können. Es gilt aber
An der lexikalischen Behandlung fällt eher eine eigentümliche Zurückhaltung auf: Das historische natürlich auch für die internationale Politik, für wissenschaftliche Forschung und nicht zuletzt für all das, was
Wörterbuch der Philosophie spricht von "modern, die Moderne" und von "Modernismus" (Bd. 6, 1984), das Intellektuelle interessiert. Das Bestehen auf organisatorisch kontrollierten, regionalen Autonomien ist damit
schlechterdings nicht kompatibel. Der Versuch, diese Art Modernisierung in die moderne Gesellschaft
einzuführen, mußte mit Stagnation, mit dem Verbrauch letzter Machtressourcen, mit schwindender Akzeptanz
1780
Vgl. etwa die (heute vergessene) Analyse der aufklärenden Salonphilosophen durch (Simon-Nicolas-Henri) Linguet, Le
Fanatisme des philosophes, London-Abbeville 1764; und dann natürlich die "konservativen" Stellungnahmen zur
Französischen Revolution, etwa Ernst Brandes, Über einige bisherige Folgen der französischen Revolution in Rücksicht auf 1782
Der 25. Deutsche Soziologentag, der sich mit diesem Thema befassen wollte, hatte sich schon von der Formulierung
Deutschland, Hannover 1792.
her den Zugang verbaut. Sein Thema hieß: "Die Modernisierung moderner Gesellschaften" (Hervorhebung durch N.L.).
1781
Vgl. dazu Dietrich Schwanitz, Systemtheorie und Literatur: Ein neues Paradigma, Opladen 1990, S. 181 ff. Siehe die von Wolfgang Zapf unter diesem Titel herausgegebenen Verhandlungen, Frankfurt 1991.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 491 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 492
1783
und schließlich mit dem Zusammenbruch dieses "Systems" bezahlt werden. Daß man sich in westlichen die Sowjetunion. Aber diese Diskussion bezog sich nur auf Regionen mit unterschiedlichen Traditionen und
Kreisen unter Verzicht auf Revolution auf verständigungsorientierte "Diskurse" zurückzog, kann aus unterschiedlichen demographischen und ökologischen Bedingungen der Modernisierung. Das gravierendere
soziologischer Sicht wohl kaum als gesellschaftspolitische Alternative gewertet werden. Problem ist jedoch, ob nicht die Autonomie der Funktionssysteme zu wechselseitigen Belastungen führen
Auch außerhalb der marxistischen Doktrin, die von sich verschärfenden Klassenkonflikten ausgegangen könne bis hin zu Grenzen der strukturellen Anpassungsfähigkeit der Funktionssysteme an ihre
war, gilt jedoch: wenn man überhaupt die Gesellschaft als stratifiziertes System, also als System der Differenzierung selbst. Wenn die Wissenschaft Möglichkeiten der (kriegerischen oder friedlich-industriellen)
Ungleichverteilung beschreibt, kann Modernisierung nur als Minderung dieser Ungleichheiten begriffen Energiefreisetzung durch Auflösung von Atomkernen anbietet: welche Konsequenzen hat das für das
werden; denn sie haben in der modernen Gesellschaft keine Funktion und sind nichts als ein Ärgernis. Die politische System? Oder wenn die Dynamik des internationalen Finanzsystems eine Unterscheidung von
Modernisierung der Moderne heißt jetzt: Abbau der Klassendifferenzen, vor allem durch zunehmenden liberaler und sozialistischer Politik sinnlos macht: über welche Differenzen sollen dann Parteiplatformen und
Wohlstand und durch Erwirtschaftung von Überschüssen, die zugunsten der Benachteiligten eingesetzt werden Wahlcampagnen organisiert werden, wenn von vornherein klar ist, daß wirtschaftspolitische Versprechungen
können. Das Dominieren funktionaler Differenzierung bleibt außerhalb des Blickfeldes. sich weder unterscheiden noch eingelöst werden können? Ist eine verfassungsmäßige Kontrolle der
Anders das Modernisierungskonzept der Entwicklungspolitik, das, zumindest implizit, den Leitmodellen Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat mit den klassischen Instrumenten der Rechtsdogmatik überhaupt möglich
einzelner Funktionssysteme folgt und nicht mehr den abstrakten Idealen der französischen Revolution. Der und wenn nicht: wie kann verhindert werden, daß das Verfassungsgericht ständig auf demokratisch nicht
stimulierende Ausgangspunkt lag hier nicht in Ideen, sondern in Zuständen, nämlich in dem sehr legitimierte Weise in die Politik eingreift? Wie können die Wirtschaft oder die durch die Wirtschaft
unterschiedlichen Entwicklungsstand der einzelnen Regionen der Weltgesellschaft. Der Befund wurde als finanzierten öffentlichen Verwaltungen für Arbeitsplätze sorgen, die dem Ausbildungsniveau entsprechen, das
Rückständigkeit oder als Nachholbedarf beschrieben, und das war leicht plausibel zu machen. Folglich galten das Erziehungssystem bereitstellt? Und welche politischen Konsequenzen hat es, wenn eine wachsende
die bereits entwickelten, vor allem die industriell entwickelten Länder als nachahmenswertes Vorbild für die akademische Mittelklasse sich nicht mehr mit bloßen Ausbildungen ohne Macht und Einkommen abfinden
1784
weniger entwickelten. Der Vergleich beflügelte eine nationalistisch orientierte Politik selbst dort, wo dafür läßt? Unausgewogenheiten dieser Art werden in den einzelnen Ländern auf sehr unterschiedliche Weise
weder ethnische noch kulturelle Grundlagen gegeben sind. Auch dem lag, mindestens implizit, ein spürbar werden. Man findet sie nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern auch und gerade in den
weltgesellschaftlicher Ausgangspunkt zugrunde, denn wie sonst hätten die Unterschiede auffallen und zum Ländern, die auf reiche Erfahrungen mit Modernisierung zurückblicken können. Das könnte nur in der Form
Problem werden können. Andererseits bezog sich das Modernisierungskonzept nicht auf die Weltgesellschaft von Regionalstudien nachgezeichnet werden. Jedenfalls stellen sie das bisherige, gleichsam gradlinige Konzept
selbst, sondern auf rückständige Regionen, praktisch auf Entwicklungsländer, deren "Staaten" die der Modernisierung in Frage.
Entwicklungspolitik durchführen und zugleich selbst in demokratischer und rechtsstaatlicher Richtung Soll man infolgedessen das merkwürdige Konzept einer Modernisierung der modernen Gesellschaft
modernisiert werden sollten (in der Annahme, beides sei zugleich möglich). Die Frage, wie Modernisierung in aufgeben? Würde man sich dazu entschließen, hieße das jedenfalls nicht, in eine apathische Hinnahme der
der modernen Gesellschaft zu denken und durchzuführen sei, wurde auf regionale Einheiten verteilt und mit gegebenen Zustände zu verfallen. Aber es könnte heißen, die schon sichtbaren Probleme der modernen
diesem Aufbrechen in kleinere, begrenzte Einheiten und schließlich in nur noch lokale Projekte (wie zum Gesellschaft und vor allem die sich abzeichnenden Diskrepanzen im Verhältnis der Funktionssysteme
Beispiel Einrichtung von Bewässerungssystemen für bisher nicht üblichen Reisanbau) auf ein Format zueinander ernster zu nehmen als bisher.
gebracht, das Chancen für praktische Lösungen zu bieten schien.
Neben dieser regionalen bis lokalen Aufgliederung des Problems hatte man sich aber auch auf die
unterschiedlichen Strukturen verlassen, die die einzelnen Funktionssysteme weltweit als modern auswiesen.
Das galt zum Beispiel für die sogenannte Marktwirtschaft, die ein Urteil über die Rationalität der XIX. Information und Risiko als Beschreibungsformeln
wirtschaftlichen Investitionen (inclusive Kreditaufnahme) der Kalkulation in den einzelnen Firmen überläßt.
Es galt für die Vorstellung, ein modernes politisches System müsse aus "demokratischen" Staaten bestehen, Aus verständlichen Gründen haben Beschreibungen der modernen Gesellschaft spektakuläre Merkmale
die einen Machtwechsel an der politischen Spitze in der Form von "freien" Wahlen (ohne Stimmkauf usw.) bevorzugt, die sich plakativ verwenden ließen, die eben deshalb aber nur Einzelphänomene ins Auge fassen
organisieren können. Entsprechend sollte (aktive und passive) Meinungsfreiheit, Pressefreiheit usw. gelten als konnten. Die Komplexität des Gesamtsystems läßt sich nicht anders als durch gezielte Reduktionen im System
rechtsförmige Bedingung für die politische, religiöse usw. Autonomie des Systems der Massenmedien. wiederzugänglich machen. Der bis vor kurzem übliche Ausweg war, auf Merkmale eines der
Voraussetzung für all das war ein nicht durch "Korruption" beeinflußbares, legalistisch operierendes, an einer Funktionssysteme abzustellen und dieses dann als ausschlaggebend, als dominant, als formbestimmend zu
Verfassung orientiertes Rechtssystem. Erziehung im modernen Stil ist Schulerziehung nach dem System der unterstellen. Das gilt vor allem für Beschreibungen wie Kapitalismus (Geldwirtschaft), Industrie
Jahrgangsklassen und leistet eine Regelung des Zugangs zu Universitäten und damit zur Verteilung (marktorientierte Produktion) oder wissenschaftsbasierte Technik. Auch die ständig wiederkehrenden
gesellschaftlich bewerteter Positionen. Wissenschaftliche Forschung sollte frei sein, also keinen religiösen oder Bemühungen, erneut auf Politik in der Form des nationalen Staates abzustellen, entsprechend diesem
politischen Kontrolle unterliegen, sondern sich ausschließlich an selbstformulierten Theorien und Methoden Muster.
1785
Neuerdings kommen jedoch Beschreibungen hinzu, die sich dieser Beschränkung auf einzelne
orientieren. Und nicht zuletzt sollte es der individuellen Entscheidung überlassen bleiben, ob man sich zu einer Funktionssysteme nicht mehr fügen, sondern statt dessen Aspekte von Kommunikation hervorheben und für
Religion bekennt und zu welcher; denn nur so schien erreichbar zu sein, daß Religion eine Angelegenheit die Analyse historischer Differenzen ausnutzen. Ich denke an Schlagworte wie "Informationsgesellschaft"
1786

persönlicher Überzeugung sei und nicht ein Ausdruck der Anpassung an überkommene Sitten oder an oder "Risikogesellschaft".
1787

politisch erzwungene Konformität.


Stillschweigend wurde hierbei vorausgesetzt, daß die in den Funktionssystemen sektoral konzipierten
1785
Modernisierungsrichtungen einander wechselseitig voraussetzen und fördern würden. Es wurde zwar Siehe, in der Soziologie eher als Ausnahme, Anthony Giddens, The Nation-State and Violence, Cambridge England
diskutiert, ob man daraus auf "Konvergenz" der Modernisierungen schließen müsse, oder ob 1985. Auch die Aufblähung politischer Begriffe zu einem die Gesamtgesellschaft übergreifenden Format wäre hier zu
traditionsbedingte regionale Unterschiede verbleiben würden, etwa mit Bezug auf Japan oder mit bezug auf nennen, etwa des Machtbegriffs beim späten Foucault oder, weniger beachtet, des Begriffs des "constitution" bei David
Sciulli, Foundations of Societal Constitutionalism: Principles from the Concepts of Communicative Action and Procedural
Legality, British Journal of Sociology 39 (1988), S. 377-408.
1786
1783 Siehe, nahezu ausschließlich auf den Computer bezogen, Philipp Sonntag (Hrsg.), Die Zukunft der
Hierzu ausführlich Nicolas Hayoz, Fictions socialistes et société moderne: Aspects sociologiques du naufrage
Informationsgesellschaft, Frankfurt 1983; ferner speziell unter dem Gesichtspunkt der Effekte einer solchen
programmé de l'URSS, Diss. Genf 1996.
Selbstbeschreibung Jennifer D. Slack / Fred Fejes (Hrsg.), The Ideology of the Information Age, Norwood N.J. 1987. Zur
1784
Siehe z.B. Daniel Lerner, Modernization I: Social Aspects, International Encyclopedia of the Social Sciences, New Sachproblematik auch Karl Steinbuch, Die informierte Gesellschaft: Geschichte und Zukunft der Nachrichtentechnik,
York 1968, Bd. 10, S. 387-395. Reinbek 1968; Simon Nora / Alain Minc, Die Informatisierung der Gesellschaft, Frankfurt 1979; Lothar Späth, Wende in
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 493 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 494
1791
Auch diese Formeln lassen sich durch die doppelte Notwendigkeit, Komplexität zu reduzieren und das kann. Das mag zum Beispiel den Trend zur Politisierung aller Risikofragen, zu einer Art Schutzpolitik (an
historisch Neue zu betonen, verleiten, spektakuläre Einzelphänomene für repräsentativ zu halten. Bei Stelle bloßer Verteilungspolitik) verstärken.
"Informationsgesellschaft" ist es die durch neue Verbreitungsmedien und durch computerisierte Mit solchen Erweiterungen ist freilich nicht ausgemacht, wie weit solche Beschreibungen überhaupt
Datenverarbeitung erzeugte Überflutung mit Information. Daß unsere Gesellschaft eine reichen. Beide Formeln nutzen gewisse Unklarheiten in den verwendeten Begriffen aus, und zwar vor allem
Informationsgesellschaft sei, wird typisch rein ökonomisch mit dem Schema Produktion/Konsum begründet. das Fehlen klarer Unterscheidungen. Der Informationsbegriff etwa wird mit dem Doppelsinn einer
Es wird immer mehr Arbeitszeit auf die Produktion von Information verwendet und immer mehr Arbeits- und überraschenden Selektion und einer übertragbaren, transportierbaren, handelbaren Partikels benutzt (obwohl
1788 1792
Freizeit auf den Konsum von Information. Dabei wird eine fragwürdige Prämisse unbesehen akzeptiert, der eine Sinn den anderen ausschließt). Die Bestimmtheitsgewinne, die man durch Information erreichen
daß nämlich Information ein Wirtschaftsgut sei, daß man produzieren, übertragen und konsumieren könne. kann, sind also immer mit Überraschungen verbunden und präsentieren die Bestimmtheit als kontingent, als
Vom Begriff der Information her läßt sich jedoch die dabei vorausgesetzte Stabilität kaum rechtfertigen. auch anders möglich. Überdies kann eine Information nur einmal überraschen. Ist sie einmal bekannt, behält
Information ist ein Zerfallsprodukt. Sie verschwindet, wenn sie aktualisiert wird. Die Informationsgesellschaft sie zwar ihren Sinn, verliert aber ihren Charakter als Information. Wenn überhaupt Informationen
wäre danach eine Gesellschaft, die es aus zunächst unerfindlichen Gründen für notwendig hält, sich selbst kommuniziert werden sollen, müssen sie daher ständig neu kommuniziert werden; und wenn man das weiß,
1789
ständig zu überraschen. Zwar fällt der spektakuläre Zuwachs von Informationserzeugung ins Auge, doch weiß man auch, daß man die Zukunft nicht kennen kann. Information ist also ein zutiefst ambivalenter
der Ausnutzungsgrad bleibt gering. Die meisten Informationen sind also gar keine oder bestenfalls potentielle Sachverhalt. Sie enthält gewissermaßen ihren eigenen Gegenbegriff. Sie reproduziert, und dies von Moment
Informationen und entsprechend sind Produktivitätssteigerungen durch mehr und mehr Information zu Moment immer neu, Wissen und Nichtwissen. Sie gewährt als Information Anschlußmöglichkeiten,
gesamtwirtschaftlich nicht nachweisbar. Im Gegenteil: die Kosten belasten das, was mit verbesserter erneuert damit aber auf der anderen Seite, dem "unmarked space" ihrer Form, immer auch das
1790
Produktionstechnik erarbeitet wird. Offensichtlich handelt es sich um eine nicht rational begründbare Hintergrundwissen, daß es auch andere Möglichkeiten gibt. Der Begriff der Information schließt also nichts
Euphorie. Das Gegenteil gilt für das Stichwort "Risikogesellschaft". Hier stehen neuartige, technologisch aus und kann deshalb universelle Relevanz in Anspruch nehmen. Er dirigiert die Suche nach Anschlüssen in
bedingte Risiken und entsprechende Ängste im Vordergrund. Die Stichworte "Information" und "Risiko" einen Raum prinzipiell kontingenter Selektionen — und dies ohne das religiöse Sicherheitsnetz, das ältere
1793
verraten jedoch mehr als das. Sie lassen sich nicht mehr auf einzelne Funktionssysteme beziehen (trotz aller Gesellschaften dafür bereithielten.
Betonung technologischer Entwicklungen), sondern sind kompatibel mit einer Gesellschaftsbeschreibung, die Auch Risiko ist gewissermaßen alles, was schiefgehen kann. Als Gegenbegriff denkt man an
auf funktionale Differenzierung als Form abstellt, ohne sich darauf zu verpflichten. "Sicherheit", gibt aber zugleich zu, daß es Sicherheit in einem strengen, risikofreien Sinne gar nicht gibt. Also
Man kann gegenüber den Momenten, die den Anstoß gegeben haben, die Beschreibung der Gesellschaft ist auch der Risikobegriff im geläufigen Verständnis ein Universalbegriff, der nichts ausschließt, sondern nur
als Informationsgesellschaft bzw. als Risikogesellschaft erweitern. Bei Informationsgesellschaft ginge es dann im Kontext seiner eigenen Form sich selbst markiert. Das historisch Neue läßt sich mit diesen Begriffen
nicht nur um Auswirkungen von Computern, sondern allgemeiner um die Frage, ob die eigentlich nicht fassen. Es liegt jedenfalls nicht in den Errungenschaften, die üblicherweise als Begründung
Informationskomponente der Kommunikation im Verhältnis zur Mitteilungskomponente an Bedeutung angeführt werden: Massenmedien, Computer, industrielle Technik. Neu ist nur, daß sie als formal ambivalente
gewonnen hat. Das hieße dann mindestens zweierlei: daß die persuasive Komponente der Mitteilung und mit Begriffe zur Beschreibung der modernen Gesellschaft herangezogen werden. Bemerkenswert ist ferner, daß
ihr die Abhängigkeit von sozialem Status und Schichtung zurücktritt; und daß die Neuheit, die Aktualität, das die Kennzeichnung als "Informationsgesellschaft" und als "Risikogesellschaft" autologisch gebildet sind. Sie
"just in time" der Information der Kommunikation wichtiger wird und Dauergarantienan Bedeutung verlieren. lassen die Frage zumindest zu, ob mit dem Stichwort der Informationsgesellschaft nicht seinerseits eine
Das mag beträchtliche Konsequenzen für die Sozialdimension bzw. die Zeitdimension von Sinn haben, die bei Information über diese Gesellschaft gegeben wird, und ob es nicht seinerseits riskant ist, von
aller Kommunikation laufend miterfahren und reaktualisiert werden. Bei Risikogesellschaft ginge es nicht nur "Risikogesellschaft" zu sprechen und damit riskante Risikoaversionen wachzurufen.
um die Technologieabhängigkeit der modernen Gesellschaft, sondern genereller um die Unterstellung, daß die Beachtet man die Form dieser Begriffe, also auch das, was sie als "andere Seite" mitführen, aber nicht
Zukunft in allen wesentlichen Hinsichten von gegenwärtig zu treffenden Entscheidungen abhängt, so daß bezeichnen, wird der Tiefgang, aber zugleich auch die Begrenztheit, dieser Selbstbeschreibungsformeln
immer jetzt schon über die künftigen Gegenwarten entschieden wird, obwohl man die Zukunft nicht kennen deutlich. Information wird dann zu einem systemspezifischen Unterscheidungsereignis, das von außen nicht
beobachtet werden kann. Die Informationsgesellschaft zeichnet sich durch ihre strukturelle und chronische
Uninformiertheit aus. Jedes System wurstelt auf Grund eigener Informationserzeugung vor sich hin, setzt
die Zukunft: Die Bundesrepublik auf dem Weg in die Informationsgesellschaft, Reinbek 1985; David Lyon, From seine eigene Autopoiesis auf Grund von strukturellen Kopplungen, Irritationen, darauf bezogenen Reaktionen
"Post-Industrialism" to "Information Society": A New Social Transformation?, Sociology 20 (1986), S. 577-588; ders., The und Umstrukturierungen fort, ohne von innen oder von außen als Einheit zugänglichzu sein — es sei denn in
Information Society: Issues and Illusions, Cambridge 1988; Ian Miles / Howard Rush / Kevin Turner / John Bessant, der spezifischen Weise der Beobachtung, die von je spezifischen Unterscheidungen abhängt, die ihrerseits
Information Horizons: Social Implications of New Information Technologies, Aldershot 1988; Bruno Tietz, Wege in die Information produzieren, aber eben nur für das System, das sie operativ verwendet. Und Risiko wäre ein
Informationsgesellschaft: Szenarien und Optionen für Wirtschaft und Gesellschaft, Stuttgart 1989. Die ausführlichen (nicht
annähernd vollständigen) Literaturhinweise sollen im Vorgriff auf den nächsten Abschnitt zugleich den Einfluß von
Stichwort für die Selbstbeschreibung eines Systems, das mit seinen Entscheidungen den möglichen
Massenmedien illustrieren. Abhandlungen zu Einzelphänomenen wie elektronischer Datenverarbeitung und ihrer Folgen Variationsbereich der Zukunft einschränkt, aber seine eigene Zukunft nicht determinieren kann. Jede künftige
bekommen durch die Notwendigkeit, einen schlagkräftigen Buchtitel zu wählen, schlagwortgenerierende Effekte, und die Gegenwart wird ein Resultat von Evolution sein; oder um es paradox zu formulieren: Über die Zukunft
Folge ist eine Anschlußliteratur, die dies ernst nimmt und den Buchtitel wie einen Begriff behandelt, in dem Wesenszüge entscheidet nicht die Entscheidung, sondern die Evolution. Wenn man aber das auf die Entscheidungslage
der modernen Gesellschaft zusammengefaßt sind.
1787
Siehe Ulrich Beck, Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986, und die anschließende
Diskussion. Zur Frage einer epochalen Wende besonders Ditmar Brock, Die Risikogesellschaft und das Risiko 1791
Vgl. etwa Wolfgang Bonß, Vom Risiko: Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 1995.
soziologischer Zuspitzung, Zeitschrift für Soziologie 20 (1991), S. 12-24. Für eine stärker "kulturell" ausgerichtete
1792
Interpretation plädieren Jeffrey C. Alexander / Philip Smith, Social Science and Salvation: Risk Society as Mythical So vor allem seit Fritz Machlup, Production and Distribution of Knowledge in the United States, Princeton 1962, der
Discourse, Zeitschrift für Soziologie 25 (1996), S. 251-262. diese beiden Begriffsbildungen jedoch noch zu unterscheiden wußte.
1788 1793
Vgl. Marc Uri Porat, The Information Economy, Diss. Stanford 1976, ein Text mit beträchtlichem Einfluß auf den Ähnliche Ambivalenzen findet man auch in älteren Gesellschaften, die Information mittels Divinationstechniken
späteren Sprachgebrauch. beschafften, also das alte China oder Mesopotamien. Diese "Informationsgesellschaft" konnten Lineaturen an Oberflächen
1789 (auf Knochen oder Schildkrötenpanzern, im Vogelflug oder in Eingeweiden von Opfertieren) als Zeichen für etwas
Hierzu Niklas Luhmann, Entscheidungen in der "Informationsgesellschaft", Ms. 1996.
Verborgenes deuten. Jede Weissagung reproduzierte mit der Deutung der Zeichen immer auch die religiöse Voraussetzung
1790
Hierzu Jean Voge, The Information Economy and the Restructuring of Human Organization, in: Ilya Prigogine / Michèle eines verborgenen Sinnes. Und wie heute kam es auch damals nicht auf die Wahrheit der Information an, weil Information
Sanglier (Hrsg.), Laws of Nature and Human Conduct, Brüssel 1987, S. 237-244. schnell benötigt wird, um Sinn zu erschließen.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 495 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 496

