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Omnium expetendorum prima est sapient la »Von allen erstrebenswerten Dingen ist die
Weisheit das erste« So übersetzt Jerome Taylor den Schlüsselsatz des Didascalicon
von Hugo von St Viktor, das um 1128 geschrieben wurde Taylors* Einleitung,
Übersetzung und Kommentare sind Meisterwerke Mit seiner vorsichtigen Wortwahl und
seinen feinsinnigen Metaphern bietet er den besten laufenden Kommentar zu dieser
Übersetzung eines Texts des frühen 12 Jahrhunderts In seinen zahlreichen
Anmerkungen geht es ihm meist um Hugos Quellen Auch noch nach fünfundzwanzig
Jahren, in denen man sich m der Forschung intensiv mit Hugo beschäftigt hat, sind sie
kaum veraltet 2
Incipit
»Von allen erstrebenswerten Dingen« ist die Anfangs- und zugleich die
Schlüsselwendung m Hugos Buch über die Kunst des Lesens. Mittelalterliche
Manuskripte hatten meist keinen Titel. Sie wurden nach ihren Eröffnungsworten, dem
incipit, benannt. Die Päpste verwenden noch immer das incipit statt eines Titels,
* Anm. d. Übers.: Da es eine entsprechende moderne Übersetzung ins Deutsche nicht
gibt verwende ich bei Zitaten aus dem Didascalicon die Übersetzung von Joseph
Freundgen, Paderborn 1896, hier zitiert als DF.
15
wenn sie eine Enzyklika schreiben, zum Beispiel »Rerum novarum« (15. Mai 1931),
»Quadragesimo anno« (15. Mai 1931), »Sollicitudo rei socialis« (18. Februar 1988).
Beim Zitieren eines mittelalterlichen Manuskripts gibt man dessen incipit und explicit, die
letzten Worte, an. Diese Art des Verweises auf eine Schrift durch die erste und letzte
Zeile läßt sie wie ein Musikstück erscheinen, dessen erste und letzte Töne es dem
Musiker kenntlich machen.
In Hugos Fall haben wir das Glück, einen zuverlässigen Überblick über seine Schriften
zu besitzen.3 In diesem frühen Katalog wird omnium expetendorum als incipit
angegeben. Weiter unten werde ich erklären, wie das Buch zu dem Vorwort kam, mit
dem Taylor es veröffentlicht.
Auctoritas
Titel sind wie Etiketten. Ein incipit aber ist wie ein Akkord. Mit der Wahl eines
bestimmten incipit kann der Autor darstellen, in welche Tradition er sein Werk einordnen
möchte. Durch die feinsinnige Abwandlung eines häufig wiederholten Satzes kann er
darlegen, was ihn zum Schreiben bewegt.
Hugos incipit läßt keinen Zweifel daran, daß er sein Buch in eine lange
»didaskalische«4 Tradition stellen möchte, deren Wurzeln zurückgehen auf die
griechischen Reflexionen über die paideia, oder die Formung junger Menschen zu
Vollbürgern. Diese Tradition wurde von Varro, einem Mann, den Cicero »den
Gelehrtesten der Römer« nannte, ins Lateinische übernommen. Varro, Bibliothekar von
Cäsar und Augustus, schrieb unter anderem die erste normative lateinische Grammatik.
Obwohl er selbst ein Städter war, verfaßte er vier Bücher über den Landbau oder den
Gartenbau, die Vergil als Quellen für die bucolica (wörtlich: Kuhhirtenlieder) benutzte,
einer Sammlung (Ekloge)
16
von Gedichten, die den Topos des »Zurück-aufs-Land« und die Suche nach inneren
Landschaften in der Literatur der westlichen Welt etablierte. Varro war der erste, der das
Lernen als »Suche nach Weisheit« darstellte, eine Aussage, die von späteren
Verfassern von Schriften über »gelehrte Erziehung« wieder aufgegriffen worden ist. Das
Buch, in dem Varro diese Definition gibt, ist verloren gegangen; seine Aussage hat nur
durch Erwähnungen anderer klassischer Autoren überlebt.
Hugos incipit ist ganz eindeutig das Erbe Varros, das von dessen Schülern Cicero und
Quintillian weitergegeben worden ist; der Letztgenannte war der erste gebildete Lehrer,
der über die Kunst schrieb, Buchstaben nachzuziehen.5 In dieser Tradition betrachtet
man es als höchste Aufgabe des Pädagogen, den Schüler bei der Suche nach dem
Guten, bonum, anzuleiten, das ihn dann zur Weisheit, sapientia, führen wird. Beide
Wörter kommen in Hugos incipit vor: »Von allen erstrebenswerten Dingen ist die
Weisheit das erste, die in der Gestalt des vollkommenen Guten besteht«, sapientia, in
qua perfecti boni forma consistit. Wie viele seiner Zeitgenossen ist sich Hugo dessen
bewußt, daß seine Quellen von den großen Literaten Roms, die noch keine Christen
waren, stammen.
Es ist klar, daß sich Hugo nicht mit irgendeinem »Guten« zufriedengegeben hätte. Seine
Wortwahl ist präzise. Indem er Weisheit mit der »Gestalt des vollkommenen Guten«
verbindet, gibt er zu verstehen, daß er Varros Definition gelten läßt, aber nur wie diese
von Augustinus aufgenommen, verändert und weitergegeben worden ist.6 Hugos
Schriften sind von Augustinus durchtränkt. Er lebte in einer Gemeinschaft, die die Regel
des Augustinus befolgte. Hugo las immer wieder die Schriften seines Meisters und
schrieb sie ab. Lesen und Schreiben waren für ihn kaum unterscheidbare Seiten
desselben Studium. Daß Hugos Texte fast gänzlich Kompilationen, Deutungen und
Umformu-lierungen von denen des Augustinus sind, sieht man am besten
an seinem Werk über die Sakramente, das ein Torso geblieben ist. Hugos schwere
Krankheit und sein Tod machten es ihm unmöglich, die letzten Kapitel fertigzustellen;
nur ein früher Entwurf ist geblieben.7 Dieser Entwurf besteht großenteils aus Exzerpten
von Augustinus, die Hugo seiner eigenen Diktion und seinem eigenen Stil noch nicht
vollständig einverleibt hatte.8
Für Hugo wie für Augustinus war die Weisheit nicht ein Etwas, sondern eine Person.9 In
der augustinischen Tradition ist die Weisheit die zweite Gestalt der Dreieinigkeit,
Christus. »Er ist die Weisheit, durch die (Gott) alle Dinge geschaffen hat [...] Er ist die
Gestalt, Er ist der Retter, Er ist das Beispiel, Er ist dein Heilmittel.«10
Die Weisheit, die Hugo sucht, ist Christus selbst. Lernen und ganz besonders Lesen
sind zwei Formen der Suche nach Christus, dem Heil, Christus, dem Beispiel und der
Gestalt, den der gefallene Mensch, der ihn verloren hat, wiederzufinden hofft. Das
Verlangen des gefallenen Menschen nach der Wiedervereinigung mit der Weisheit ist
einer der Hauptgedanken Hugos. Daher ist der Begriff remedium, Heilmittel oder Arznei,
entscheidend, wenn man Hugos Werke verstehen will. Gott wurde Mensch, um die
Krankheit - meist als Finsternis dargestellt - zu heilen, die den Menschen wegen seiner
Sünden befallen hat. Das höchste Heilmittel ist Gott als Weisheit. Künste und
Wissenschaft leiten ihre Würde aus der Tatsache ab, daß sie sich darin teilen, Heilmittel
für denselben Zweck zu sein.11
Hugo hat mit seiner Weiterentwicklung des Begriffs remedium dem denkenden
Menschen des 20. Jahrhunderts einen ungewöhnlichen Weg gezeigt, Fragen der
Technik und Technologie anzugehen. Das Lesen, wie Hugo es wahrnimmt und deutet,
ist eine ontologisch heilende Technik. Ich habe vor, es als solche zu untersuchen. Ich
werde analysieren, was Hugo über Lesetechniken zu sagen hat, um die Rolle, die das
Alphabet um
18
1130 bei der Erschaffung eben dieser Techniken gespielt hat, erforschen zu können.12
Eine nähere Betrachtung zeigt, daß Hugos incipit nicht unmittelbar dem Werk des
Augustinus entnommen ist. Seine Formulierung stammt aus dem Werk De consolatione
philosophiae von Boethius, der Augustinus feinfühlig, aber bedeutsam abgewandelt
hat.13 »Von allen erstrebenswerten Dingen ist das erste und der Grund, weshalb alle
anderen Dinge begehrt werden, das Gute [...] in dem die Substanz Gottes liegt.«14 Der
Philosoph, der von Gott spricht, dämpft die christozentrische Leidenschaft des
Neubekehrten, Augustinus.15 Augustinus schreibt als ehemaliger Heide, der nicht
vergessen kann, daß er Christus erst vor kurzer Zeit als Person entdeckt hat. Boethius
wurde im Jahre 480 geboren, genau fünfzig Jahre nach dem Tod des Augustinus. Er
steht als Christ in einer Tradition von mehreren Generationen. Als römischer Konsul ist
er in den Dienst König Theoderichs, des ostgotischen Eindringlings, getreten. Des
Hochverrats angeklagt, schreibt er sein Werk De consolatione, während er auf seine
Hinrichtung wartet.16 Anders als der leidenschaftliche Neubekehrte Augustinus, der
versucht, sich von der weltlichen Weisheit zu lösen, wendet sich Boethius ihr zu. In
Platon, Aristoteles, Plotinus und Vergil sieht er Wegbereiter für das Kommen Christi.
Daher wurde er zu einer der wichtigsten Quellen der Antike für jene mittelalterlichen
Gelehrten, die in der klassischen Philosophie, und zwar besonders im Stoizismus, eine
praeparatio evangelii, eine Vorbereitung auf das Evangelium, sahen.17
Die Philosophen lehrten, daß das Ziel des Lernens die Weisheit als das vollkommene
Gute war, und die Christen glauben an die Offenbarung, daß dieses vollkommene Gute
das fleischgewordene Wort Gottes ist.18
Der zeitgenössische Leser erkannte im incipit gleich eine Auctoritas, einen Satz, der es
wert war, wiederholt zu werden. Wenn Cerimon, der Herr von Ephesus in Shakespeares
Fürst von
19
Tyrus sagt, daß er »by turning o'er authorities«* »so großen Ruhm erworben (hat), daß
nie die Zeit ihn auslöscht« (Perikles, Fürst von Tyrus, III, II), dann will er damit nicht
ausdrücken, daß er etablierte Macht umgestürzt hat und auch nicht, daß er gewichtige
Autoren befragt hat, sondern daß er sich einen Ruf als Mann von großer Weisheit
geschaffen hat, indem er über autoritative Sätze nachgedacht hat. In dieser heute
veralteten Bedeutung sind auctoritates Sätze, die beispielhaft sind und Wirklichkeit
definieren. Wenn Hugo Boethius' auctoritas als Schlüsselsatz wählt, tut er das nicht, weil
Boethius angesehen ist. Der Satz drückt eine offensichtliche Wahrheit aus, gerade weil
er aus den Darlegungen dieses oder jenes bestimmten Autors herausgenommen ist; er
ist zu einer frei treibenden Aussage geworden. Als solche in Worte gefaßte Institution
wurde die von Hugo zitierte auctoritas zu einem mustergültigen Zeugnis einer
unantastbaren Überlieferung.
Studium
Wenn wir das incipit mit »von allen erstrebenswerten Dingen ist die Weisheit das erste«,
übersetzen, wird uns jeder Lateinanfänger zustimmen. Primum ist das erste. Aber in
eben dieser scheinbaren Transparenz des lateinischen Worts liegt auch die
Schwierigkeit, die jedem, der einen solchen Text zu übersetzen versucht, begegnen
wird. Zweifellos bedeutet omnium expetendorum prima auch »von allen erreichbaren
Dingen das (aller)erste«. Und doch wird es nur zu Mißverständnissen führen, wenn ich
primum mit »das erste« übersetze. Für uns heutige Menschen ist das erste das, was
zuerst kommt oder am nächsten liegt. Wir machen den
* Anm. d. Übers.: »by turning o'er authorities«, deutsch etwa: »indem (er) über
Autoritäten nachdachte«; »to turn over« kann »blättern«, »über etwas nachdenken«,
aber auch »etwas oder jemanden umstürzen« bedeuten.
2O
ersten von vielen Schritten, wenn wir mit einem Buch oder einem Forschungsauftrag
beginnen, und wir gehen davon aus, daß uns unsere Bemühungen weiterbringen
werden, vielleicht sogar jenseits unseres gegenwärtigen Horizonts. Aber die Vorstellung
eines endgültigen Ziels allen Lesens ist uns fremd. Und noch weniger können wir uns
vorstellen, daß ein solches Ziel unser Tun jedesmal motivieren sollte, wenn wir ein Buch
aufschlagen. Uns beherrscht der Geist technischer Kausalität, und für uns ist der
Auslöser Ursache eines Vorgangs. Für uns ist das Herz nicht Ursache für die Flugbahn
der Kugel. Wir leben nach Newton. Wenn wir einen fallenden Stein sehen, ist er nach
unserer Wahrnehmung im Griff der Schwerkraft. Wir können die Wahrnehmung eines
mittelalterlichen Gelehrten schwer nachvollziehen, der die Ursache für das gleiche
Phänomen darin sieht, daß der Stein den Wunsch hat, sich der Erde zu nähern, die die
causa finalis, die endgültige Ursache dieser Bewegung ist. Wir stellen uns eine Kraft vor,
die einen schweren Körper schiebt. Das antike desiderium naturae, der natürliche
Wunsch des Steins, so nah wie nur möglich am Busen der Erde zur Ruhe zu kommen,
ist für uns zum Mythos geworden. Und die Vorstellung von einer endgültigen Ursache,
eines letzten Urgrunds allen Verlangens, der im Wesen des Steins oder der Pflanze
oder des Lesers verborgen ist, ist unserem Jahrhundert erst recht fremd geworden.19
Im geistigen Universum des 20. Jahrhunderts ist das »Endstadium« gleichbedeutend
mit dem Tod. Die Entropie ist unser endgültiges Schicksal. Wir erleben die Wirklichkeit
als monokausal. Wir kennen nur wirkende Ursachen. Deshalb wäre die Übersetzung
von primum mit »das erste« sowohl eine perfekte Übersetzung als auch eine
irreführende Interpretation. Wenn man im modernen Sprachgebrauch auf das Gute,
Schöne oder Wahre hinweisen möchte, das alles Dasein motiviert, muß man vom
»endgültigen Grund« sprechen, der alles durch Zerren und nicht durch Schieben
entstehen läßt.
21
Es ist eine genauso große Herausforderung, de studio legendi, den Untertitel des
Buches, zu übersetzen. Was legere und lectio für Hugo bedeuteten, ist Thema des
ganzen Buches. Das läßt sich hier nicht in wenigen Worten darlegen. Das Wort Studium
wird in jedem Wörterbuch des klassischen Latein wiedergegeben als »innerer Trieb,
Drang, Eifer, Neigung, Beflissenheit, Lust, Liebhaberei«. Es kann auch »Ernst«
bedeuten.
