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Humanistischer Zionismus
Unter Zionismus versteht man die politische Ideologie, die sich seit dem Ende des 19.
Jahrhunderts die jüdische Besiedelung Palästinas zum Ziel setzte, das damals
hauptsächlich von Arabern bewohnt war und unter türkischer Herrschaft stand. Die
meisten Zionisten kamen aus Osteuropa. Mit dem 1. Zionistischen Kongress in Basel kam
es 1897 zu einer ersten weithin wahrgenommenen öffentlichen Manifestation der
zionistischen Bewegung in Mitteleuropa. Hier war sie zwar alles andere als eine
Massenbewegung, mit dem Wiener Boulevard-Autor und Journalisten Theodor Herzl
verfügte sie aber über eine medienwirksame und charismatische Leitfigur. Herzls Bücher
(der Roman Altneuland und die Programmschrift Der Judenstaat, 1896) riefen zum einen
Begeisterung bei einem Teil der Leser hervor, erregten aber mehrheitlich - auch und
gerade unter jüdischen Autoren - heftigen Widerspruch. Herzl hatte eine Reihe von
Vorgängern, u.a. den Linkshegelianer und zeitweise mit Karl Marx verbundenen Moses
Hess (Rom und Jerusalem, 1862), den Odessaer Arzt Leon Pinsker (Autoemanzipation,
1882) und den Schriftsteller Nathan Birnbaum (Pseudonym Mathias Acher), der den
Begriff Zionismus prägte. Anhänger hatte der Zionismus hauptsächlich in Osteuropa,
insbesondere im russischen Zarenreich, wo es seit 1881 immer wieder und immer öfter
zu blutigen Pogromen gegen die rechtlich ohnehin schon benachteiligte jüdische
Bevölkerung kam. Zu dieser Zeit begann die systematische Auswanderung
osteuropäischer Juden nach Palästina (1. Alija, 1882-1894).
Aber auch viele osteuropäische Juden flohen nach Mitteleuropa (und weit mehr noch
nach Amerika), wo sie durch ihr Erscheinungsbild schnell zur Zielscheibe von
Diskriminierung wurden. Ihre Not kann durchaus mit der Situation heutiger
Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber in den Wohlstandsländern verglichen werden. Die
Sichtbarkeit des ostjüdischen Elends auf den Straßen europäischer Metropolen trug mit
dazu bei, dass der zionistische Gedanke auch im teilweise gutsituierten und assimilierten
jüdischen Bürgertum Sympathie gewann. Man wollte sich solidarisieren. Für sich selbst
dachte man deshalb aber noch lange nicht an die Alija, die Auswanderung nach
Palästina.
Humanistischer Zionismus
Der Zionismus stellte sich um 1900 als ein komplett heterogenes Phänomen dar. Die
Frage, ob (und wo) es zu einem »Judenstaat« kommen sollte, oder ob es beim Zionismus
um einen kulturellen Erneuerungsimpuls für das Judentum ging, der sein geistiges und
physisches Zentrum in Jerusalem (der namengebende Zionsberg stand als pars pro toto
für Jerusalem und Palästina) haben sollte, war dabei heftig umstritten. Wortführer der
letzteren Ansicht war der aus der Ukraine stammende Ascher Ginzberg (1856-1927), der
sich Achad Haam (»einer aus dem Volke«) nannte. Eine im Heiligen Land erneuerte
jüdische Kultur sollte in seiner Idee vom »Kulturzionismus« das weiterhin bestehende
Diasporajudentum geistig regenerieren. Für die Bildung eines solchen kulturellen
Zentrums war keine jüdische Bevölkerungsmehrheit in Palästina notwendig, eine
Staatsgründung war in diesem Konzept nicht vorgesehen. Eine andere Strömung
dagegen, die ihre Wurzeln in der jüdischen Arbeiterbewegung Russlands (bzw. russisch
Polens) hatte, strebte sehr wohl einen starken - und sozialistischen - Staat an. Dieser
Strömung gehörten auch die Gründerfiguren Israels an wie David Ben-Gurion, Golda Meir
und andere. Konnte diese Strömung als »links« gelten, so hatte sie in den nationalistisch
ausgerichteten »Revisionisten« (so genannt wegen der angestrebten Wiederherstellung
des jüdischen Reiches in seinen antiken Grenzen) Wladimir Jabotinskys ihren Gegenpart.