abbilden will, die sich nach dem Verlust des Machbarkeitsvertrauens und dem Verlust des Vertrauens in die XX. Die Massenmedien und ihre Selektion von Selbstbeschreibungen
Erkennbarkeit von Fehlern ergeben hat, dann ist Risiko dafür die geeignete Beschreibung.
Jedenfalls legen diese Schlagworte einen Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen nahe und damit Am Ende des 20. Jahrhunderts ist nicht auszumachen, ob sich überhaupt solche Eigenwerte einstellen
den Übergang von Beschreibungen, die in der öffentlichen Meinung zeitweise Furore machenund dann wieder werden, und welche. Der Begriff selbst erlaubt, schon seiner Konzeption nach, keine Prognose. Zu beobachten
abflauen, zu theoriegeführten Analysen, die sich nur innerhalb der Wissenschaft bewähren müssen. Damit ist eine zunehmende Diskrepanz zwischen Semantik und Realität. Auf der einen Seite der intellektuelle
verschiebt sich der Standpunkt des Beobachters auf eine Ebene zweiter, wenn nicht dritter Ordnung. Die "so Schrotthandel, der sich um ein recycling von Ideen bemüht und seine Bedarfsartikel nur noch durch die
ist es"-Attitüde wird ersetzt durch ein Begriffsspiel, das an sich selber Halt sucht. Entscheidungen über eine 1796
Firmennamen "Neo" und "Post" unterscheidet. Auf der anderen Seite eine intensive und schnell reagierende
genauere Bestimmung der Begriffe "Information" und "Risiko" und vor allem: Entscheidungen über die Empfindlichkeit der gesellschaftlichen Kommunikation für neue Probleme, etwa Probleme der
Gegenseite ihrer Form, also über das, was sie ausschließen und dadurch einschließen, erhalten eine erhebliche Technologiefolgen, der Ökologie, des Risikos von Entscheidungen, der Internationalisierung der
1794
Tragweite für die Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Damit wird auch die Selbstbeschreibung selbst Finanzmärkte, des in mancher Weise überholten, und doch für Demokratisierung unentbehrlichen
zum Thema der Selbstbeschreibung, und die Gesellschaft könnte sich als ein sich selbst beschreibendes Staatsbezugs der Politik mit Kriegsgefahr als Konsequenz; ferner die Probleme, die sich aus den zunehmenden
System beschreiben, eingeschlossen die Konzession, daß es mehrere gleichermaßen plausible Diskrepanzen zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern, oder aus der neuen Intransigenz der
Selbstbeschreibungen geben kann. Die Logik des Beobachtens und Beschreibens muß dann von Anspruchshaltung von Individuen ergeben — und anderes mehr. Bei so vielen und zunächst sehr konkret
monokontexturalen auf polykontexturale Strukturen umgestellt werden. Sie kann nicht länger nur eine einzige bestimmten Schwierigkeiten ist es schwer zu sehen, ob und wie eine Gesellschaftstheorie hierzu eine
Unterscheidung benutzen, die etwas hervorhebt, um anderes dagegen abfallen zu lassen. Sie kann auch nicht angemessene Beschreibung liefern könnte, von Vorschlägen zur "Lösung der Probleme" ganz zu schweigen.
länger sich mit monokontextural-geschlossenen Kontroversen, etwa der von Kapitalismus und Sozialismus, Will man ein Urteil über die Möglichkeiten der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft gewinnen,
begnügen. Das in jeder benutzten Entscheidung ausgeschlossene Dritte (die Welt, die Einheit der Gesellschaft, muß man vor allem bedenken, daß sie nicht mehr als Weisheitslehre mündlich tradiert wird und nicht mehr als
der Beobachter selbst) wird möglicher Gegenstand einer anderen Unterscheidung, die ihr eigenes Philosophie hohe Abschlußgedanken artikuliert, sondern den Eigengesetzlichkeiten der Massenmedien folgt.
generalisiertes tertium non datur dem Zugriff weiterer Beobachter aussetzt. Keiner der gewählten Anschnitte Jeden Morgen und jeden Abend senkt sich unausweichlich das Netz der Nachrichten auf die Erde nieder und
kann Letztgültigkeit oder eine richterliche Funktion über alle anderen beanspruchen. Jeder operiert, was ihn legt fest, was gewesen ist und was man zu gewärtigen hat. Einige Ereignisse ereignen sich von selbst, und die
selbst betrifft, blind. Aber zugleich gibt es nichts, was sich prinzipiell der Unterscheidung und Bezeichnung Gesellschaft ist turbulent genug, daß immer etwas geschieht. Andere werden für die Massenmedien
entzöge, nichts, was aus Gründen seines "Wesens" geheim bleiben müßte. Alles wird — keine Rede von produziert. Dabei kann vor allem die Äußerung einer Meinung als ein Ereignis behandelt werden, so daß die
"posthistoire"! — zur Geschichte. Und alles, was darüber gesagt wird, kann nur unter der Bedingung gesagt Medien ihr Material reflexiv in sich selbst eintreten lassen können. Bei all dem wirken die Erzeugnisse der
werden, daß es auch für es selber zutrifft. Druckpresse mit dem Fernsehen zusammen. Schon durch die Ausdifferenzierung der Massenmedien wird ein
In dieser Situation ohne Anfang und Ende können die möglichen Kandidaturen für Sinnformen der Überschuß an Kommunikationsmöglichkeiten erzeugt. Das wieder führt zu einer sehr scharfen Selektion
Selbstbeschreibung nicht mehr abgezählt, nicht mehr vorab beschränkt werden, denn das wäre wieder nur eine dessen, was mitgeteilt werden kann, und dann noch zu einer Selektion dessen, was (journalistisch bzw.
Selbstbeschreibung unter anderen. Es bleibt die Aufgabe, die Theoriemittel möglichst deutlich zu explizieren fernsehtechnisch) "gut" mitgeteilt ist. Unausweichlich muß jede Beschreibung unserer Gesellschaft diese
und sie damit der Beobachtung auszusetzen. Theoriemittel sind vor allem Begriffe. Begriffe sind Mittel (und insofern: ihre eigenen Mittel) und deren Verhältnis zu sich selbst mitenthalten. In soziologischen
Unterscheidungen. Unterscheidungen sind Anweisungen, die Grenze zu überqueren. Sie sind als Formen Beschreibungen, die "Massenmedien" zu einem eigenen Forschungsgebiet ausdifferenziert haben, geschieht
zugleich geschlossen und ihrerseits unterscheidbar. "Distinction is perfect continence", heißt es bei Spencer 1797
das vorerst nur selten. Die "kulturelle Hegemonie" der Massenmedien, der sich selbst Protestbewegungen
1795
Brown. Aber gerade dies continence gibt die Möglichkeit, damit umzugehen. Mit ihren Formen, ihren zu fügen haben, wenn sie nicht vorab auf Erfolge verzichten wollen, wird durchaus wahrgenommen , aber
1798
Unterscheidungen exponiert die Theorie ihre blinden Flecke, das heißt: das für sie Unsichtbare, dem sie nur als Phänomen beschrieben, da für eine genauere Erfassung und Einschränkung ein
verdankt, was sie sehen und zeigen kann. Dies zu exponieren, hat nicht den Sinn, einen Rückgang auf letztlich gesellschaftstheoretischer Kontext fehlt.
unbestreitbare Gründe einzuleiten. Es geht nur darum, zu zeigen, was man mit bestimmten Mitteln In der Bezeichnung "Massenmedien" werden Perspektiven zusammengefaßt, die wir sorgfältig
konstruieren kann und wie weit Sensibilitäten sich ausfalten (explizieren) lassen, wenn man so (und nicht unterscheiden müssen. Von "Medium" sollte nur die Rede sein, wenn eine Menge nur lose gekoppelter
anders) ansetzt. Der Sinn eines derart anspruchsvollen Unternehmens liegt darin, Kritik zu erleichtern und zu Elemente bezeichnet wird, die für Formenbildung zur Verfügung stehen. Ein Medium in diesem Sinne ist die
erschweren. Macht es anders, lautet die Aufforderung, aber mindestens ebenso gut. "öffentliche Meinung" — gleichviel ob die Gesamtheit der Elemente psychisch als diffus verstreutes
Je deutlicher die Konturen eines solchen Unternehmens hervortreten, das die Gesellschaft als sich selbst Aufmerksamkeitspotential verstanden wird, das durch Formenbildung temporär gebunden wird; oder sozial
beschreibende Gesellschaft beschreibt und damit in sein Objekt eintritt, um so dringender stellen sich, für als Beiträge zu Themen der Kommunikation, wobei die Formenbildung im Bekanntsein (oder in der
Soziologen zumindest, Fragen, die die Realbedingungen der Möglichkeit betreffen. Oder um die Frage am
Schluß des letzten Abschnittes aufzugreifen: wie kommt es bei einem solchen Beobachten von Beobachtern
und Beschreiben von Beschreibungen zu "Eigenwerten" im Sinne von stabilen Attraktoren, die weitere 1796
Man kann in dieser Form zum Beispiel über die "postindustrielle" Gesellschaft reden, obwohl ganz offensichtlich
Beschreibungen stimulieren und dann nicht mehr übergangen werden können. Und: welche operativen industrielle Produktion nach wie vor existiert und sogar mehr als zuvor unentbehrlich ist. Durch den offensichtlichen
Kontexten können überhaupt mithalten, wenn dies das Problem ist? Unernst einer solchen Rede kann man sich der Kritik entziehen; denn man sagt zugleich, daß man nicht meint, was man
sagt, sagt aber nicht, was man meint, wenn man sagt, daß man nicht meint, was man sagt. Man könnte die Hinweise leicht
vermehren: Neomarxismus, Poststrukturalismus, Neofunktionalismus, Neokonservativismus oder mit Sachbezeichnungen:
neue soziale Bewegungen, neuer Individualismus, neue Medien. Die Struktur ist in allen Fällen dieselbe: Die Behauptung
einer zeitlichen Differenz und ihr Nachweis an Einzelphänomenen erlaubt es, ohne Gesamtanalyse weiterzuarbeiten und
das gerade Neue (oder das, was dafür gehalten wird) als Wesentlichkeitsersatz in den Mittelpunkt der
1794 Gesellschaftsbeschreibung zu rücken.
Siehe als ein Beispiel die Unterscheidung von Risiko und Rationalität, die Klaus Peter Japp, Das Risiko der
1797
Rationalität für technisch-ökologische Systeme, in: Jost Halfmann / Klaus Peter Japp (Hrsg.), Riskante Entscheidungen und Vgl. aber Peter Heintz, Die Weltgesellschaft im Spiegel von Ereignissen, Diessenhofen, Schweiz 1982; Frank
Katastrophenpotentiale: Elemente einer soziologischen Risikoforschung, Opladen 1990, S. 34-60 zur Diskussion stellt. Marcinkowski, Publizistik als autopoietisches System: Politik und Massenmedien. Eine systemtheoretische Analyse,
Risikogesellschaft wäre danach eine Gesellschaft, die sich nicht mehr auf Rationalität gründen könnte. Sie hätte einen Opladen 1993.
übergeordneten Gesichtspunkt gefunden: eben Einstellungen zu Risiken. 1798
So mit Gramscis Begriff Todd Gitlin, The Whole World Is Watching: Mass Media in the Making and Unmaking of the
1795
A.a.O. S. 1. New Left, Berkeley Cal. 1980.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 497 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 498

Unterstellbarkeit des Bekanntseins) liegt. Davon zu unterscheiden ist die Frage, welches soziale System dieses Änderungen teilnehmen zu können und gegen ihre Folgen abgesichert zu werden. Und sie schafft für diese
Medium produziert und reproduziert — die Gesellschaft selbst oder ein eigens dafür ausdifferenziertes Schizophrenie die Position des unbeteiligt-beteiligten Zuschauers.
Funktionssystem. Nur dieses Funktionssystem soll mit dem Begriff der Massenmedien bezeichnet werden. Man kann dies besonders gut an einem paradigmatischen Sonderfall erkennen, nämlich an der Art und
Von "öffentlicher Meinung" in einem gegenüber der Tradition aufgewerteten Sinne spricht man seit dem Weise, wie ökologische Themen aufgetaucht sind und heute einen prominenten Platz einnehmen. Sicher ist das
1799
18. Jahrhundert. Allen Erwartungen des 18. und 19. Jahrhunderts zuwider beruht jedoch die eigentümliche Tempo der Einführung und Ausbreitung dieses Themenkomplexes teils den mediennah operierenden
1802
Modernität der so zustandekommenden öffentlichen Meinung darauf, daß sie, darin dem Markt vergleichbar, Protestbewegungen , vor allem aber den Massenmedien selbst zu verdanken. Viele Selektionskriterien
keine Einheit bildet. Sie wählt nicht das aus, was der Vernunft entspricht. Sie trägt zur Autopoiesis der treffen hier zusammen: große Quantitäten, ständiger Nachschub an Katastrophen, technisch ausgelöste, also
Gesellschaft bei, denn es geht ja um Kommunikation, aber sie formuliert keinen Konsens darüber, was die kontingente Ereignisse, ideologische und politische Konflikte über die angemessene Einstellung zur Sache.
Gesellschaft ist oder sein soll. Ihre Funktion liegt nicht in der gesellschaftlichen Integration, sondern darin, ein Dazu kommt der lokale und zugleich überlokale Bezug, die individuelle Betreffbarkeit und die weithin
Beobachten von Beobachtern zu ermöglichen. Jeder momentane Zustand wird als Ausgangspunkt für unsichtbare Form der Bedrohung (Radioaktivität, verschlossene Fabriken, unsichtbare chemische
Differenzen, wenn nicht überhaupt als Differenz vorgestellt. Das zeigt sich, wenn man von einer Beschreibung Substanzen). Andererseits ist mit genau diesen begünstigenden Bedingungen auch das bestimmt, was nicht
zu einer Analyse derjenigen Faktoren übergeht, die regulieren, wie das erzeugt wird, was dann als öffentliche berichtet wird, was unsichtbar bleibt. Das gilt für die für Selbstbeschreibungen der Gesellschaft
Meinung erscheint. Das geschieht über sehr spezifische Selektionsweisen, deren Resultate eben deshalb entscheidende Frage: für die gesellschaftliche Einbettung der Trends, die schon gegeben sind und schon
1803
Kontingenz und vor allem die Möglichkeit, zu anderen Beurteilungen zu kommen, nicht ausschließen können. wirken, bevor es zur Katastrophe kommt, für die "katastrophalen Entwicklungen". Die typische
Die Selektivität dessen, was auf Grund der Wirksamkeit dieser Massenmedien als "öffentliche Meinung" Themenbehandlung alarmiert, stumpft ab, festigt den Vorausblick auf weitere Katastrophen und erzeugt beim
reflektiert wird, kann man pointiert in den drei Sinndimensionen beschreiben. In der Sachdimension gewinnen individuellen Nachrichtenempfänger ein Gefühl der Hilflosigkeit (und damit nicht zuletzt: ein
quantitative Angaben eine hervorragende Bedeutung, ohne daß deren Berechnungsweise mitreflektiert werden Rekrutierungspotential für Protestbewegungen, die aber ihrerseits nur fordern können, daß die anderen es
könnte. Katastrophen werden bevorzugt berichtet, wenn ungewöhnliche Quantitäten (Massenkarambolage, anders machen).
Tausende von toten Robben, Millionenschäden etc) im Spiel sind. Das Steigen des Bruttosozialprodukts wird Allein schon die Täglichkeit des Erscheinens und das Produktionstempo der Massenmedien schließen es
begrüßt, das Fallen beklagt, Politik und Börse reagieren auf das Bekanntwerden der Zahl, ohne daß man aus, daß die im Publikum vorhandenen Meinungen vorweg konsultiert werden. Die Organisationen der
bedenkt, daß das Bruttosozialprodukt auch dadurch zum Steigen gebracht werden kann, daß vorher Massenmedien sind hier auf Vermutungen und, im Ergebnis, auf self-fulfilling prophecies angewiesen. Sie
unbezahlte Arbeit bezahlt wird oder daß Unfälle und Katastrophen zunehmen und der Schaden mit Zahlungen arbeiten weitgehend selbstinspirativ: durch Lektüre ihrer eigenen Erzeugnisse, durch Beobachtung ihrer
1800
ausgeglichen wird. Im Ergebnis verfällt die Gesellschaft in eine Art statistische Normaldepression. Jedes eigenen Sendungen. Sie müssen dabei eine hinreichende moralische Uniformität unterstellen, um täglich über
Mehr ist, in der Gegenrichtung gesehen, zugleich ein Weniger dessen, was vorher war. Wenn Wachstum Normverstöße, Skandale und sonstige Abartigkeiten berichten zu können. Verschiebungen können
berichtet wird, ist man mit den Zuständen und Erträgen nicht mehr zufrieden, die vor einigen Jahren noch ganz einkalkuliert werden: Stichwort "Wertewandel"; aber der eigene Anteil daran kann nicht herausdividiert
normal waren. Und selbst wenn das Wachstum sich verlangsamt, ist das eine Unglücksnachricht. Eine werden. Insofern kann man von Eigenwertproduktion sprechen: von relativ stabilen Einstellungen, die sich
Rückkehr zu den Werten, die vor einigen Jahren noch voll zufriedenstellten, wird infolge dieser Paradoxie des ergeben, wenn eine Operation auf ihre eigenen Resultate angewandt wird.
1801
mehr=weniger als Rückschritt erfahren. Das, was als Resultat der Dauerwirksamkeit von Massenmedien entsteht, die "öffentliche Meinung",
Wie zum Ausgleich des Abstraktionsgrades der Quantitäten wird ein lokaler (oder funktional äquivalent: genügt sich selbst. Es hat deshalb wenig Sinn, zu fragen, ob und wie die Massenmedien eine vorhandene
ein personaler) Bezug der Informationen erwartet und hergestellt. Man kann damit die Paradoxien des Typs Realität verzerrt wiedergeben; sie erzeugen eine Beschreibung der Realität, eine Weltkonstruktion, und das ist
1804
mehr=weniger oder höher=niedriger, die Paradoxien des Werdens also, auflösen in eine Identitätsthese, die die Realität, an der die Gesellschaft sich orientiert. Die Informationen werden in großen Mengen
dadurch nicht in Frage gestellt wird. Das führt zu ethnozentrischen Perspektiven und zur Überschätzung der ausgestreut und Tag für Tag erneuert. Dadurch entsteht eine immense Redundanz, die es erübrigt,
Bedeutung einzelner Personen für die Dramaturgie der Ereignisse — alles in allem also zu soziologisch kaum nachzuforschen, was Einzelne wirklich wissen und denken. Man kann, und man kann gar nicht anders als:
korrigierbaren Eigenarten der Realitätskonstruktion. Informiertsein unterstellen. So wirkt die öffentliche Meinung wie ein Spiegel, auf dessen Rückseite ebenfalls
In zeitlicher Hinsicht muß das Berichtenswerte neu sein, also Ereignis mit einem gewissen ein Spiegel angebracht ist. Der Informationsgeber sieht im Medium der kurrenten Information sich selbst und
Überraschungswert (Informationswert) sein, und die zeitliche Tiefe des Berichts (Vorgeschichte und andere Sender. Der Informationsnehmer sieht sich selbst und andere Informationsnehmer und lernt nach und
mutmaßliche Folgen) organisiert sich von daher. Die Sozialdimension wird als Konflikt präsentiert mit der nach, was man hochselektiv zur Kenntnis zu nehmen hat, um im jeweiligen Sozialkontext (sei es Politik, sei es
Dauerhintergrundserwartung, daß man eigentlich zu einer Verständigung kommen müßte. Schule, sei es Freundschaftsgruppen, seien es soziale Bewegungen) mitwirken zu können. Der Spiegel selbst
Konfliktdarstellungen gehen zumeist Hand in Hand mit moralischen Beurteilungen, die die Illusion von Fall ist intransparent.
zu Fall erneuern, daß es Regeln für die Entscheidung von Konflikten gebe; und dies in der Form von Viel spricht dafür, daß hier ein besonderes Funktionssystem entstanden ist, noch ohne klaren Begriff
Gesichtspunkten, die jeden zur Mitbeurteilung auffordern. Zusammen wirken diese Filter im Sinne einer (aber schließlich hatte die Tradition auch für das, was wir heute Familie nennen, nicht einmal ein Wort) und
Verstärkung von Aufregung. Das heißt natürlich nicht, daß im Inneren psychischer Systeme wirklich ohne anerkannte Funktionszuweisung. Gegen die Annahme eines eigenständigen Funktionssystems könnte
Aufregung entsteht und anhält. Aber auf der Ebene dessen, was kommuniziert wird und dessen, was sprechen, daß die Massenmedien dicht mit den Kommunikation ihrer gesellschaftlicher Umwelt verbunden
kommunikativ anschlußfähig ist, erscheint die Gesellschaft als eine sich über sich aufregende, sich selbst
alarmierende Gesellschaft. Sie reproduziert daher in sich selbst die Schizophrenie des doppelten Wunsches: an 1802
Dazu oben Kap....
1803
So mit einem sprachlich wirksamen, grammatisch verunglückten Ausdruck Hans Peter Dreitzel / Horst Stenger (Hrsg.),
1799 Ungewollte Selbstzerstörung: Reflexionen über den Umgang mit katastrophalen Entwicklungen, Frankfurt 1990. Siehe
Vorläufer gab es in vielen verschiedenen Diskussionszusammenhängen. Zum Beispiel in Form der Unterscheidung von
besonders den Beitrag von Rolf Lindner, Medien und Katastrophen: Fünf Thesen (S. 124-134).
Meinung und Wissen. Oder im Begriff des "common sense". Oder in der These, daß es der Staatsräson entspreche, wenn
1804
der Fürst die Meinungen seiner Untertanen beachte, wenn auch nicht unbedingt: ihnen folge. Siehe zu dieser Änderung der Problemstellung in der neueren Medienforschung Winfried Schulz, Die Konstruktion von
1800 Realität in den Nachrichtenmedien: Analyse der aktuellen Berichterstattung, Freiburg 1976. Zur neueren Diskussion und
Torvald Sande, Risk in Industry, in: W.T. Singleton / Jan Hovden (Hrsg.). Risk and Decisions, Chichester 1987, S.
zur Übertragung des "Radikalen Konstruktivismus" der Erkenntnistheorie auf die Theorie der Massenmedien siehe
183-189 (186) schätzt den Beitrag von Unfällen und Katastrophen zum Bruttosozialprodukt auf 2% (ohne nähere Angaben
mehrere Beiträge in: Klaus Merten / Siegfried J. Schmidt / Siegfried Weischenberg (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien:
und vielleicht nur auf präventive Maßnahmen und nicht auf Ausgleichszahlungen bezogen).
Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994; Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 2.
1801
Siehe dazu auch Gilles Deleuze, Logique du sens, Paris 1969, S. 9 ff., 50 ff. Aufl., Opladen 1996.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 499 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 500