Es wäre daher verkehrt zu behaupten, das Buch sei eine Einführung zu dem, was man
heute »Studium« nennt. Es ist eine Anleitung zu einer Tätigkeit, die kulturell heute
ebenso veraltet ist wie die causa finalis .20
Nur mit dieser Einschränkung können wir das Buch eine Anleitung zu höheren Studien
nennen. Das Lernen in einem Kloster des 12. Jahrhunderts forderte Herz und Sinne des
Schülers mehr noch als seine Ausdauer und seinen Verstand heraus. Das »Studieren«
sah man nicht als zeitlich begrenzt an, wie wir das meist tun, wenn wir sagen, daß
jemand »noch studiert«. Es gehörte mit zu den täglichen und lebenslangen Aufgaben
eines Menschen und bestimmte seine gesellschaftliche Stellung und seine symbolische
Funktion mit.
Man kann Hugos Buch ohne Zweifel als mittelalterlichen Vorboten der propädeutischen
Literatur betrachten, die in späteren Jahrhunderten Lehrpläne für Erstsemester an den
Universitäten lieferte. Hugo behandelt in seinem Buch die zu seiner Zeit übliche
Aufteilung der Lehrgebiete und ihre jeweiligen Lehrmethoden. Und er spricht ausführlich
über die Aufteilung der Wissensgebiete. Er listet den Kanon der Klassiker auf, die dem
Schüler bekannt sein sollten. Dennoch stehen für Hugo im Mittelpunkt die Tugenden, die
man für das Lesen braucht, und die durch dieses entwickelt werden.
22
Disciplina21
Das studium legendi formt den Mönch insgesamt, und sein Lesen
wird in gleichem Maße wie er selbst Vollkommenheit erreichen22
- Der Beginn der Disziplin ist Demut. . . und der Leser lernt durch die Demut dreierlei:
Erstens, daß er kein Wissen und keine Schrift je verachten sollte.23 Zweitens, daß er
sich nicht schämen sollte, von jedermann etwas zu lernen.24 Drittens, daß er, wenn er
selbst Gelehrtheit erreicht hat, niemals auf einen anderen herabschauen sollte.25
- Ein ruhiges Leben ist ebenso wichtig für die Disziplin, sei es innerlich, so daß der Geist
nicht durch verbotene Wünsche abgelenkt ist, oder äußerlich, so daß Muße und
Möglichkeiten zu einem lobenswerten und nützlichen Lernen gegeben sind.26
- ... Nicht nach Überflüssigem zu streben, ist besonders wichtig für die Disziplin. Ein
fetter Bauch kann, wie das Sprichwort sagt, keinen Scharfsinn hervorbringen.27
- Und endlich muß die ganze Welt zur Fremde werden für die, welche vollendet lesen
wollen.28 Wie der Dichter sagt29:
»Heimischer Boden zieht mit besonderem, süßem Gefühl an / Und läßt eingedenk
seiner beständig uns sein«. . . Der Philosoph muß lernen, ihn zu verlassen.30
Das sind einige von einem Dutzend Regeln allgemeinen Charakters, die der Formung
jener Gewohnheiten dienen, die der Leser annehmen muß, damit ihn sein Streben zur
Weisheit führt und nicht zum Ansammeln von Wissen, mit dem er sich brüsten kann.31
Der Leser soll sich ins Exil begeben, um seine ganze Aufmerksamkeit und all sein
Verlangen auf die Weisheit richten zu können, die dann zum ersehnten Zuhause wird.32
23
Sapientia
Im zweiten Satz dieses ersten Kapitels beginnt Hugo damit, zu erklären, was die
Weisheit tut. Am Anfang des Satzes steht: sapientia illuminat bominem, »die Weisheit
erleuchtet den Menschen« . . . lit seipsum agnoscat, »damit er sich selbst erkenne«.
Wieder einmal stehen, in dieser Version, Übersetzung und Exegese im Widerspruch,
und die deutschen Wörter könnten leicht den Sinn verschleiern, den eine Interpretation
zu enthüllen vermag. Erleuchtung in der Welt Hugos und das, was wir darunter
verstehen, sind vollkommen verschiedene Dinge. Und der Unterschied liegt nicht nur
darin, daß wir einen Lichtschalter betätigen und Hugo Wachskerzen benutzte. Das Licht,
das - in Hugos metaphorischem Wortgebrauch - den Menschen erleuchtet, bildet den
absoluten Kontrast zum Licht der Vernunft des 18. Jahrhunderts. Das Licht, von dem
Hugo hier spricht, bringt den Menschen zum Glühen. Mit der Annäherung an die
Weisheit fängt er an zu strahlen. Das emsige Streben, das Hugo lehrt, ist die
Verpflichtung zu einer Tätigkeit, bei der das eigene »Selbst« des Lesers erglühen und
zum Funkeln gebracht werden wird.33 Das Buch, das Hugo kennenlernte, als ihm in
seiner Kindheit in Flandern oder als Knabe in Sachsen beigebracht wurde, ein
Schreibrohr oder eine Feder zu halten, war mit dem gedruckten Gegenstand in unseren
Regalen kaum zu vergleichen. Es hatte nichts von der Aura, die jenes uns wohlbekannte
Bündel von Blättern, die mit gedruckten Zeichen bedeckt und am Rücken
zusammengeleimt sind, charakterisiert. Die Blätter waren noch immer aus Pergament
und nicht aus Papier. Die lichtdurchlässige Schaf- oder Ziegenhaut war mit Manuskript
beschrieben und bekam Leben durch Miniaturen, die mit feinen Pinseln gemalt waren.
Die Gestalt der vollkommenen Weisheit konnte durch diese Häute scheinen,
Buchstaben und Symbole zum Leuchten bringen und das Auge des Lesers erglühen
las-
sen.34 Ein Buch anzuschauen war ein Erlebnis ähnlich dem, das man am frühen
Morgen in gotischen Kirchen haben kann, in denen die Originalfenster erhalten sind.
Wenn die Sonne aufgeht, bringt sie Leben in die Farben des Glases, das vor
Sonnenaufgang wie eine schwarze Füllung in den Steinbögen ausgesehen hatte.
Lumen
Wenn man besser verstehen möchte, wie das Wesen des Lichts im 12. Jahrhundert
wahrgenommen wurde, ist es hilfreich, eine Miniatur aus einem zeitgenössischen codex
neben ein nahezu beliebiges Gemälde einer späteren Periode zu legen. Wenn man die
beiden Kunstwerke vergleicht, fällt sofort auf, daß die Gestalten auf dem Pergament von
selbst leuchten. Natürlich sind sie nicht mit Leuchtfarben gemalt, und sie bleiben in
völliger Dunkelheit unsichtbar. Aber wenn man sie in den Schein einer Kerze rückt,
beginnen die Gesichter und Kleider und Symbole, Licht auszustrahlen. Dies steht in
starkem Kontrast zur Kunst der Renaissance, deren Schöpfer sich an Schatten erfreuen
und am Malen von Dingen, die in der Dunkelheit versteckt sind.
Die Welt wird so dargestellt, als besäßen alle Kreaturen ihre eigene Lichtquelle. Licht
wohnt dieser Welt mittelalterlicher Dinge inne, und das Auge des Betrachters nimmt
diese als Quellen ihrer eigenen Leuchtkraft wahr. Man hat das Gefühl, daß das Bild
nicht nur unsichtbar wäre, sondern ganz aufhören würde zu existieren, wenn diese
Leuchtkraft erlöschen würde. Das Licht hat hier nicht einfach eine Funktion, sondern es
ist eins mit der Bildwelt, der gemalten Wirklichkeit.35
Die Miniaturen des frühen 12. Jahrhunderts stehen hierin in der Tradition der Ikone der
oströmischen Kirche.36 Dieser Tradition nach malt der Maler kein Licht, das den
Gegenstand trifft
und dann von diesem reflektiert wird, und er deutet solches Licht auch nicht an.
Signorelli - und noch mehr Caravaggio - ist stolz darauf, daß er opake Gegenstände
malen und sogar das Licht darstellen kann, das diese zum Leuchten bringt. Wenn man
eines seiner Gemälde anschaut, spürt man, daß dessen Licht von einer anderen Ebene
als der des Gemäldes selbst ausgeht, und daß es dazu da ist, die abgebildete Welt
sichtbar zu machen. Diese Maler vermitteln den Eindruck, eine dunkle Welt von Dingen
geschaffen zu haben, die auch dann noch da wären, wenn das Licht, das sie beleuchtet,
ausgelöscht würde. Im Gegensatz zu den leuchtenden Wesen der mittelalterlichen Welt,
die in ihrem Eigenlicht glänzen und Licht aussenden (Sendelicht), malen die späteren
Künstler Licht, das zeigt, was da ist (Zeigelicht), das Licht, das von einer gemalten
Sonne oder Kerze ausgeht und die Gegenstände beleuchtet (Beleuchtungslicht). Wenn
Hugo vom Licht spricht, das den Leser erleuchtet, spricht er ganz eindeutig vom
ersteren.37
Für Hugo strahlt die Seite, aber nicht nur die Seite, auch das Auge strahlt.38 Noch heute
sagt man in der Umgangssprache, daß die Augen »leuchten«. Wenn man das sagt,
weiß man jedoch, daß man metaphorisch spricht. Das war für Hugo nicht so. Er faßte
geistige Vorgänge analog zur Wahrnehmung seines Körpers.39 Nach der spirituellen
Optik der Frühscholastik benötigte man das lumen oculorum, das Licht, das vom Auge
ausgeht, um die leuchtenden Gegenstände der Welt sinnlich wahrnehmbar zu machen.
Das leuchtende Auge war Voraussetzung für das Sehen. Hugos incipit deutete an, daß
das Lesen Schatten und Finsternis von den Augen der gefallenen Menschen nahm. Das
Lesen ist für Hugo ein Heilmittel, weil es Licht in eine Welt zurückbringt, aus der es
wegen der Sünde verbannt worden war. Laut Hugo wurden Adam und Eva mit Augen
erschaffen, die so strahlend waren, daß sie immerwährend betrachteten, wonach der
Mensch jetzt mühsam Ausschau halten muß.
26
Wegen ihrer Sünden wurden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben. Aus einer
strahlenden Welt wurden sie in eine Welt des Nebels verbannt, und ihre Augen verloren
die Leuchtkraft, mit der sie erschaffen worden waren und die dem Wesen und Verlangen
des Menschen noch immer ansteht. Hugo bietet das Buch als Arznei für das Auge an. Er
bedeutet, daß die Buchseite ein vortreffliches Heilmittel ist; sie erlaubt es dem Leser,
durch Studium einen Teil dessen zurückzuerhalten, wonach es ihm wesensgemäß
verlangt, was ihm aber seine sündige innere Finsternis verweigert.
Die Seite als Spiegel
Hugo fordert seinen Leser auf, sich dem Licht, das von der Seite ausgeht, auszusetzen,
ut agnoscat seipsum, damit er sich selbst erkenne, sein Selbst anerkenne. Im Licht der
Weisheit, das die Seite zum Glühen bringt, wird das Selbst des Lesers Feuer fangen
und im Feuerschein wird er sich selbst erkennen.40 Auch hier zitiert Hugo eine
auctoritas, das gnoti seauton, die Maxime »erkenne dich selbst«, deren früheste Quelle
Xenophon ist, und die während der Antike ein stehendes Epigramm bleibt und im 12.
Jahrhundert häufig zitiert wird.41 Die Tatsache allein, daß ein autoritativer Schlüsselsatz
ein Jahrtausend oder länger immer wieder in unveränderter Form zitiert wird, ist jedoch
keineswegs eine Garantie dafür, daß auch seine Bedeutung unverändert geblieben ist.
Deshalb bin ich versucht, Hugos seipsum mit »dein Selbst« und nicht mit »dich selbst«
zu übersetzen.
Das, was wir heute meinen, wenn wir in einem normalen Gespräch vom »Selbst« oder
vom »Individuum« reden, ist eine der großen Entdeckungen des 12. Jahrhunderts. Es
gab weder in der griechischen noch in der römischen Begriffswelt einen passenden
Platz dafür. »Wer die griechischen Väter oder die hellenistische Philosophie studiert,
wird sich wahrscheinlich des Unterschieds zwischen ihrem Ausgangspunkt und unserem
schmerzlich bewußt werden. Unsere Schwierigkeit, sie zu verstehen, liegt hauptsächlich
in der Tatsache begründet, daß sie keine Entsprechung zu unserer »Person«
besaßen.42
Eine soziale Wirklichkeit, in der unsere Form des Selbst vorausgesetzt wird, stellt eine
kulturelle Exzentrizität dar.43 Diese Exzentrizität kommt während des 12. Jahrhunderts
auf. Hugos Werk bezeugt das erste Auftauchen dieser neuen Daseinsweise. Als
Mensch, der in »aller Literatur, die es gibt«, belesen ist, findet er Wege, die überlieferten
auctoritates und Mentalitäten so zu interpretieren, daß dieses neue Selbst in ihnen zum
Ausdruck kommen kann. Er möchte, daß der Leser die Seite so betrachtet, daß er mit
Hilfe des Lichts der Weisheit sein Selbst im Spiegel des Pergaments entdeckt.44 In der
Seite wird der Leser sich selbst erkennen; nicht so, wie andere ihn sehen oder durch die
Titel oder Spitznamen, die sie ihm geben, sondern indem er sich selbst sieht.
Das neue Selbst
Mit dem Geist der Selbstdefinition bekommt das Fremdsein einen neuen, positiven Sinn.
Hugos Aufforderung, »die Süße des heimatlichen Bodens« zu verlassen und sich auf
eine Reise der Selbstentdeckung zu begeben, ist nur ein Beispiel für das neue Ethos.
Bernhard von Clairvaux ruft zu den Kreuzzügen auf, die in anderer Form die gleiche
Aufforderung ausdrücken: Menschen auf allen Ebenen der feudalen Hierarchie sollen
die gemeinsame Gedankenwelt ihrer Umgebung verlassen, in der Identität dadurch
entsteht, wie andere mich benennen und behandeln, und ihr Selbst in der Einsamkeit
der langen Reise entdecken. Bernhards Aufruf veranlaßt Zehntausende dazu, ihre
Dorfgemein-
28
schaft zu verlassen, und sie entdecken, daß sie, auf sich allein gestellt, überleben
können, ohne die Bindungen, die sie innerhalb des festgefügten feudalen ordo sowohl
versorgt als auch gefesselt hatten. Als Pilger und Kreuzritter, als reisende Steinmetze
und Mühlenbauer, als Bettler und Reliquiendiebe, als fahrende Spielleute und Scholaren
gehen sie am Ende des 12. Jahrhunderts auf Wanderschaft.45 Hugos Forderung, daß
der Gelehrte ein Heimatloser im Geiste zu sein habe, spiegelt diese Stimmung wider. Er
ist nicht der einzige seiner Generation, der das Klosterleben in eine peregrinatio in
stabilitate umgedeutet hat, also in eine geistige Pilgerschaft derer, die sich zum
Verbleiben an einem Ort innerhalb einer religiösen Gemeinschaft verpflichtet haben.46
Ich behaupte nicht, daß das »moderne Selbst« im 12. Jahrhundert geboren wurde und
auch nicht, daß das Selbst, das in dieser Zeit zutage tritt, nicht eine lange Reihe von
Ahnen gehabt hätte.47 Heute betrachten wir uns gegenseitig als Menschen mit
Grenzen. Unsere Persönlichkeiten sind genauso voneinander getrennt wie unsere
Körper. Ein Dasein in innerer Distanz zur Gemeinschaft, das der Pilger, der sich nach
Santiago aufmachte und der Schüler, der das Didascalicon las, allein entdecken mußte,
ist für uns eine soziale Realität; etwas so Selbstverständliches, daß wir gar nicht auf den
Gedanken kämen, es wegzuwünschen. Wir werden in eine Welt von Fremden
hineingeboren. Winston Auden drückt das deutlich aus:
Some thirty inches from my nose The Frontier of my Person goes And all the untilled air
between Is untilled pagus and demesne.