Dieser betonte im Rückgriff auf den bereits 1904 gestorbenen Herzl einseitig den
nationalstaatlichen Charakter der Palästinasiedlung. Das Erbe dieser Richtung des
Zionismus, die auch terroristische Aktionen zuließ, lebt in Israel im »Likud-Block« weiter.
Eine kleine, aber nicht unbedeutende Strömung im Zionismus, die sich stark an Ideen
Achad Haams und an die mehr auf sittliche Vervollkommnung des Einzelnen gerichtete
Anschauung A. D. Gordons anlehnte, könnte man als den »Prager«, den
»mitteleuropäischen« oder »humanistischen« Zionismus bezeichnen. Im Mittelpunkt
dieser Richtung stand Martin Buber, der vor allem in der zionistischen Prager
Studentenverbindung »Bar Kochba« Mitstreiter fand.
Rudolf Steiners Zionismuskritik
Nach dem 1. Basler Zionistenkongress schrieb Rudolf Steiner einen Artikel 2 , in dem er
von der»Ohnmacht des Antisemitismus« sprach und gleichzeitig die »herzlosen«
Zionistenführer Herzl und Nordau, die »aus einer Kinderei [dem Antisemitismus] eine
welthistorische Strömung« machten, für »viel schlimmer« als die »ungefährlichen«
Antisemiten hielt. Diese Einschätzung entsprach seiner Grundhaltung, die in der
vollständigen Assimilation, also im Aufgehen des Judentums in der europäischen Kultur,
ein Ideal sah. Dabei muss man bedenken, dass Steiner generell die allmähliche
Überwindung und Auflösung von Stammes-, Volks-, Nationen- und »Rasse«-grenzen
vertrat. In diesem Kontext ist seine Zionismuskritik nachvollziehbar, wenngleich der
Tonfall seines damaligen Artikels nicht eben der sachlichste war. Kurze Zeit später
revidierte er übrigens seine Ansicht über den Antisemitismus, den er dann eine Zeitlang
sogar aktiv bekämpfte. Sein Urteil über den Zionismus schien das aber nicht
anzufechten. 1921 wurde sein Zionismus-Aufsatz von 1897 - allerdings ohne dass Steiners
Zustimmung eingeholt worden war - in der Zeitschrift Dreigliederung des sozialen
Organismus wieder abgedruckt. Ernst Müller, ein Wiener Zionist und Anthroposoph,
schrieb daraufhin an Steiner einen Brief, der nahelegt, dass Steiner sein Urteil von 1897
nicht mehr unverändert vertrat: »Aufgrund der Andeutungen, die Sie mir persönlich
mehrfach über diesen Gegenstand gemacht haben, scheint es mir klar, dass [Ihre 1897]
niedergelegten Anschauungen über die Persönlichkeit Herzls sowie über die zionistische
Bewegung [...] zum großen Teile nicht heute die Ihrigen sind.« 3
Das »Araberproblem«
Müllers Freund Hugo Bergmann hatte bereits 1911 in der von Müller redigierten
zionistischen Zeitschrift Palästina gemahnt, dass es durch die jüdische Siedlung in
Palästina nicht zu einer Verdrängung, Benachteiligung oder Unterdrückung der dort
bereits lebenden Araber kommen dürfe. Es gelte, gerechte soziale und ökonomische
Strukturen aufzubauen. Bergman spricht vom »unselige[n] Irrtum, dass Palästina ein
leeres Land ist...« und verweist auf die bestehende beträchtliche nichtjüdische
Einwanderung, vor allem christlicher Libanesen, auf den zunehmenden Judenhass unter
den Arabern, sowie auf problematische Formen des Landerwerbs durch Juden in
Palästina. Er gipfelt in der Frage: »Lässt sich eine halbe Million Menschen expropiieren?«
und beantwortet sie, indem er zustimmend Jizchak Epstein zitiert: »Wir wollen
niemanden verdrängen.« 6 Diese Position wurde innerhalb der zionistischen Bewegung
allerdings nur von einer Minderheit vertreten, zu der auch Müller gehörte, der im Juli
1921 in der von Nahum Goldman redigierten Zeitschrift Freie zionistische Blätter
gleichfalls einen entsprechenden Artikel »Zur Araberfrage« publizierte. Zu dieser
Minderheit zählten vor allem Martin Buber, Bergman und die stark von diesen beiden
geprägten Prager »Bar Kochbaner«, darunter Persönlichkeiten wie der Journalist Robert
Weltsch (1919-38 Chefredakteur der wichtigsten deutschen zionistischen Zeitung, der
Berliner Jüdischen Rundschau) und der Historiker Hans Kohn (einer der ersten
Nationalismustheoretiker), die zeitweise wichtige Positionen in der zionistischen
Bewegung innehatten.