sind; und mehr noch: daß gerade darin ihre gesellschaftliche Funktion liegt. Sie rechnen damit, daß im wie sie als Vorbild wirken kann. Diese latente Funktion der Werbung kann dann strategisch genutzt werden,
1806
Anschluß an die Veröffentlichung auch außerhalb der Medien über die entsprechenden Themen kommuniziert um auf diese Weise den Absatz zu fördern ; aber sie wirkt natürlich auch bei denen, die gar nicht kaufen.
wird; ja daß diese Möglichkeit zur Teilnahme an der Medienkommunikation geradezu zwingt und damit die Trotzdem kann man daraus noch nicht auf "Manipulation der öffentlichen Meinung" schließen — allein
Gesellschaft der Selbstbeobachtung durch Medien aussetzt. Und auch auf der Inputseite ist die Vernetzung schon wegen des Themenfilzes und der Mehrzahl von Selektionskriterien für Neuigkeiten. Als System, also in
dicht und unentbehrlich; denn wie sollten die Medien für ihre Berichte Glaubwürdigkeit und Authentizität ihrer Eigendynamik betrachtet, lassen die Massenmedien sich kaum auf Verantwortung festlegen, was immer
gewinnen können, wenn sie die Informationen nicht aus der gesellschaftlichen Kommunikation selbst bezögen eine umfangreiche Diskussion über journalistische Ethik ergeben mag. Ebensowenig läßt sich aber
— mögen dies recherchierte Sachverhalte, Indiskretionen, offizielle Pressemitteilungen oder was sonst noch präzisieren, was der Begriff des "Steuerns" in diesem Zusammenhang besagt. Man kann nur feststellen, daß
sein. die Beschreibungen der Welt und der Gesellschaft mit all ihren Funktionssystemen durch das Funktionssystem
Dennoch ist die operative Schließung dieses Systems nicht zu verkennen. Das System seligiert die der Massenmedien mobilisiert werden, so daß Zeitdifferenzen eine vorherrschende Bedeutung gewinnen und
eigenen Operationen nach Maßgabe der binären Codierung Information/Nichtinformation. Es reagiert damit jede Bestimmtheit zeitlich situiert sein muß. Das Übermaß an Gedächtnis, das Schrift, Buchdruck und
ständig auf den eigenen Output: auf das, was es selbst erzeugt hat, nämlich auf die Bekanntheit von modernere elektronische Speichertechniken mit sich bringen, wird dadurch in gewisser Weise neutralisiert.
Sachverhalten, die ausschließt, das Dasselbe nochmals berichtet wird. Das System muß, da es selbst Zugriffe bleiben möglich, aber Orientierungen werden nur für den Moment festgelegt.
Bekanntheit produziert, also Information vernichtet, ständig selbst neue Information erzeugen, neue An den Tag auf Tag und Tat auf Tat folgenden Mitteilungen der Massenmedien kristallisiert das, was in
Überraschungswerte produzieren. Und es grenzt sich allein schon durch die benutzte Verbreitungstechnik der gesellschaftlichen Kommunikation als "Wissen" behandelt werden kann. Anders gesagt: die tägliche
gegen den diffusen Kommunikationsfluß der Gesellschaft ab. Die Technik asymmetrisiert das System im Unsicherheitsabsorption durch die Massenmedien erzeugt Tatsachen, die dann in der weiteren
Verhältnis zur gesellschaftlichen Umwelt: sie schließt für den Normalfall aus, daß die verbreiteten Kommunikation als solche behandelt werden können. Das läßt genug Raum für Kontroversen; aber selbst
Kommunikationen sofort beantwortet werden. Abgesehen von dieser Besonderheit einer Steigerung von Kontroversen sind dadurch bedingt, daß beide Seiten Wissen, wenn auch unterschiedliches Wissen vertreten
Geschlossenheit und Offenheit, von Selbstisolierung und Vernetzung, finden wir viele Merkmale können. Tatsächlich nimmt jedoch, vor allem auf Grund der wissenschaftlichen Forschung und allgemein mit
ausdifferenzierter Funktionssysteme auch bei den Massenmedien. Ihre Funktion läge, historisch gesehen, im zunehmender Komplexität des Wissens das Nichtwissen überproportional zu. Darauf hinzuweisen, wäre
Ersatz dessen, was in der alten Gesellschaft über (konkurrenzlose) Repräsentation geregelt war, also in der Aufgabe eines Beobachters zweiter Ordnung, der aber ebenfalls über Massenmedien kommunizieren muß und
Absorption von Unsicherheit bei der Herstellung und Reformulierung von Welt- und sich deshalb genötigt sehen mag, sein Nichtwissen als "kritisches" Wissen zu vertreten. Wir kommen darauf
Gesellschaftsbeschreibungen. Dabei wird die Verbindlichkeit, die strukturell nur auf Grund von und auf die Rolle der Soziologie in diesem Kontext zurück.
konkurrenzfreier Repräsentation möglich war, ersetzt durch Instabilität. Statt der Monumente hat man jetzt Fast unbemerkt, jedenfalls unvermeidlich kondensieren in diesem Prozeß der laufenden
nur noch die Momente, in denen ein bestimmter Wissensstand unterstellt werden kann; statt des Informationskommunikation Strukturen, die der strukturellen Kopplung psychischer und sozialer Systeme
1807
Meinungswissens ein Informationswissen, das nicht angibt, wie man richtig und konsensfähig handeln könne, dienen. Wir hatten von Schemata oder, wenn Handlungen involviert sind, von Skripts gesprochen. Das
aber vollauf ausreicht, um sich selbst zu reproduzieren. Der Code des Systems besteht folglich in der jeweils schließt die Bezeichnung von "etwas als etwas" ebenso ein wie stark verkürzende Kausalattributionen und wie
augenblicksbezogenen Differenz von Information und Nichtinformation, die in ihrem zeitlichen eine pointierende Zuschreibung auf Intentionen, die dazu verhelfen, Verhalten als Handlung zu beschreiben
Prozessiertwerden alles schon Bekannte zur Nichtinformation werden läßt, die aber erinnert bleiben muß, und gegebenenfalls politisch oder moralisch zu bewerten. Solche Schemata lassen mehr oder weniger offen,
soweit sie zum Verstehen der neuen Information erforderlich ist. Die Programme des Systems, die die wie man sich zu den Informationen einstellt, was man erinnert bzw. vergißt und ob man Reaktionen für
Informationsauswahl steuern, findet man in den thematischen Präferenzen und, auf höherer Aggregationsstufe, angebracht hält oder nicht; und "man" heißt in diesem Falle: Individuen und sozialer Systeme jeder Art. Es
in den Thementypen, die als Zeitungsseiten oder als Sendeperioden den Zugriff auf Information erleichtern. geht bei der öffentlichen Meinung also nicht nur um eine ständig erneuerte und vergessene Riesenmenge von
Die Autopoiesis des Systems scheint darin zu liegen, daß die hierfür in Betracht kommende Information Informationen, aber auch nicht um eine Prägung typischer Einstellungen. Vielmehr besteht die strukturelle
rekursiv vernetzt ist und nur so reproduziert werden kann. Ein hohes Maß an Reflexivität — Berichte in den Komponente aus Schemata, deren Bekanntheit und Verwendbarkeit man voraussetzen kann, wenn es darum
Medien berichten über Berichte in den Medien — gehört zum Alltag. Information ist nur auf Grund des geht, Kommunikation in Gang zu bringen und weiterzuführen. Es geht, könnte man im Anschluß an eine von
Informationsstandes verständlich und ist als Vorinformation unerläßliche Bedingung weiterer Teilnahme. Die Max Weber bis Alfred Schütz reichende soziologische Tradition sagen, um die Reproduktion von Typen
jeweils aktuelle öffentliche Meinung, die jeweilige thematische Bestimmung der Formen des Mediums, ist als (stereotypisierten Erwartungsmustern), die für das Verstehen von Handlungen bzw. Kommunikationen
Resultat bisheriger Kommunikation Bedingung künftiger Kommunikation. Ganz typisch deshalb auch die unabdingbar sind und nicht allein schon durch die richtige Anwendung von Worten oder grammatischen
Ereignishaftigkeit der Elemente des Systems, deren Sinn in ihrem Verschwinden, in ihre Ausgabe, in ihrem Regeln, also nicht schon durch die Sprache selbst gewährleistet sind.
Beitrag zur Reproduktion weiterer Elemente des Systems liegt — und nur darin. Und schließlich kann, wie Massenmedien garantieren mithin, daß solche Schemata zugriffsbereit verfügbar sind, und dies in einem
keines der Funktionssysteme, auch dieses nicht auf die Einheit eines Organisationssystems reduziert werden, Umfang und in einer Vielfalt, die den Erfordernissen der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation
obwohl auch hier, wie überall, Organisation eine unentbehrliche Rolle spielt. entsprechen und die bei Bedarf leicht variiert und neu kombiniert werden können. Es geht um eine operative
Soweit eine in der Systemtheorie oft vertretene These zutrifft: daß hochmobile Systeme mit rasch Bedingung der Fortsetzung von Kommunikation unter hochkomplexen, rasch sich ändernden Bedingungen. Es
variierenden Strukturen besonders geeignet sind, trägere Systeme zu steuern, liegen hier besondere Chancen geht nicht um die Herstellung eines Mindestkonsenses in der Beschreibung von Realität. Und gerade diese
der Massenmedien. Unbestreitbar hat das Raffinement bei der Festlegung von Realitäten durch die Kombination von Notwendigkeit und Unverbindlichkeit hat zur Folge, daß diese Art der Produktion von
Massenmedien und wohl auch die Effektsicherheit in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen, vor Eigenwerten kaum auf andere Weise durchgeführt werden kann. Jedenfalls nicht durch Wissenschaft, deren
allem im Sektor Werbung. Die Werbung mag zwar durch Hoffnung auf Verkaufserfolge motiviert sein. Ihre Methodologie ja gerade darauf abzielt, Unterschiede der Beobachter zu neutralisieren und eine (wie immer
latente Funktion liegt aber in der Erzeugung und Festigung von Kriterien des guten Geschmacks für Leute, die dann kritisier- und überprüfbare) Beschreibung der Gesellschaft und ihrer Welt herzustellen.
von sich aus darüber nicht mehr verfügen; also in der Belieferung mit Urteilssicherheit in bezug auf die
1805
symbolischen Qualitäten von Objekten und Verhaltensweisen. Die Nachfrage findet man heute auch und
vor allem in der Oberschicht, die durch schnelle Aufstiege und unregulierte Heiratspraktiken nicht mehr weiß, 1806
Daß dies tiefreichenden Einfluß auf den Stil der Werbung hat, bedarf kaum noch des Nachweises. Die eigentlich zu
verkaufenden Objekte können in den Hintergrund eines Prestige-setting gerückt werden. Und man wird für Zigaretten auch
dann noch werben können, wenn dies verboten wird; denn man braucht nicht mehr explizit zu sagen, daß und wofür man
1805 wirbt.
Zum Bedarf und zur Verwendung solcher "Unterscheidungen" siehe Pierre Bourdieu, La distinction: Critique sociale du
1807
jugement de goût, Paris 1975. Vgl. Kap. 1, ....
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 501 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 502

