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Es war nicht weit
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Es war nicht weit

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About this ebook

Was tun, wenn ein großer Lebenstraum noch nicht erfüllt ist? Bei vielen Menschen bleibt es bei dem Wunsch. Nicht so bei Helmut Schulze. Im März 2007 beschließt er im Alter von 64 Jahren, endlich den Rhein entlangzuwandern – sein lang gehegter Traum. Am 14. Juli desselben Jahres macht er sich auf den Weg. Trotz einer erklecklichen Anzahl gesundheitlicher Stolpersteine und obwohl er völlig ungeübt ist.
Die Strecke von Stein am Rhein bis nach Köln legt er in vierzig Tagen zurück, fast 800 Kilometer, und zwar allein. Er genießt diese langsame Reise, das Alleinsein mit sich. Und er kämpft mit sich und mit den Gegebenheiten. Eines wird es für den Leser sicherlich nie: langweilig. Denn Helmut Schulze ist aus tiefstem Herzen ein Abenteurer.
Und so ist auch sein Leben verlaufen, über das er während seiner Wanderschaft nachdenkt, an das er sich erinnert. Er lässt den Leser an dieser Fülle teilhaben. Daran, dass die Familie, der Abenteuerlust des Vaters folgend, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Australien auswandert und dort ankommt mit nichts als den Sachen auf dem Leib. Helmut Schulze kämpft sich durch, er ist jung und unbekümmert. Er fällt häufig auf die Nase und steht immer wieder auf.
Das alles beschreibt er mit einer gesunden Portion Abstand zu sich selbst und viel Humor. Bereits die Hälfte seiner Erlebnisse würde für ein spannendes Leben ausreichen.
LanguageDeutsch
Release dateFeb 26, 2015
ISBN9783738665864
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    Es war nicht weit - Helmut Schulze

    schreiben.

    1 DIE LETZTEN TAGE IN SPANIEN

    Im März 2007 lag ich – wie gewöhnlich in diesen Tagen – im Liegestuhl an unserem Swimmingpool in Spanien mit dem Buch »Traveling in dangerous Places« (eine Sammlung von Berichten über Afrikaabenteuer und Entdeckungen englischer Forscher im 19. Jahrhundert). Als Ruheständler fühlte ich wieder einmal, wie die Unzufriedenheit der Sesshaftigkeit an mir nagte. Meine schöne Aussicht über die gigantischen Pinienbäume und Málaga waren zum Alltag geworden.

    Mit 109 Kilo in der Badehose, gut aufgeteilt um die Taille und in einem Gesicht, das nur der Vollmond überbieten konnte, las ich Geschichten, die ich meiner Überzeugung nach eigentlich selbst erleben sollte, oder wenigstens teilweise. Nebenbei war das anstrengende Arbeit, denn dieses Dichtungswerk war von britischen Intellektuellen vor rund 200 Jahren geschrieben worden, sodass sich die englische Sprache als deutlich schwieriger zu lesen erwies, als ich es gewohnt war.

    Während ich mich dabei ertappte, geistesabwesend Seiten zu wenden, ohne gründlich zu lesen, weil meine Gedankengänge immer wieder abschweiften, überkam mich der in letzter Zeit immer wiederkehrende und bedrückende Gedanke: »Was um alles in der Welt mache ich hier? Wo sind meine mir unentbehrlichen Träume geblieben, ohne die ich nicht einen Tag leben möchte, wie ich immer behauptet hatte. Willst du hier sterben? Ist das alles?« Und während des Grübelns klickte es oben, ein Geistesblitz! Bingo, ich hatte die Antwort!

    Ich klappte meine Abenteuerliteratur ohne Lesezeichen zu, verabschiedete mich von den englischen Forschern, stellte das Buch ins Regal, wo es hingehörte, fuhr in bester Laune und mit neuer Perspektive hinunter zum Ort im Tal und begab mich zur dortigen Rentnerkneipe, das einzige rauchfreie Lokal in Alhaurín de la Torre (bei Málaga) und, nebenbei gesagt, auch das preiswerteste.