Stranger, unless with bedroom eyes I beckon you to fraternize
29
Beware of rudely crossing it I have no gun, but I can spit.48
Diese existentielle Grenze ist unbedingt notwendig für jeden, der in unsere Welt
hineinpassen möchte. Und wenn sie erst einmal die geistige Topologie eines Kindes
geprägt hat, wird dieses Wesen immer ein Fremdling sein in allen »Welten« außer
denen, in welchen ebensolche Fremde wohnen.49
Es wird häufig behauptet, daß diese Grenze zur Zeit Hugos entsteht, und zwar als ein
Aspekt der neuen Bedeutung des Wortes Person, persona, und deren gesellschaftlicher
Anerkennung.50 Für Menschen des früheren Mittelalters bedeutete persona Amt,
Funktion oder Rolle; diese Bedeutungen waren auf verschiedene Weise vom
lateinischen Wort persona, Maske, abgeleitet. Für uns bedeutet es das Individuum im
eigentlichen Sinne, das eine einzigartige Persönlichkeit, Physis und Psyche hat. »In der
Person von« bewahrt, zur Formel versteinert, die ältere Bedeutung, wie auch der
englische parson - Pastor, Pfarrer - lange als die juristische persona betrachtet, die als
Kläger oder Beklagter in Gemeindefragen auftrat.51
Was ich hier betonen möchte, ist die besondere Übereinstimmung zwischen der
Entstehung des Selbst als Person und dem Abheben »des« Textes von der Seite. Hugo
weist seinem Leser den Weg in ein fremdes Land. Er verlangt aber nicht von ihm, daß er
seine Familie und seine gewohnte Umgebung verläßt, um von Ort zu Ort in Richtung
Jerusalem oder Santiago zu wandern. Er erwartet vielmehr, daß sich der Leser ins Exil
begibt, um eine Pilgerreise durch die Seiten eines Buchs anzutreten.52 Er spricht vom
Höchsten, zu dem sich der Pilger hingezogen fühlen sollte, und für die Pilger der Feder
ist das nicht, wie für die Pilger des Stabs, die himmlische Stadt, sondern die Gestalt der
vollendeten Güte. Und er macht darauf aufmerksam, daß der Leser auf dieser Straße
zum Licht unterwegs ist, das ihm sein eigenes Selbst
30
enthüllen wird. Hugo drängt seine Leser, nicht zu lesen, um gelehrt zu erscheinen,
sondern »(die Seite) immer vor das Auge des Geistes zu halten, als wäre sie ein Spiegel
für das eigene Antlitz«. In lumine tuo videbimus lumen. (Psalm 36,9)
Immer spricht Hugo aus nachhaltig visueller Perspektive. Bei der Suche nach Weisheit
gibt er stets dem Auge Vorrang. Mit dem Auge nimmt er die Süße der Schönheit wahr.
Er spricht vom Schatten, aus dem der Philosoph treten muß, um sich dem Licht zu
nähern, und von der Sünde spricht er meist als Finsternis. Die Erleuchtung berührt für
Hugo drei Augenpaare: die Augen des Fleisches, die die materiellen Dinge entdecken,
die in der irdischen Sphäre der greifbaren Gegenstände enthalten sind, die Augen des
Verstandes, die das Selbst betrachten sowie die Welt, die es widerspiegelt, und
schließlich die Augen des Herzens, die im Licht der Weisheit ins Innere Gottes
vordringen, zu Gottes Sohn, der als höchstes »Buch« im Schoß des Vaters verborgen
ist.53
Amicitia
Wenn Hugo liest, erlebt er die Rückkehr des Lichts, das uns unserer Sünden wegen
genommen worden ist. Seine frühmorgendliche Pilgerschaft durch den Weinberg der
Seite führt ins Paradies, das er sich als Garten vorstellt. Die Worte, die er vom Spalier
der Zeilen pflückt, sind Vorgeschmack und Versprechen der Süße, die noch kommen
wird. Freundschaft ist Hugos bedeutsamste Metapher für die erhoffte Erfüllung und für
den Weg dorthin. Est philosophia amor et studium et amicitia quodammodo sapientiae ,
»Liebe, Suche und gewissermaßen Freundschaft der Weisheit« motivieren ihn zu seiner
Pilgerschaft.55 Paradoxerweise klingt es für Leser des späten 20. Jahrhunderts
schamlos, wie Mönche des 12. Jahrhunderts von Freundschaft sprechen.
Die zarte Freundschaft, die diese Mönche in leibhaftiger Erregung füreinander und ihre
Schwestern, die Nonnen waren, empfanden, bezeugt einen Erfahrungsraum, der auch
der edelsten persönlichen Beziehung diametral entgegengesetzt ist, die seit »dem
Verbot von >Lady Chatterley< und der ersten LP der Beatles«56 bestanden hat. Bei
Hugo ist Freundschaft das Wort für jene Liebe zur Weisheit, die sapientia oder
geschmackvolles57 Wissen ist.58 Der Freund ist paradisus homo, »allein seine
Gegenwart macht selig; Freundschaft ist ein Garten, ein Lebensbaum, Schwingen für
den Flug zu Gott. . . Süße, Licht, Feuer, Schmerz [...] die Rückkehr ins Paradies.«59
Wenn Hugo im Didascalicon den Reiz der Weisheit erklärt, muß er einfach die Metapher
der Freundschaft wählen, die letztlich das Studium motiviert.60
Einige Jahrzehnte lang haben Hugos Zeitgenossen die platonische Doktrin
wiederentdeckt und christianisiert, die besagt, daß Wissen ohne Freundschaft, die sich
am Wissen des Freundes erfreut, unzureichend ist. Hugo selbst konnte nicht anders, als
das höchste Ziel des Studium anhand dieser Erfahrung zu interpretieren. Das Licht der
Weisheit, das den Geist des Schülers umgibt, ruft ihn und zieht ihn so zu sich selbst
zurück, daß er den anderen immer als Freund berührt. Durch die unsichtbaren Dinge
der Welt gelangt der wahre Leser zu den unsichtbaren [...], indem er in seinem Herzen
eine Leiter hinaufsteigt zu einer Vereinigung in den Armen eines wunderbaren Gottes.61
32
2 Ordnung, Gedächtnis und Geschichte
Schaue niemals auf etwas herab • Ordo • Artes • Die Schatztruhe im Herzen des Lesers
• Die Geschichte des Gedächtnisses • Römische Juristenkunst im Dienste mönchischen
Gebets • Die Arche ist die Kirche • Historia als Fundament • Alle Schöpfung ist
sinnträchtig
Meditation
Das »Lesen«, das Hugo lehrt, ist eine monastische Tätigkeit. Dreierlei ist für diejenigen,
die sich hiermit beschäftigen, vonnöten: »Begabung, Übung, Zucht.123 Hinsichtlich der
Begabung (natura) achtet man darauf, daß sie das Gehörte leicht auffasse und das
Aufgefaßte treu behalte; hinsichtlich der Übung darauf, daß sie durch Ruhe und Fleiß
die natürliche Begabung ausbilde; hinsichtlich der Zucht, daß sie bei einem löblichen
Leben (laudabiliter viventes) die Sitten124 mit der Erkenntnis in Einklang bringe.«125
Das Studium legendi fordert den Leser heraus, beim Vorankommen auf dem steilen
Weg zur Weisheit alles zu geben: zu Beginn beim Kinderspiel der Gedächtnisübung,
dann weiter bei der historia, ihrer Interpretation durch analogia zwischen den
Ereignissen der historia, weiter bei der anagogia, der Einverleibung des Lesers in die
historia, die er nun kennt.
Zum Übergang von der cogitatio, die konzeptuelle Analyse ist, zur meditatio, der
Inkorporation, sagt Hugo in Buch III, Kapitel 11: »Die Meditation ist das anhaltende
Nachdenken . . .126 Die Meditation nimmt ihren Anfang mit der Lesung; gleichwohl
bindet sie sich an keinerlei Regeln und Vorschriften des Lesens; denn sie findet ihr
Vergnügen daran, einen passenden Abschnitt zu durcheilen, um dann nach freiem
Entschlüsse mit
55
der scharfsinnigen Betrachtung der Wahrheit einzusetzen und bald diese, bald jene
Ursachen der Dinge zu erforschen, bald aber bis zu den tiefsten Tiefen vorzudringen
und nichts unentschieden und nichts unklar zu lassen. In der Lesung besteht also der
Anfang des Unterrichts (prinripium doctrinae), die Vollendung desselben in der
Meditation.«127
Doctrina bedeutet hier nicht Dogma oder Grundsatz. Mit dem Wort ist hier eine
persönliche Verwirklichung gemeint, die darin besteht, gelehrt zu werden. Principium
doctrinae ist der Anfangspunkt auf dem Weg des Lernens und nicht der erste Tag der
Unterweisung auf dem Weg zu einer »Ausbildung«. Hugo spricht von der Lehrzeit, die
beginnt, wenn jemand mit dem handwerklichen Rüstzeug vertraut ist, und in der man es
durch meditatives Lesen zur Meisterschaft bringt. »Wenn einer dieselbe (die Meditation)
durch vertraulichen Umgang lieben gelernt hat und derselben häufiger seine Muße
gewidmet hat, so gestaltet sie das Leben gar angenehm und gewährt in Trübsal reichen
Trost.«128
Das meditative Lesen kann zuweilen sehr schwer sein, es ist eine Aufgabe, der mit Mut,
fortitude), ins Auge gesehen werden muß. Aber der Leser wird, gestützt durch seinen
»Eifer beim Erkunden«, an dieser Betätigung Freude gewinnen. Begeisterung kommt
mit der Übung.129 Um den Fleiß des Schülers zu fördern, muß man ihm eher
ermutigende Beispiele als Anweisungen geben.130 Die Weisheit ist von großer
Schönheit, wie die Jungfrau im Hohenlied. Dem Mädchen aus Sunem so nah zu sein,
wie es König David war, bereitet große Freude. Und die Weisheit wird ihren Geliebten
nicht verlassen. Ist Abisag von Sunem nicht in Davids Bett gekrochen, um seinen alten,
verfallenden Körper zu wärmen?131
Hugo ermutigt seine Leser, in allem, was sie lernen können, Freude zu suchen. »Später
wirst du einsehen, daß nichts überflüssig ist. Beschränktes Wissen bringt keine
Freude.«132 Er macht
56
zu einer Einstellung Mut, bei der der Leser Fortschritte macht, weil er sich jener
Meisterschaft sehnt, die dem Geist Ruhe gibt. »Lesen« ist ein Ikonogramm für den
Vorgeschmack der Weisheit. Um den Leser einzustimmen, zitiert Hugo Psalm 54,7 aus
der Vulgata: Quis dabit mihi pinnas columbae, ut volem et requies.
Gemeinschaften von Murmlern
Hugos Meditation ist eine intensive Lesetätigkeit und kein passives, quietistisches Sich-
Versenken in Gefühle. Und diese Tätigkeit wird in Analogie zu den Körperbewegungen
dargestellt: als Schreiten von Zeile zu Zeile, oder als Flügelschlagen, während man die
schon bekannte Seite mustert. Hugo erlebt das Lesen als motorische Aktivität des
Körpers.
In einer anderthalb Jahrtausende langen Tradition geben die sich bewegenden Lippen
und die Zunge die klingenden Seiten134 als Echo wieder. Die Ohren des Lesers sind
aufmerksam und mühen sich ab, das aufzufangen, was sein Mund äußert. So wird die
Buchstabenfolge unmittelbar in Körperbewegungen umgewandelt, und sie strukturiert
die Nervenimpulse. Die Zeilen sind wie eine Tonspur, die mit dem Mund aufgenommen
und vom Leser für das eigene Ohr wiedergegeben wird. Die Seite wird durch das Lesen
buchstäblich einverleibt.
Der moderne Leser nimmt die Seite als Platte wahr, die seinen Verstand mit Zeichen
versieht, und er erlebt seinen Verstand als Bildschirm, auf den die Seite projiziert wird
und von dem sie mit einem Knopfdruck wieder ausgeblendet werden kann.135 Für den
monastischen Leser, an den sich Hugo wendet, ist das Lesen keine derartige
phantasmagorische, sondern eine eher leibliche Tätigkeit. Er nimmt die Zeilen auf,
indem er sich nach ihrem Takt bewegt, und er erinnert sich an sie, indem er
57
ihren Rhythmus erneut heraufbeschwört. So ist es nicht verwunderlich, daß uns die
voruniversitären Klöster als Aufenthaltsort für Murmler beschrieben werden.136
- Petrus Venerabilis (1092/94-1156), der gelehrte Abt, der Cluny vorsteht, sitzt meist des
Nachts auf seinem Bett und käut die Schriften ohne Unterlaß wieder.137
- Während der dunklen Stunden zwischen Mitternachtsgebet und Morgendämmerung
summt Johannes von Gorze (976 gest.) »wie eine Biene die Psalmen, leise und ohne
Unterbrechung«138.
- Gregor der Große »kaut die Schrift mit dem Mund seines Herzens« und erfreut sich an
der Labsal, die er aus ihr saugt.
Bernhard von Clairvaux selbst möchte, daß der Leser an der Schrift saugt, wie an einer
Honigwabe139, und er erfreut sich am angenehmen Geschmack von deren Poesie.140
Bernhard genießt es, von der Seite zu nippen. Am Tag, während er seinen Aufgaben
nachgeht, käut er die Lesungen der Nacht wieder141; er ist berauscht vom süßen Duft
der Worte142, von denen er sich ernährt.143 Für einen Augenleser mag dieses Zeugnis
der Vergangenheit anstößig wirken; er kann die Erfahrung nicht teilen, die durch den
Nachhall des mündlichen Lesens in allen Sinnen entstand.144 Es kommt noch dazu,
daß unser Wortschatz für Geschmack und Gerüche gewelkt und geschrumpft ist.145
Die Seite als Weinberg und Garten
Wenn Hugo liest, erntet er; er pflückt die Beeren von den Zeilen. Er weiß, daß schon
Plinius das Wort pagina, Blatt, von espalier hergeleitet hat.140 Für Hugo waren die
Zeilen auf der Seite der Draht eines Spaliers, das die Weinreben stützt. Während er die
Früchte von den Pergamentblättern pflückt, fallen die voces paginarum aus seinem
Mund; als gedämpftes Murmeln, wenn sie für
58
seine eigenen Ohren gedacht sind, oder recto tono, wenn er sich an die Gemeinschaft
der Mönche wendet. Es gibt Ausdrücke, die es möglichen, die beiden Tätigkeiten
auseinanderzuhalten: sibi legere heißt »für sich selbst lesen«, und im Gegensatz dazu
hat die clara lectio, »für die Ohren der anderen gedacht«. Es ist verwunderlich, daß man
das Lesen während der gesamten Antike als anstrengende Beschäftigung betrachtete.