Die öffentliche Meinung ist nach all dem weder die bloße Mode der Meinungen, wie man im 17. XXI. Invisibilisierungen: Der "unmarked state" des Beobachters und seine Verschiebungen
Jahrhundert meinte; noch ist sie das Medium rationaler Aufklärung oder die "puissance invisible", von denen
1808
man im 18. Jahrhundert ein Sichherauslösen aus den Traditionen erwartet hatte. Sie ist das Medium der Die Darstellungen der vorangegangenen Abschnitte haben die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft als
1809
Selbst- und Weltbeschreibung der modernen Gesellschaft. Sie ist der "Heilige Geist" des Systems , die historische Semantik behandelt und sie bis an die Gegenwart herangeführt. Aber natürlich waren diese
kommunikative Verfügbarkeit der Resultate von Kommunikation. Anders als in den Erwartungen des 18. Semantiken nicht für sich selbst "Semantiken" gewesen, sondern man hatte geglaubt, das beschreiben zu
Jahrhunderts geht es also nicht mehr darum, die Einheit in der Einheit repräsentativ (oder doch vernünftig, können, was der Fall ist oder doch sein sollte. Die von Zeit zu Zeit aufkommende Einsicht, daß es sich um
oder doch mächtig) zum Ausdruck zu bringen. Es geht um das laufende Prozessieren struktureller Differenzen Beschreibungen handele, die unangemessen geworden waren (zum Beispiel die Unterscheidung von Hellenen
und semantischer Unterscheidungen. Und erreicht wird damit hohe Irritabilität des operativ geschlossenen und Barbaren im Zeitalter des Hellenismus), führte nur zu einer Verschiebung des blinden Flecks, in dem der
Systems der Gesellschaft sowie hohe Eigenkomplexität der jeweils relevanten Strukturen bei gleichzeitiger Beobachter selbst sich verborgen hält. Noch heute werden Berichte der Massenmedien so abgefaßt, als ob sie
1810
Absorption von Ungewißheit. Tatsachen wiedergeben, und das, was sich daraus als Gesellschaftsdarstellung zusammenfügt, gilt uns folglich
Mit dieser Position der Massenmedien und der öffentlichen Meinung wird es zu einem Problem für die als Tatsachenmosaik. Wenn Selektivität reflektiert wird, dann so, daß man weiß, daß auch andere Tatsachen
Soziologie, ob und wie sie sich an gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen beteiligen kann. Sie wird neue hätten berichtet werden können.
Selbstbeschreibungen der Gesellschaft allenfalls anbrüten, nicht aber durchsetzen können. Daß sie für ihren Aber all dies trifft nicht zu; trifft zumindest nicht so zu, wie es gemeint ist. Wir haben am Beginn dieses
Hausgebrauch Theorien produzieren, zerstören und neu produzieren kann, versteht sich von selbst. Aber das Kapitels bereits darauf hingewiesen, daß Beschreibungen Beobachtungen sind, die sich als unterscheidende
wäre nur ein Beitrag zu ihrer eigenen Autopoiesis, nur die Operation des Subsystem Soziologie des Bezeichnungen aktualisieren müssen. Das aber hat den Doppeleffekt, daß die Welt als unmarked space
Subsystems Wissenschaft des Gesellschaftssystems. Ein Überschreiten dieser Beschränkungen wird oft von konstituiert wird und daß die Operation des Beobachtens (und mit ihr der Beobachter selbst im Vollzug seiner
1811
den "Intellektuellen" erwartet. In der Praxis wird ein solches Programm dann freilich eher von Operation) unbeobachtbar bleibt. Es gibt in allen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen mithin zwei
1812
soziologischen Schriftstellern eingelöst. Blindheiten, die miteinander korrespondieren: die alle Unterscheidungen transzendierende Welteinheit und der
Die Experimente, die in dieser Richtung unternommen worden sind, zeigen zugleich, daß es so nicht jeweils fungierende Beobachter. Wenn wir von historischer Semantik sprechen, dann ist dies vorausgesetzt.
geht. Wenn die Soziologie eine Gesellschaftstheorie anbietet, kann sie dies nur in Reflexion ihrer eigenen Lage Wir können deshalb fragen (und könnten unser Material nochmals durchgehen mit der Frage), wie die
tun, also nur als fachgebundene Eigenleistung, die den Kriterien des eigenen, operativ geschlossenen Systems Semantiken das Absichern ihrer Immanenz und das Verdecken ihrer Transzendenz vollziehen. Oder: welche
zu genügen hat. Wie gerade die Selbstreflexion der Soziologie zeigt, ist und bleibt auch dies ein Mystifikationen eingebaut sind, damit man nicht sieht, daß man nicht sieht, wasman nicht sieht.
gesellschaftliches Beobachten und Beschreiben; denn es bedient sich der Kommunikation. Es ist ohne weiteres Wir können diese Zweitanalyse hier nicht durchführen. Es ist klar, daß sie, was Welt betrifft, auf
Selbstbeschreibung der Gesellschaft, aber eben eine Selbstbeschreibung, die durch besondere Systemgrenzen religiöse Grundlagen führen würde, und, was den Beobachter betrifft, auch auf die Axiome der zweiwertigen
geschützt ist, sich deshalb besonderer Formen, also besonderer Unterscheidungen bedient und, anders als die Logik, deren Evidenz ihre Setzung als Instrument der Beobachtung und damit den Beobachter verdeckt. Es ist
öffentliche Meinung, auch dies noch reflektiert. klar, daß dies zu einer Kritik der traditionsbestimmenden (sogar ihre Kritik bestimmenden) ontologischen
Die damit verfügbaren Möglichkeiten werden mißverstanden, sie werden jedenfalls zu eng interpretiert, Metaphysik im Hinblick auf ihre "Unterlassungen" führen würde — zu einer Aufgabe, derer sich heute vor
wenn die Soziologie sich daraufhin als Oppositionswissenschaft begreift und sich damit im Streit der allem Jacques Derrida angenommen hat.
1813
Auch für die Darstellung der Gesellschaft durch die
progressiven und konservativen Ideologien auf die eine Seite schlägt. Das kann nur dazu führen, daß die Massenmedien würde gelten, daß die bekannte und sichtbare Selektion der Tatsachen und Meinungen
Einheit der Differenz erneut unreflektiert bleibt. Wenn die Soziologie sich als "kritische" Wissenschaft verdeckt, daß die Welt nicht nur ein "Undsoweiter" von noch mehr Tatsachen und noch mehr Meinungen ist,
begreift, kann damit dieselbe Schwäche gemeint sein. Aber "kritisch" kann auch, dem ursprünglichen sondern, wie Theologen von Gott sagen würden: etwas ganz anderes.
Wortsinne näherkommend, bedeuten, daß die Soziologie in der Lage sein muß, zu unterscheiden und den Ein aktuelles Beispiel mag genügen, um diesen Punkt zu verdeutlichen. Wir wählen die ökologischen
Gebrauch von Unterscheidungen zu reflektieren. Und damit sind wir erneut beim Begriff des Beobachters Probleme als zunehmend beachtete Folie der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft.
angelangt. Allgemein wird angenommen, daß die moderne Gesellschaft mehr als irgendeine ihrer Vorgängerinnen
irreversible Veränderungen in ihrer Umwelt erzeugt. Das wird vor allem auf die moderne Technik
zugerechnet, aber auch auf die am Markt und nur am Markt orientierte industrielle Produktion und nicht
zuletzt auf demographische Veränderungen: auf die Ermöglichung längerer Lebenszeiten für immer mehr
Menschen. Dies ist eine (selbstverständlich hochselektive) Beschreibung der Gesellschaft im ökologischen
1808
Siehe für das eine Argument, das des Philosophen, Kants bekannte Antwort auf die Frage: Was ist Aufklärung? (1784); Kontext, was vor allem heißt: in ihrem Angewiesensein auf das Lebewesen Mensch.
für das andere, das des Politikers, Jacques Necker, De l'administration des finances en France (1784), zit. nach Œuvres Zwei Aspekte dieser Beschreibung sind in unserer Perspektive bemerkenswert. Das Wissen über
complètes Bd. 4 und 5, Paris 1821, Nachdruck Aalen 1970, Bd. 1, S. 49 ff. Zur semantischen Überlastung des Begriffs zu ökologische Zusammenhänge nimmt dank forcierter naturwissenschaftlicher rapide zu. Mehr als jede
Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. auch Stephen Holmes, Benjamin Constant and the Making of Modern Liberalism, New Gesellschaft zuvor sind wir in dieser Hinsicht komplexitätsbewußt. Mehr als für jede andere Gesellschaft
Haven 1984, S. 241 ff.
liegen auch erfolgversprechende Forschungsmöglichkeiten bereit. Zugleich steigt aber damit auch das
1809
So V.O. Key, Jr., Public Opinion and American Democracy, New York 1961, S. 38. Nichtwissen, und zwar überproportional. Mathematik und Simulationstechnik werden dem angepaßt — nur
1810
Zur Belastung des Prozesses der Mitteilungsselektion durch dieses Problem der Unsicherheitsabsorption vgl. Denis um Unprognostizierbarkeiten zu bestätigen. Die Gesellschaft kann sich bei steigendem Wissen (und nicht
McQuail, Uncertainty about the Audience and the Organization of Mass Communication, Sociological Review Monographs obwohl, sondern weil ihr Wissen zunimmt) nicht mehr über Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen
13 (1969), S. 75-84. Praktisch wird dieses Problem höchst effektiv durch den Zeitdruck in den Redaktionen gelöst. Veränderungen und Umweltveränderungen informieren. Weder die alten Naturgesetze noch die Erfahrungen
1811
So explizit Talcott Parsons / Gerald Platt, The American University, Cambridge Mass. 1973. Eine bemerkenswert mit Technik helfen. Es geht nicht um strikt, sondern um lose gekoppelte Sachverhalte, die sich aber sprunghaft
kritische Reflexion dieses Syndroms findet man im Spätwerk von Helmut Schelsky, und dies mit jener Mischung von verändern können. Was früher als wohl geordneter kósmos erschien, wird heute als Bereich möglicher
Reflexionskultur und auf Darstellung der Reflexion verzichtender Polemik, die nach herrschenden Denkgewohnheiten als Katastrophen dargestellt — das eine und das andere eine Form, den unmarked space plakativ zu verdecken.
"konservativ" gilt. Vgl. besonders Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen: Klassenkampf und Priesterherrschaft der
Intellektuellen, Opladen 1975.
1812 1813
Vgl. als ein neueres Beispiel Ulrich Beck a.a.O. (1986), und im Stil nochmals verschärft, ders., Gegengifte: Die Siehe als Thematisierung solcher "omissions" zum Beispiel die Aufsatzsammlung Marges de la philosophie, Paris
organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt 1988. 1972.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 503 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 504

Ein Beobachter, der solche Beschreibungen vorträgt, sieht sich selbst als Warner, ohne aber diese Rolle ereignen könne. Aber Verstösse konnten dann immer noch als Bestätigung der akzeptierten Unterscheidungen
1814 1818
reflektieren zu können. Er bleibt bei einer zweiwertigen Logik: die Gesellschaft wird sich selbst auslöschen, gelesen werden. Das galt bis weit in die frühe Neuzeit hinein. Die Reflexion der Kontingenz blieb ein
wenn sie sich nicht radikal ändert. Entweder/Oder. Aus möglichen Katastrophen werden schon jetzt laufende Reservat der Theologie und gewann durch sie eine gesellschaftlich unschädliche Form. Die Möglichkeiten der
1815
katastrophale Entwicklungen. Die Schemata suggerieren Skripts, die Skripts suggerieren Wertungen. Die Beobachtung zweiter Ordnung, die über normale Personkenntnisse hinausgehen, blieben den
Not rechtfertigt Übertreibungen, Moralisierungen, Anschuldigungen, semantische Verschiebungen vom Gottesbeobachtern vorbehalten.
1816
Möglichen ins schon Wirkliche. Motivation erfordert Reflexionsverzicht. Aus der Not wird ein Appell an Mit dem Zurücktreten der religiösen Weltsetzung war die Frage, wie die Welt in der Welt beobachtet
die Tugend der anderen. werden könne, also wie die Welt sich selber beobachte, freigegeben. Damit kam diese Aufgabe auf den
Von ökologischen Veränderungen sind zunächst Menschen betroffen. Sie sterben schneller als Menschen zu, der sich daraufhin "Subjekt" nannte, um seiner Weltbeobachtung trotz aller empirischen
unvermeidlich, oder auch in auffällig großen Zahlen im Zeitpunkt von Katastrophen. Oder sie werden Verschiedenheit der Menschen Letztgewissheit und Einheitlichkeit zu garantieren. Fast unvermeidlich
chronisch krank. Sie leiden und sterben weniger an Infektions- und mehr an den sogenannten tendierte diese Denkfigur dazu, für das Subjekt einen "transzendentalen", wenn nicht "extramundanen"
Zivilisationskrankheiten. Solche Sachverhalte binden die Aufmerksamkeit und führen dazu, daß zwischen Standpunkt zu reklamieren. Das konnte jedoch nicht befriedigen. Wir müssen deshalb zu der radikaleren (weil
Menschengattung und Gesellschaft nicht deutlich unterschieden wird. Die Thematisierung der Gesellschaft paradoxieträchtigen) Frage zurückkehren, wie die Welt sich selbst beobachten könne. Und für den
unter dem Gesichtspunkt selbstinduzierter ökologischer Probleme verdeckt mithin eine Differenz, die sich soziologischen Blick ist klar, daß dies Frageschema zugleich als Vorlage dienen kann für die Frage, wie die
anderenfalls aufdrängen würde, nämlich die von Kommunikationssystem auf der einen und organischen bzw. Gesellschaft sich selber beobachten könne.
psychischen Systemen auf der anderen Seite. Es ist nicht mehr nur das Problem weiterer Entwicklung und In den an Fichte anschließenden Überlegungen der Romantiker waren bereits nicht mehr nur subjektive
weiteren Wachstums, das in erster Linie Sorge bereitet. Auch die ökologische Gesellschaftsbeschreibung steht Kandidaturen angemeldet worden. Eine der Möglichkeiten war, neben Sprache, Poesie. Von da aus machten
unter dem Zeichen der Sorge. Alternativen eine schlechte Figur. Bei August Wilhelm Schlegel liest man zum Beispiel: "Wenn man sich aber
Gerade dies höchstmoderne Gemisch von Wissen und Aufregung vermag unsere These der doppelten die gesamte Natur als ein selbstbewußtes Wesen denkt, wie würde man die Zumutung finden: sich selbst
1819
Invisibilisierung belegen. Im unmarked space dessen, was nur mit fiktiven "Scenarios" und mit vermittels der Experimentalphysik zu studieren?" Im 20. Jahrhundert ist dagegen die Physik geradezu das
interessenbedingten Annahmen über Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches beschrieben werden kann, Paradebeispiel für unser Problem. Für die Physik dieses Jahrhunderts ist klar, daß die Selbstbeobachtung der
etabliert sich eine Gesellschaftsbeschreibung, die darauf mit Selbstinvisibilisierung reagiert. Die Welt auf physikalische Instrumente, darunter lebende Physiker, angewiesen ist, die die Operation der
Zweiwertigkeit ihrer Codierung, sei sie logisch, sei sie moralisch, sei sie in den Prognosen bifurkativ, verdeckt Selbstbeobachtung erst ermöglichen — und zugleich irritieren. Diese Erfahrung — man kann es so nennen —
die Einheit der eigenen Position. Und dies ist weder ein Vorwurf noch eine Äußerung zur Sache selbst, um die bestätigt und überbietet alles, was die Subjektphilosophie und die Sprachphilosophie ins Auge gefaßt hatten.
es hier geht. Sondern behauptet wird nur: es ist anders gar nicht möglich. Denn Beobachten ist Als Form der Selbstbeschreibung erfordert sie Mathematik, die sich dieser Aufgabe anpassen muß. Als Form
unterscheidendes Bezeichnen. der Reflexion erfordert sie ein Beobachten des Beobachtens, ein Beobachten zweiter Ordnung.
Zum Glück ist diese unvermeidliche Invisibilität der Welt und des jeweils operierenden Beobachters kein Das hat, will man sich nicht blind stellen, Konsequenzen auch für eine Soziologie, die als
ontologisches Faktum. Es handelt sich nicht um eine Eigenschaft bestimmter Dinge oder Dinggesamtheiten. Gesellschaftstheorie auftreten will, also als eine Theorie des Welt beschreibenden Gesellschaftssystems. Auch
Das Problem liegt jeweils im Rücken, und es läßt sich verschieben, wenn sich Beobachter finden, die andere sie muß durchdenken, was sie tut, wenn sie beobachtet und beschreibt, wie in der Gesellschaft die Gesellschaft
Beobachter beobachten. Die Verschiebung kann auf der Zeitdimension und auf der Sozialdimension erfolgen. selbst und mit ihr die Welt der Gesellschaft beobachtet und beschrieben wird. Und das sprengt den
Man sieht später, was bei früheren Beobachtungen ausgeblendet war, oder andere sehen es. Auch für die Traditionsrahmen all dessen, was als soziologische "Kritik" der Gesellschaft vertreten worden ist.
Beobachtung zweiter Ordnung gilt natürlich, was für jede Beobachtung gilt. Aber eben deshalb kann es auch Die kritische Soziologie hatte Attitüden des Besserwissens angenommen. Sie gerierte sich als
1817
hier wieder zu Verschiebungen, displacements, différance kommen. Das Problem liegt also eher in der konkurrierender Beschreiber mit tadelfreien moralischen Impulsen und besserem Durchblick. Wie immer
gesellschaftlichen Institutionalisierung der Praxis des Beobachtens zweiter Ordnung. Daß dies in der vorsichtig formuliert und wie immer den Anforderungen an Wissenschaftlichkeit zu genügen bestrebt: ihre
modernen Gesellschaft üblich geworden ist, läßt sich vielfältig und vor allem für die verschiedensten Perspektive war die eines Beobachters erster Ordnung. Sie bot eine konkurrierende Gesellschaftsbeschreibung
Funktionssysteme belegen. Es bleibt nur zu erkennen, daß hier eine Alternative zu metaphysischen an und stand damit vor der Aufgabe, sich zu erklären, weshalb andere diese Auffassung nicht teilten, sondern
Letztbegründungen — schon etabliert ist. im Verblendungszusammenhang ihrer Interessen die Gesellschaft anders beschrieben, etwa als commercial
1820
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der modernen Weltdarstellung, daß man die Frage stellt, wie die society. Ihre Erklärungsbegriffe waren daher nicht frei von diffamierenden Intentionen. Damit war jedoch
Welt sich selber beobachten könne. In der christlichen Weltdarstellung war eine solche Frage blockiert schon eine ambivalente, auf Dauer nicht haltbare Position erreicht. Das Beschreiben dessen, der
gewesen durch die Annahme, Gott beobachte die Welt. Dann kam es nur darauf an, in aller Bescheidenheit gesellschaftskonform, konservativ, affirmativ usw. denkt, und die Erklärung, weshalb er dies tut, ja tun muß,
(und ohne teuflische Gelüste) zu beobachten, wie Gott die Welt beobachtet, um daraus Schlüsse für das eigene kompensierte in gewisser Weise das Stagnieren eigener Theorieentwicklung. Ideologiekritik wurde
Verhalten zu ziehen. Zunehmende Komplexität wurde mit semantischer Varietät aufgefangen, mit einer Schwerpunkt, und in gewissem Umfange verlagerte sich die eigene Gesellschaftsbeschreibung auf die
Unterscheidung der Wesen, mit Differenzierungen nach oben und unten und mit Vorstellungen einer Bemühung, zu erklären, auf Grund welcher gesellschaftlicher Bedingungen andere nicht in der Lage sind, die
natürlichen Ordnung, die nicht ausschlossen, daß etwas gegen die Ordnung oder außerhalb der Ordnung sich Gesellschaft (inclusive sich selber) so zu beschreiben, wie es von den Kritikern für richtig gehalten wurde.
Und in dem Maße, als konservative Einstellungen (das heißt: Einstellungen gegen die Ideen der Französischen
1814
Er würde dabei sofort auf die Komplikationen stoßen unter Einschluß der Notwendigkeit einer mehrwertigen Logik des
Warnens, die Lars Clausen / Wolf R. Dombrowsky, Warnpraxis und Warnlogik, Zeitschrift für Soziologie 13 (1984), S. 1818
Siehe zu diesem Thema Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur, dt. Übers. Frankfurt
293-307, erörtert haben.
1987. Ferner zum Umkippen des Sinns von Parodie in der Moderne David Roberts, Art and Enlightenment: Aesthetic
1815
Siehe erneut Dreitzel / Stenger a.a.O. (1990). Theory after Adorno, Lincoln Nebr. 1991, insb. S. 164 ff.
1816 1819
Und dies bewußt. Aber: wie bewußt? Siehe nur Ulrich Beck, Gegengifte: Die organisierte Unverantwortlichkeit, Die Antwort lautet "blindes Tappen". Siehe August Wilhelm Schlegel, Die Kunstlehre (Teil 1 der Vorlesungen über die
Frankfurt 1988. Belege ließen sich natürlich im Übermaß anführen — ebenso wie entsprechend unsachgemäße Reaktionen Schöne Literatur und Kunst, 1801 ff.), zitiert nach der Ausgabe Stuttgart 1963, S. 49. Der Kontext macht im übrigen klar,
darauf. Ich beschränke mich auf Soziologen. daß die Invektive nicht so sehr auf die Physik als auf die empirische Psychologie zielt.
1817 1820
Siehe Peter Fuchs, Moderne Kommunikation: Zur Theorie des operativen Displacements, Frankfurt 1993. Vgl. auch So — von Marx bis Adorno — "Fetischismus". Siehe zur Herkunft auch Alfonso M. Iacono, Le fétichisme: Histoire
ders., Die Erreichbarkeit der Gesellschaft: Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt 1992. d'un concept, Paris 1992.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 505 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 506