    Dort, umrundet von Domino spielenden Pensionistas und vielen Jamon ahumado und Chorizos, die von der Decke baumelten, bestellte ich mir eine Flasche San Miguel, setzte mich an einen Tisch in der Ecke ließ, meinen Gedanken freien Lauf und belebte meinen jetzt schon über 25 Jahre währenden Traum, der immer in der untersten Schublade meines Gedächtnisses geschlummert hatte wie eine alte Melodie, die einem nicht aus dem Kopf geht: den Rhein zu Fuß abzuwandern vom Bodensee bis Rotterdam.

    In den frühen 80ern war die Idee zwischen Zigarettenqualm und Biergeruch in meiner ehemaligen Kölner Kneipe, dem Hotel Maybach, zuerst aufgetaucht und ich habe sie oft eifrig mit einigen interessierten Gästen hin und her diskutiert.

    Das Hotel Maybach war in den frühen 80ern durch Zufall ein englischer Pub geworden und das home away from home für zum größten Teil britische Gauner und gestrandete Existenzen. Nach zweimaligem Nasenbruch und zwei Messerstichwunden in der linken Brusthälfte brauchte ich keine Versammlung von Weisen einzuberufen, um das Abenteuer Maybach zu beenden und meinen Stammplatz im Marien-Hospital an die nächste Generation abzutreten. Doch ich schweife ab, auf das Hotel mit seinen Dramen, seinem Spaß und seiner Gewalt werde ich später noch zurückkommen.

    Meine Wanderung hatte sich aufgrund vieler Umstände, und zu meinem Bedauern, etwas verzögert. Ja, rund 25 Jahre hatte ich sie auf Eis gelegt, aber nicht unbedacht gelassen. Ich war schon bereit gewesen, eher an die Existenz von Feen und Trollen zu glauben als an die Verwirklichung dieses Abenteuers.

    Die Kinder waren aus dem Haus und ich persönlich entlastet von allen geschäftlichen und privaten Verantwortungen, was es mir jetzt erlaubte, einige von meinen Muss-ich-unbedingt-im-Leben-noch-machen-Dingen zu realisieren oder es, wie in diesem Fall, wenigstens zu versuchen, allem voran die Rheintour.

    Die French Open einmal live mitzuerleben, an einem deep see fishing trip in Portugal teilzunehmen, eine Oper in Italien anzuhören und einige andere Dinge, die in Planung waren, gelingen noch gut auf Sitzplätzen.

    Durch den Kölner Stadt-Anzeiger, den ein Freund mir nach Spanien geschickt hatte, brachte ich in Erfahrung, dass ein Kölner Rentnerehepaar im Alter von 65 und 70 Jahren sich ein paar Monate zuvor mit Fahrrädern auf den Weg nach Rom gemacht hatte, um sich seinen Lebenstraum zu erfüllen; für mich eine großartige Inspiration.

    Mithilfe einiger Pullen des köstlichen Ambers und mit dem Vorbild der rüstigen, radelnden Kölner fand ich wieder die richtige Einstellung zur Gegenwart. Das gemütliche Leben und müßig in den Tag hinein zu faulenzen langweilte mich, Bücher erfüllten nicht die Sehnsucht nach Abenteuer, im Gegenteil, wie es sich hier erwies. Und außerdem hatte ich die Sache schon so lange im Kopf, dass sie ein Teil von mir geworden war, ich musste wenigstens einen Anfang machen, um mein Gewissen zu befriedigen, es versucht zu haben, es würde mir sonst nie Ruhe gönnen.

    Mit neuem Eifer und Entschlossenheit modifizierte ich meinen ursprünglichen Plan, um meiner langsam dahinsiechenden geistigen und körperlichen Verfassung Genüge zu tun, immerhin war ich 64 Jahre alt, hatte ein Hüft- und Rückenproblem und über 20 Kilo Übergewicht. Dazu gesellten sich Prostataprobleme, Gicht, hoher Blutdruck, Tinnitus, chronische Sinusitis, Wasserblasen an den Nieren, geschwollene Schilddrüsen, der graue Star, Potenzprobleme, ein bisschen Rheuma hier und da und die sonst üblichen Beschwerden, die auftreten, wenn man ein bisschen »lang im Zahn« geworden ist. Eigentlich verwunderlich, dass mein Humor noch einigermaßen intakt war.