Hellenistische Ärzte verschrieben die Lektüre als Alternative zu Ballspiel oder
Spaziergang. Das Lesen setzte eine gute körperliche Verfassung voraus; schwächliche
oder kranke Leute sollten nicht mit eigener Zunge lesen. Bei einer Sonnenwende hatte
sich Nikolaus von Clairvaux mit den übrigen Mönchen dem vierteljährlichen Brauch von
Reinigung und Aderlaß unterzogen, aber diesmal hatten ihn Fasten und Schröpfen so
geschwächt, daß er eine Weile nicht mehr lesen konnte. Und als Petrus Venerabilis
erkältet war und jedesmal husten mußte, wenn er den Mund aufmachte, konnte er
weder im Chor noch in seiner Zelle »für sich« lesen.147
Mündliche Aktivitäten herrschten beim Lesen nicht nur vor, sie bestimmten auch die
Aufgabe der Augen. Die Wurzel des englischen Worts »to read« schließt sowohl »Rat
geben« als auch »entziffern« und »interpretieren« mit ein. Das lateinische legere kommt
von einer leiblichen Tätigkeit.148 Legere konnotiert »pflücken, bündeln, ernten« oder
»sammeln«.149 Das lateinische Wort für Äste und Zweige, die gesammelt werden, leitet
sich von legere ab, und man nennt sie lignum. Lignum unterscheidet sich von
materia150 etwa so, wie sich Brennholz von Bauholz unterscheidet. Das deutsche Wort
»lesen« vermittelt noch deutlich die Vorstellung vom Buchenholzsammeln - Buchstaben
sind ja ursprünglich Stäbchen aus Buchenholz und erinnern uns an die Runen, die bei
magischen Beschwörungen verwendet wur-den.151
Für Hugo, der die lateinische Sprache benutzt, ist das Lesen
59
eine Tätigkeit, die dem Sammeln von Brennholz nicht unähnlich ist: Seine Augen
müssen die Buchstaben des Alphabets aufklauben und sie zu Silben bündeln.152 Die
Augen unterstützen die Lungen, die Kehle und die Lippen, die meist keine einzelnen
Buchstaben, sondern Wörter artikulieren.
Lectio als Lebensart153
Sowohl für den klassischen Rhetor oder Sophisten als auch für den Mönch ist das
Lesen eine Tätigkeit, die den ganzen Körper in Anspruch nimmt. Für den Mönch ist das
Lesen jedoch nicht nur eine Tätigkeit, sondern eine Lebensweise. Der Mönch liest, ganz
gleichgültig, was er bei der Befolgung der Regel seines Klosters gerade zu tun hat.154
Der heilige Benedikt hat eine Regel erschaffen, nach der der Tag aufgeteilt ist in zwei
Tätigkeiten, die beide als gleich wichtig gelten: ora et labora155, bete und arbeite.
Siebenmal täglich kommt die kleine Gemeinschaft des idealen Klosters in der Kirche
zusammen. Die Mönche lauschen den Rezitationen auf einem Ton, die festgelegte
Inflektionen haben, mit denen Fragen, direkte Rede oder das Ende einer Perikope
gekennzeichnet werden können156, und sie singen aus dem Buch der Psalmen.
Zwischendurch dann, beim Melken oder Pflügen, Butter machen oder Meißeln, wird der
gemeinschaftliche Sprechgesang zu einem gedämpften Summen, bei dem jeder Mönch
seine eigenen Verse wählt. Diese Verse sind der Weg seiner Pilgerreise himmelwärts,
beim Beten und beim Arbeiten.157 Das Lesen erfüllt seine Tage und Nächte.158
Dieses Aufgehen im ununterbrochenen Lesen ist jüdischen, rabbinischen Ursprungs,
wie auch der cantus planus, der die Zeilen im Herzen verankert. Der gregorianische
Gesang ist vorn Gesang der Synagoge inspiriert. Ebenso gehört das Verlangen, mit
dem Buch zu leben, zum jüdischen Mystizismus.159
60
Wenn der fromme Jude den Gottesdienst in der Synagoge besucht und Abschnitte aus
der Thora und aus den Propheten gehört hat, fährt er fort, Teile dieser Lesungen zu
murmeln, während er auf dem Markt auf seine Waren achtet, oder während er auf den
Stufen seines Hauses sitzt. Ein Rabbi tut das, bis ihm diese Worte »so süß werden wie
die Muttermilch dem Säugling«160- Er erinnert sich an Ezechiel 3, wo Gottes Sendbote
seinem Diener eine Rolle hinhält, die »auf beiden Seiten vollgeschrieben war«. Ezechiel
wird geboten, diese »Rolle zu essen«, »sie sich einzuverleiben«, und »als er die Rolle
schluckt, schmeckt sie so süß wie Honig«. Gott sagt das Schicksal des jüdischen Volkes
nicht voraus, sondern er schreibt es vor - und jeder Jude erlebt sein Schicksal, indem er
sein eigenes Los als Postscriptum entdeckt. Und meist hat dieses Postscriptum einen
bitteren Geschmack. »Der Jude scheint fest entschlossen gewesen zu sein, sich des
Weges zu vergewissern, den ihm der Prophet gewiesen hatte.«131.
Hugo möchte, daß sein Schüler die heilige Vergangenheit der ganzen Welt seiner
eigenen Gegenwart einverleibt, indem er die drei Bedeutungen der Heiligen Schrift
erforscht. Er möchte, daß der Schüler im Auszug der Juden aus Ägypten eine
Vorwegnahme des Weges von Jerusalem nach Golgatha sieht, und als die Weise
deutet, wie die Christen Jesus folgen, und dabei die Geschichten auf sich selbst bezieht:
Er soll seine Familie für das Kloster verlassen, dessen Sinnbild die Wüste ist.
Unbehaust findet er sein irdisches Zuhause in den Seiten des Buchs.
So ist die Bedeutung, die Hugo und seine Zeitgenossen dem studium legendi geben,
durch Vorstellungen aus dem Alten Testament geprägt. Dazu schafft die
Benediktinerregel einen Rahmen, in dem der ganze Körper symbolisch in die
lebenslange Lektüre einbezogen ist. Der einzelne Mönch mag ein rudis sein - ein
illiterater Diener oder ein ungehobelter Einfaltspinsel. Dennoch gesellt er sich siebenmal
täglich zu allen anderen im Chor
61
und singt vor dem Buch die Psalmen. Sie sind Teil seines Daseins geworden, und er
kann sie, wie sein gelehrtester Bruder, hersagen, während er die Ziegen hütet.
Der Vorgang, bei dem der geschriebene Text der Heiligen Schrift Teil der Biographie
eines jeden Mönchs wird, ist nicht griechisch, sondern typisch jüdisch. Die Antike besaß
kein einzigartiges Buch, das einverleibt werden konnte. Weder die Griechen noch die
Römer waren Gemeinschaften eines Buchs. Kein einzelnes Buch stand im Mittelpunkt
der klassischen Lebensweise, wie bei den Juden, Christen und Moslems, und es gab
dafür auch keinen Platz. Während des ersten christlichen Jahrtausends ging man beim
Memorieren dieses einen Buchs auf eine Weise vor, die in deutlichem Kontrast zum
Erbauen von Gedächtnispalästen stand. Man widmete den psychomotorischen
Nervenimpulsen, die das Lernen der Sätze begleiten, große Aufmerksamkeit. So und
nicht anders wurde das Buch einverleibt. Noch heute sitzen Schüler der Thora und des
Korans mit dem geöffneten Buch auf den Knien auf dem Fußboden. Jeder singt seine
Verszeilen im Singsang, oft ein Dutzend Schüler gleichzeitig, jeder eine andere Zeile.
Während sie lesen, schaukeln sie ihre Körper von der Hüfte aufwärts, oder sie wiegen
sich sanft vor und zurück. Bewegung und Rezitation gehen wie in Trance weiter, auch
wenn der Schüler die Augen schließt oder den Mittelgang der Moschee hinunterschaut.
Die Körperbewegungen setzen die Sprechorgane in Gang, die mit ihnen verbunden
sind. Auf eine rituelle Weise setzen diese Schüler ihren ganzen Körper ein, um sich die
Zeilen einzuverleiben.
Marcel Jousse hat die psychomotorischen Techniken untersucht, eine gesprochene
Wortfolge »einzufleischen«. Er hat gezeigt, daß für viele Menschen das Erinnern darin
besteht, eine festgelegte Folge von Muskelbewegungen auszulösen, an die die
Lautäußerungen gebunden sind. Wenn das Kind während eines Wiegenlieds
geschaukelt wird, wenn sich die Schnitter im Rhyth-
62
mus eines Erntelieds beugen, wenn der Rabbi den Kopf schüttelt, während er betet oder
nach einer richtigen Antwort sucht, oder wenn jemand erst eine Weile mit den Fingern
trommeln muß, ehe ihm ein bestimmtes Sprichwort einfällt - laut Jousse sind das nur
einige wenige Beispiele einer weit verbreiteten Verbindung zwischen Lautung und
Gebärde.162 Jede Kultur hat dieser bilateralen, aber dissymetrischen Komplementarität
ihre eigene Form gegeben. Jeweils in eigener Weise prägen sich Sprüche links und
rechts, vorne und hinten Rumpf und Gliedern ein, nicht nur dem Ohr und dem Auge.
Das Leben im Kloster dürfte ein umsichtig gegliedertes Terrain für die Ausübung dieser
Techniken abgegeben haben.163
Otia monastica
Es ist jedoch keine der Regel innewohnende soziale Technik, die den Mönch ausmacht,
sondern die Haltung, mit der er an das Buch als Mittelpunkt seines Lebens herangeht.
Im kurzen Kapitel über die Meditation, das wir hier behandeln (Didasc. III, 10), spricht
Hugo von dem Geist, in dem dieses der Lektüre geweihte Leben gelebt werden sollte.
Er gebraucht das Wort vacare, das alles sagt, aber einfach nicht zu übersetzen ist. Das
Wort kommt in dem Satz vor, in dem er von der Meditation als einer Fertigkeit spricht, an
der der Lesende Freude haben sollte. In Hugos Worten: »Wenn einer dieselbe (die
Meditation) durch vertraulichen Umgang lieben gelernt hat (familiarius amare) und
derselben häufiger seine Muße gewidmet hat (vacare voluerit), so gestaltet sie das
Leben gar angenehm. . .«164 Das Wort vacare ist ein wesentlicher Terminus
Technicus165, der zur Definition des christlichen Mönchs verwendet wird. Rufinus (ca.
435-510) war der erste, der den Mönch als jemanden, »der sich selbst für Gott allein frei
macht« definiert, solus soli Deo vacans,166
63
Vacare bedeutet »befreit« oder »frei werden«. Wenn christliche Autoren das Wort
benutzen, liegt die Betonung nicht auf der Befreiung, die jemand erfährt, sondern auf
der Freiheit, die er aus eigenem Antrieb »nimmt«. Der Terminus betont eher das
Verlangen, sich einer neuen Lebensweise hingeben zu können, als die Befreiung von
oder die Flucht aus den eigenen alten Bindungen und Lebensgewohnheiten. Das Wort
wird auch im klassischen Latein verwendet. Seneca, der Zeitgenosse von Petrus und
Paulus, stoischer Lehrer von Nero, unterscheidet drei Lebensarten, denen sich ein
Mensch hingeben kann: die Wollust, die Kontem-plation und das politische Mittun.167
Seneca sagt, man sollte großmütig auswählen, wofür man frei sein möchte. Wahre
Muße könnten jedoch nur solche Menschen finden, die sich der Weisheit hingeben.168
In dieser, seiner klassischen Bedeutung wurde das Verb noch zu Hugos Lebzeiten
verwendet. Es bedeutete, sich dem Wein »hinzugeben«, sein Leben fleischlichen
Gelüsten »zu widmen«, in das Lernen »vertieft zu sein«. Kein Autor des 12.
Jahrhunderts hätte jedoch diesen Begriff verwenden können, um solche
»Abweichungen« zu benennen, ohne zugleich anzudeuten, daß sie ungebührlich waren
im Vergleich zur wahren Freiheit, die sich der Christ nehmen sollte. Diese letzte
Bedeutung gab Augustinus dem Wort vacare. Kurz nach seiner Taufe im Jahre 387 ging
er nach Afrika, da er sich von Gott zur Muße (otium)169 berufen fühlte, und gründete in
der Stadt Thagaste eine kleine Gemeinschaft. Für ihn besteht der Sinn des
Gemeinschaftslebens darin, »mittels der Muße zu Gott zu kommen«170. Seine
Bekehrung zum Christentum deutet er als Berufung, »sich der müßigen Gelehrsamkeit
hinzugeben«171. Gott ruft ihn zur Muße, was ihn nicht davon abbringt, sich »über alle
Maßen der Lektüre zu widmen«172.
Hugo fordert also vom Leser, dem es nach Vollkommenheit verlangt, daß er sich der
Muße hingebe. »Sie nämlich ist es vor allem, welche die Seele von dem Geräusch des
irdischen Treibens
64
abzieht und schon in diesem Leben die Süßigkeit der ewigen Ruhe kosten läßt.«173
Meditatives Lesen gibt der Seele Ruhe. Und wenn ein Mensch durch die Betrachtung
der Schöpfung Gott zu suchen und zu kennen lernt, dann wird sein Geist belehrt174 und
mit Freude erfüllt.175
Hugo unterscheidet hier zwischen der Pilgerwanderung und dem Spaziergang,
zwischen der anstrengenden lectio und der müßigen meditatio. Er unterscheidet zwei
Bewegungsstile, betont aber zugleich ihre Ähnlichkeit. In der monastischen Tradition
sind beide Formen der Lektüre nur zwei Momente derselben lectio divina. Hugo kennt
keinen Bruch zwischen Philosophie und Theologie, etwas, worauf die Scholastiker nicht
lange danach ihre Methode aufbauen sollten. Erst während des 13. Jahrhunderts wird
die Unterscheidung des »Lichts der Vernunft« vom »Licht des Glaubens« zu zwei Arten
des Lesens führen: zur Philosophie, in der die Vernunft ihr Licht auf die Dinge wirft
(lumen rationis) und dann nach den Gründen für deren Sein sucht, und zur Theologie, in
der sich der Lesende bei der Deutung der fühlbaren und rationalen Welt der Autorität
unterwirft, die von Gottes Wort und dessen Licht (lumen fidei) ausgeht.176 Bei Hugo
sind diese beiden klar voneinander unterscheidbaren Arten der Lektüre noch immer
Teile desselben otium, und die beiden Formen des Lichts, die die Seite erhellen können,
sind noch immer zwei Momente ein und desselben Studium. Die lectio ist
immerwährend ein Beginn, die meditatio eine consummatio, und beide machen das
Studium aus. Das Studium der Geschöpfe lehrt uns, nach ihrem Schöpfer zu
suchen177, alsdann wird dieser Schöpfer die Seele mit Wissen füllen178, sie mit
Freude tränken und die Meditation zur erhabenen Wonne machen.179 Für Hugo gibt es
nur eine Form der Lektüre, die wirklich lohnend ist, die lectio divina. Damit steht er am
Ende eines Jahrtausends, in dem sich lectio und otio vacare gegenseitig bestimmt
haben.