Revolution) an Überzeugungskraft verloren und in dem Maße, als die Vorstellungswelt des Liberalismus Wenngleich ihr Wissen gesellschaftliches Wissen ist und bleibt, weiß die Soziologie mehr, als eine
durch Übertragung auf wirtschaftliche Sachverhalte an dynamischer Stabilität gewann, nahm diese Gesellschaft ohne Soziologie wissen würde. Um dies zu benennen, hat Paul Lazarsfeld den Begriff latent
Faszination der Kritiker durch ihre Gegner zu. Sie mußten schließlich das Etikett "neokonservativ" erfinden, structure analysis eingeführt und zur Methodologie empirischer Sozialforschung in Verbindung gesetzt.
um ihre Gegner zu formieren und sich selbst das Geschäft der Kritik zu ermöglichen. Die Dauerproduktion Latenz in diesem Verständnis ist der Beobachtungsbereich eines Beobachters erster Ordnung, der mehr
von Dissens im Blick auf vernünftige Verständigung, und wer wird hier nicht an das intellektuelle Schicksal als bisher über seinen Gegenstand wissen möchte. Das ist im sogenannten "Positivismusstreit" als
1823
von Jürgen Habermas denken, ist die konsequente Endposition dieser großen bürgerlichen Tradition von Krise unzulänglich kritisiert worden. Wie immer man darüber urteilen mag: es gibt jedenfalls auch die
und Kritik. Möglichkeit der Beobachtung zweiter Ordnung, der Beobachtung der Gesellschaft als eines beobachtenden
Die Kritik (im geläufigen Verständnis) setzt eine Diagnose der Gesellschaft voraus, die diese beschreibt Systems. Auch für den Beobachter zweiter Ordnung gilt, daß er weniger und anderes sehen kann als der
als in einer Krise befindlich. Krisen sind vorübergehende Zustände. Man muß die Hoffnung nicht aufgeben. beobachtete Beobachter. Für ihn gewinnt daher auch der Begriff der Latenz einen anderen Sinn, bezogen
Die krisenhaften Erscheinungen der Gegenwart werden auf Fehlentwicklungen, vor allem nämlich auf den blinden Fleck des beobachteten Beobachters, auf das, was er nicht sehen kann. Und das, was
Industriekapitalismus, zurückgeführt, die man korrigieren kann. Es muß gleichsam eine gute Gesellschaft in der Gesellschaft als natürlich und notwendig gilt, wird in dieser Perspektive etwas Artifizielles und
hinter der Gesellschaft geben, auf die man Strukturen und Effekte zurückdirigieren kann, um in eine bessere Kontingentes. Aber daraus folgt nicht, daß man auch sagen könnte, wie es anders zu machen wäre.
Zukunft zu gelangen. Noch in den 70er Jahren konnte man lesen, daß die ökologischen Probleme der Versteht die Soziologie sich als "kritisch" in diesem Sinne, folgt sie damit nicht notwendigerweise den
modernen Gesellschaft ein Phänomen kapitalistischer Gesellschaften seien und unter sozialistischen Direktiven der "Frankfurter Schule". Sie kann die bloße Konfrontation, die Ablehnung von "Kapitalismus",
Bedingungen nicht auftreten würden. In dem Maße jedoch, als die moderne Gesellschaft den Erfahrungen mit "System", "Klassenherrschaft" vermeiden, die in einer Negation ohne Alternativkonzept stecken bleibt. Auch
sich selber realistisch Rechnung zu tragen lernt, verschwindet diese Doppelung der Zurechnungsebenen und wenn man Latenzen, Ideologien, Vordergründigkeiten und Sichtunmöglichkeiten der gesellschaftlichen
mit ihr verschwindet die Krise. Bei allen Schwierigkeiten und bei allen, bei weitem nicht ausgeschöpften Selbstbeobachtungen mit einschließt, und auch wenn man sieht, daß die Strukturen des Gesellschaftssystems
1824
Möglichkeiten der Korrektur müssen wir mit der Gesellschaft zurechtkommen, die als Resultat von Evolution zu kaum erträglichen Folgen führen , liefert eine solche Beschreibung kein Rezept für die Herstellung eines
entstanden ist. Und selbst der Utopiebedarf ist noch dieser Gesellschaft zuzurechnen. anderen Gegenstandes Gesellschaft, sondern nur eine Verlagerung von Aufmerksamkeiten und
Die Beobachtung solcher Sachlagen erfordert eine Position dritter Ordnung, die sich jedoch nicht Empfindlichkeiten in der Gesellschaft. Nimmt man "kritisch" in diesem Sinne, heißt das zunächst, daß die
prinzipiell (sondern nur in ihrer Reflektiertheit) von einer Position des Beobachtens zweiter Ordnung Soziologie die Position eines Beobachters zweiter Ordnung einnimmt. Sie hat es mit einer Beobachtung von
unterscheidet. Es handelt sich nicht nur um ein Kettenphänomen, nicht nur darum, daß A beobachtet, wie B C Beobachtern zu tun. Das schließt, wie bereits bemerkt, eine "autologische" Theoriekomponente ein. Denn der
beobachtet, oder Habermas beschreibt, wie Hegel Kant beschreibt; sondern um eine Reflexion der Gegenstand dieses Beobachtens ist das Beobachten, und es ist eine zweite Frage: ob fremdes Beobachten oder
Bedingungen der Möglichkeit der Beobachtung zweiter Ordnung und ihrer Folgen für das, was dann noch eigenes. Ferner führt dieses Programm unausweichlich zu einem "konstruktivistischen"
1825
gemeinsame Welt oder Beschreibungen ermöglichende Gesellschaft sein kann. Es liegt nahe, in dieser Wissenschaftsverständnis. Eine Wissenschaft, die sich selbst als Beobachtung zweiter Ordnung begreift,
Situation, gleichsam als Weiterentwicklung der kritischen Soziologie, die mit "Kritik" bezeichnete vermeidet Aussagen über eine unabhängig von Beobachtungen gegebene Außenwelt, und sie findet die
Unterscheidung durch die Unterscheidung von Beobachtern zu ersetzen. Das wiederum setzt die Einsicht Letztgarantie des Realitätsbezugs ihrer Kognition allein in der Faktizität ihres eigenen Operierens und in der
voraus, daß es sich bei allem Beobachten und Beschreiben (auch bei dem zweiter und dritter Ordnung) um Einsicht, daß dies ohne hochkomplexe Voraussetzungen (wir hatten von strukturellen Kopplungen
1821
kontextabhängige Realoperationen handelt. Auch ein Beobachter zweiter Ordnung ist immer ein gesprochen) gar nicht möglich ist. Es wäre mithin verfehlt, hier die Gefahr eines "Solipsismus" zu wittern.
Beobachter erster Ordnung insofern, als er einen anderen Beobachter als sein Objekt herausgreifen muß, um Das Korrektiv liegt in der Beobachtung zweiter Ordnung selbst, nämlich in der "autologischen" Komponente
durch ihn (wie immer kritisch) die Welt zu sehen. Das zwingt ihn zum autologischen Schluß, das heißt: zur der Erkenntnis und in der Einsicht, daß alles Erkennen Unterscheidungsgebrauch ist und insofern — nur
Anwendung des Begriffs der Beobachtung auf sich selber. Der Beobachter ist eben kein Subjekt mehr mit insofern! — stets eine Eigenleistung des Systems. Nicht einmal das hier diskutierte Problem könnte formuliert
transzendental begründeten Sonderrechten im Safe; er ist der Welt, die er erkennt, ausgeliefert. Ihm ist keine werden, wenn es nicht die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz gäbe; und diese
Selbstexemtion gestattet. Er muß sich auf der Innenseite oder auf die Außenseite der Form, die er benutzt, Unterscheidung kann, wie sich schon aus der Formulierung ergibt, nur im System selbst und nur ohne jedes
1822
verorten. Er ist selbst, sagt Spencer Brown, ein "mark". Korrelat in der Umwelt getroffen werden.
Denn jede Weltbeobachtung findet in der Welt statt, jede Gesellschaftsbeobachtung, wenn sie als Der Beobachter erster Ordnung, hier also die normale gesellschaftliche Kommunikation, beobachtet die
1826
Kommunikation vollzogen wird, in der Gesellschaft. Die Gesellschaftskritik ist Teil des kritisierten Systems, Welt, um eine Formulierung Maturanas aufzugreifen, in einer "Nische" , und für ihn ist daher die Welt
sie läßt sich inspirieren und subventionieren, sie läßt sich beobachten und beschreiben. Und es kann unter
heutigen Bedingungen schlicht peinlich wirken, wenn sie bessere Moral und bessere Einsicht für sich
1823
reklamiert. Siehe Theodor W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 1969. Im Text
Eine weitere Konsequenz liegt in der Instrumentenabhängigkeit jeder Beobachtung — bis hin zur distanzieren wir uns von dieser Kontroverse, ohne ihre Thematik für unerheblich zu halten. Sie ist nur als Kontroverse
Quantenphysik. Das heißt auch, daß Selektion unumgänglich und Vollständigkeit ausgeschlossen ist. Weder nicht sinnvoll. Das Problem der "Dialektik" ausklammernd, reduzieren wir den Unterschied auf die Differenz von
Beobachtung erster und zweiter Ordnung und ein entsprechend unterschiedliches Verständnis von Latenz, Kritik,
in der Fremdbeobachtung noch in der Selbstbeobachtung kann die gesamte Realität eines autopoietischen Aufklärung.
Systems erfaßt werden. Andererseits kann ein Beobachter (und wieder: in beiden Arten) Regelmäßigkeiten 1824
feststellen, die nicht zu den Vollzugsbedingungen der Autopoiesis des Systems gehören. Man braucht keine Siehe für ein Beispiel: Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, Opladen 1986.
1825
Grammatik zu kennen, um sprechen zu können; aber ein Beobachter kann entsprechende Regeln erkennen. Die heutige Wissenschaftssoziologie ist ohnehin auf diesem Weg. Vgl. zum Beispiel David Bloor, Knowledge and
Dasselbe gilt für Regelmäßigkeiten in den Außenbeziehungen des Systems, für sein äußeres Erscheinungsbild, Social Imagery, London 1976; Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis: Zur Anthropologie der
für Inputs und Outputs. In all diesen Hinsichten ist auch die Soziologie als Form der Selbstbeobachtung der Naturwissenschaft, Frankfurt 1984; Barry Barnes, About Science, Oxford 1985. Ihr fehlt nur eine entsprechend
radikalisierte Erkenntnistheorie, und dem könnte man abhelfen, wenn man die Möglichkeiten einer Theorie operativ
Gesellschaft ihrem Gegenstand, was dessen Autopoiesis betrifft, überlegen, aber autopoietisch redundant.
geschlossener Systeme nutzen würde. Vgl. dazu Niklas Luhmann, Erkenntnis als Konstruktion, Bern 1988; ders., Die
Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990.
1826
1821 Mit Bezug auf Organismen formuliert Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit,
Und insofern um "doing what comes naturally", um es mit Stanley Fish zu formulieren. Siehe sein: Doing What Comes
Braunschweig 1982, S. 36 f.: "Mit Bezug auf den Beobachter erscheint die Nische daher als ein Teil der Umwelt, für den
Naturally: Change, Rhetoric, and the Practice of Theory in Literary and Legal Studies, Oxford 1989.
beobachteten Organismus stellt die Nische hingegen den gesamten ihm zugehörigen Interaktionsbereich dar, sie kann
1822
Laws of Form a.a.O. S. 76: "The observer, since he distinguishes the space he occupies, is also a mark." daher als solche nicht Teil einer Umwelt sein, die ausschließlich im kognitiven Bereich des Beobachters liegt. Nische und
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 507 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 508

ontisch gegeben. Seine Philosophie wäre eine Ontologie. Der Beobachter zweiter Ordnung kann dagegen eine Erhaltung der Umwelt usw. sei, um damit die Möglichkeit zu eröffnen, auf diese Mitteilung mit Annahme
System/Umwelt-Beziehung erkennen, die in der für ihn gegebenen Welt (in seiner Nische) auch anders oder mit Ablehnung zu reagieren; sondern man sagt nur, was man für gerecht und was man für ungerecht hält.
organisiert sein könnte. Was der Beobachter erster Ordnung sieht und was er nicht sieht, hängt für den Die Geltung des Wertes wird vorausgesetzt und hat allein in diesem Modus der Kommunikation ihre täglich
1830
Beobachter zweiter Ordnung davon ab, welche Unterscheidungen der Beobachtung zu Grunde gelegt werden; erneuerte Unbezweifelbarkeit.
und das können immer auch andere Unterscheidungen sein. In der Perspektive des Beobachters zweiter Ordnung wird also nicht etwa "wertfrei" argumentiert. Man
Dies gilt für jede Beobachtung, also auch für die Beobachtung zweiter Ordnung. Jede Beobachtung ersetzt nur die wertende Unterscheidung, die in Bezug auf sich selbst blind operiert, durch die Unterscheidung
benutzt eine Unterscheidung, um etwas (aber nicht: die Unterscheidung selbst) zu bezeichnen. Jede Wertgeltung/Kommunikation. Auch diese Unterscheidung funktioniert, wie der autologisch Rückschluß lehrt,
Beobachtung benutzt, mit anderen Worten, die operativ verwendete Unterscheidung als blinden Fleck, denn blind; und es kann sein, daß sie sich in der Forschungspraxis nicht bewährt und durch eine andere
anders wäre sie nicht in der Lage, etwas herauszugreifen, um es zu bezeichnen. Und auch das gilt für die Unterscheidung ersetzt werden muß. Im Kontext der Kommunikation gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen
Beobachtung zweiter Ordnung, die einen Beobachter (und nichts anderes) herausgreift, um ihn zu beobachten. wird damit eine Distanz zu den unmittelbaren Wertengagements in der Gesellschaft erzeugt, die es der
In dem Maße, als Theorien in diesem Sinne radikal konstruktivistisch überarbeitet werden, muß die Soziologie ermöglicht, sich innerhalb ihres operativ geschlossenen Systems am Netzwerk der eigenen
Voraussetzung einer strukturellen Latenz durch die Voraussetzung einer operativen Latenz ersetzt werden. Kommunikation auszurichten.
1827
Das heißt für die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, daß notwendige Latenz kontingent wird , Was die Soziologie zusätzlich tun kann, ist: die strukturellen Bedingungen für ihre Position als
nämlich wählbar wird und immer auch anders möglich ist — je nach dem, welche Unterscheidung der Beobachter zweiter Ordnung zu reflektieren. Sie liegen, wie leicht zu sehen, in der funktionalen
Beobachtung zugrundegelegt wird. Differenzierung des Gesellschaftssystems. Durch funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems wird
Was Selbstbeschreibungen des Gesellschaftssystems angeht, also des Systems, das in sich selbst jedem Funktionssystem die Einrichtung einer eigenen Autopoiesis ermöglicht. Zugleich wird die Position
Beobachtung erster und Beobachtung zweiter Ordnung ermöglicht, führt der Übergang von der ersten zur eliminiert, die als die "herrschende" für alle sprechen konnte. Dadurch entsteht jener logische
1828
zweiten Ebene dazu, die Realität als kontingent, als auch anders möglich zu beschreiben. Die Strukturreichtum, der, wenn man ihn an traditionalen Erwartungen mißt, als Relativismus oder als
Selbstbeschreibung endet für den Beobachter erster Ordnung mit Angaben über invariante Grundlagen, über Pluralismus beschrieben wird. Vor allem gewinnen und reproduzieren die Funktionssysteme damit eigene
die Natur und über Notwendiges. Heute nimmt der Wertbegriff, der Superunbezweifelbares symbolisiert, Grenzen, die es ihnen ermöglichen, die Gesellschaft durch die Unterscheidung von Selbstreferenz und
diesen Platz ein. Für den Beobachter zweiter Ordnung erscheint die Welt dagegen als Konstruktion über je Fremdreferenz zu rekonstruieren, bezogen auf das jeweils eigene Funktionssystem. Unter diesen
verschiedenen Unterscheidungen. Ihre Beschreibung ist infolgedessen nicht notwendig, sondern kontingent, Rahmenbedingungen operiert auch die Wissenschaft und speziell die Soziologie. Soziologie kann in ihrer
und nicht mit Bezug auf Natur richtig, sondern artifiziell. Sie ist selbst ein autopoietisches Produkt. Dabei Gesellschaftsbeschreibung miterfassen, daß sie ihrerseits in der Gesellschaft durch die Gesellschaft ermöglicht
wird (und darin liegt die autologische Komponente) die Differenz von notwendig/kontingent und von wird.
natürlich/artifiziell nochmals reflektiert und auf die Unterscheidung von Beobachtung erster und Beobachtung Das führt schließlich auf die Frage zurück, wie es in einem Kommunikationszusammenhang auf der
zweiter Ordnung zurückgeführt. Die Ambition einer gemeinsamen Grundlage, eines Grundsymbols, eines Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung zu Stabilitäten kommen kann. Während der Beobachter erster
Abschlußgedankens muß aufgegeben — bzw. den Philosophen überlassen werden. Die Soziologie findet, Ordnung voraussetzt, daß es eine geordnete Welt gibt, die eindeutige Merkmale hat, die man richtig oder
jedenfalls auf diesem Wege, nicht zu dem, was Hegel "Geist" genannt hatte. Sie ist keine Geisteswissenschaft. falsch beschreiben kann, muß der Beobachter zweiter Ordnung auf diese logisch-ontologische Annahme
Im heutigen Kontext werden die damit angedeuteten Unterschiede hauptsächlich am Wertbegriff verzichten. Er muß voraussetzen, daß die Welt diverses Beobachten toleriert, und zwar so, daß das, was sie
diskutiert. Es versteht sich von selbst, daß keine Wissenschaft und auch nicht die Soziologie eine wertlose bei unterschiedlichen Unterscheidungen zeigt, nicht immer als Irrtum der einen oder der anderen Beobachtung
Kommunikation produzieren will; und zumindest in diesem Sinne gibt es keine "wertfreie" Wissenschaft. Aber eliminiert werden kann. Legt man die allgemeine Theorie rekursiver Operationen zu Grunde, kann man dies
1831
was sonst ist mit dieser Formulierung gemeint? Auch diese Frage klärt sich, wenn man Beobachten erster und Problem als Frage nach den "Eigenwerten" des Systems formulieren. Die relativ invariante Objektwelt und
Beobachten zweiter Ordnung unterscheidet. Der Beobachter erster Ordnung beobachtet mit Hilfe von Werten. die Regelmäßigkeiten (Erwartbarkeiten) ihrer Variation werden nun beobachtbar als "Eigenwerte" des
1829
Seine jeweiligen Werte machen für ihn den Unterschied, der sein Erkennen und Handeln steuert. Der Systems, das sie konstruiert. Das Problem verschärft sich, wenn man Latenzbeobachtungen einbezieht. Dann
Beobachter zweiter Ordnung bezieht die Semantik der Werte auf ihre Verwendung in der Kommunikation. Er kann man wissen, daß man sich über Phänomene nicht mehr verständigen kann, und muß folglich
kann zum Beispiel erkennen, daß über die Bezugnahme auf Werte weder Entscheidungen abgeleitet noch Sprachformen entwickeln, die trotzdem eine Fortsetzung der Kommunikation ermöglichen. Hierfür könnte der
1832
Konflikte vermieden werden können. Vor allem aber sieht er, wie die Unbezweifelbarkeit der Werte in der Übergang von Substanzbegriffen zu Funktionsbegriffen einen Anhaltspunkt bieten.
Kommunikation produziert wird, nämlich dadurch, daß nicht direkt, sondern indirekt, nicht über sie, sondern Man könnte formulieren: die Funktion der Funktion ist die Funktion — um deutlich zu machen, daß es
mit ihnen kommuniziert wird. Man teilt ja nicht mit, daß man für Gerechtigkeit, Frieden, Gesundheit, sich um eine Form handelt, die universell und also auch selbstreferentiell praktiziert werden kann. Im weiteren
können sich dann nur noch Fragen der Ergiebigkeit, der Opportunität usw. stellen, nicht aber Fragen der
Umwelt überschneiden sich daher nur in dem Maße, in dem der Beobachter (einschließlich seiner Instrumente) und der Bedingungen der Möglichkeit. Es handelt sich um ein durch Problembezug eingeschränktes
Organismus vergleichbare Organisationen besitzen." Bei der Übernahme dieser Unterscheidung in die Soziologie ist Vergleichsverfahren, das für praktische wie für theoretische Zwecke geeignet ist. Es eignet sich in der Form
hinzuzufügen, daß die Kognitionen des Beobachters erster und zweiter Ordnung sich immer im Medium Sinn formieren
und daß die Überschneidung ihrer Kognitionsbereiche dadurch gewährleistet ist, daß beide Beobachter Kommunikationen
der Frage nach latenten Funktionen besonders gut für eine Beobachtung dessen, was andere nicht beobachten
als Beobachtungsoperationen benutzen. können. Es kann auch offen bleiben, ob die funktionale Betrachtungsweise "kritisch" gemeint ist, das heißt
1833
1827
hier: zur Ablehnung aufrufen soll, oder nicht. Dem Beobachter bleibt diese Einschätzung überlassen,
Daß man sich hier, in der Beschreibung dritter Ordnung, auf eine Paradoxie einlassen muß, ist leicht zu erkennen,
wenn man bedenkt, daß Kontingenz durch Negation von Notwendigkeit definiert wird. Und ebenso deutlich wird, daß wir
sofern er selbst mit der Unterscheidung kritisch/affirmativ beobachten will.
uns in einer supramodalen Sphäre befinden, die einst ausschließlich für Gott reserviert war.
1828 1830
Kein Zufall also, daß die These der Kontingenz der Welt zuerst in der Theologie formuliert worden ist, nämlich als Hierzu ausführlicher Kap. 2......
Resultat der Bemühungen, Gott als Schöpfergott, also als Beobachter zu beobachten. Dabei bot jedoch der Gedanke an Gott 1831
Siehe Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside Cal. 1981, insb. S. 73 ff.
als den Erstbeobachter, der sich selbst nicht unterscheiden muß, um beobachten zu können, besondere Garantien, die
1832
aufgegeben werden müssen, wenn man die Position des Erstbeobachters mit normalen empirischen Systemen besetzt denkt. Siehe hierzu Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910.
1829 1833
Vgl. hierzu und zur "Blindheit" dieses Wertstrebens William James, On a Certain Blindness in Human Beings, in ders., In der Diskussion des bekannten Vortrags von Kingsley Davis, The Myth of Functional Analysis as a Special Method in
Talks to Teachers on Psychology and to Students on Some of Life's Ideals (1912), Neudruck (The Works of William Sociology and Anthropology, American Sociological Review 24 (1959), S. 757-772, blieb denn auch offen, ob die
James), Cambridge Mass. 1983, S. 132-149. Stoßrichtung kritisch oder konfirmierend zu verstehen sei. Mir selbst wurde in einer Rezension unterstellt, meine Analysen
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 509 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 510