    Mein spanischer Medico hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, die Augen verdreht und täglich mit seiner Familie gemeinsam für meine Seele gebetet, wenn er von meinem heimlichen Vorhaben gewusst hätte. Der gesunde Menschenverstand und Sie, liebe Leser – oder wenigstens die Mehrzahl von Ihnen –, hätten dringend abgeraten. Doch der gesunde Menschenverstand und ich waren schon immer zerstritten.

    Als praktisch denkender Mensch kam ich zu dem Schluss, dass, sollte ich auf der Tour krepieren, ich wenigstens meine gesundheitlichen Probleme gelöst hätte.

    Nach Addieren und Kombinieren verschiedener Faktoren musste die im Originalplan beabsichtigte Zelt-und-Schlafsack-Idee ausgelassen werden. Ich sah mich leider gezwungen, Unterkunft in Hotels oder Gaststätten zu suchen, was aber wiederum die im Plan A beschlossene Kein-Alkohol-Regel gefährdete. Auch das Ziel Rotterdam musste gestrichen werden. Die Strecke war zu lang, aber das ließ ich offen. Köln zu schaffen wäre schön. Und die Angelegenheit mit dem weiblichen Geschlecht (Plan A: kein Sex), nun ja, die hatte sich ja fast auf biologische Weise selbst geregelt. Dann natürlich die Tagesdistanz, welche ich ursprünglich auf 40 bis 50 Kilometer festgesetzt hatte. Sie musste im Plan B ebenfalls reduziert werden, jetzt lagen meine Vorstellungen zwischen 25 und 35 Kilometer. Im Ganzen gefiel mir Plan B ohnehin bedeutend besser, obwohl mich mein Gewissen aufgrund der geringeren Herausforderung etwas plagte. Doch nicht allzu sehr.

    Ich fand die Vorstellung faszinierend, jede Nacht unter einem anderen Dach zu schlafen und die zahlreichen Dörfer und Städte entlang des Rheins zu sehen und zu bewundern. Unerreichbar und anonym, in Orten, wo kein Mensch was von mir wollte. Endlich wieder auf der Straße zu sein wie damals im Outback von Australien mit meinem Vater und später dann allein in Spanien auf dem Weg von Torremolinos nach Lissabon. Ja, meinen eigenen Weg nehmen und nicht den Weg der Herde. Wie viele realistische Chancen hatte ich in meinem Alter und dem angeschlagenen Gesundheitszustand noch? Und obwohl ich noch gar nicht auf dem Weg war – und einiges noch erledigt werden musste –, hatte ich innerlich schon das Gefühl der Freiheit. (An diesem Punkt meiner Überlegungen war ich bei der vierten Flasche San Miguel). Schon seit einiger Zeit spürte ich immer mehr das Bedürfnis, in der Frühe einfach einen Rucksack über die Schultern zu werfen und loszuziehen. Die Zeit war gekommen und das gefiel mir sehr.

    Mas vale tarde que nunca.

    Vorerst jedoch blieb das dringende Problem meiner Augen. Hätten meine Beifahrer gewusst, was ich sah oder, besser gesagt, nicht mehr sah, besonders in den fast permanenten Staub- und Hitzeschleiern von Andalusien, wären sie sicherlich sofort schreiend aus dem Auto gesprungen. Vier Wochen später, nach einer sehr zu meiner Zufriedenheit und unbeschreiblicher Freude gelungenen Augenoperation, sah die Welt wieder farbenfroher und leuchtender aus, der zuvor graue Himmel war wieder blau, ich konnte erneut Verkehrsschilder erkennen, Polizisten von Straßenfegern und Politessen von Laternenpfählen unterscheiden und war vor allem wieder fähig, Landkarten ohne die Hilfe einer Lupe zu lesen, ein natürliches High. Einfach Klasse.