Das Ableben der lectio divina180
Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wird sogar der Begriff lectio divina immer seltener und
verschwindet aus manchem Kontext ganz und gar.181 Für die Bettelmönche, die
Franziskaner und Dominikaner, ist das fromme Lesen, das mittels der Kontemplation
nährt, nur eine Form der Buchbenutzung. Der Terminus lectio spiritualis wird dafür
verwendet, um es von akademischen Beschäftigungen zu unterscheiden, die jetzt das
Wort studium monopolisieren.
Wenn Hugo über Lektüre spricht, mit der andere Absichten verbunden sind als die
persönliche Suche nach Weisheit, warnt er in scharfen Tönen davor.182 Einer seiner
Zeitgenossen, Wilhelm von Thierry, der sechs Jahre nach Hugo starb, nimmt hier schon
einen ganz anderen Standpunkt ein. Er trennt zwischen einer Form des Lesens, die aus
Neigung183 betrieben wird und bei der der Leser die Erfahrungen des Autors seinen
eigenen einverleibt, und einer anderen, die dem Wissenserwerb dient.184 Die neue Art,
die neugestaltete Seite zu lesen, bedarf eines neuen Rahmens innerhalb der Stadt:
Kollegien, aus denen die neue Universität hervorgeht mit ihren akademischen statt
monastischen Ritualen. Das Studium legendi ist nicht mehr eine Lebensweise für die
große Mehrheit gelehriger Leser, sondern eine spezielle asketische Praxis, die man
lectio spiritualis nennt. Auf der anderen Seite steht Studium nun immer öfter für den
schieren Wissenserwerb. Die lectio fällt in Gebet und Studium auseinander.
4 Lectio auf Latein
Das lateinische Mönchtum • Der gregorianische Gesang • Die Alleinherrschaft des
Lateins über die Buchstaben
Hugos Schüler waren die letzten ihrer Art, die letzten mittelalterlichen Latinisten, für die
Lesen, Schreiben und Latein eins waren. Während ihres Lebens wurde das Lateinische
zu einer Sprache unter anderen. Die nachfolgende Generation verfaßte mundartliche
Gedichte neben lateinischen Versen. Sie entdeckte, daß man mit lateinischen
Buchstaben Mundarten aufzeichnen kann. Für Hugos Schüler hatten diese Buchstaben
noch immer eine lateinische Stimme. Durch seine Buchstaben war das Latein sichtlich
eine der drei heiligen Sprachen, neben Hebräisch und Griechisch. Was die Leute
sprachen, nahm man als etwas vollkommen anderes wahr, so wie für uns Singen oder
Tanzen etwas anderes ist als Sprechen. Das Lateinische war Laut und Buchstabe in
einem, und es hielt nicht nur die Buchstaben, sondern auch die Theorie eingeschlossen.
Die spekulativen Grammatiker der Mitte des 12. Jahrhunderts bleiben Gefangene des
Lateinischen. Was sie modale Logik nennen, ist eine ontologische Interpretation
grammatischer Kategorien, die von den Zeitgenossen Ciceros definiert worden
waren.185
Das lateinische Mönchtum
Hugos Schüler lernten Latein nicht als zweite, tote oder gelehrte Sprache. Für sie war es
ein wesentlicher Bestandteil der monasti-
67
sehen Lebensweise. Die religiöse conversio, wie man die Verpflichtung zum
klösterlichen Leben damals nannte, führte sie hin zu Latein, Gelehrsamkeit,
lebenslanger Verwurzelung und zum komplexen Gebetsritual als verschiedenen
Aspekten monastischen Gehorsams. In der Mundart, die man in der Heimat des
Novizen sprach, wurde nie geschrieben. Man betrachtete sie auch noch nicht als
Muttersprache.186 Das galt sowohl für den Bauern als auch für den Ritter. Das Alphabet
warf noch keinen Schatten auf das alltägliche Reden. Es gab noch keine Möglichkeit,
die Mundart nach Silben oder Wörtern zu gliedern. Geschichten, die in romanischen
oder germanischen Zungen erzählt wurden, waren noch nach den Regeln oraler
Gesellschaften aufgebaut, flössen dahin wie Wasser, obgleich das Zeitalter der
epischen Dichtung lange vorbei war, und Chronisten zeichneten sie zuweilen - meist auf
lateinisch - auf. Die Zeit war noch nicht gekommen, »Sprache« als Terminus für den
Vergleich zwischen Mundart und Latein als gleichartigen Gebilden, aber mit wohl
unterschiedlichem Status, zu verwenden.187
Das heißt aber nicht, daß das Lateinische außerhalb der Klostermauern unbekannt war.
Sein Klang lag in Hugos Jugend in der Luft. Wenn ein Vater sein Kind an die
Klosterpforte brachte, um es unterweisen zu lassen, waren dem Kleinen lateinische
Klänge längst vertraut.188 Er hatte sie mit Sicherheit schon durch die Responsorien der
Laien bei Messe und Vesper in der Gemeindekirche aufgeschnappt. Aber nachdem das
Kind erst einmal in die Stille des Klosters eingetreten war, wurde das Lateinische zum
Hauptausdrucksmittel für seine Stimme.189 Klösterliche Stille beim Arbeiten, in der
Küche, auf dem Feld und im Stall bildete den Hintergrund, gegen den sich das
Lateinische deutlich abhob.
68
Der gregorianische Gesang
Vom Tag seines Klostereintritts an saß das Kind mit den anderen Novizen den Mönchen
zu Füßen. Siebenmal täglich versammelte sich die Gemeinschaft zum Gebet, dem opus
dei, dem Gottesdienst. 190 Jede Woche mußten die 150 Psalmen wenigstens einmal
rezitiert werden. Bald konnte sie der Knabe auswendig. Die Rezitation der Psalmen
wurde durch Antiphonen und Responsorien unterbrochen, aber diese waren leicht zu
lernen. Schon nach wenigen Wochen wird das Kind das Rascheln der Kutten am Ende
jedes Gebets mit dem Sich-Erheben der Mönche und dem gloria patri verbunden haben.
Die rhythmische Wiederholung des Sich-Erhebens und Verbeugens und ihr
Zusammenfallen mit einem kleinen Kanon kurzer Formeln waren für den Novizen leicht
mit frommen Gefühlen und Praktiken assoziierbar, noch bevor er die Bedeutung der
lateinischen Worte ausmachen konnte. Das deo gratias - Gott sei Dank - hörten die
Novizen mit Erleichterung am Ende einer langen nächtlichen Bibellesung. Zur
Mittagszeit war es im Refektorium ebenfalls das sehnsüchtig erwartete Signal, daß die
Gebete vorüber waren und mit dem Essen begonnen werden konnte.191
Das Latein, das der Schüler im Kloster hörte, war meist nicht umgangssprachlich
moduliert. Es bestand aus Folgen von formelhaften Aufforderungen und Erwiderungen,
die nach den strengen Regeln des cantus planus intoniert wurden.192 Der Unterschied
zwischen Rezitation und Sprechen ist ebenso groß wie der zwischen dem Klang eines
Diktats und dem eines normalen Gesprächs. Gebete und Lektionen, Lesungen und
Ankündigungen zum Tage wurden rezitiert, nicht gesprochen. Latein war die Artikulation
ebenso von Gesang wie von Geschriebenem. Es gibt viele Theorien zu den Ursprüngen
des gregorianischen Gesangs und seinen Wurzeln in der Synagoge. In einem Punkt
sind sich jedoch alle Fachleute einig: Er weist Besonderheiten auf, die in
69
keiner anderen Musik zu finden sind; Besonderheiten, die so auffällig sind, daß sie auch
dem oberflächlichsten Hörer kaum entgehen können, und die so gleichbleibend sind,
daß wir sie in jedem Entwicklungsstadium, das dieser Gesang vom 3. bis zum 19.
Jahrhundert durchlaufen hat, finden können.193 Eine seiner Eigentümlichkeiten ist
seine Verknüpfung mit dem Kirchenlatein, die bis zum heutigen Tage so eng geblieben
ist wie die Verbindung der lateinischen Buchstaben mit der lateinischen Sprache in
Hugos Jugend.
Der einfachste Teil des cantus planus bestand in den sogenannten Akzenten, die beim
Lesen verwendet wurden. Sie können definiert werden als »die nach musikalischen
Gesetzen erfolgende Reduktion der gewöhnlichen Betonungen beim Sprechen, um
Verwirrung und Kakophonie bei der Vereinigung vieler Stimmen zu vermeiden [...] als
die unpersönliche Lautäußerung der Sprache korporativer Autorität im Unterschied zur
oratorischen Betonung individueller Sprechtechnik«194. Das öffentliche Lesen des 12.
Jahrhunderts klingt für den Hörer des 20. Jahrhunderts wie ein seltsamer Gesang. Es
gab strenge Regeln für die charakteristischen Betonungen, die bei verschiedenen
Büchern eingesetzt wurden: der buchstäblich monotone cantus lectionis für die Glossen;
der tonus prophetiae, epistolae, evangelii, durch die jeder, ohne auch nur ein Wort
verstehen zu müssen, wissen konnte, daß jeweils das Alte Testament, Paulus oder die
Evangelien gelesen wurden. Die feierlicheren Teile der Liturgie hatten -und haben noch -
ihre besonderen musikalischen Eigenheiten, die der jeweiligen Zeit des Kirchenjahres
entsprechen, in der sie gelesen werden. Das Latein war ebenso Resultat des Chors wie
der Schreibstube.
In der Zeit Hugos hatte sich das westliche Mönchtum schon über 500 Jahre an der
Regel des Heiligen Benedikt orientiert. Und diese Regel, die noch heute befolgt wird,
verlangt, daß der Mönch nach Mitternacht aufsteht, um mehr als eine volle Stunde
in der Gemeinschaft zu beten.195 Im 28. Kapitel der Regel von St. Viktor196 wird dem
Buch, in persona, die Aufgabe übertragen, die Mönche zu wecken. Sogar Einzelheiten
dieser Zeremonie werden in diesem Kapitel der Regel genauestens beschrieben. Zur
festgesetzten Stunde wird das Buch hinter zwei Kerzen her durch die Dormitorien
getragen. Der Bruder, der es trägt, darf seinen Kopf nicht gegen den schweren Band
pressen und das Buch auch nicht nachlässig im Arm halten, sondern er soll mit großer
Würde einherschreiten und die obere Kante des Buchs an seiner Brust ruhen lassen. An
jeder Kehre singen die Mönche der kleinen Prozession das benedicamos domini, und
die schlafenden Novizen werden im Augenblick ihres Erwachens in die Welt des Lateins
taumeln oder eintreten und mit dem deo gratias antworten. Auch kranke Brüder, die
nicht aufstehen müssen, sollen sanft angestupst werden, damit sie den nächtlichen
Besuch des Buchs würdigen.197
Wenn die Mönche ihre Gürtel gebunden haben, versammeln sie sich im dunklen
Chorraum. Das Buch wird auf das Lesepult in der Mitte des Kirchenschiffs postiert.
Davor wird eine Kerze angezündet, nicht allein um das Erkennen der Buchstaben zu
erleichtern, sondern auch, um daran zu erinnern, daß Christus das Licht ist, das aus
diesen Seiten in die Finsternis scheint. Das zeremonielle Feiern des Buchs, das Latein,
der liturgische Gesang und die Rezitation bilden so ein akustisches Ganzes, eingebettet
in ein komplexes Gebäude aus Rhythmus, Pausen und Gebärden. All das mußte den
Schülern in den Knochen sitzen, wenn sie nach kurzem Schlaf vor Sonnenaufgang und
nach zwei weiteren Morgenversammlungen zu Messe und Matutin endlich im
Schneidersitz vor ihrem Lehrer beim Diktat saßen, bei dem sie mit ihren Händen einem
Latein Schriftgestalt gaben, dessen melodischer Gebrauch ihnen schon sehr vertraut
war.
Die Alleinherrschaft des Lateins über die Buchstaben
Der Schüler, der das Latein gewohnt ist, lernt seine Vokabeln anhand der Zeichen, die
sein Griffel im Bienenwachs hinterläßt, das er vor der Stunde auf seiner Schreibtafel
geglättet hat. Der Lehrer spricht jede Silbe einzeln vor, und die Schüler wiederholen sie
im Chor. Während der Lehrer dem Schüler diktiert, diktiert dieser seiner eigenen
Hand.198 Das deogratias, eine vertraute Wendung, nimmt jetzt die Gestalt zweier
aufeinanderfolgender Wörter an. Die einzelnen Wörter des Lateins prägen sich als
Silbenfolge dem Ohr des Schülers ein. Zudem werden sie Teil seines Tastsinns, der sich
daran »erinnert«, wie sich die Hand bewegt hat, um sie ins Wachs einzukerben. Und sie
erscheinen als sichtbare Zeichen, die sich dem Sehsinn einprägen. Lippen und Ohren,
Hände und Augen wirken zusammen, um das Behalten der lateinischen Wörter zu
ermöglichen. Keine moderne Sprache wird durch einen so intensiven Gebrauch von
psychomo-torischen Erinnerungsspuren gelehrt, die sich Hand und Auge als Ergebnis
des Schreibens einprägen.199
Wenn wir das Alphabet betrachten, sehen wir in ihm ein Werkzeug, das der
Aufzeichnung sprachlicher Laute dient. Anderthalb Jahrtausende lang war das einfach
nicht so. Die Buchstaben, die, ohne sich in dieser Zeit nach Form und Anzahl zu
verändern, ihre Fähigkeit bewiesen haben, Hunderte verschiedener Sprachen zu
kodieren, sind während dieser anderthalb Jahrtausende ausschließlich zu einem Zweck
verwendet worden -nämlich um Latein zu schreiben. Aber nicht etwa das Latein, wie
man es sprach, sondern wie es in den letzten Jahrhunderten vor Christus alphabetisiert
worden war. Während der 650 Jahre römischer Herrschaft über die mediterrane Welt
wurde nicht eine Mundart eines unterworfenen und beherrschten Volkes jemals in
lateinischen Buchstaben aufgezeichnet. Das Monopol des Lateinischen über sein
Alphabet war so absolut, daß es nie als
Ergebnis eines »Tabus« betrachtet und nie als überraschende historische Anomalie
eingeschätzt worden ist. Diese Vernachlässigung einer verfügbaren Technik ist genauso
auffällig wie die Vernachlässigung des Rads in präkolumbianischen Kulturen, in denen
nur Götter und Spielsachen jemals auf einen Wagen gesetzt wurden.
Die Alleinherrschaft des Lateins über die lateinischen Buchstaben und ebenso des
Griechischen über das griechische Alphabet war in der Annahme verankert, daß eine
notwendige Beziehung zwischen Gestalt und Lautung bestünde. Als Kyrillos und
Methodios um 850 das »Glagolische« als Sprache schufen, in die sie die griechische
Bibel für die Bulgaren übersetzen konnten, erstellten sie auch ein neues Alphabet. Sie
kamen gar nicht auf den Gedanken, das griechische Alphabet um einige für das
Aufzeichnen slawischer Laute notwendige Zeichen zu erweitern.
