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Dem Chaos eine Form geben: Eine Einführung zu Cornelius Castoriadis
Dem Chaos eine Form geben: Eine Einführung zu Cornelius Castoriadis
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Ebook290 pages5 hours

Dem Chaos eine Form geben: Eine Einführung zu Cornelius Castoriadis

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Cornelius Castoriadis (1922-1997) war politischer Aktivist, Philosoph, Sozialkritiker, Ökonom und Psychoanalytiker. Im Zentrum seines Denkens steht die Auseinandersetzung mit kreativen Elementen des Imaginären und dem politischen Streben nach Autonomie. Seine politischen Einstellungen und Theorien entwickelte er als Mitbegründer der französischen Gruppe Sozialismus oder Barbarei (1949-1967). In Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts entwickelte er dabei nach dem Pariser Mai ’68 eigene philosophische Positionen, die ihn zu einem interessanten Impulsgeber für weiterhin aktuelle Perspektiven machen. Diese Einführung gibt einen Einblick in seine Biografie und eröffnet Zugänge zu seinem kritischen Denken.
LanguageDeutsch
Release dateNov 12, 2014
ISBN9783738663419
Dem Chaos eine Form geben: Eine Einführung zu Cornelius Castoriadis
Author

Martin Hagemeier

Der Autor studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Soziologie in Münster und Berlin. Er promovierte 2010 mit einer Arbeit zu Baruch de Spinoza an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er arbeitet zur französischen Gegenwartsphilosophie und zu Elementen der Selbstlegitimation in der Moderne.

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    Book preview

    Dem Chaos eine Form geben - Martin Hagemeier

    Inhaltsverzeichnis

    1 Zugänge zu Castoriadis

    Schriften und Reaktionen

    Schwierigkeiten der Rezeption

    Perspektivische Zugänge dieses Buches

    1.1 Biografische Einblicke

    Athen 1922-1945

    Paris 1945 - 1968

    Paris 1968-1997

    1.2 Die Gruppe Sozialismus oder Barbarei (1948-1967)

    Die revolutionäre Haltung

    Der bürokratische Kapitalismus

    Der gesellschaftliche Umbruch von 1958

    Die Abkehr vom Marxismus

    Zur Auflösung von Sozialismus oder Barbarei

    Ein Nachspiel im Mai 1968

    2 Perspektiven durch das Labyrinth

    2.1 Von der Psyche zur Ontologie

    Die monadische Struktur der Psyche

    Das Verhältnis der Psyche zum Körper

    2.2 Von der Ontologie zur Sprache

    Die Logik der Magmen

    Die sozialen imaginären Bedeutungen

    Die kreative Schöpfung

    2.3 Von der Sprache zur Politik

    Die Entdeckung der radikalen Imagination

    Der Weg zur eigenen Rede

    Kontingenter Nachgeschmack

    3 Auswege aus dem Labyrinth

    3.1 Politik – die Wiedergewinnung des Öffentlichen

    Eine andere Aufteilung des Politischen

    Von der Kritik an der Demokratie zur Postpolitik

    3.2 Autonomie

    Das Projekt der Autonomie

    Autonomie im kapitalistischen Imaginären

    Die performative Ausgestaltung der Autonomie

    3.3 Die Sache mit der Revolution

    4 Dem Chaos eine Form geben

    Nur noch ein Kulturwissenschaftler?