Dieser Hinweis auf die Funktion der Funktion, Eigenwert zu sein in einem autopoietischen sich nicht mehr in der Ferne, nicht mehr in der Form eines unbedingt existierenden Wesens. Sie liegt für uns in
Kommunikationszusammenhang auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, ist exemplarisch zu der Operation des Beobachtens selber, in der Angewiesenheit auf Sinn als Medium, das nur selektiv, nur für
verstehen. Exemplarisch und auch historisch. Es ist so gekommen. Man kann aus dem bloßen Vorkommen Formbildung, nur mit Hinweis auf etwas anderes benutzt werden kann. Und man hat keinen guten Grund
rekursiver Operationen auf dieser Ebene der Selbstbeschreibung nicht schließen, daß und welche Eigenwerte mehr, dies zu beklagen. Denn es würde ja auch für das Beklagen selber gelten.
sich finden lassen. Es ist auch schwer, sie zu entdecken, wenn gleichzeitig immer auch ein Beobachten erster
1834
Ordnung mitläuft, daß die Welt als Welt der Dinge aufnimmt. Und es mag andere Eigenwerte geben ,
zumal selbstreferentielle Unabdingbarkeiten sich auch sonst nachweisen lasse, etwa beim Begriff des Nutzens
in der Frage nach dem Nutzen der Ablehnung der Reflexion des Nutzens und vor allem bei der Umarbeitung XXII. Reflektierte Autologie: Die soziologische Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft
des Begriffs der Vernunft aus einem naturalen, den Menschen vom Tier unterscheidenden Phänomen in ein
transzendentales, sich selbst einsichtig machendes. All dies sind geordnete Rücksichtslosigkeiten, die es Abschließend reformulieren wir das in diesem Buch dargestellte Konzept einer Gesellschaftstheorie als
ermöglichen, die Kommunikation über die Gesellschaft in der Gesellschaft fortzusetzen, auch wenn man auf Angebot einer Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft. Dabei sind strukturelle und semantische
eine einhellige Erfassung des Objekts verzichten muß und folglich gerade diesen Verzicht zu reflektieren hat. Fragen zu unterscheiden, aber in beiden Hinsichten ist von der Einsicht auszugehen, daß eine Beschreibung
Wenn es aber zutrifft, daß die Eigenwerte der modernen Gesellschaft letztlich in Funktionsangaben liegen und des Gesellschaftssystems nur im System, nur mit Mittel des Systems und immer nur mit einem Bruchteil
daß Selbstbeschreibungen sich folglich an der Funktion der Selbstbeschreibung orientieren, ist der Seitenblick seiner Operationen erfolgen kann. Strukturell heißt dies, daß die Soziologie als Teilsystem des Teilsystems
auf andere Möglichkeiten stets eingebaut. Und das heißt nicht zuletzt: daß sich neue Anforderungen an die Wissenschaft mit Konkurrenz zu rechnen hat. Das gilt vor allem für die Faktoren, die bestimmen, was jeweils
Präzision von Beschreibungskonzepten ergeben, die es trotzdem ermöglichen, sich über Probleme und als öffentliche Meinung gilt — also die Massenmedien und mit mehr oder weniger starken Auswirkungen
funktionale Äquivalenzen zu verständigen und Meinungsverschiedenheiten erhalten, ohne dem Belieben die auch die Protestbewegungen. In dieser Hinsicht steht die Soziologie unter dem Druck, das, was die öffentliche
Tür zu öffnen. Meinung bewegt (Tschernobyl, Wiedervereinigung Deutschlands, Zusammenbruch des Sowjetimperiums,
Hierzu könnte man schließlich Überlegungen heranziehen, die in der Semiotik und der Texttheorie Golf-Krieg) sofort zu kommentieren, so als ob sie, um ihren universellen Erklärungsversuch einzulösen, selbst
1835
entstanden sind. Linguistische, konstruktivistische und dekonstruktivistische Techniken der Textanalyse zum Ereignis werden müßte. Offenbar muß man erstmal ein Erlebnis haben, um Soziologie treiben zu können.
sind inzwischen so weit fortgeschritten, daß sie einer Soziologie gefährlich werden könnten, die ihren Daß die Soziologie mit dieser nicht von ihr selbst ausgehenden Bedingung sich nicht abfinden kann, ist
Realitätsbegriff über metaphysische Prämissen festlegt. Der Ausgangspunkt dieser Kritik war die offensichtlich, und sie hat deshalb zu reflektieren, daß sie mit der Schwerfälligkeit ihrer Theorieformen und
Problematisierung der Möglichkeit einer Beziehung von Zeichen zur Außenwelt gewesen. Das hat zur den methodischen Absicherungen ihrer eigenen Semantik auf dem Terrain der öffentlichen Meinung
Reformulierung des Realitätsbegriffes geführt. Wenn Realität nach wie vor als Widerstand gegen beliebige unterlegen ist.
Thematisierungen begriffen werden soll — und welchen anderen Realitätsbegriff hätten wir? — dann muß es Ebenso wichtig sind in dieser Lage Fragen der Wortwahl bis hin zu Fragen der literarischen Form. Die
sich um Widerstand von Zeichen gegen Zeichen, von Sprache gegen Sprache, von Kommunikation gegen Soziologie hat sicher nicht die reichen Möglichkeiten literarischer Gestaltung, mit denen die Philosophie
1836
Kommunikation handeln. Das heißt: um rekursiv gebildete Komplexität. Das System testet, so gesehen, an 1837
aufwarten kann. Sie muß auf "Wissenschaftlichkeit" achten, was nicht zuletzt eine Stilfrage ist. Man kann
selbsterzeugter Ungewißheit und an selbsterzeugtem Widerstand im laufenden Operieren das, was es von heute vielleicht davon ausgehen, daß der dürre veri-/falsifikationistische Stil des logischen Positivismus, der
Moment zu Moment als Eigenwert behandeln kann. Will man dem innerhalb soziologischer alle anderen Ausdrucksformen als Poesie oder Metaphysik deklassiert, sich nicht eignet. Abgesehen davon,
Theoriekonstruktionen Rechnung tragen, muß auch die Gesellschaftstheorie auf Selbstreferenzkonzepte 1838
daß er philosophisch und erkenntnistheoretisch nicht länger gedeckt ist , bringt er gerade zum Ausdruck,
umgestellt werden. daß er sein Objekt vor sich, also außer sich sieht. Man kann dann aber immer noch wählen, ob man
Die moderne Gesellschaft ist, wie der Gott des Aristoteles, mit sich selber beschäftigt. Sie tut, wie der Darstellungsformen bevorzugt, die Betroffensein und Mitleiden zum Ausdruck bringen, was ohne
Gott der Christen, alles was sie tut, um ihrer selbst willen. Im Unterschied aber zur alteuropäischen Semantik, Parteinahme in der Sache selbst kaum möglich ist, oder ob man die Reflexionsform der (romantischen) Ironie
die solche Figuren der geschlossenen Selbstreferenz in die Transzendenz verlagert und ihnen die Qualität des bevorzugt, die das Verwickeltsein in die Angelegenheiten malgré tout als Distanz zum Ausdruck bringt. Die
unbedingt Guten zugesprochen hatte, um die gelegentliche Korruption oder sogar die prinzipielle Verderbtheit Soziologie kennt, selbst bei so konträren Autoren wie Karl Marx oder Max Weber, beide Möglichkeiten in
der Natur (und in ihr: der Gesellschaft) dagegen ins Profil zu setzen, hält die selbstreferentiell geschlossene unterschiedlichen Graden der Derbheit und des Raffinements. Wenn zusätzlich Wissenschaftserfordernisse
Gesellschaft der Moderne sich selbst für mangelhaft, für kritikbedürftig, für verbesserungsfähig und dann reflektiert werden, könnte man auch die Unterkühltheit der theoretisch erzwungenen Abstraktionen als
wieder: für an Aufklärung leidend. Und während die alte Welt meinte, sich mit den Augen des Ausdrucksform wirken lassen bis hin zu der Paradoxie, daß die Texte, weil zu schwierig, den Leser vom
Primärbeobachters Gott beobachten oder, wenn dessen Kriterien (unterscheidet er überhaupt?) nicht deutlich Mtidenken entlasten und dann nur noch dem Satzfluß folgend durchgelesen werden können.
1839

wurden, in Spiegeln auf Besseres hin beobachten zu können, ist die moderne Gesellschaft vor allem mit ihrer Aus verständlichen Gründen und nicht zuletzt aus Gründen, die auf Bedingungen des Erfolgs im
eigenen Misere beschäftigt. Sie kann sich nur selber zu Hilfe kommen. Aber sie kommt im Beobachten ihres Medium der öffentlichen Meinung zurückzuführen sind, haben Beschreibungen der modernen Gesellschaft
Beobachtens immer nur auf den Punkt, an dem etwas auszusetzen ist — und sei es schließlich auf den moralisch vertretbare Merkmale bevorzugt, für die man in der Gesellschaft Konsens erwarten konnte. Hier
Zentralpunkt, an dem das Gute und das Schlechte fusionieren: daß man beobachten kann, daß der Beobachter wie auch sonst scheint die Verankerung in zeitgemäßen Moden des Denkens und Formulierens eine
nicht beobachten kann, wie er beobachtet. Die eigentümliche Ausnahmslosigkeit dieser Struktur präsentiert

hätten gegen meine Absicht ("Kritik und Protest liegen ihm bekanntlich fern") ein beträchtliches kritisches Potential. So 1837
Hierzu die beiden Beiträge: "Philosophy as/and/of Literature" und "Philophizing Literature" in: Arthur C. Danto, The
Stefan Breuer in der Literaturbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13.11.1990, S.L 12.
Philosophical Disenfranchisment of Art, New York 1986, S. 135-161 und 163-186.
1834
Elena Esposito, L'operazione di osservazione: Costruttivismo e teoria dei sistemi sociali, Milano 1992, regt die 1838
Siehe nur Willard van O. Quine, The Two Dogmas of Empiricism, zit. nach ders., From a Logical Point of View, 2.
Überlegung an, daß auf der Ebene des Beobachtens zweiter Ordnung Eigenwerte eine nur noch modaltheoretisch
Aufl. Cambridge Mass. 1961, S. 20-46.
beschreibbare Form annehmen.
1839
1835 eingedenkt der Mahnung von E.T.A. Hoffmann, Des Kapellmeisters Johannes Kreislers Gedanken über den hohen
Vgl. Niklas Luhmann, Deconstruction als Second-Order Observing, New Literary History 4 (1993), S. 763-782.
Wert der Musik, zit. nach der Ausgabe in: ders., Musikalische Novellen und Schriften (Hrsg. Richard Münnich), Weimar
1836
So z.B. Paul de Man, The Resistence of Theory, Minneapolis 1986. In Kurzformulierung nennt de Man a.a.O. S. 20 die 1961, S. 196-207 (197): "... Lesen, meine ich, hat doch das Unangenehme, daß man gewissermaßen genötigt wird, an das
Sprache der Literatur "the language of self-resistance". zu denken, was man liest".
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 511 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 512
1840
Voraussetzung dafür zu sein, daß etwas erinnert (und nicht vergessen) wird. Selbstverständlich heißt dies angefertigt werden. Die Gesellschaftsbeschreibung kann nicht länger nur eine einzige Unterscheidung
nicht, daß die Gesellschaft nur als gut und die Teilnehmer daher als zustimmungspflichtig behandelt wurden. benutzen, die etwas hervorhebt, um anderes dagegen abfallen zu lassen. Das in jeder benutzten
Die Moral hat ja auch eine schlechte Seite, fordert dann aber als Moral, daß man sich gegen das Schlechte Unterscheidung ausgeschlossene Dritte (die Welt, die Einheit der Gesellschaft, der Beobachter selbst) wird
wendet, sich also für eine Änderung der Gesellschaft, wenn nicht für eine ganz andere Gesellschaft einsetzt. möglicher Gegenstand einer anderen Unterscheidung, die ihr eigenes tertium non datur dem Zugriff weiterer
Vor allem die amerikanische Soziologie hat sich in erstaunlichem Maße darauf eingelassen, sich für das Gute Beobachter aussetzt. Keiner der gewählten Anschnitte kann Letztgültigkeit oder richterliche Funktion über alle
einzusetzen und das Schlechte bestenfalls noch als "deviant" hinzunehmen und als Ziel sozialreformerischer anderen beanspruchen. Jeder operiert, was ihn selbst betrifft, blind. Aber zugleich gibt es nichts, was sich
1841
Bemühungen darzustellen. Sie copiert geradezu die story des amerikanischen Films: daß der Gute es zwar prinzipiell der Bezeichnung entzöge und aus Gründen seines "Wesens" geheim bleiben müßte. Alles, was
schwer hat, an allen möglichen Widerwärtigkeiten fast scheitert, aber am Ende doch mit einem glänzenden darüber gesagt wird, kann nur unter der Bedingung gesagt werden, daß es auch für das Sagen selber zutrifft.
neuen Auto vorfahren kann und den verdienten Kuß erhält. Parsons selbst war es offenbar nie in den Sinn Wie für die Moral gilt auch für die Soziologie ein Verbot der Selbstexemption. Und nur das gilt unbedingt.
gekommen, daß die L — Funktion an der Spitze der kybernetischen Hierarchie vom Teufel besetzt sein Die Soziologie des 20. Jahrhunderts hat diesen Anforderungen nicht genügen können. Soweit sie sich als
könnte; und wenn Marxisten dies unterstellen, dann halten sie sich eben damit für verpflichtet, dagegen zu "Krisenwissenschaft" etabliert hat, ist sie in eigenen Theoriekrisen stecken geblieben. Soweit sie "empirische"
sein. Forschung betrieb, um sich als Wissenschaft behaupten zu können, ist ihr keine Gesellschaftstheorie gelungen,
Natürlich ist auf der Beobachtungs- und Beschreibungsebene der Moral dagegen gar nichts zu sagen. denn dazu hätte sie ihre Logik, ihren Kausalbegriff, ihre Methodologie auf Autologie, also auf
Die Frage ist nur, ob die soziologische Theorie diese Ebene akzeptieren muß, nur weil sie in der Gesellschaft Selbstimplikation einstellen müssen. Sie konnte zwar zahlreiche Themen aufgreifen und erfolgreiche
kommunizieren muß; oder ob man nicht ebensogut Moral als eine Codierung unter anderen auffassen, sie für Forschungsresultate vorlegen, doch die Ausarbeitung einer gegenstandsadäquaten Gesellschaftstheorie hätte
sich selbst ablehnen und es anderen freistellen kann, sich im Code der Moral zu äußern. Wenn es denn von ihr verlangt, sich selbst in ihren Gegenstand einzubringen. Das hätte aber erfordert, alle Festpunkte,
Zwänge gibt, sich für das Gute und gegen das Schlechte einzusetzen, ergeben sie sich jedenfalls nicht aus dem Geschichte und Werte eingeschlossen, aufzugeben.
Wahrheitsprogramm der Theorie, sondern aus dem Selektionsmodus der Massenmedien, besonders aus der In dieser Situation ohne Anfang und Ende stellt sich die Aufgabe, die Theoriemittel möglichst deutlich zu
Fernsehkultur, in der jeder, der Moral zugleich sichtbar und hörbar ablehnt, als "Zyniker" erscheint. explizieren und der Beobachtung auszusetzen. Theoriemittel sind vor allem Begriffe. Begriffe sind
Erste, aber viel zu schwache Versionen findet man dort, wo von Wertewandel gesprochen wird. Damit Unterscheidungen. Unterscheidungen sind Anweisungen, die Grenze zu überqueren. Sie sind als Formen
wird historische Relativität konzediert, der Sachverhalt selbst aber nicht untersucht. Das zu fordernde zugleich geschlossen und ihrerseits unterscheidbar. "Distinction is perfect continence", heißt es bei Spencer
1843
Engagement wird auf die jeweils aktuellen Werte eingeschränkt. Nur sie zählen in der öffentlichen Meinung. Brown , aber gerade dieses continence gibt die Möglichkeit, damit umzugehen. Mit ihren Formen, ihren
Es ist zum Mitlaufen! Diese Möglichkeit wird mit dem Konzept angeboten. Man kann als Avantgarde dienen Unterscheidungen exponiert die Theorie ihre blinden Flecke, daß heißt das für sie Unsichtbare, dem sie
oder gerade noch rechtzeitig Anschluß finden. Aber es fehlt jedes Verständnis dafür, daß Werte immer verdankt, was sie sehen kann. Dies zu exponieren, hat nicht den Sinn, einen Rückgang auf letztlich
zweiteilige Beobachtungsschemata sind und das sich mit dem jeweils guten Wert auch der dazugehörige unbestreitbare Gründe einzuleiten. Es geht nur darum, zu zeigen, was man konstruieren kann und wie weit
schlechte aufdrängt. Die Motivation zum Wertewandel kann in der Tat mehr auf der einen oder der anderen Sensitivitäten sich ausfalten lassen, wenn man so, und nicht anders, ansetzt. Der Sinn liegt darin, Kritik zu
Seite liegen. Aber schon das ist kaum noch kommunizierbar. Und erst recht wird in der öffentlichen Meinung erleichtern und zu erschweren. Machen Sie es anders, ist die Aufforderung, aber mindestens ebenso gut.
Resonanz fehlen, wenn man behauptet, daß die Wahl zwischen Krieg und Frieden oder zwischen Leben und Eine Soziologie, die sich als Beitrag zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft reflektiert, wird dem
Tod künftiger Generationen bei aller Relevanz der Wertgesichtspunkte als Unterscheidung wenig Relevanz angepaßte erkenntnistheoretische und methodologische Vorstellungen entwickeln müssen. Ihre Aufgabe kann
besitzt. dann nicht mehr sein, ein vorgegebenes Objekt, sei es in seiner Statik, sei es in seiner Dynamik abzubilden.
Ebenso, ja vielleicht noch stärker, setzen die Massenmedien die Bevorzugung plakativer Merkmale Eher wird es um Generierung von Theorien gehen, die eine Distanz zu den Selbstverständlichkeiten des
durch, bei denen jeder sofort eigene Vorstellungen aktivieren und in die Kommunikation einbringen kann, die Alltags in Kauf nehmen, ja bewußt erzeugen, um ein abstrakter gesichertes Konsistenzniveau zu erreichen.
aber eben deshalb nur Einzelphänomene hervorheben können. Sie erzeugen Wissen, von dem man in der Man könnte an eine Wiederbelebung der Paradoxierungstechnik der klassischen Rhetorik denken, die genau
1844
Alltagskommunikation ausgehen kann. Das gilt für Stichworte wie Kapitalismus, Industrie, dieses Ziel verfolgte, Probleme anders und im Hinblick auf neuartige Lösungen zu formulieren. Und in der
wissenschaftsbasierte (undurchsichtig funktionierende) Technik, Information und Risiko, an die jeder Tat findet man in der neueren wissenschaftskritischen Literatur Formulierungen, die fast so klingen, als ob
1845
aufmerksame Mitbeobachter eigene Erfahrungen anschließen kann; und darunter einige (wie Information und man sich dieser Tradition bewußt wäre.
Risiko), die den autologischen Schluß geradezu aufdrängen. Dennoch: seit dem 16. Jahrhundert hat sich Entscheidendes geändert. Vor allem fehlt uns das damalige
Jedenfalls legen diese Schlagworte einen Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen nahe und damit Vertrauen in die Macht der Worte, das sich aus einer oralen Tradition herleitet. Paradoxien können nicht
den Übergang von Beschreibungen, die in der öffentlichen Meinung zeitweise Furore machen, zu einfach durch sprachliche Texte, witzige Wendungen oder Zweideutigkeiten erzeugt werden. Aber das ist auch
theoriegeführten Analysen, die sich nur innerhalb der Wissenschaft bewähren müssen. Zugleich verschiebt nicht mehr nötig. Denn alles Beobachten (Erkennen und Handeln) ist paradox fundiert, da es auf
sich damit der Standpunkt des Beobachters auf eine Ebene zweiter, wenn nich dritter Ordnung. Die "so ist es"
Attitüde wird ersetzt durch ein Begriffsspiel, das an sich selber Halt findet. Die Selbstbeschreibung wird zum
1842 1843
Thema der Selbstbeschreibung. Die Logik des Beobachtens und Beschreibens muß von monokontexturalen A.a.O. S. 1.
auf polykontexturale Strukturen umgestellt werden. Das heißt (im Sinne von Gotthard Günther), daß man auf 1844
Der dahinterstehende Ernst wird oft verkannt, weil die paradoxen Thesen oft verspielt klingen und ihrerseits wiederum
die Homogenität oder Substituierbarkeit der logischen Orte verzichten muß, von denen aus Beschreibungen parodiert werden. Siehe aber aus einer umfangreichen, rückblickenden Literatur zum Beispiel A.E. Malloch, The
Techniques and Function of the Renaissance Paradox, Studies in Philology 53 (1956), S. 191-203; Michael McCanles,
Paradox in Donne, Studies in the Renaissance 13 (1966), S. 266-287; Rosalie L. Colie, Paradoxia Epidemica: The
1840 Renaissance Tradition of Paradox, Princeton N.J. 1966.
Vgl. Mary Douglas, How Institutions Think, Syracuse N.Y. 1986, insb. S. 81 ff.
1845
1841 Bei Kenneth J. Gergen, Toward Transformation in Social Knowledge, New York 1982, S. 142 liest man z.B. unter der
"American sociology, in particular, has aligned itself with the moral imperative to please others: one ought to
Überschrift "The Search for Antithesis": "One may also foster generative theory by searching for an intelligible antithesis to
understand the other, to be open and truthful, to construe the other's meaning in a positive way", heißt es dazu von
commonly accepted understandings." Und auf S. 109 zum Stichwort "generative capacity, that is, the capacity to challenge
außerhalb der soziologischen Fachtradition bei Dean MacCannell / Juliet F. MacCannell, The Time of the Sign: A Semiotic
the guiding assumptions of the culture, to raise fundamental questions regarding contemporary social life, to foster
Interpretation of Modern Culture, Bloomington Ind. 1982, S. 55, in der Hoffnung, diese der Moral verpflichtete Perspektive
reconsideration of that which is 'taken for granted' and thereby to generate fresh alternatives for social action". Vgl. auch
durch semiotische Dekonstruktion der sozialen Realität auflösen zu können.
ders., Correspondence versus Autonomy in the Language of Understanding Human Action, in: Donald W. Fiske / Richard
1842
Dazu ausführlicher oben ... A. Schweder (Hrsg.), Metatheory in Social Science: Pluralism and Subjectivities, Chicago 1986, S. 136-162.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 513 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 514
1846
Unterscheidungen angewiesen ist, die es operativ einsetzen, aber nicht als Einheit reflektieren kann. Wenn Bewegung) geht es um die Unterscheidung von vorher und nachher; heute um die Unterscheidung von
eine solche Reflexion versucht wird, wird sie mit einem Paradox bestraft: Das Unterschiedene ist Dasselbe. Vergangenheit und Zukunft. In der Sozialdimension schließlich (traditional repräsentiert durch die Lehre von
Und dies gilt, um das nochmal zu wiederholen, für Erkennen und für Handeln und für Beobachten erster wie animal sociale) geht es um die Unterscheidung von Ego und Alter, wobei wir als Ego den bezeichnen, der eine
für Beobachten zweiter Ordnung. Kommunikation versteht, und als Alter den, dem die Mitteilung zugerechnet wird.
Die europäische Tradition des (rationalen) Erkennens und Handelns hatte nach letzten Gründen, nach Mit diesen Fassungen sind die Sinndimensionen vorweg schon asymmetrisiert vorgestellt. Das, was
Prinzipien, nach unbestreitbaren Maximen gefragt. Würde man sie fortsetzen, müßte man eine unterschieden wird, kann nicht umgetauscht werden. Innen ist niemals außen, vorher niemals nachher, Ego
Selbstbeschreibung der Gesellschaft abliefern mit der Erklärung: dies sei die richtige. Man müßte Autorität in niemals Alter, obwohl die jeweils nächste Beobachtung (aber eben nur: durch Aufwendung von Zeit) die
Anspruch nehmen, und sei es nur die Unterstellung, man könne weitere Gründe anführen und so lange Unterscheidung verschieben kann, so daß, was vorher innen war, jetzt außen ist, usw.
argumentieren, bis ein jeder überzeugt sei. Aber wenn eine solche Prätention beobachtet (und das heißt immer: Ein Gesellschaftssystem, das durch Vollzug seiner Autopoiesis Formen im Medium Sinn produziert,
in der Gesellschaft beobachtet) wird, ist sie schon nicht mehr das, was sie zu sein meinte. Sie hatte im Bereich muß in diesen drei Dimensionen operieren. Das heißt selbstverständlich nicht, daß diese Dimensionen Thema
ihres Beobachtens unterschieden und bezeichnet; aber nun wird sie selber unterschieden und bezeichnet. Die der Kommunikation werden müssen, weil anders die Kommunikation nicht zustandekäme und nicht
Welt, die Gesellschaft ist als Bedingung der Möglichkeit des Unterscheidens für die Beobachter dieselbe — fortgesetzt werden könnte. Der für Orientierung und Fortsetzung notwendige Strukturvorrat liegt nur in den
und nicht dieselbe insofern, als sie je nach der Unterscheidung, von der man ausgeht, anders gespalten und Formen, die auf diese Weise produziert werden. Nicht die Sinndimensionen selbst machen die Gesellschaft
daher in anderer Weise zum Paradox wird. Wenn man Selbstbeschreibung der Gesellschaft als eine ihrerseits schon zu einem strukturdeterminierten System; sondern das geschieht erst geschichtlich durch die Fortsetzung
in der Gesellschaft beobachtbare und beschreibbare Operation auffaßt, kommt man nicht umhin, alles der Autopoiesis der Kommunikation im Rückgriff und Vorgriff auf ihre eigenen Resultate. Wenn man aber
Beobachten und Beschreiben als Verdecken und Entfalten des Einheitsparadoxes aufzufassen; und dann die Gesellschaft als Einheit beschreiben will, hat man in den Sinndimensionen einen Anhaltspunkt für die
versteht es sich von selbst, daß dies auf verschiedene Weisen geschehen kann. Themen, die in der Beschreibung zu berücksichtigen sind. Anders gesagt: In der Selbstbeschreibung des
In der heutigen Wissenschaftslandschaft liegt es nahe, diese paradoxe Ausgangslage als Einheit von Gesellschaftssystems wird das Medium Sinn selbst zur Form, wird Sinn selbst reflexiv. Und eben deshalb
Konstruktivismus und Dekonstruktivismus zu formulieren. Das schließt ein, daß die Konstruktionen der mußten wir Sinndimensionen als Unterscheidungen unterscheiden.
Soziologie ihre eigene Dekonstruierbarkeit mitreflektieren müssen. Wie immer das dann verstanden wird, — Auch wenn man dies akzeptiert, sind immer noch verschiedene Möglichkeiten denkbar, die
sei es im Sinne der Psychiatrie als Spannung von berichtenden und anweisenden Komponenten der Sinndimensionen der Autopoiesis zu interpretieren. Jede Selbstbeschreibung erfordert historische Plausibilität
1847
Kommunikation , sei es im Sinne der semiotischen Texttheorie als Spannung von konstativen und in der Situation, in der sie als Beschreibung beobachtet wird. Ohnehin wissen wir, daß die Position des
performativen Textkomponenten —, die Soziologie wird in allen Texten, die sie produziert, nicht nur Beobachters zweiter Ordnung nur kontingente Phänomene erzeugen kann. Mit diesem Vorbehalt läßt sich
Falsifizierbarkeit, sondern auch Dekonstruierbarkeit aller Identitäten und Unterscheidungen im Auge behalten beschreiben, wie wir die Sinndimensionen besetzt haben, nämlich: die Sozialdimension durch das Konzept der
müssen. Darin, daß sie sich überhaupt äußert, liegt schon eine Information über die Art und Weise, in der sie Kommunikation und ihrer Medien; die Zeitdimension durch das Konzept der Evolution; und die
ihr Sich-sichtbar-Machen versteht — als Belehrung oder als Kritik, als Disposition über Wahrheiten, die von Sachdimension durch das Konzept der Systemdifferenzierungen, das heißt der Ausdifferenzierung und der
anderen hinzunehmen sind, oder als sinngebende Instanz. Darin, daß sie überhaupt kommuniziert und, anders Wiederholung von Ausdifferenzierungen in bereits ausdifferenzierte Systemen. Wir fassen das Resultat in
1848
als der Autor einer Erzählung, sich nicht als Autor verstecken kann , liegt schon das Paradox einer einer Skizze zusammen:
Dekonstruktion der Behauptungen durch die bloße Operation ihrer Mitteilung. Eine Möglichkeit, auf diese
Herausforderung angemessen zu reagieren, ist die bereits genannte, nämlich die theoretischen Strukturen so Autopoiesis der Gesellschaft
klar wie irgend möglich darzustellen, so daß die weiterlaufende Kommunikation wenigstens feststellen kann,
was zur Beobachtung und zur Annahme bzw. Ablehnung vorgelegt wird.
Damit ist etwas über die der Selbstbeschreibung zugängliche Form der Selbstbeschreibung ausgemacht, Kommunikation Evolution Differenzierung
aber noch nichts über bestimmte Unterscheidungen, also noch nichts über bestimmten Theorien. Jeder Schritt
darüber hinaus kann nur als kontingente (was keineswegs heißt: beliebige) Wahl einer Form, einer
1849
Unterscheidung, einer Kontextur vollzogen werden. Wir gehen davon aus , daß alle Kommunikation im sozial zeitlich sachlich
1850
Medium Sinn operieren muß. Das heißt, extrem verkürzt gesagt , daß jede Operation, wenn beobachtet, als
Selektion aus einer Vielzahl von Möglichkeiten erscheint und daß die Zirkularität der auf sich selbst
zurückgreifenden Sinnzusammenhänge unterbrochen werden muß, um die Asymmetrie einer Sequenz von Selbstbeschreibung der Gesellschaft
Kommunikationen zu ermöglichen. Dies geschieht in drei Sinndimensionen, die durch jeweils eine
dimensionsspezifische Unterscheidung konstituiert werden. In der Sachdimension (traditional repräsentiert in So wie die Sinndimensionen einander wechselseitig voraussetzen und jede von ihnen zum
der Kategorieenlehre) gibt es das "innen" im Unterschied zum "außen" der Form. Die systemtheoretische Ausgangspunkt für die Beobachtung der anderen genommen werden kann, so sind auch
Fassung spricht von System und Umwelt. In der Zeitdimension (traditional repräsentiert durch den Begriff der Kommunikationstheorie, Evolutionstheorie und Differenzierungstheorie jeweils verschiedene Einstiegstore für
die Darstellung der Gesamttheorie. Soziale Systeme entstehen dadurch, daß Kommunikation in Gang kommt
1846 und sich autopoietisch aus sich selbst aufbaut. Zur Evolution kommt es dadurch, daß die Differenz zwischen
Siehe auch Niklas Luhmann, Paradoxie der Form, in: Dirk Baecker (Hrsg.), Kalkül der Form, Frankfurt 1993, S. 197-
212; ders., The Paradoxy of Observing Systems, Cultural Critique 31 (1995), S. 37-55. System und Umwelt durch strukturelle Kopplungen überbrückt wird. Keine dieser Theorien kann auf die
1847
Mitwirkung der anderen verzichten. Die in der Präsentation dieses Buches gewählte Reihenfolge ist beliebig.
Siehe Jurgen Ruesch / Gregory Bateson, Communication: The Social Matrix of Psychiatry, New York 1951, S. 191 ff. Ebensowenig kann die Gesellschaftstheorie als logische Konsequenz aus systemtheoretischen Prämissen
1848
Hierzu Dietrich Schwanitz, Kommunikation und Bewußtsein. Zur systemtheoretischen Konstruktion einer literarischen verstanden werden — etwa im Sinne der schon etwas angestaubten Idee eines hypothetisch-deduktiven
Bestätigung der Systemtheorie, in: Henk de Berg / Matthias Prangel (Hrsg.), Kommunikation und Differenz: Erkenntnissystems. Sie ist schließlich auch nicht die strenge Konsequenz eines bestimmten konstruktiven
Systemtheoretische Ansätze in der Literatur- und Kunstwissenschaft, Opladen 1993, S. 101-113. Prinzips, etwa eines dialektischen Vorgehens oder einer Technik der Kreuztabellierung (Parsons). Sie ist
1849
Siehe oben .... Resultat des Versuchs, eine Vielzahl verschiedener Theorieentscheidungen aufeinander abzustimmen. Und nur
1850
Siehe die ausführlichere Darstellung in Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, diese relativ lockere Form des Theoriedesigns, die möglichst erkennen läßt, welche Entscheidungen getroffen
Frankfurt 1984, S. 92 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 515 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 516