Daß man diese zugänglichen Werkzeuge für ungewohnte Aufgaben nicht verwendet hat,
erscheint noch erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß das lateinische Alphabet nicht
einmal dazu benutzt wurde, das Latein niederzuschreiben, das wirklich gesprochen
wurde. Im ersten Jahrhundert nach Christus klangen die Mundarten der in Gallien und
Spanien angesiedelten Legionäre nicht mehr wie die, die in ihrer Heimat in Latium und
Kampanien gesprochen wurden.200 Und auch in diesen Ursprungsgebieten des
Lateinischen gaben die orthographischen Konventionen des 3. vorchristlichen
Jahrhunderts nicht mehr die Kadenzen und Laute wieder, die die Leute beim Reden
tatsächlich benutzten. Im ausgedehnten und politisch differenzierten Gebiet zwischen
dem Schwarzen Meer und Spanien wurde das lateinische Alphabet nie dazu verwendet,
das niederzuschreiben, was die Leute redeten. Bis zum 13. Jahrhundert blieb es ein
Werkzeug im Dienste des Diktats.
Natürlich gibt es eine ganze Reihe von Belegen, mit deren
73
Hilfe diese Behauptung modifiziert werden kann. So benutzten zum Beispiel römische
Notare die Kursivschrift, um Schriftstücke zu beglaubigen, und römische Rhetoren
verwendeten sie, um sich Notizen für ihre Reden zu machen; und gelegentlich
schrieben Leute wie der Heilige Hieronymus eigenhändig in dieser Schrift bei
Kerzenlicht Briefe, statt sie zu diktieren, wenn der Schreiber verfügbar war. Und auch
nachdem die Kursivschrift in Vergessenheit geraten war, machte sich so mancher
Kleriker des Früh- und Hochmittelalters seine eigenen Notizen. Das karolingische
Minuskelalphabet war nicht so geheimnisvoll, daß der Autor unbedingt einen Schreiber
benötigte.
Es gibt auch einige Beispiele dafür, daß das lateinische Alphabet schon vor der Zeit
Hugos zur Aufzeichnung nichtlateinischer Sprechformen verwendet wurde. Am
auffallendsten ist hier das Angelsächsische vor der normannischen Eroberung. Überdies
benutzte man bisweilen das Alphabet bei dem Versuch, Übersetzungen zu schaffen.
Schon unter Karl dem Großen arbeitete man in den Benediktinerklöstern der
Bodenseegegend an alemannisch-lateinischen Glossaren, mit deren Hilfe man dann
mundartliche Fassungen der Benediktinerregel und von Teilen der Evangelien erstellte.
Aber je mehr solcher Zeugnisse wir finden, desto mehr erscheint uns die Benutzung des
Alphabets bei der Abfassung nichtlateinischer Schriftstücke als Ausnahme, die die
Identifikation der lateinischen Schrift mit der lateinischen Sprache bestätigt.
Erst nach Hugos Tod begannen Chronisten und Notare mit einem Mal, das Alphabet
zum Aufzeichnen wirklicher Rede zu verwenden. Jetzt erst wurde eine Erfindung, die
schon so lange zugänglich und den Menschen vertraut gewesen war, die mit
nichtlateinischen Sprachen aufgewachsen waren, routinemäßig angewendet, um diese
in schriftlicher Form zu fixieren. Aus der Sicht des Technikhistorikers bietet sich hier eine
gute Möglichkeit, fundamentale Hypothesen zu prüfen. Statt die eine Theorie
74
zu bestätigen, nach der Aufgaben möglich werden, wenn die Geräte, die man zu ihrer
Ausführung braucht, zugänglich werden, oder die andere, nach der Werkzeuge dann
geschaffen werden, wenn bestimmte Aufgaben gesellschaftlich erwünscht sind, deutet
dieser Gebrauch des Abc darauf, daß ein schon in einer Gesellschaft vorhandenes, sehr
geeignetes komplexes, künstliches Hilfsmittel erst in dem historischen Augenblick zu
einem Werkzeug zur Ausführung einer Aufgabe gemacht werden wird, wenn diese
symbolische Bedeutung erlangt. Die Seite mußte den sichtbaren Text hervorbringen,
das gläubige Selbst mußte das moralische Selbst und die juristische Person
hervorbringen, bevor die Mundart, in der diese Person redete, zum Schriftbild »einer«
Sprache gerinnen konnte.
Die alphabetische Aufzeichnung deutscher oder provencalischer Mundarten führte nicht
gleich zu der Erkenntnis, daß mit der Alphabetisierung des Sprechens andere, mit dem
Latein vergleichbare Sprachen entstünden. Uwe Pörksen lieferte mir einen der besten
Beweise hierfür: Während der ersten beiden Generationen, in denen an deutschen
Höfen eine große Nachfrage nach provençalischen Texten bestand - und umgekehrt -,
wurde nicht eines der großen Lieder direkt aus einer Mundart in die andere übersetzt. In
jedem einzelnen Fall entstand erst eine lateinische Version des Liedes, und danach
dann eine Übersetzung aus dem Lateinischen in die Mundart, in der das Lied überliefert
ist. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts scheint es dann schon üblich zu sein, lateinische
Buchstaben für das Deutsche, Romanische und Italienische zu verwenden. Die
Phonographie eines Lateins, das schon nicht mehr gesprochen worden war, als der
Vesuv Pompeji begrub, wurde erst nach einem vollen Jahrtausend zu einem
phonetischen Aufzeichnungsmittel zur Erfassung tatsächlicher Rede. Was auch immer
gesagt, gesungen und bald auch gedacht wurde, konnte auf der Oberfläche eines
Blattes, einer »Seite«, landen. So, wie der Text jetzt vom konkreten
75
Gegenstand losgelöst war, also von eben diesem oder jenem Pergament, so wurden die
Zeichen des Abc unabhängig vom Latein.
Aber das Lateinische verlor nicht von heute auf morgen seine uralte Geltung als einzig
wirkliche Sprache. Langsam nur, aber unaufhaltsam setzte sich die Vorstellung durch,
daß nicht nur die Schreiber, sondern alle Menschen Sprache benutzen, und daß diese
Sprache geschrieben, analysiert, gelehrt und übersetzt werden kann.201 Und diese
verdinglichte Abstraktion des Redens, die man Sprache nennt, konnte nun für die
Aufgabe eingesetzt werden, die Wirklichkeit auf neue Art zu definieren. Das Sprechen
konnte man sich jetzt als Buchstabieren der eigenen Gedanken vorstellen. Die Zeilen
des Didascalicon wurden noch geschrieben, um den Mund zu verlassen. Der Klang der
alphabetischen Zeichen war noch immer von ihrer Herkunft, dem Latein, geprägt.
Griechische oder hebräische Brocken wurden vom Fluß des Lateinischen mitgetragen,
auf das ein paar Dutzend anregende Zeitgenossen, die zwischen 1060 und 1110
geboren wurden, einen außergewöhnlichen Einfluß hatten.
Ein Jahrhundert später schrieb der Heilige Franziskus das erste Gedicht in italienischer
Sprache. Ganz anders als der zu Beginn des 12. Jahrhunderts geborene Flame Hugo,
der das, was ihn in der Tiefe seines Herzens bewegte, nur diktieren, verfassen oder
formulieren konnte, wenn er ihm auf lateinisch Ausdruck gab, konnte der umbrische
Kaufmannssohn zu Beginn des 13. Jahrhunderts sein Lob der Sonne und des Mondes
als mundartliches Liebeslied nach dem Vorbild eines provençalischen Lai verfassen.
Ganz selbstverständlich benutzte er lateinische Buchstaben, um Wort für Wort
aufzuzeichnen, was er den Armen zu sagen hatte. Während Hugos Pilgerschaft die
Sprossen der lateinischen Zeilen hinaufführt, stellt Franz von Assisi sein Selbst an
italienischen Straßenecken bloß.
5 Scholastisches Lesen
Hugo fügt ein Vorwort hinzu • Die Pflicht, zu lesen • Trotz kargen Unterhalts • Der
Regularkanoniker gibt mit seiner lectio ein Beispiel • Das Umblättern einer Seite • Der
neue Kleriker übernimmt die Vorherrschaft über das Schreiben • Leises Lesen • Die
scholastische dictatio
87
tragt sind, sich bei Gott als Fürbeter für die gesamte Kirche zu verwenden, die Mitglieder
des Klerus selbst eingeschlossen.242
Gegen diesen Hintergrund betrachtet ist das monastische Lesen während des frühen
Mittelalters bis noch weit ins 11. Jahrhundert hinein ein Werk, das von einer besonderen
Gemeinschaft, die die gesamte Kirche repräsentiert, geleistet wird - und zwar immer »für
alle«.243 Die monastische lectio divina führt die liturgische Feier der Messe fort, die von
einem Priester verrichtet wird (der selbst Mönch sein kann). Wenn Hugo also »alle« zum
Studium legendi aufruft, drängt er nicht alle jene, die innerhalb der Stadtmauern leben,
dazu, sich wie der Klerus zu verhalten, sondern er fordert sie auf, ihr Leben so ernst zu
nehmen, wie es die Mönche tun. Lektüre um ihrer selbst willen - und nicht zur
Hantierung des Rechts und zur Rezitation klerikaler Formeln -wurde traditionell eher mit
dem Mönch als mit dem Angehörigen des Klerus assoziiert.
Chenu spricht von einem Erdrutsch; ich stelle mir lieber einen »Buchrutsch« vor, dessen
Donnern Hugo schon vernahm. Im letzten Stadium der alten Herrschaft des Buches
stellt er das studium legendi als neues Ideal auf, als eine Bürgerpflicht, und die
universale Gelehrsamkeit als nutzenlosen, feierlichen, müßigen Umgang mit dem Buch.
Selbstverständlich ist dies nicht die Konstellation, unter der die universale Pflicht, lesen
und schreiben zu können, zum grundlegenden Ideal moderner Gesellschaften wurde.
Mit der Zeit, nach und nach, wurde das Lesen zum unbedingten »Muß« für die
apologetische Katechese, für das politische Pamphletieren und später für
technologische Kompetenz. Als dann, noch viel später, das Ideal der allgemeinen
Literalität formuliert wurde, befürwortete man die Lesefertigkeit für »alle«, um sie in die
neue verschriftete Kultur einbeziehen zu können, die nun das Gegenteil des
monastischen Lebensstils war. Dennoch war die Neudefinierung des Lesers, die schon
in Hugos Zeit ansatzweise aufkam,
88
ein Schritt hin zur Vorstellung, daß Lesefähigkeit eine Voraussetzung für den Status als
Bürger ist - wie das für unser Jahrhundert
gilt.
Als sich ein Blatt in der Geschichte des Alphabets wendet, wird allmählich derjenige als
Kleriker betrachtet, der mit der neugestalteten Buchseite zurechtkommt und den neuen
Index benutzen kann, der den Zugang dazu bietet. Seine geschulte Schriftkundigkeit
macht ihn zum »Kleriker«; sei er nun Priester in Diensten des Bischofs, Jurist eines
Fürsten, Schreiber in einem Rathaus, Benediktiner, Bettelmönch oder Universitätslehrer.
In der alten sozialen Dualität waren die in Seelsorge und Liturgie eingesetzten
Mitarbeiter des Bischofs (der Klerus) gegen das »Volk« (seine spezialisierten
kontemplativen Leser, die Mönche, eingeschlossen) abgegrenzt. Die neuartige,
spätmittelalterliche gesellschaftliche Dualität läßt diejenigen, die Schreiber sind, denen
gegenüberstehen, die das nicht sind. Die neue Technik des Lesens und Schreibens, die
während des 12. Jahrhunderts Platz greift, wird gleich von den Schreibern
monopolisiert. Sie definieren sich selbst als Schriftkundige im Gegensatz zu den
einfachen Laien, die schlicht Hörer des geschriebenen Wortes sind.244
Die neuen scholastischen Schreiber verschleiern die Diskontinuität. Sie berufen sich auf
den Zusammenhang mit dem liturgisch-pastoralen Klerus früherer Zeiten und
übernehmen deshalb dessen kirchlichen Status mitsamt dessen gewohnten Privilegien.
So kann zum Beispiel der Gauner oder Landstreicher, der im 13. Jahrhundert wegen
eines Kapitalverbrechens festgenommen wird, sich auf die Immunität des Klerus vor
grausamer Bestrafung berufen, wenn er nachweisen kann, daß er dazu in der Lage ist,
einige Sätze zu entziffern und zu schreiben. Ein solcher Mensch wird einem kirchlichen
Gericht überstellt und entgeht dadurch der Folter oder zumindest dem schmählichen
Schicksal, gerädert zu werden.
89
Hugos Didascalicon wurde in der Annahme geschrieben, daß die neue Welt, die - mit
ihren Stadtrechten und ihren neuen Rechten für die Bauern - im Entstehen begriffen
war, weiterhin die alte Seite lesen würde. Tatsächlich war es aber so, daß eine neue Art
Buch von Menschen mit einer neuen Geistesverfassung gelesen wurde.245 Ich stelle
mir gern vor, daß bei Hugo einige Jahre nach dem Diktieren des Didascalicon der
Verdacht aufkam, daß dies geschehen könne, und daß er dem Didascalicon ein Vorwort
gab, als er merkte, wie es mißverstanden werden konnte.240 Ich stelle mir auch gern
vor, daß dieses neue Vorwort dem neuen »Klerus« peinlich war, und daß sein
Verschwinden aus einigen frühen Manuskripten vielleicht aufs Konto eben dieser neuen
Schreiber geht.
Das Lesen, wie man es seit dem 13. Jahrhundert kulturell definiert, ist eine dem Klerus
und denen, die von ihm unterwiesen werden, vorbehaltene Kompetenz.247 Es hat
aufgehört, eine Lebensart für solche Menschen zu sein, die an nutzenlos und vorbildhaft
Lesenden Erbauung finden und diesen dann freimütig nacheifern.
Hugos Utopie konnte allein in den zwanziger Jahren des 12. Jahrhunderts formuliert
werden. Nur zu diesem Zeitpunkt konnte man sich vorstellen, daß die Erneuerung der
Gesellschaft248 in einer allgemeinen Akzeptanz der Berufung zum Studium legendi
wurzeln müsse. Die Lebensart der Mönche mit ihrem beständig-frommen Suchen nach
Weisheit wurde nicht zum Modell für universale Literalität, sondern die Lebensart
geschulter Schreiberlinge. Die vita clericorum wurde zur idealen forma laicorum, zum
Modell, das die Laien anstreben mußten, und durch das sie zwangsläufig zu
Schriftlosen herabgesetzt wurden, die von den Höherstehenden belehrt und beherrscht
werden konnten.249
90
Leises Lesen250
Wenn Historiker auf den phänomenologischen Umbruch im Lesen während des 12.
Jahrhunderts aufmerksam werden, neigen sie dazu, das Geschehene auf einen
Übergang vom lauten zum leisen Umgang mit der Seite zu reduzieren. Obgleich dieser
Ansatz leicht zu einer Verschleierung der Wirkung der alphabetischen Technik auf die
Deutung des menschlichen Handelns fuhrt - und damit beschäftigen wir uns hier - ist die
»Entdeckung« des leisen Lesens doch ein guter Ausgangspunkt.