    Anhang

    Abkürzungen

    Glossar

    Literaturverzeichnis

    1 Zugänge zu Castoriadis

    Diese Einführung eröffnet Zugänge zu Cornelius Castoriadis, um einen Einstieg in die politische Biografie und die zentralen Themen seines Denkens zu ermöglichen. Die bestimmende Motivation richtet sich auf die Suche nach Anschlussmöglichkeiten zum Denken von Castoriadis und dem, was sich Castoriadis in einem seiner letzten Interviews wünschte: Eine Brücke zwischen seinen Ideen und den Menschen in der Gegenwart zu schlagen, die diese Ideen als zu weit entfernt von ihren eigenen Sorgen ansehen, oder die ihnen gar als irrelevant erscheinen.¹ Dieser Brückenschlag, der auf eine Verbindung zwischen theoretischen Überlegungen und deren Überprüfung hinsichtlich ihrer praktischen Relevanz ausgerichtet ist, war zugleich ein wesentliches Merkmal seiner politischen Arbeit. Als Castoriadis am 26. Dezember 1997 in Paris starb, konnte diese Lücke durch ihn nicht mehr geschlossen werden.

    In Castoriadis einen hilfreichen Ansprechpartner für die Gegenwart zu entdecken, bedeutet ihn innerhalb der politischen Debatten und theoretischen Diskussionen zu verorten, an denen er teilgenommen hat, zu denen er Stellung bezogen hat oder in denen er heute wieder entdeckt werden kann. Eine Annäherung an sein Denken eröffnet sich mit seiner Redeweise vom Labyrinth des Denkens.

    „Denken heißt, sich in den Gängen zu verlieren, die es nur deshalb gibt, weil wir sie unablässig graben; am Ende einer Sackgasse umkehren, deren Zugang sich hinter unseren Schritten wieder verschlossen hat, bis endlich dieses Herumtappen im Kreise – ohne daß man wüßte, wie – begehbare Öffnungen in der Wand auftut." (Castoriadis 1981b, S. 7)

    Denken bedeutet für Castoriadis, in ein Labyrinth einzutreten und einen Irrgarten entstehen zu lassen.² In der Annäherung an Castoriadis werden wir mit diesem Labyrinth konfrontiert. Wir sind auf Zugänge angewiesen, die uns in dieses Labyrinth hineinführen, auf Perspektiven, die zur Orientierung in diesem Irrgarten helfen, um anschließend Auswege zu betreten, die aus diesem Labyrinth wieder herausführen.

    Die Intention des ersten Teils dieses Buches ist es verschiedene Zugänge zu Castoriadis aufzuzeigen, die sich an der Rezeption seines Werkes, seiner Biografie und seinem Wirken in der Gruppe Sozialismus oder Barbarei orientieren. Die Perspektiven im zweiten Teil dieses Buches sind auf seine wesentlichen theoretischen Positionen gerichtet, wie sie in seinen Texten zugänglich sind. Dieser Teil entwirft eine thematisch gegliederte Perspektive auf sein Denken, um einen Überblick zu den verschiedenen philosophischen Aspekten seines Denkens zu gewinnen. Der dritte Teil konzentriert sich auf die Auswege, die Castoriadis mit seiner gesellschaftskritischen Analyse entwickelt und in denen seine politischen Positionen zum Vorschein kommen. Um sich Castoriadis über seine Lokalisierung im zeitgenössischen Diskurs anzunähern, wird im Folgenden zunächst eine Auseinandersetzung mit seiner Rezeption und seiner Kritik geführt. Daran schließt sich eine Übersicht über die einzelnen Teile dieses Buches an.

    Die Texte von Castoriadis sind wegen der Verwendung einer wissenschaftlichen Sprache, die wenig Zurückhaltung in der Verwendung von Fremdwörtern, respektive philosophischen Fachausdrücken kennt, teilweise schwer zugänglich. Mit der intensiven Bezugnahme auf die politische Theorie der Antike übernimmt Castoriadis zahlreiche altgriechische Begriffe, die er oftmals noch mit einer eigenen Bedeutung versieht. Eine deutsche Übersetzung diese Begriffe würde die Lesbarkeit dieses Buches erhöhen, zugleich würden mit einer Übersetzung nur Facetten der Begriffsgeschichte erschlossen und möglicherweise wesentliche Bedeutungen ausgegrenzt. Um die Bedeutungsräume dieser Begriffe in der Auseinandersetzung mit Castoriadis zu erhalten, werden sie im Folgenden übernommen und in einem Glossar am Ende des Buches erläutert. Im Glossar aufgeführte Begriffe sind mit einem * markiert.