Humanistische Zukunftshoffnung
Die Politik des 1995 von einem Fanatiker ermordeten Jitzchak Rabin, die 1993 zum
Grundsatzabkommen von Oslo führte (letztlich eine Umsetzung der Ideen Goldmans),
kann zum Teil als später Erfolg der Ideale des humanistischen Zionismus angesehen
werden. Die Chance eines (bi-nationalen) jüdisch-arabischen Miteinanders in einem
gemeinsamen Staat in Palästina ist zwar seit der Staatsgründung Israels 1948 (ein für
allemal?) vertan; doch auch gegenwärtig und zukünftig im zweistaatlichen
Nebeneinander wird es Gelegenheit für Israel geben, die Grundsätze eines
humanistischen Zionismus zu beherzigen. Die gegenwärtige Politik hat es mit den Folgen
der Versäumnisse und Verfehlungen in der Vergangenheit zu tun. Es ist zu hoffen, dass
als Folge der gegenwärtigen Politik nicht neue Konflikte entstehen, sondern ein
friedliches Zusammenleben im Heiligen Land möglich wird. Shalom - Salaam! Hans-
Jürgen Bracker, geb. 1961, ist Redakteur der in Schaffhausen erscheinenden
anthroposophischen Kulturzeitschrift Novalis.
1. Vgl. Rudolf Steiners gleichnamige Vorträge von 1917, GA 177.
2. Rudolf Steiner, Die Sehnsucht der Juden nach Palästina, in Gesammelte Aufsätze zur
Kultur- und Zeitgeschichte 1887-1901. (GA 31), Dornach 1966, S. 196 ff.
3. Um Steiner gerecht zu werden, muss man allerdings wirklich den ganzen Artikel lesen
und sich nicht mit den immer wieder zitierten Stellen begnügen. Vgl. hierzu Ralf
Sonnenberg, Rudolf Steiners Einschätzung des Zionismus und die Aktualität des »Brith
Shalom«, in Novalis 6/2000)
4. Hans-Jürgen Bracker, Ernst Müller. Porträt eines Mitteleuropäers, in Novalis 2/3, 1994;
sowie Der Einzelne und die Einheit der Menschheit, in Novalis 5/1997.
5. Vgl. auch Steiners Vortrag am 8.5.1924 (GA 353), wo er das gleiche ausführt.
6. Hugo Bergmann, Bemerkungen zur arabischen Frage, in Palästina, 1911, S. 190 ff.
7. Zum Einfluss von Steiners Dreigliederungsideen auf den »Brith Shalom« vgl. wiederum
Ralf Sonnenberg, Rudolf Steiners Einschätzung des Zionismus und die Aktualität des
»Brith Shalom«, in Novalis 6/2000
8. Zu Bergman vgl. Benjamin Ben-Zadok, Reine Idee und sittliche Tat. H.B. zum
Gedenken, in Die Drei 10/1984 und Gerhard Wehr, Zwischen Martin Buber und Rudolf
Steiner. Zu den Tagebüchern und Briefen Hugo Bergmans, in Das Goetheanum 1/1986, S.
10.
9. Nahum Goldman, Mein Leben. USA, Israel, Europa. München 1981.
10. Nahum Goldman, Israel muss umdenken. Reinbek 1976.