Auch die erste formale explizite Aussage über eine spezielle, leise Art des Lesens hat
Hugo geliefert.251 »Wir lesen, wenn wir uns an den Regeln und Lehren, welche
niedergeschrieben worden sind, bilden.«252 Und das Lesen ist von dreifacher Art: »das
des Lehrenden, das des Lernenden und das desjenigen, welcher für und aus sich selbst
wissenschaftliche Untersuchungen anstellt.«253 Hugo unterscheidet drei Situationen:
den Menschen, der der Stimme der Seiten lauscht, während er anderen vorliest, den
Menschen, dem vorgelesen wird, der also durch einen oder »unter« einem Lehrer oder
Lektor liest, und den Menschen, der liest, indem er in das Buch Einblick nimmt.254
Ohne Zweifel praktizierte man in der Antike gelegentlich das leise Lesen, aber man
betrachtete derlei als Kunststück.255 Quintillian spricht voller Bewunderung von einem
Schreiber, der einen ganzen Satz mit den Augen aufnehmen kann, bevor er ihn laut
liest. Augustinus war über seinen Lehrer Ambrosius verblüfft, der manchmal ein Buch
las, ohne die Lippen zu bewegen. Die Schreiber kopierten Bücher meist, indem sie sich
diese von anderen diktieren ließen. Wenn sie vor dem Original allein waren, lasen sie
laut daraus und schrieben soviel nieder, wie sie in ihrem auditiven Gedächtnis behalten
hatten. Frühe monastische Schreibstuben waren laute Orte. Dann, während des 7.
Jahrhunderts, erreichte eine neue Technik, die in Irland aufgekommen
war, Kontinentaleuropa. Sie bestand darin, daß man zwischen den einzelnen Wörtern
Platz frei ließ. Als sich diese Technik verbreitete, verstummten die Klosterskriptorien.256
Die Kopisten konnten jetzt einzelne Wörter mit den Augen erfassen, als wenn sie
Ideogramme wären, und sie auf die Seite, an der sie arbeiteten, übertragen. Diese im
Entstehen begriffene Kunst, allein nach Sicht zu lesen, ist jedoch noch nicht jene
meditative, stille Rückkehr zu den Seiten, die auf das Lesen folgte, die Übung, die mit
der Meditation und der »dritten Art des Lesens« gemeint ist.257
Um die Geschichte des Lesens in diesem Stadium verständlich zu machen, sind an
dieser Stelle einige Bemerkungen zu den mittelalterlichen Schreibtechniken angebracht.
Der Versuch einer historischen Ethologie des Lesens verlangt, daß wir dazu in der Lage
sind, zu erkennen, wie sich über die Jahrzehnte die Trennungslinie zwischen Tätigkeiten
verschiebt, die als »lesen« und solchen, die als »schreiben« klassifiziert sind.
Heute scheint es uns selbstverständlich, daß diese zwei Verben leicht zu
unterscheidende Tätigkeiten bezeichnen. Historisch gesehen ist das anders.
Bonaventura sucht ein Jahrhundert nach dieser Zeit noch immer nach Worten, um
Schreiber, Kompilator, Kommentator und Autor auseinanderhalten zu können. Wir
müssen jetzt sorgfältiger zwischen dem Autor als Diktierendem und seinem Sekretär als
Schreiber unterscheiden.
Der scriptor hält die Feder und der dictator führt sie.258 Nur in Ausnahmefällen wird im
12. Jahrhundert ein Autor einer Seite den Griffel in die eigene Hand nehmen, um einen
Entwurf auf einer Wachstafel zu machen. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, das
Schreibrohr zu ergreifen oder auf teurem Pergament zu schreiben. Das war Aufgabe
eines anderen, amanuensis genannt, der Schrift-Setzer oder Feder-Halter, der dem
Autor seine Hand »lieh«.
?59
Es gibt gute Darstellungen von Autoren bei der Arbeit."
92
Origenes diktierte einem größeren Mitarbeiterstab. Sein wohlhabender Freund
Ambrosius von Nikomedias stellte ihm die nötigen Mittel zur Verfügung. Sein enormes
Schaffen während eines kurzen Zeitraums ist nur zu erklären, wenn man berücksichtigt,
daß die römische Stenographie gerade zu seiner Zeit den Höhepunkt ihrer Entwicklung
erreicht hatte.260 In festgelegten Abständen wechselten sich die Tachy-graphen, die
Schnellschreiber, ab. Nachdem sie in Kurzschrift mehrere Wachstafeln beschrieben
hatten, diktierten sie von diesen einer Mittelsperson, die das Diktierte dann in
Kursivschrift ausschrieb. Erst von dieser Handschrift erstellte ein kleines Heer von
Frauen, die Kalligraphinnen, das Original, von dem die Abschriften für den Leser zu
machen waren. Ambrosius konnte sich auf eine ähnliche Einrichtung stützen. Allerdings
wissen wir von ihm, daß er eine der Ausnahmen war, die die Regel bestätigen.
Gelegentlich sah man ihn lautlos lesen, und er selbst erzählt uns, daß er manchmal
nachts bei Kerzenschein einem Freund einen Brief schrieb. Er hat sogar einen
besonderen Ausdruck für so etwas Selbstgeschriebenes geprägt: »hic lucubratiunculam
dedi«, »hier richte ich an dich ein kleines Kerzenlichtgeschwätz.«
Unter den Autoren des 12. Jahrhunderts gab es einen, über dessen Gewohnheiten wir
besonders gut unterrichtet sind. Es ist Bernhard, der Abt, der die Mönche einer großen
Gemeinschaft als Personal für seine Schreibstube heranziehen konnte.261 Fünf seiner
Sekretäre sind uns namentlich bekannt. Daher können wir die Klassifizierung der
Tätigkeiten rekonstruieren, wie sie unter seinen Assistenten aufgeteilt waren.262
Bernhard redet (loquitur) oder sagt (dicit) etwas. Seine Äußerungen (dicta) werden von
einer anderen Hand (a-manuensis, »Handlanger«) aufgezeichnet. Dieser Schreiber
zeichnet sie mit seinem stylus, einem spitzen Instrument aus Holz oder Horn, auf ein
Wachstäfelchen. Er ritzt die Buchstaben in die mit Wachs überzogene Oberfläche ein.
Was er tut, erinnert den Zuschauer ans Pflügen (exarare). Nicht selten
93
wird der Schreiber dieses ersten Stadiums daher Pflüger genannt, und man nimmt die
Einritzungen als Furchen wahr, in denen die Saat der Worte aufgehen wird.263 Die
Metaphern, die den dictator mit dem Sämann und den Schreiber mit dem Pflüger
vergleichen, stammen von Isidor von Sevilla, und sie waren zu Hugos Zeit wohlbekannt.
Tatsächlich stellt das Bild des Pflügers gut dar, wie sehr sich ein mittelalterlicher
Amanuensis im Vergleich zu seinem Pendant in der Antike abmühen mußte. Die Technik
der Kurzschrift war in der Zwischenzeit verlorengegangen. Cicero und Origenes
sprachen so schnell sie wollten; ihre Sekretäre konnten ihnen Wort für Wort folgen.
Bernhard dagegen mußte vom Sprechen (dicere) zu einer anderen, bedächtigeren
Diktion (dictare) übergehen, wenn er seine Sätze verbatim, wortwörtlich,
niedergeschrieben haben wollte. In seiner Zeit waren nicht nur die tachygraphischen
Zeichen verlorengegangen; den Mönchen von Clairvaux war ebenfalls die Kursivschrift
unbekannt. Zuweilen mußte ein dictator ein Wort mehrmals wiederholen, bis sein Novize
es richtig niedergeschrieben hatte. Aber die meisten Schriften mittelalterlicher Autoren
sind nicht derart sorgfältig diktiert, und sie sind nicht im modernen Sinne die Worte des
Autors.
Scriptura (die Schrift) oder littera (die Schriftzeilen) entsteht, wenn die derben
Buchstaben auf dem Wachstäfelchen sorgfältig auf das Pergament übertragen werden.
In Bernhards Fall besitzen wir zwei Reinschriften des gleichen Diktats; aus ihm sind
zwei unterschiedliche Texte geworden. Wir dürfen annehmen, daß zwei verschiedene
Mönche das Diktat aufgenommen und jeweils sorgfältig ausgearbeitet haben. Sicherlich
folgt Bernhard zuweilen dem Beispiel Ciceros und läßt sich das Geschriebene noch
einmal vorlesen, um zu hören, wie es klingt; eine correctio. Sein Diktat wird aber in den
meisten Fällen ohne Überprüfung durch ihn in Umlauf gebracht worden sein.264 Die
Gewohnheit, einen Text zu unterschreiben, ist - sofern es sich dabei nicht um eine
94
Urkunde handelt - noch nicht üblich.265 Auch bei jenen seltenen Gelegenheiten, als
sich Bernhard selbst um die correctio eines Diktats kümmerte, hatte diese keinerlei
Ähnlichkeit mit dem Korrekturlesen, wie wir es kennen. Unser Korrekturlesen ist die
Berichtigung einer idealen Kopie, von der dann mit Hilfe des Drucks viele identische
Kopien entstehen werden. Für Bernhard war es einfach selbstverständlich, daß sein
Diktat bei jeder Abschrift verändert werden würde. Zudem setzt das Korrekturlesen
voraus, daß jemand laut liest, während ein anderer leise nach Fehlern sucht; etwas, das
zu der Zeit nicht praktiziert wurde und wofür auch kein Bedarf bestand. Wir wissen, daß
sein Amanuensis zuhörte und murmelte, während Bernhard einen Absatz sprach oder
diktierte. Er nahm Bernhards Diktat auf, und er diktierte es weiter - wie man sich das
damals vorstellte -, indem er es seiner eigenen Hand zumurmelte: Der Mund des
Schreibers führte die Hand, die den stylus hielt.266 Das Schreiben blieb, wie das Lesen,
eine murmelnde Tätigkeit. Deshalb war es dem Mönch, der als Strafe in seine Zelle
verwiesen worden war mit der Aufforderung, zu schweigen, auch verboten, zu
schreiben: Er hätte seinen Stift nicht führen können, ohne das vom Abt auferlegte
Schweigen zu brechen.
Die scholastische dictatio
Hugo sprach zu seinen Schülern. Ein Jahrhundert später hielt Thomas von Aquin seinen
Studenten Vorlesungen. Wenn Hugo vor einem offenen Buch sprach, waren dessen
Seiten aus Pergament, und er kommentierte die Zeilen. Thomas kam mit eigenen
Vorlesungsnotizen zum Unterricht. Anders als Hugo schrieb Thomas in Kursivschrift, die
zum Notieren von Schlüsselwörtern gut geeignet war. Und er schrieb auf glattem,
billigem Pergament, das nicht, wie das sperrige Leder, festgenagelt werden
95
mußte. Hugos Novizen lasen seine Ansprachen oder Verlautbarungen267, während die
Universitätsstudenten den Ausarbeitungen von Thomas folgten.
Gegen Ende des 13. Jahrhunderts hatten sich die Studenten daran gewöhnt, sich von
ihren Lehrern diktieren zu lassen.268 Die Worte, die der Lehrer gesprochen hatte,
wurden vom Studenten erfaßt, indem er sich selbst vorlas, was ihm gerade diktiert
worden war. In Miniaturen kann man sehen, wie Schüler des 12. Jahrhunderts ihrem
Lehrer zuhörten. Studenten des 14. Jahrhunderts nehmen entweder Diktate auf, oder
sie sitzen vor einem Abriß der Vorlesung, den sie sich vor dem Unterricht bei einem
öffentlichen Kopisten beschafft haben. Die scholastische Argumentation ist inzwischen
so durchgliedert und differenziert, daß man visuelle Hilfen braucht, um ihr folgen zu
können. Im 14. Jahrhundert kamen unter den Lehrern der Sorbonne darüber
Kontroversen auf, wie eine Vorlesung richtig zu halten sei.269 Unter den Studenten
herrschte Unzufriedenheit - die von einigen Lehrkräften geteilt wurde -, weil eine Reihe
von Lehrern ihre Studenten als Kopisten benutzten und ihnen Bücher diktierten, die von
anderen geschrieben waren, in der Absicht, die Abschriften dann zu verhökern.
Eine solche Ausbeutung war sicherlich ein Extremfall. Aufgrund solcher Kontroversen
wissen wir aber, daß der Universitätsunterricht am Ende des 14. Jahrhunderts im
Diktieren und Notizenmachen bestand. Man nannte das, was der Lehrer tat, nominare
(verdeutlichen) oder pronunciare ad pennam (für die Feder verkünden). Es wurde auch
legere ad calamum genannt: direkt ins Schreibrohr lesen, mit dem der Student die Seite
beschreibt. Die Studenten wurden nun als Leser betrachtet.270 Den Texten solcher
Lehrer, die um ihre Studenten bemüht waren, können wir entnehmen, daß es üblich war,
denselben Satz mehrmals zu wiederholen, bis es klar war, daß alle Studenten ihn
aufgezeichnet hatten. Aus dem auditor der Antike und der Gruppe von
96
Novizen um Hugo war ein Heer von Schreiberlingen geworden, die die Darlegungen des
Lehrers nur verstanden, wenn sie den Text davon vor Augen hatten.
Zu Hugos Zeit bedeutete philosophari noch, »das Leben eines Mönchs leben«271. Im
13. Jahrhundert setzte man bereits lectio, philosophari und conversio morum nur noch in
einigen wenigen Klöstern272 gleich, und Hugos incipit wurde nicht mehr verstanden.273
6 Vom aufgezeichneten Reden zum Aufzeichnen des Denkens
Das Alphabet als Technologie • Von der aufgezeichneten Äußerung zum Spiegel der
Vorstellung • Vom Kommentar zu einer Geschichte zur Geschichte über ein Thema •
Ordinatio: sichtbare Anordnung • Statim inveniri: sofortiger Zugang • Registermachen
nach dem Abc • Autor versus Kompilator, Kommentator und Schreiber • Layout •
Illuminatio versus illustratio • Das tragbare Buch
Gegen Ende des 12. Jahrhunderts nimmt das Buch einen Symbolcharakter an, den es
bis in unsere Zeit hinein behält. Es wird zum Symbol für einen bis dahin beispiellosen
Gegenstand, der sichtbar, aber nicht greifbar ist, und den ich den buchbezogenen Text
nenne.329 In der langen Sozialgeschichte des Alphabets ist die Wirkung dieser
Entwicklung nur mit zwei anderen Ereignissen vergleichbar: mit der Einführung der
phonetischen Schrift um 400 v. Chr., die das Griechische zu einer Sprache machte, über
die der Sprecher nachdenken konnte,330 und zweitens mit der Verbreitung des
Buchdrucks im 14. Jahrhundert, die den Text zu einer mächtigen Gußform für ein neues
literarisches und naturwissenschaftliches Weltbild machte.
Derjenige Technikhistoriker, dem es mehr um die symbolische als um die
zweckdienliche Wirkung einer Technik geht, und der die Technologie des Alphabets
untersucht, muß sorgfältig unterscheiden zwischen den manuellen Techniken, mit deren
Hilfe um 1150 der Text als Gegenstand geschaffen wurde, und den mechanischen, die
diesen Gegenstand um 1460 zu einem Prägestock verdinglichten. Wenn man sich das
vor Augen hält, dann stellt man fest, daß ein bescheidenes Bündel von
Verschriftungstechniken, mit denen auf höchst anspruchsvolle Weise gearbeitet wurde,
eine Veränderung in der europäischen Geistesverfassung hervorriefen, die sich deutlich
vom Übergang vom manuellen
121
Schreiben zur Druckkunst abhebt. Die Geschichte des Textes als Gegenstand par
excellence während der nachfolgenden Jahrhunderte verlangt eine klare
Unterscheidung dieser beiden frühen Momente.