    Schriften und Reaktionen

    Die ersten Reaktionen auf Castoriadis’ Wirken finden sich in der politischen Auseinandersetzung in Griechenland und später in Paris.³ Castoriadis entwickelte seine Positionen zunächst in einem trotzkistischen Umfeld, ehe er sich ab 1948 von diesem Umfeld löste und als Mitbegründer der Gruppe Sozialismus oder Barbarei einen neuen Weg fand, um seine politischen Positionen zu diskutieren. Die von der Gruppe veröffentlichte Zeitschrift Sozialismus oder Barbarei war ihr Organ, um die intern geführten Debatten, mit ihren jeweiligen kritischen Positionierungen, in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Mit der Gründung dieser Gruppe traf Castoriadis einen Nerv der Zeit. Die anti-stalinistische Haltung der Gruppe brachte Sozialismus oder Barbarei einen politischen Vorschuss ein, weil sie damit entschieden dazu beigetragen hat, eine von der Sowjetunion unabhängige radikale und sozialistische Bewegung in Frankreich aufzubauen.

    Einem größeren Kreis wurden die Arbeiten von Castoriadis erst nach der Neuveröffentlichung seiner Aufsätze aus der Zeit von Sozialismus oder Barbarei ab den 70er Jahren zugänglich. Mit dieser gebündelten Herausgabe erschließt sich erstmals der Umfang seines Schaffens. In der Rezeption konnte Castoriadis als der Autor identifiziert werden, der zuvor unter verschiedensten Pseudonymen in Sozialismus oder Barbarei veröffentlicht hatte.⁴ Für die aktuelle Rezeption bieten diese Aufsätze eine gute Ausgangsgrundlage.

    1975 veröffentlichte Castoriadis das Buch Gesellschaft als imaginäre Institution, das in der Regel als sein Hauptwerk charakterisiert wird. Inhaltlich schließt dieses Buch direkt an die Zeit von Sozialismus oder Barbarei an, weil darin nochmals seine Kritik des Marxismus abgedruckt wird, die in den letzten Ausgaben von Sozialismus oder Barbarei erschienen ist. Castoriadis bezeichnet den ersten Teil von Gesellschaft als imaginärer Institution als Bilanz des Marxismus. Dieser Bilanz stellt er seine eigene Gesellschaftstheorie gegenüber, die auf eine radikale Veränderung der Gesellschaft ausgerichtet ist. In diesem Buch finden sich die zentralen Aspekte seines Denkens wieder. Castoriadis entwickelt aus einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem Konzept der Identität eine Theorie der Imagination und des Imaginären, die er in strikter Abgrenzung zu den damals vorherrschenden Theorien des Strukturalismus und der Psychoanalyse anlegt. In ihrer Dichte sind einzelne Diskussionen in diesem Buch nicht leicht zugänglich. Einzelne von Castoriadis kritisierte Punkte verlieren sich in der Vielschichtigkeit seines Vorgehens und durch die Ausrichtung auf eine theoretische Diskussion in wissenschaftlicher Sprache wird dieses Buch stilistisch wenig ansprechend. Dennoch bietet Gesellschaft als imaginäre Institution die beste Referenz auf seine Konzeption der Gesellschaft und den Schlüssel zum Verständnis von vielen seiner theoretischen und politischen Positionen.