sind und welche Konsequenzen es hätte, wenn man an diesen Stellen anders entscheiden würde, scheint uns Nach wie vor muß, wenn überhaupt von Selbstbeschreibung die Rede sein soll, das "Selbst" der
angemessen zu sein als Angebot einer Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft. Selbstbeschreibung identifizierbar sein; und das heißt immer auch: unterscheidbar bleiben. Auch wenn es eine
Die soziologische Analyse bestätigt, daß eine hinreichend komplexe Selbstbeschreibung der Gesellschaft Mehrzahl von Selbstbeschreibungen der Gesellschaft in der Gesellschaft gibt, gibt es deshalb noch nicht
sich in der sachlichen, in der zeitlichen und in der sozialen Sinndimension artikulieren muß. Zugleich mehrere Gesellschaften (so als ob jeder Beobachter ein anderes Objekt beobachte — der eine die Engel, der
beobachtet sie aber auch, welchen einschränkenden Erfordernissen Rechnung getragen wird, wenn die andere die Teufel). Aus diesem Grunde kann bei polykontexturalen Beschreibungen die Einheit nur in der
Dimensionen zu Selbstbeschreibungsformen kondensiert werden; und insofern verhält sich die soziologische Form der Beobachtung zweiter Ordnung zum Ausdruck kommen — eben dadurch, daß jeder Beschreiber in
Theorie dann "kritisch", wenn sie ihre eigene Analytik auf diese Kondensate ansetzt. Sie wird feststellen, daß seine Beschreibung einbezieht, daß andere Beschreiber anders beschreiben. Das mag dann, bei avancierten
und wie die einzelnen Sinndimensionen bereits besetzt sind und wird daher zu einer "Wiederbeschreibung" der Versuchen, dazu führen, daß in die Beschreibungen sie selbst transzendierende Momente aufgenommen
1851
Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems ansetzen müssen. werden, oder anders gesagt: daß ihre Sinnhaftigkeit als Selektivität mitkommuniziert wird. Und es führt, da all
So entdeckt sie in der Sachdimension, in der Differenzierungstheorie, das Problem der Selektion von dies registriert wird als in der Gesellschaft stattfindend, auch dazu, daß die Gesellschaft als
1854
Systemreferenzen. Sie nimmt nicht nur hin, daß es viele verschiedene Systeme gleichzeitig gibt, sondern sieht selbstmodifikationsfähige Einheit begriffen werden muß.
sich selbst als Beobachter zweiter Ordnung genötigt, zu entscheiden, von welchem System aus sie anderes als Man mag darüber streiten, ob das "Projekt der Moderne" beendet ist oder nicht; oder darüber, ob es gut
Umwelt sieht. In der Zeitdimension beobachtet sie, daß die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft Zeit als ausgehen wird oder nicht. Dieser Streit führt, das sieht man bereits, zur Konfusion der Positionen. Ihm liegt
1852
historischen Prozeß auffassen, und dies auch dann, wenn von Evolution gesprochen wird. Mit dem eine überalterte Begrifflichkeit zu Grunde, die ihrerseits nur Themen der Selbstbeschreibung (wie Freiheit,
Prozeßbegriff wird aber Kontinuität betont und nicht Diskontinuität, weil anders die Identität und Emanzipation, Gleichheit, Vernunftorientierung etc.) diskutiert. Was sich, all dies unterlaufend und tragend,
Unterscheidbarkeit eines spezifischen Prozesses nicht feststellbar wäre. Ereignisse erscheinen dann an zu ändern scheint, ist dagegen die Form der Selbstbeschreibung. Die stationären Gesellschaften der alten Welt
sekundärer Stelle als Zäsuren, als Unterbrechungen, als Innovationen oder auch als notwendige, hatten sich als Objekte beschrieben, etwa mit Begriffen wie Sein, Wesen, Natur, Gattung. In diesem
richtunggebende Anstösse. Geht man dagegen umgekehrt mit der Theorie der Autopoiesis von Ereignissen strukturellen und semantischen Rahmen waren Möglichkeiten der Evolution nicht ausgeschlossen; aber deren
oder Operationen aus, wird Diskontinuität die grundlegende Annahme, wird ständiger Zerfall der Normalfall, Beobachtung und Beschreibung konnte an der Oberfläche bleiben und mit dem anschaulichen Begriff der
gegen den sich dann Prozesse konstituieren können, wenn das jeweilige Ereignis genügend Bewegung arbeiten, der als Gegenbegriff etwas Festes voraussetzt wie der Fluß die Ufer. Die moderne
1853
Möglichkeitsüberschüsse (= Sinn) bereithält, damit Passendes zur Prozeßbildung ausgewählt werden kann. Gesellschaft beobachtet sich als Beobachter, beschreibt sich als Beschreiber; und erst das ist in einem logisch
In der Sozialdimension schließlich wird jede Selbstbeschreibung die Bindemittel betonen (sei es Moral, sei es strengen Sinne Selbstbeobachtung bzw. Selbstbeschreibung. Nun erst ist das "Selbst" der Beobachtung der
Vernunft, seien es Werte, sei es Verständigung oder wünschenswerter Konsens), während die soziologische Beobachter, das "Selbst" der Beschreibung der Beschreiber selbst.
Analytik davon ausgeht, daß jede Kommunikation die Ja/Nein-Bifurkation eröffnet, weil ohne sie die Wenn man weiterhin von einem "Projekt der Moderne" sprechen will, so ist dieses Projekt unvollendet, ja
Autopoiesis nicht fortgesetzt werden könnte, und erst von da aus Präferenzen erklärt werden können, die auf noch nicht einmal adäquat entworfen. Es kann nicht auf der Basis des Subjektbegriffs ausgeführt werden,
eine Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit abzielen. wenn dieser Begriff weiterhin nur das individuelle Bewußtsein bezeichnet. Man wird weiter an Hegel denken
Eine solche Wiederbeschreibung der Beschreibung führt weder zu einer positiven noch zu einer — der bisher einzige voll durchdachte Versuch. Aber dann dürfte man einen Terminus wie Geist nicht ans
negativen Charakterisierung der Gesellschaft. Sie formuliert die Identität des Systems nicht als Wert und Ende der Geschichte setzen, darin keinen Abschlußgedanken, keine Überlegenheitsfigur sehen, und man müßte
schon gar nicht als Norm, nach der man die Gesellschaft oder das Verhalten in ihr beurteilen könnte. Sie läßt (gegen Hegel und mit Darwin) jede Verwendung von Ausdrücken wie "niedriger" oder "höher" vermeiden. Der
es nicht zu, zwischen progressiven und konservativen Einstellungen zu wählen. All das würde einen externen Beobachter des Beobachters ist kein "besserer" Beobachter, nur ein anderer. Er mag Wertfreiheit bewerten
Beobachter voraussetzen, nach dem man sich richten kann, oder eine interne Position für einzig-richtiges oder dem Vorurteil der Vorurteilslosigkeit folgen; er sollte dabei aber, wie diese Formulierungen anzeigen,
Beobachten, das den anderen nur noch mitzuteilen hätte, was von ihr aus zu sehen ist. Solche Annahmen zumindest bemerken, daß er autologisch operiert.
ersetzen wir durch die These, daß die Gesellschaft Sinn schlechthin konstituiert dadurch, daß sie sich im Strukturelle Umbrüche des Ausmaßes, das wir hinter uns haben, sind nie im Vollzuge beobachtet und
Medium Sinn als Form produziert und reproduziert. Und alle Kriterien für gut oder schlecht, wahr oder beschrieben worden; es sei denn unter völlig inadäquaten Begriffen und im Rückblick auf eine zerfallende
unwahr, rational oder irrational, funktional oder dysfunktional müssen in der Gesellschaft per Kommunikation Tradition. Semantische Veränderungen folgen den strukturellen in beträchtlichem Abstand. Das Kondensieren
erzeugt werden, und das heißt: in einer Weise, die beobachtet werden kann und die Möglichkeiten des von Sinn durch Wiederholen und Vergessen unter neuartigen Bedingungen braucht Zeit. In dieser Hinsicht,
Annehmens oder Ablehnens eröffnet. das ist unser Eindruck, steht die moderne Gesellschaft erst am Anfang. Die deutlich erkennbare
Das bedeutet auch, daß die Form der Selbstbeschreibung sich ändern muß. Diese Veränderung hat eine Unzufriedenheit mit allem, was derzeit im Angebot ist, könnte ein fruchtbarer Anfang werden.
ähnliche Radikalität wie der Übergang zu funktionaler Differenzierung, die auf die Gleichheit der ungleichen
Systeme hinausläuft und gesellschaftliche Ordnungsvorgaben in weitestem Umfange zurücknimmt; eine
ähnliche Radikalität auch wie der evolutionäre Kollaps der Differenzierung von Stabilisierung und Variation
mit der Folge, daß ein nicht-stationäres Gesellschaftssystem entsteht. Im Kontext der Selbstbeschreibung des XXIII. Die sogenannte Postmoderne
Gesellschaftssystems scheint eine gleichermaßen radikale Veränderung anzulaufen. Sie liegt im Übergang von
einer Beobachtung erster Ordnung zu einer Beobachtung zweiter Ordnung. Unsere Analysen haben keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, daß irgendwann in diesem Jahrhundert,
vermutlich in dessen zweiter Hälfte, eine Epochenzäsur zu beobachten wäre, die das Gesellschaftssystem
selbst betrifft und es rechtfertigen könnte, einen Übergang von der modernen zu einer postmodernen
Gesellschaft zu behaupten. Bemerkenswerte strukturelle Veränderungen innerhalb der einzelnen
1851
"redescription" im Sinne von Mary Hesse, Models and Analogies in Science, Notre Dame 1966, S. 157 ff. Funktionssysteme gibt es zuhauf, vor allem als Folge von Globalisierungstendenzen und wechselseitiger
1852
Wir hatten schon einmal Tim Ingold, Evolution and Social Life, Cambridge England 1986, S. 102 zitiert, der Evolution Belastungen der einzelnen Funktionssysteme. Aber nach wie vor werden all die Errungenschaften der
(mit Deckung durch viel Literatur) als "continuous, directed and purposive movement" auffaßt. Ingold rechtfertigt das Moderne (Altersklassen in den Schulsystemen, Parteiendemokratie als Staatsform, unregulierte Heiratspraxis,
durch die Tradition des Begriffs. Wir begründen eine abweichende Darstellung (eine Neubeschreibung) mit den
Erfordernissen einer plausiblen, Geschichte einbeziehenden Selbstbeschreibung der Gesellschaft.
1853 1854
Man sieht wohl, dies sei noch angemerkt, daß damit gegen jeden Typenzwang, gegen jede Vorgabe von Ähnliche Vorstellungen für das Rechtssystem der Gesellschaft findet man bei Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne
"Wesensformen" argumentiert wird. Rechtstheorie: Selbstreferenz — Selbstorganisation — Prozeduralisierung, Berlin 1992, insb. S. 167 ff.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 517 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 518
1860
positives Recht, an Kapital und Kredit orientiertes Wirtschaften, um nur einiges zu nennen) beibehalten; nur überzuwechseln, zum Beispiel von Produktionsorientierung zu Konsumorientierung oder von
ihre Konsequenzen findet man schärfer ausgeprägt. Selbst im Kunstsystem (Architektur vielleicht Vergangenheitsorientierung zu Zukunftsorientierung, also von Gebundensein zu Ungebundensein. Die Frage
1855
ausgenommen) gibt es keine scharfen Epochengrenzen zwischen moderner und postmoderner Kunst. Von kann nur sein, ob die Einstellung zu Unterscheidungen oder, wenn gegenstandsbezogen gedacht wird, zu
"Postmoderne" kann man also allenfalls mit Bezug auf die Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems Differenzen sich geändert hat.
1856
sprechen. Damit stehen wir vor der Frage, ob und woran man eine spezifisch "postmoderne" (im Wir erinnern daran, daß schon die Umpolung des modernen Denkens von vorgefundenen
Unterschied zu einer modernen) Beschreibung erkennen kann. Wesensunterschieden auf Differenzierung eine semantische Innovation gewesen ist, die um die Mitte des 19.
1861
Daß die Rede von "Postmoderne" aufgekommen ist, liegt vielleicht daran, daß die Dynamik der Jahrhunderts an Resonanz gewinnt. Es könnte gut sein, daß auf dieser Ebene der Formen des Beobachtens
modernen Gesellschaft unterschätzt worden war und ihre Beschreibungen allzu statisch ausgefallen sind. Das und Beschreibens abermals ein Wechsel zu verzeichnen ist, und, um es gleich postmodern zu formulieren, ein
gilt für die Prominenz des cartesischen Subjekts, für die Idee der Menschenrechte und auch noch für die Wechsel in Richtung auf einen Dekonstruktionsvorbehalt bei allen Unterscheidungen. Man kann, anders
Annahme von Habermas, die Moderne sei ein unvollendetes Projekt. Wenn die Signaturen der Moderne in gesagt, immer fragen, wer die Unterscheidung trifft (wer der Beobachter ist) und warum er die eine und nicht
dieser Weise festgeschrieben sind, liegt es nahe, mit einer Theorie der Postmoderne zu reagieren. Faktischsind die andere Seite markiert. Die Antwort auf diese Frage hängt aber wiederum davon ab, wer sie stellt, also
jedoch die damit postulierten Zäsuren nicht zu erkennen, und es wäre deshalb der richtigere Weg, das davon, wer hierfür der Beobachter ist.
Verständnis der modernen Gesellschaft mitsamt ihrer Selbstbeschreibung zu dynamisieren. Wenn man postmodernes Beschreiben als Operieren in Bereichen selbsterzeugter Unbestimmtheit
Am Begriff der Postmoderne ist vieles kontrovers. Ein ziemlich unbestrittener (wenngleich begreift, sieht man sofort Parallelen zu anderen Wissenschaftstrends, die sich in Mathematik, Kybernetik,
1862
interpretationsbedürftiger) Ausgangspunkt dürfte jedoch in der These vom Ende der Großen Erzählungen Systemtheorie mit den Eigenarten selbstreferentieller, rekursiv operierender Maschinen befassen. Bekannte
1857
liegen. Man wird sofort konzedieren müssen, daß dies selbst eine Erzählung ist, ein métarécit. Wenn die Namen sind auch Chaostheorie oder fraktale Geometrie. Komplexität entsteht hier nicht durch Versuche, die
These autologisch verwandt wird, also sich selbst einschließt, widerspricht sie sich selbst: wenn wahr, dann Welt einigermaßen sachgemäß abzubilden, sondern durch wiederholende Operationen, die an einen
falsch. Man muß deshalb umformulieren und sagen, daß die Einheit der Gesellschaft oder, von ihr aus selbsterzeugten Ausgangszustand anknüpfen und diesen mit jeder Operation als Ausgangspunkt für weitere
gesehen, der Welt nicht mehr als Prinzip, sondern nur noch als Paradox behauptet werden kann. Die Operationen fortschreiben. Hierbei wird dann die Zeit, die solche Verschiebungen im selben System
Letztfundierung in einem Paradox gilt als eines der zentralen Merkmale postmodernen Denkens. Die ermöglicht, zur entscheidenden Variable, und Unvorhersehbarkeit ist die gleichsam zeitgemäße Folge einer
1858
Paradoxie ist die Orthodoxie unserer Zeit. Das heißt vor allem, daß Unterscheidungen und Bezeichnungen Sequenz solcher Rekursionen.
nur noch als Auflösung eines Paradoxes "begründet" werden können. Beim Problem der Selbstbeschreibung, Am ergiebigsten dürfte es deshalb sein, die Zeitunterscheidung von Vergangenheit und Zukunft zu
sei es der Welt in der Welt, sei es der Gesellschaft in der Gesellschaft, fällt dies relativ leicht. Man muß nur analysieren, nicht zuletzt deshalb, weil der Begriff der Postmoderne ja selbst auf dieser Unterscheidung
eine Pluralität von Selbstbeschreibungen zulassen, im "Diskurs" der Selbstbeschreibung also eine Mehrheit beruht. Derridas Kritik der ontologischen Metaphysik kann so gelesen werden, daß sie die Überschätzung der
von Möglichkeiten, die einander weder tolerieren noch nicht tolerieren, sondern einander nur nicht mehr zur Gegenwart als Ort der Anwesenheit des Seins moniert und statt dessen eine stärker zeitbezogene Analyse
Kenntnis nehmen können. Das haben wir mit der These vorweggenommen, daß universalistische (sich selbst vorschlägt. Was operativ läuft, ist die Einkerbung einer Differenz in eine Welt, die dies toleriert und ein
einschließende) Selbstbeschreibungen nicht einzig-richtige, nicht exklusive Selbstbeschreibungen sein müssen. "recutting" ermöglicht. Das geschieht durch "Schrift". Da es aber eine Differenz ist, kann sie nicht von Dauer
Wenn man auf die Funktion von Selbstbeschreibungen achtet, wird man hinzufügen müssen: nicht exklusiv sein, sondern muß von Moment zu Moment verschoben werden. Différence ist différance. Das wiederum
sein können, denn die Funktion der Funktion ist es, funktionale Äquivalente zuzulassen. impliziert, daß das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft sich laufend verschiebt, ohne daß diese
Etwas mehr Schwierigkeiten bereitet ein zweiter Vorschlag, postmodernes Denken als Verschiebung als räumlich-zeitliche Bewegung in einer immer schon vorhandenen Seinswelt begriffen werden
1859
Entdifferenzierung zu begreifen. Entdifferenzierung kann aber nicht heißen, daß man die könnte. Als Kommunikation begriffen demontiert die Operation ihre eigenen Voraussetzungen, dekonstruiert
Diffferenzierungen vergessen könnte, denn dann hätte auch das "Ent-" keinen Sinn. Wenn Entdifferenzierung die Unterscheidungen, die sie verwendet im Sinne eines auch aus anderen Forschungen bekannten
Gedächtnis voraussetzt, läuft dieser Vorschlag auf Bewahrung der Differenzen (zum Beispiel: auf Bewahrung performativen Widerspruchs zwischen report (Information) und command (Mitteilung mit
von Stildifferenzen in postmodernen Kunstwerken) hinaus. Auch hier wird eine Interpretation des Vorschlags Annahmezumutung).
gut tun. Es kann nicht darum gehen, innerhalb von Unterscheidungen von der einen Seite zur anderen Auf ganz anderen Wegen führt auch die rasch zunehmende Computerisierung des Alltagslebens vor
dieselbe Frage, sie ist also auch unabhängig von literarischen Bemühungen um eine Kritik der
Seinsmetaphysik aktuell. Denn in den Computern verbergen sich unsichtbare Maschinen, die nur auf
1855
Hierzu Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1995, S. 482 ff. Vgl. auch Ingeborg Hoesterey (Hrsg.), Befehlseingabe hin ihre Schaltzustände sichtbar machen. Es hat wenig Sinn, diese unsichtbaren Maschinen als
Zeitgeist in Babel: The Postmodernist Controversy, Bloomington 1991. "anwesend" zu bezeichnen. Jedenfalls werden sie erst durch zeitlich und lokal situierte Anfragen dazu
1856
Hierzu auch Niklas Luhmann, Why Does Society Describe Itself as Postmodern?, Cultural Critique 30 (1995), S. 171- gebracht, Informationen sichtbar zu machen, die dann im Anfragekontext ihre eigene Differenz von
186. Die entgegengesetzte Meinung findet man bei Zygmunt Bauman, Sociological Responses to Postmodernity, Thesis Vergangenheit und Zukunft erzeugen. Die Bruchlinie zwischen den unsichtbaren und unvorstellbaren
Eleven 23 (1989), S. 35-63, jedoch ohne eine den Ansprüchen genügende Analyse des behaupteten Bruch zwischen Rechenvorgängen der Maschine und dem gelegentlichen, interessenbedingten Erscheinenlassen ihrer Zustände
moderner und postmoderner Gesellschaft.
könnte auf dem Wege sein, die alten Unterscheidungen von aeternitas und tempus und von Anwesenheit und
1857
So bekanntlich Jean-François Lyotard, La condition postmoderne: Rapport sur le Savoir, Paris 1979. Abwesenheit vom ersten Rang der Weltkonstruktion zu verdrängen. Man spricht mit Bezug darauf bereits von
1858
Immerhin findet man, um eine Epocheneinteilung nochmals in Frage zu stellen, eine solche Äußerung schon am Anfang
dieses Jahrhunderts: als Äußerung eines "christlich-konservativen" Anarchisten. In The Education of Henry Adams: An
Autobiography (1907), Boston 1918, S. 423-4, liest man: "but paradox had become the only orthodoxy in politics as in
science". 1860
So anscheinend Bauman a.a.O. (1989).
1859
Siehe Scott Lash, Discourse or Figure: Postmodernism as a 'Regime of Signification', Theory, Culture and Society 5 1861
Vgl. oben Kap. 4 ....
(1988), S. 311-336. Vgl. auch ders., Tradition and the Limits of Difference, in: Paul Heelas / Scott Lash / Paul Morris
1862
(Hrsg.), Detraditionalization: Critical Reflections on Authority and Identity, Oxford 1996, S. 250-274. Dazu auch Stewart Vgl. hierzu Günter Küppers / Rainer Paslack, Chaos — Von der Einheit zur Vielheit: Zum Verhältnis von
R. Clegg, Modern Organizations: Organization Studies in the Postmodern World, London 1990, S. 1 f., 11 f. Zum Chaosforschung und Postmoderne, Selbstorganisation 2 (1991), S. 151-167. Der Titel ist etwas irreführend gewählt: Es
Verständnis: Differenzierung wäre in unserem Sprachgebrauch als Unterscheidung wiederzugeben (zum Beispiel von geht gerade nicht um einen Seitenwechsel innerhalb einer Unterscheidung, und sei es Einheit/Vielheit. Das Problem ist,
Fakten und Werten). Und als Konsequenz des Unterlaufens von Unterscheidungen betont Lash den Übergang von daß ein solcher Seitenwechsel bei jeder Unterscheidung möglich ist und daß er Zeit und Motive benötigt, also
diskursiver Themenbehandlung zu sinnlicher Wahrnehmung. unvorhersehbar ist.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 519 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 520
1863
"virtueller Realität" , und das legt es nahe, von da aus einen Zusammenhang mit der Diskussion über die Original – Inhaltsverzeichnis (aus WP-Datei)
postmoderne Moderne herzustellen.
Eine gleichermaßen radikale, postontologische Thematisierung von Zeit scheint dem Formenkalkül von
Kapitel 1: Gesellschaft als soziales System
George Spencer Brown zugrundezuliegen. Form wird hier als Markierung einer Unterscheidung begriffen,
also als eine Einheit mit zwei Seiten, von denen jeweils nur die eine bezeichnet und die andere unmarkiert
Vorwort
bleiben muß. Der Übergang zur anderen Seite (das "crossing") erfordert eine weitere Operation, setzt also Zeit
I. Die Gesellschaftstheorie der Soziologie
voraus. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn das Kalkül seine eigenen Voraussetzungen einzuholen
1864 II. Methodologische Vorbemerkung
versucht und zwischen marked und unmarked space zu oszillieren beginnt. Während die klassische
III. Sinn
Formtheorie Form als statische Gestalt begriffen hatte, die nach gelungen/mißlungen zu beurteilen sei, wird
IV. Die Unterscheidung von System und Umwelt
Form jetzt als Dispositiv eines Beobachters begriffen und als Regulativ für die Entscheidung, zu bleiben, wo
V. Gesellschaft als umfassendes Sozialsystem
man ist, (sich zu wiederholen) oder zur anderen Seite überzugehen. Ein Primat der Form gegenüber Instanzen,
VI. Operative Schließung und strukturelle Kopplungen
die in der Tradition Vernunft und Wille (Freiheit) genannt wurden, scheint eine Temporalisierung der Formen
VII. Kognition
zu erfordern. Selbst Habermas ist ja heute bereit, auf Vernunft — zu warten.
VIII. Ökologische Probleme
Zur geläufigen Diskussion über Postmoderne führt die Frage zurück, was mit den geschichtlich
IX. Komplexität
bewährten, aber heute überholten Formen geschehen soll. Sie werden als Material verwendet. Man könnte
X. Weltgesellschaft
auch sagen: als Medium für die Bildung neuer Formen, die durch Rekombination gewonnenwerden. Das wird
XI. Ansprüche an Rationalität
für die Formenwelt der Kunst diskutiert, könnte aber auch für die Begriffswelt der Wissenschaften oder
anderer intellektueller Diskurse gelten. Mit postmodernen Formen wird ein Wiedererkennen ermöglicht— und
zugleich verboten. Man soll sich mit dem Vergnügen des Wiedererkennens — wenn zum Beispiel von
Kapitel 2: Kommunikationsmedien
"Subjekt" oder von "Demokratie" die Rede ist — nicht begnügen. Das wiederverwendete Formenarsenal ist
anders gemeint. Die überlieferten Formen sind, bei allber scheinbaren Seinsfestigkeit, nur noch ein Medium
I. Medium und Form
der Selbstverständigung unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen. Man kann dies im Modus der Ironie
II. Verbreitungsmedien und Erfolgsmedien
zum Ausdruck bringen, aber damit wäre nur ein expressiver Ausweg gewonnen und keine
III. Sprache
Konstruktionsanweisung. Das scheint zu bedeuten, daß konstruktivistische Theorieversuche die Postmoderne
IV. Geheimnisse der Religion und die Moral
nicht fortsetzen, sondern beenden, obwohl sie die Distanz zur Geschichte und ihre Neubeschreibung als
V. Schrift
Medium übernehmen.
VI. Buchdruck
Ob der Ausdruck "postmodern" gut gewählt war, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls sind
VII. Elektronische Medien
Beschreibungen nicht schon deshalb postmodern, weil man die Folgen des Sündenfalls nicht mehr über Arbeit
VIII. Verbreitungsmedien: Zusammenfassung
sondern über Genuß erträglich zu machen versucht. Die soeben skizzierten Hinweise, Einheit und Differenz
IX. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien I:
betreffend, deuten einen Bedarf für formstrenge theoretische Reflexion an. Dazu gibt es mehr Anregungen, als
Funktion
sich im Moment unter dem Etikett der Postmoderne versammeln. Es fällt aber auf, daß unter den Vorarbeiten
X. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien II:
eine Theorie der modernen Gesellschaft fehlt. Das mag daran liegen, daß die Unterscheidung
Differenzierung
modern/postmodern von Versuchen dieser Art abschreckt. Wenn aber die Eigenart postmoderner
XI. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien III:
Beschreibungen in der Problematisierung von Unterscheidungen und in der Temporalisierung der sie
Strukturen
markierenden Formen liegt, könnte man vermuten, daß die Aufgabe einer "postmodernen" Gesellschaftstheorie
in einer Neubeschreibung der modernen Gesellschaft auf Grund der Erfahrungen besteht, über die wir heute
verfügen. Jedenfalls verlangt eine heute adäquate Gesellschaftstheorie (ebenso wie die Theorie der
postmodernen Kunst), auf den bloßen Genuß des Wiedererkennens zu verzichten und die Theoriekonstruktion
XII. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien IV:
aus sich selbst heraus zu beurteilen.
Selbstvalidierung
In diesem Sinne möchten die im Vorstehenden skizzierten Überlegungen zu einer Theorie der
XIII. Moralische Kommunikation
Gesellschaft verstanden sein.
XIV. Auswirkungen auf die Evolution des Gesellschaftssystems