Die Seite wurde zu einem buchgebundenen Text, der den scholastischen Verstand
entstehen ließ, und das Verhältnis zwischen Text und Verstand war ebensosehr
Grundlage der Druckkultur, wie die alphabetische Aufzeichnung Grundlage für die
literarische und philosophische Kultur der griechischen Antike gewesen war. Dies ist
bisher übersehen worden. Kein einziges Buch, kein größerer Artikel beschäftigt sich ex
professo mit der Hypothese, daß eine Verschriftlichungsrevolution den Gegenstand
schuf, der dreihundert Jahre später gedruckt werden würde. Ich habe dieses Buch in der
Absicht geschrieben, genau dieses zu behaupten.
Wenn meine Sicht der Dinge im wesentlichen richtig ist, folgt daraus einiges. Die
Materialisierung der Abstraktion in Form des buchgebundenen Textes kann man als
versteckte Grundmetapher ansehen, die den geistigen Raum dieser langen Epoche eint.
Wir könnten sie auch die »Epoche der Universität« oder »die Epoche des
buchbezogenen Lesens« nennen. Mit der Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks
wurde diese Ära des Buches mit einer Reihe weiterer Eigenschaften versehen, die sie
zu einer mächtigen Determinante einer neuen Weltsicht machte.331 Diese Ära besteht
aus zwei größeren Abschnitten: Im ersten war das Buch Ergebnis des Schreibens mit
der Hand; im zweiten das einer mechanischen Reproduktion eines handgesetzten
Prototyps aus beweglichen Lettern.332
122
Die Aufkunft des Textes als Gegenstand
In der Sozialgeschichte des Alphabets trennt eine Gebirgskette das vortextliche und das
textgeprägte Lesen, Schreiben, Sprechen und Denken voneinander. Die Wasserscheide
zwischen diesen beiden Bündeln von geistigen Mustern und Verhaltensmustern ist das
Thema dieses Essays. Die Unterscheidung fällt nicht mit anderen zusammen, die uns
geläufig sind, seit Millman Parry 1926 die Debatte über die Mündlichkeit bei Homer
eröffnete - zum Beispiel die zwischen oraler und geschriebener Geschichte, zwischen
epischer und literater Tradition, zwischen ideographischer und alphabetischer
Aufzeichnung oder zwischen Ornamentierung und Illustration. Und sie sollte keinesfalls
mit der Unterscheidung von handschriftlicher und durch den Druck geprägter
Wissenschaft verwechselt werden.
Wir müssen jetzt neu überdenken, was während des 15. Jahrhunderts geschah. Der
Übergang zum Buchdruck ist allgemein - und ganz besonders von Elizabeth
Eisenstein333 - als Hauptwendepunkt in der Sozialgeschichte des Alphabets betrachtet
worden. Ihrer Meinung nach war die Typographie eine notwendige Voraussetzung für
einen Text, der so beschaffen ist, daß durch ihn Dichtung, Prosa, astronomische
Tabellen und anatomische Tafeln vermittelt werden können. Ohne die standardisierten
Eigenschaften des Textes - er konnte auf den neuesten Stand gebracht und durch
Indices zugänglich gemacht werden -, hätten weder die Geisteswissenschaften noch die
Naturwissenschaften die Charakteristika annehmen können, die sie von der
Gelehrsamkeit früherer Epochen unterscheiden. All das ist unbestreitbar. Meine
Interpretation ficht diese Ansicht nicht an, rückt sie aber doch in eine andere Perspektive
und bereichert sie damit. Wenn ich recht habe, war die Erfindung der beweglichen
Lettern das auffälligste Ereignis innerhalb einer übergreifenden Epoche, des Zeitalters
des biblionomen Textes. Diese hier vorge-
123
schlagene Verlagerung des historischen Akzents eröffnet nicht nur neue Einsichten in
Denkstrukturen der Vergangenheit, sondern sie ermöglicht es uns auch, auf neue Art
über eine andere epochale Wende in der Sozialgeschichte des Alphabets zu sprechen,
die während meines Lebens eingetreten ist: die Auflösung der alphabetischen Technik
ins Miasma der Kommunikation.334
An eben dieser Stelle muß man den Grund dafür suchen, warum der Geschichte des
Textes als Gegenstand keine Aufmerksamkeit zuteil geworden ist: Die humanistische
Tradition, die Generationen von Historikern hervorgebracht hat, ist ein Phänomen
innerhalb der Matrix des Textes selbst. Mit der Lösung des Textes vom physischen
Objekt, dem Schriftstück, war die Welt selbst nicht mehr der Gegenstand, der gelesen
werden sollte, sondern sie wurde zum Gegenstand, der zu beschreiben war. Exegese
und Hermeneutik wurden zu Eingriffen am Text statt an der Welt. Erst jetzt, da die Welt
als kodierte Information verstanden wird, kann die Geschichte der »Lesbarkeit der Welt«
zu einem Gegenstand der Forschung werden.335
Im Didascalicon ist es noch immer das lumen im Auge des Lesers, das den Text auf der
Oberfläche des Pergaments beleuchtet. Hundert Jahre später, als Bonaventura den von
ihm bewunderten Vorgänger Hugo kommentiert, schwebt der Text schon über der Seite.
Er ist auf dem Wege dazu, eine Art Lastschiff zu werden, das die bedeutungstragenden
Zeichen durch den Raum befördert, der die Kopie vom Original trennt; hier und da geht
er vor Anker. Aber trotz dieser Dissoziation des Textes von der Seite bleibt er seinem
Hafen im Buch verbunden. Das Buch wiederum stellt metaphorisch einen Hafen für den
Text dar, in dem dieser seinen Sinn entlädt und seine Schätze offenbart. So, wie das
Kloster die Welt des heiligen Buchs gewesen war, so entstand die Universität als
institutioneller Rahmen und symbolischer Vormund für den neuen biblionomen Text.
Etwa zwanzig Generationen lang sind wir unter seiner Ägide
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gehegt worden. Und ich zum Beispiel bin unwiderruflich im Boden des textualisierten
Buchs verwurzelt. Meine monastische Erfahrung hat mich empfindsam für die lectio
divina gemacht. Aber die Reflexion über ein der Lektüre gewidmetes Leben macht mich
geneigt zu glauben, daß die meisten meiner Versuche, mich von einem frühen
christlichen Meister auf einer Pilgerreise durch die Seiten führen zu lassen, mich
bestenfalls zu einer lectio spiritualis angeleitet haben; sie aber ist ebenso textgebunden
wie die lectio scholastica, deren Ort nicht das Betpult, sondern das Schreibpult ist. Der
buchbezogene Text ist mein Zuhause, und die Gemeinschaft der biblionomen Leser sind
die Menschen, die ich mit wir meine.
Dieses Zuhause ist jetzt genauso veraltet wie es mein erstes Zuhause war, als einige
wenige Glühbirnen begannen, die Kerze zu ersetzen. In jedem Computer lauert ein
Bulldozer mit dem englisch gefaßten Versprechen, neue Wege zu data, replacements,
inversions und instant print zu eröffnen. Eine neue Art Text formt den Verstand meiner
Studenten, ein Aus-Druck, der keinen Anker hat, der keinen Anspruch darauf erheben
kann, eine Metapher oder ein Original von der Hand eines Autors zu sein. Seine
Schriftzeichen werden willkürlich geformt, sind wie die Signale eines Phantomschiffs,
geistern auf dem Bildschirm herum und verschwinden wieder. Immer weniger Menschen
gehen an das Buch als Hafen des Sinns heran. Zweifellos wird es so manchen noch
erstaunen und erfreuen, verwundern und bitter enttäuschen, aber noch mehr Menschen
sehen - so befürchte ich - seine Legitimation darin, daß es für sie gerade noch als
Metapher taugt, die auf Information verweist.
Die Menschen vor uns, die in der Epoche des biblionomen Textes sicher aufgehoben
waren, brauchten dessen Anfänge nicht zu erforschen. Ihre Sicherheit war ja durch die
strukturalistische Annahme gestützt, daß alles, was auch immer ist, auf irgendeine Art
auch ein Text ist. Das trifft für diejenigen nicht mehr zu, die
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sich dessen bewußt sind, daß einer ihrer Füße auf der einen und der andere auf der
anderen Seite einer neuen Wasserscheide steht. Sie können es nicht lassen, sich nach
den Relikten der Buchgelehrtheit umzusehen, um die Bibliothek der Gewißheiten
archäologisch zu erkunden, in denen sie großgeworden sind. Der biblionome Leser hat
einen historischen Ursprungsort, und die Sicherung seines Überlebens kann jetzt als
eine moralische Aufgabe erkannt werden, die ihre intellektuelle Grundlage darin hat, die
historische Fragilität des biblionomen Textes aufzuspüren.
Die Abstraktion des Textes
Die Wandlung des Buchs von einem Verweis auf die Welt zu einem Verweis auf den
Verstand läßt sich auf zwei verschiedenartige, aber dennoch verwandte Neuerungen
zurückführen; einerseits auf die Entwurzelung des Textes von den Manuskriptseiten und
andererseits auf die Loslösung des Buchstabens aus seiner Jahrtausende alten
Dienstbarkeit für das Lateinische.
Man konnte den Text seitdem als etwas vom Buch vollkommen Getrenntes sehen. Er
wird zu einem Gegenstand, der auch mit geschlossenen Augen visualisiert werden
kann. Und es ist die Feder in der Hand des Schreibers, nicht der vom Drucker bewegte
Schriftsatz, die dieses neue Gebilde schafft. Im Dienst eines Dutzends neuer
graphischer Konventionen werden die überkommenen zwei Dutzend Buchstaben
Bausteine für eine beispiellose Konstruktion. Die Anwendung dieser
Verschriftlichungsregeln des 12. Jahrhunderts bedeutet, daß von nun an
Buchstabenketten - Wörter oder Zeilen - ein abstraktes architektonisches Phantom auf
einer leeren Fläche, der Seite, erzeugen werden.
Die Seite hat nicht mehr die Eigenschaft eines Ackers, in dem
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die Buchstaben verwurzelt sind. Der neue Text ist ein Gespinst auf den Seiten des
Buchs, das in ein eigenständiges Dasein abhebt. Dieser neue Text hat zwar eine
materielle Existenz, aber nicht die Existenz gewöhnlicher Dinge; er ist weder hier noch
dort. Nur sein Schatten erscheint auf der Seite dieses oder jenes konkreten Buchs.
Daraus folgt, daß das Buch nicht mehr das Fenster zur Welt oder zu Gott ist; es ist nicht
mehr die durchscheinende optische Einrichtung, mittels derer der Leser einen Zugang
zur Schöpfung findet. Soweit es noch ein optisches Instrument bleibt, hat sich das Buch
um 180 Grad gedreht, so, als wäre eine konvexe durch eine konkave Linse ersetzt
worden. Aus dem Symbol für kosmische Wirklichkeit ist ein Symbol für das Denken
hervorgegangen. Statt des Buchs wird jetzt der Text zum Gegenstand, in dem
Gedanken gesammelt und gespiegelt werden.
Diese Revolution des Kopfes fand nicht in einem Vakuum statt. Sie geschah in jenen
Zisterzienserklöstern und Schulen der städtischen Regularkanoniker, in denen -
während dieser Jahrzehnte - das Wesen der Universalien heiß erörtertes Thema war.
Der dictator hatte das Pergament zu einem Garten der Worte gemacht. Der neue
Denker und auctor räumte, mit eigener Hand und in schnellen Kursivbuchstaben, einen
Bauplatz für die Kathedrale einer summa. Er nahm Feder, Tinte und Papier auf, um
einem Prozeß der Abstraktion Gestalt zu geben - ein Gegenstück dessen, was gerade in
den Schulen debattiert wurde. Der bibliogene Text - sowohl wie er geschrieben als auch
wie er gelesen wurde - reflektiert, artikuliert, verstärkt und legitimiert das mentale Klima,
in dem der neue Umgang mit Recht, Philosophie und Theologie erwächst.
Chenu hat das 11. Jahrhundert die aetas boetiana genannt.336 Damit erinnert er uns
daran, daß in dieser Zeit in den Klöstern die griechischen Philosophen über die
Handschriften spätrömischer Denker wie Boethius aufgenommen wurden. Aber Boe-
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thius, der Latein schrieb, brachte durcheinander, was Aristoteles unterschieden hatte.
Boethius hat zwei Worte des Aristoteles mit dem einen Begriff abstractio
wiedergegeben. Das eine Wort ist chorízein, das »trennen« bedeutet. Von Aristoteles
wird es als Terminus technicus verwendet, und es weist, meist kritisch, auf die
Geschiedenheit der platonischen Ideen von der Wirklichkeit hin. Das zweite Wort, das
Boethius mit abstractio übersetzt, ist aphairesis, das in der aristotelischen Terminologie
etwa »Absonderung« oder »Ausschluß« bedeutet.337 Es wird durchweg benutzt, um
den geistigen Prozeß zu bezeichnen, mittels dessen das materielle Objekt vom
klassifizierenden Verstand abgesetzt wird. So wird zum Beispiel der Fuß als Körperteil
vom Mathematiker ausgeklammert, wenn er in ihm ein Längenmaß sieht.
Frühscholastische Philosophen haben mehr als eine Generation gebraucht, um diese
Unterscheidung wieder einzuführen, und um begriffliches Denken als Vorgang formaler
Absonderung zu begreifen.
Abstraktion ist für die meisten Denker des frühen 12. Jahrhunderts kein Thema. Der
Terminus kommt im modernen Sachregister der Werke Anselms von Canterbury nicht
einmal vor.338 Wenn er erklären muß, wie eine Einsicht zustandekommt, zitiert Anselm
den einen oder den anderen Passus aus Augustinus, der von der göttlichen Erleuchtung
des Geistes spricht, die Gottes Vorstellung über die Schöpfung den Menschen
verständlich macht. Späteren mittelalterlichen Boethianern, zum Beispiel Abelard339
und Hugo, ist es selbstverständlich, daß Begriffsbildung etwas mit abstractio zu tun hat.
Sie stehen jedoch noch zu sehr unter dem Bann der boethianischen Vermengung
dessen, was getrennt, und dessen, was in Parenthese gesetzt wird. Sie wurden ins
schwache Licht einer Vor-Dämmerung hineingeboren. Hugo wußte - obwohl die Seite
das nicht zeigte -, daß es eine dritte Art des Lesens geben mußte, die nicht für mein
oder dein Ohr, sondern für meine Augen gedacht war. Und er war so, ohne es zu
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betonen, schon darauf festgelegt, Erkenntnisse im Wege der Abstraktion zu erklären
und deutete damit implizit an, was zur allgemeinen Doktrin werden sollte, als Avicenna
und Averroes erst einmal geholfen hatten, einen Zugang zum aristotelischen Denken zu
finden. Hierin entspricht Hugos Analyse des Denkens seiner Analyse des Lesens.