    Den Status als Hauptwerk nimmt Gesellschaft als imaginäre Institution vor allem ein, weil die weiteren theoretischen Schriften nicht mehr als fertiges Buch erschienen sind. Im Vorwort von Gesellschaft als imaginäre Institution kündigt er zwar noch eine weitere Studie über das Element des Imaginären an, die sich explizit mit den philosophischen Problemen seiner Theorie auseinandersetzten sollte, doch ist dieses Buch nicht mehr erschienen.⁵ Stattdessen fand er mit der seit 1978 erscheinenden Reihe Les Carrefours du labyrinth eine Form, um sowohl seinen theoretischen Diskussionen als auch seinen politischen Überlegungen einen Platz zu geben. Neben politischen und psychoanalytischen Themen finden sich darin Auseinandersetzungen mit der griechischen Antike, eine Kritik an der modernen Demokratie und weitere kritische Überlegungen zur Situation der modernen Gesellschaften.

    Neben dieser Reihe steht mit Devant la guerre noch ein weiteres eigenständiges Buch, das 1980 als Analyse und Kritik der damaligen Sowjetunion erschienen ist. Seine Zielsetzung erschließt sich am ehesten über den zeitgeschichtlichen Bezug. Castoriadis arbeitete 1979 für die Zeitschrift Libre. Deren Redaktion diskutiert, wie innerhalb von Libre angemessen auf die sowjetische Invasion in Afghanistan reagiert werden könne. Er veröffentlichte daher in Libre den ersten Teil einer zu diesem Zweck verfassten Studie, in der die Sowjetunion als die weltweit führende Militärmacht dargestellt wurde. Castoriadis analysierte hier die Sowjetunion zu Beginn der 80er Jahre und sah sie dominiert von der Herrschaft des Militärs, einer Stratokratie*. Diese Stratokratie existiert innerhalb der Gesellschaft als eigenständiger Bereich, der die gesamte Gesellschaft leitet und auf militärische Dominanz und territoriale Expansion ausgerichtet ist. In dieser Stratokratie sah Castoriadis das größte Hindernis für einen innergesellschaftlichen Wandel. Zu Beginn der 80er Jahre konnte sich Castoriadis nicht vorstellen, dass eine soziale Reform aus dem Inneren der Kommunistischen Partei heraus gegen diese Herrschaft des Militärs entstehen konnte, wie sie seit 1985 mit Michael Gorbatschow einsetzte. Ein solcher Wandel konnte für ihn zu Beginn der 80er Jahre nur von außen kommen. In der Nachbetrachtung sieht er in dieser Einschätzung den einzigen Fehler dieser Studie, auch wenn die mit Gorbatschow einsetzenden Veränderungen nicht wirklich vorhersehbar waren.⁶ In Devant la guerre kommt nochmals nachdrücklich seine engagierte und kritische Haltung gegenüber der gesellschaftlichen Situation in der Sowjetunion zum Ausdruck. Allerdings sind die darin enthaltenden Analysen für die vorliegende Einführung von geringerem Interesse.

    Schwierigkeiten der Rezeption

    Castoriadis erscheint in der wissenschaftlichen Diskussion vor allem für sozialphilosophische Forschungsfelder interessant zu sein. Am bekanntesten ist in dieser Hinsicht das Auftauchen von Castoriadis in Jürgen Habermas Vorlesungsreihe Der philosophische Diskurs der Moderne. Am Ende dieser Reihe wendet sich Habermas aktuellen theoretischen Entwicklungen innerhalb der Soziologie zu und widmet Castoriadis einen gesonderten Exkurs, in dem er vorgestellt und diskutiert wird.⁷ Weitere Auseinandersetzungen finden sich in den Vorlesungen zur Sozialtheorie von Hans Joas und Wolfgang Knöbl, wo Castoriadis neben Alain Touraine und Paul Ricœur zu den französischen Anti-Strukturalisten gezählt wird.⁸ In den sozialwissenschaftlichen Theorien der Gegenwart kommt Castoriadis nur als Randfigur vor; eine Ausnahme bilden die Texte von Zygmunt Bauman, der in Castoriadis einen direkten intellektuellen Einfluss auf seine Arbeit ausmacht.⁹