Kapitel 3: Evolution

I. Schöpfung, Planung, Evolution


II. Systemtheoretische Grundlagen
1863
Dies allerdings mehr jargonhaft und ohne Klärung der Frage, welche virtus denn das bloß Mögliche in etwas Virtuelles III. Neo-darwinistische Theorie der Evolution
transformiert. Vorwiegend wird dabei an die Möglichkeit gedacht, den Computer (ähnlich wie das Nervensystem) IV. Variation der Elemente
unbemerkt mitwirken zu lassen, so daß mit Hilfe von Handschuhen, Anzügen usw. eine illusionäre Realität entsteht und im V. Selektion durch Medien
Wahrnehmen selbst eine Unterscheidung von Illusion und Realität nicht mehr möglich ist. Das ist jedoch nur eine
VI. Restabilisierung der Systeme
zusätzliche Möglichkeit, nachzuweisen, daß das Gehirn als operativ geschlossenes System arbeitet.
VII. Die Differenzierung von Variation, Selektion und Restabilisierung
1864
Darauf hat bereits eine der frühesten Rezensionen der "Laws of Form" hingewiesen, nämlich Heinz von Foerster, VIII. Evolutionäre Errungenschaften
Gesetze der Form (1969), zit. nach der dt. Übers. in: Dirk Baecker (Hrsg.), Kalkül der Form, Frankfurt 1993, S. 9-11.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 521 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 522

IX. Technik
X. Ideenevolutionen
XI. Teilsystemevolutionen
XII. Evolution und Geschichte
XIII. Gedächtnis

Kapitel 4: Differenzierung

I. Systemdifferenzierung
II. Formen der Systemdifferenzierung
III. Inklusion und Exklusion
IV. Segmentäre Gesellschaften
V. Zentrum und Peripherie
VI. Stratifizierte Gesellschaften
VII. Ausdifferenzierung von Funktionssystemen
VIII. Funktional differenzierte Gesellschaft
IX. Autonomie und strukturelle Kopplung
X. Irritationen und Werte
XI. Gesellschaftliche Folgen
XII. Globalisierung und Regionalisierung
XIII. Interaktion und Gesellschaft
XIV. Organisation und Gesellschaft
XV. Protestbewegungen

Kapitel 5: Selbstbeschreibungen

I. Die Erreichbarkeit der Gesellschaft


II. Weder Subjekt noch Objekt
III. Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung
IV. Die Semantik Alteuropas I: Ontologie
V. Die Semantik Alteuropas II: Das Ganze und seine Teile
VI. Die Semantik Alteuropas III: Politik und Ethik
VII. Die Semantik Alteuropas IV: Die Schultradition
VIII. Die Semantik Alteuropas V: Von Barbarei zu Selbstkritik
IX. Die Reflexionstheorien der Funktionssysteme
X. Gegensätze in der Medien-Semantik
XI. Natur und Semantik
XII. Temporalisierungen
XIII. Die Flucht ins Subjekt
XIV. Die Universalisierung der Moral
XV. Die Unterscheidung von "Nationen"
XVI. Klassengesellschaft
XVII. Die Paradoxie der Identität und ihre Entfaltung durch Unterscheidungen
XVIII. Modernisierung
XIX. Information und Risiko als Beschreibungsformeln
XX. Die Massenmedien und ihre Selektion von Selbstbeschreibungen
XXI. Invisibilisierungen: Der "unmarked state" des Beobachters und seine Verschiebungen
XXII. Reflektierte Autologie: Die soziologische Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft
XXIII. Die sogenannte Postmoderne

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