    Eine erste gebündelte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk von Castoriadis fand 1989 in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Revue européenne des sciences sociales statt.¹⁰ Darin sind 29 Aufsätze gesammelt, die sich aus verschiedenen Blickrichtungen der Person und dem Werk annähern und einen guten Zugang für eine fundierte Auseinandersetzung anbieten. Diese Anknüpfungspunkte zu Castoriadis werden durch weitere Sonderausgaben verstärkt, die sich thematisch mit seinem Werk auseinandersetzen und in denen seine Bedeutung als Denker eine entschiedene Anerkennung findet.¹¹

    Diese Anerkennung spiegelt sich 1997 in den Nachrufen auf Castoriadis wieder, in denen sowohl die Originalität seines Denkens als auch seine Vertrautheit mit den zeitgenössischen Debatten besonders hervorgehoben wird. Diese Würdigungen bringen zudem zum Ausdruck, dass Castoriadis sich nicht den intellektuellen Moden seiner Zeit angeschlossen hat.¹² Hierzu gehören die üblichen Verdächtigen: der offizielle Marxismus, der logische Positivismus, der Existenzialismus und die Psychoanalyse mit dem in den 70er Jahren tonangebenden Jacques Lacan. Des Weiteren lehnte Castoriadis die sich seit den 50er Jahren verbreitenden Ideen des Funktionalismus und des Strukturalismus entschieden ab. Diese Positionen wurden von ihm stark kritisiert und in Teilen regelrecht diffamiert.¹³ Am stärksten wiegen in dieser Hinsicht seine Ausfälle gegenüber dem Strukturalismus und seinen theoretischen Nachfolgern, die er als linguistische Epidemie und strukturalistische Ideologie abtut. Castoriadis überträgt diese Einschätzungen ebenfalls auf die Psychoanalyse von Jacques Lacan. Damit positionierte Castoriadis sich zugleich außerhalb einer geisteswissenschaftlichen Standarderzählung, wodurch eine Rezeption seiner Positionen erschwert wurde.¹⁴ In dieser Hinsicht ist es entscheidend, die zentralen Kritikpunkte von Castoriadis zu verdeutlichen, um nachvollziehen zu können, warum es hier zu keinem fruchtbarem Dialog gekommen ist und Castoriadis in zeitgeschichtlichen Darstellungen meist nur eine Nebenrolle einnimmt.

    Die Kritik am Strukturalismus entzündet sich bei Castoriadis vornehmlich an dem strukturalistischen Vorgehen, das Subjekt nicht mehr als ein sinnstiftendes Element der Sprache mit in den Fokus der Auseinandersetzungen zu nehmen.¹⁵ Für ihn verschwinden damit in der strukturalistischen Denktradition in erster Linie ethische und soziale Perspektiven, aus denen sich alternative Handlungsoptionen für ein Subjekt ergeben können. Sein konkreter Vorwurf gegenüber diesen Denkrichtungen richtet sich damit auf das Fehlen von Zugriffsmöglichkeiten auf die sozialen Strukturen der Gesellschaft. Mit dem Denken von Unterschieden und der Differenz versteckt sich die politische Verantwortung hinter einer erkenntnistheoretischen Perspektive, die sich ihre eigene politische Wirksamkeit versagt. Innerhalb der strukturalistischen Theorie ist das Subjekt zwar nicht verschwunden, aber für Castoriadis zeichnen sich hier zwei perspektivische Sichtweisen des Subjekts ab, die er nicht teilen kann. ¹⁶ Die erste Sichtweise richtet sich auf die Auflösung und Dezentrierung des Subjekts, wodurch es auf rein funktionale Belange reduziert wird. Zu dieser Denktradition zählt Castoriadis Claude Lévi-Strauss, Louis Althusserl und Michel Foucault. Die zweite Sichtweise fokussiert sich auf die Auflösung des Subjekts in der Sprache. Hier bleibt das Subjekt als ein gesellschaftliches Individuum erhalten, dass seine Aktivität verloren hat und nur noch gesprochen oder geschrieben wird. Unter diesen Gesichtspunkten eröffnet sich über die Verbindung des Subjekts mit dem Unbewussten eine Denktradition, die von Lacan zu Roland Barthes und Jacques Derrida führt. In diesen theoretischen Positionen ist ein handelndes Subjekt nicht mehr enthalten, somit werden dem Subjekt praktische Möglichkeiten versagt, auf die Castoriadis allerdings nicht verzichten will. Für ihn ist das Subjekt nicht schlicht gegeben und den Verhältnissen in seiner Gesellschaft hilflos ausgesetzt. Vielmehr gibt es für Castoriadis etwas wie eine Arbeit am Subjekt. Ein Subjekt muss erschaffen werden und es muss einen Ort haben, an dem es sich selbst erschaffen kann. Dazu bedarf es einer über das bloße Denken hinausgehende Reflexivität und dem Willen zu einem überlegten Handeln.

    „Subjekt und autonomes Subjekt zu sein, heißt immer noch, jemand und nicht alle oder irgendwer oder irgendwas zu sein. Es heißt immer noch, und in erster Linie, bestimmte Objekte zu besetzen und seine eigene Identität zu besetzen – die Vorstellung seiner selbst als autonomes Subjekt." (Castoriadis 2012a, S. 240)¹⁷

    Ein autonomes Subjekt zielt auf die Bildung einer eigenen Identität ab. Das extreme Gegenbild dazu ist in der von Hannah Arendt beschriebenen Person des Adolf Eichmanns zu erkennen. In Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht über die Banalität des Bösen stellt Arendt heraus, dass Eichmann sich weigerte, ein Individuum zu sein. Er hatte sein Denken abgestellt, ihm mangelte es an Imagination.¹⁸ Eichmann verhielt sich damit nicht nur heteronom*. Er übernahm nicht nur die ihm übertragenen Befehle. Vielmehr zerstörte er in den Augen Arendts sein Menschsein, indem er nicht mehr über sein Handeln nachdachte und sich damit der Teilnahme an einer menschlichen Praxis entzog. Dadurch war er zugleich am weitesten von dem entfernt, was Castoriadis mit seinem Projekt vorschwebte.

    Der von Castoriadis an der postmodernen Theorie kritisierte Verlust an ethischen und sozialen Perspektiven steht dabei exemplarisch für die sich in der Gesellschaft verbreitende Konformität. Seine Zweifel setzen hier bereits bei dem Begriff der Postmoderne an, der für ihn keine adäquate Charakterisierung der Gegenwart darstellt, aber gut den Zustand der Konformität ausdrückt, in dem sie sich befindet. Castoriadis verortet die Moderne in dem Zeitraum zwischen 1750 und 1950 und verbindet diese Epoche mit dem Hinterfragen des Gegebenen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, besonders in der Philosophie, der Politik oder der Kunst.¹⁹ Dieses reflektierte und kritische Moment schwindet aber zusehends in den modernen Gesellschaften. Daran trägt nicht die postmoderne Philosophie die Schuld, aber sie drückt für Castoriadis in bezeichnender Weise die vorherrschende Stimmung aus, aus der sich sein Unbehagen speist.

    „Wie eine der Koryphäen der zeitgenössischen Architektur 1986 auf einer Tagung in New York sagte: „Die Postmoderne hat uns endlich von der Tyrannei des Stils befreit. Mit anderen Worten, die Architekten sind von der Tyrannei befreit, sie selbst sein zu müssen. Sie können jetzt nach Gutdünken verfahren, einen gotischen Turm an eine ionische Säule klatschen und das Ganze in eine thailändische Pagode stellen. Sie werden nicht länger vom Stil tyrannisiert, sie sind jetzt wahrhaft individualistische Individualitäten: Individualität besteht von nun an darin sich links und rechts die diversen Elemente zusammenzuklauen, um daraus etwas zu „produzieren. Doch das Gleiche gilt in noch konkreterer Form für den gewöhnlichen Alltagsmenschen: Er lebt, indem er Collagen anfertigt, seine Individualität ist ein Patchwork aus Collagen." (Castoriadis 2012b, S. 87)

    Die Postmoderne ist besonders durch die mit ihr verbundene neue Architektur bekannt geworden.²⁰ Ihre Auflösung von architektonischen Stilen ist für Castoriadis bedenklich. Darin sieht er bereits ein Zeichen für den sich ausbreitenden Konformismus in der Gesellschaft, der den Zerfall von sozialen Identifikationsstrukturen befördert. Besonders symptomatisch an dieser postmodernen Haltung ist für Castoriadis die Ablehnung einer gemeinsamen sozialen Perspektive, in der Wege zu einer Selbstlegitimierung der Gesellschaft bereitgehalten werden. Castoriadis bezeichnet diese Entwicklung als Anstieg der Bedeutungslosigkeit, der in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zum Ausdruck kommt.²¹ Es ist das politische Aufbrechen der Unterscheidung von links und rechts, das sich unter anderem in dem Verschwinden von sozialen Kämpfen und programmatischen Gegensätzen der politischen Parteien zeigt. Es ist aber auch die immer stärkere Einbindung von kritischen Stimmen in das bestehende Gesellschaftssystem, wodurch jede Form der Kritik von vornherein vereinnahmt wird und an Wirksamkeit verliert.

    Die Ursachen für diese Entwicklung sieht Castoriadis in der pseudo-rationalen Ausrichtung der kapitalistischen Grundstrukturen der Gesellschaft. Eine Investition in die Reproduktion von gesellschaftlichen Werten rechnet sich nicht mehr in der nach pseudo-rationalen Kriterien formierten kapitalistischen Gesellschaft. Dadurch entsteht in der Gesellschaft ein eklatanter Mangel an diesen Werten, der nur noch teilweise durch persönliches Engagement einzelner Menschen ausgeglichen werden kann, die sich noch an alten Identifikationsmustern orientieren.²² Castoriadis stellt die Frage, warum es noch unbestechliche Richter, gesetzestreue Beamte oder engagierte Lehrer gibt, die weiterhin eine soziale engagierte Haltung einnehmen, obwohl der neoliberal ausgeprägte Kapitalismus keinerlei Unterstützung für dieses Engagement bereithält. Innerhalb einer neoliberalen Ökonomie rentiert sich die Investition in gemeinsame gesellschaftliche Werte wie Unbestechlichkeit, Gesetzestreue oder Engagement nicht, sodass von dieser Seite aus keine gesellschaftliche Basis für eine Identifikation mit gemeinsamen Werten mehr bereitgehalten wird.

    Bezeichnenderweise hält Castoriadis in der Mitte der 80er Jahre, zum Höhepunkt der Postmoderne, einen Vortrag über den Zustand des Subjekts, der diese Problemstellungen aufgreift.²³ Für Castoriadis ist es Eines, zu behaupten, dass das Subjekt tot sei, es ein Ende von Bedeutungen, der Geschichte, eine Undurchdringlichkeit der Macht oder ein Ende der Politik gebe. Es ist aber ein Anderes, sich der daraus resultierenden Verantwortung zu entziehen. Castoriadis kann als Theoretiker diese Analysen teilen, aber daraus resultiert für ihn keine apolitische Haltung. Er plädiert vielmehr entschieden für eine Zunahme der eigenen politischen Verantwortung und verbindet diese Haltung mit seinem Projekt einer autonomen Gesellschaft. Castoriadis vehemente Forderung nach einer Berücksichtigung des Subjekts in der Philosophie verbindet sich mit seinem politischen Grundverständnis der

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