    So saß ich an einem Tag im Frühling 2007 noch vor dem Aufgang der Morgensonne im metallicgrünen Landrover Explorer mit sechs CDs von AC/DC und einer Kiste Bier und ein paar anderen Kleinigkeiten im Gepäckraum auf der Autobahn in Málaga Richtung Köln, legte »Highway to Hell« auf und gab Gas.

    Mein Ziel war Köln-Zündorf, wo meine Schwester Charlotte wohnt. Sie hatte sich aufgrund ihres mangelnden Orientierungssinns – wozu Frauen ja oft neigen – versehentlich vor ein paar Jahren dort, auf der so genannten »Schäl Sick« von Köln niedergelassen, das ist Ausland für richtige Kölner. Ich habe ihr das bis heute nicht verziehen. Obgleich es dort ein besonders schönes Naturgebiet kombiniert mit einer Freizeitanlage am Rhein gibt, mit dem merkwürdigen Namen Groov, ist dieser Ort mit Ausnahme der jährlichen Kartoffel- und Rübenernte und der dem örtlichen Großbauern gehörenden neuen, vollautomatischen, koreanischen Spargelschälmaschine ziemlich unspektakulär. Obwohl es anfänglich mit meiner Schwester eine schöne Zeit war, wusste ich mit Bestimmtheit, dass ich in diesem Örtchen nicht lange verweilen würde.

    Nachdem ich meinen türkischen Getränkehändler fast zu einem wohlhabenden Mann gemacht und mich mit deutscher Leberwurst, Sauerländer Brot und einigen anderen wieder neu entdeckten Spezialitäten nach all den Jahren Spanienaufenthalt zwei Monate lang vollgestopft und gemästet hatte und eine bedrohliche Ähnlichkeit mit einem 100-Liter-Bierfass mit Armen und Beinen angenommen hatte, war es an der Zeit, meine Pläne zu verwirklichen, Theorie in Tat umzusetzen.

    Ich ließ mein Auto in den fähigen Händen meiner Nichte Lucia, und mit dem Gürtel im ersten Loch und einem lebenszeitlichen Rekordgewicht watschelte ich zum Kölner Hauptbahnhof und nahm den Zug nach Singen.

    Die Fahrt führte teilweise am Rhein entlang und wir sausten an grünen Weinbergen vorbei mit dem Blick hinunter auf die Rad- und Wanderwege am Ufer des Wassers, wo ich bald zu wandern hoffte. Das berührte mich mit aufgeregter Vorfreude. Es wurde ernst.

    Mit widerstreitenden Gefühlen merkte ich, wie sehr ich darauf brannte, die Reise endlich beginnen zu können. Nur mühsam zügelte ich meinen Enthusiasmus, nicht sofort zum Bodensee zu fahren und einfach loszuwandern, ein möglicherweise fataler Fehler, denn momentan hatte ich fast 30 Kilo Übergewicht, wenigstens sechs Kilo Gepäck würden dazukommen, was sollte das werden? Erst einmal mussten ein paar Pfündchen Speck weg. Das würde nicht einfach werden. Mein genaues Gewicht wusste ich nicht, denn seit einiger Zeit fehlte mir der Mut, mich zu wiegen.

    Von Singen nahm ich ein Taxi nach Volkersthausen, setzte mich in die Dorfkneipe und bestellte ein großes Bier, das letzte für wenigstens vier Wochen.

    Volkertshausen ist ein kleiner Ort im schönen Hegau, nicht weit vom Bodensee, und sollte der im Voraus geplante und wohlüberlegte Start meines Abenteuers werden. Die landschaftlich schöne Gegend zeigte sich perfekt geeignet für das notwendige Fitnessprogramm.

    Am Ortsrand liegt ein katholisches Fastenzentrum, das umrundet wird von relativ flachen Wanderwegen, die durch Wälder, zwischen Feldern und Obstbäumen verlaufen. Und es gibt einen kleinen Fluss, die Aach, die durch das Dorf sprudelt. Das ausgeglichene Klima am Bodensee bot die Möglichkeit einer idealen Entspannung, ausschweifende Vergnügungen waren nicht zu erwarten. Vier Wochen Fasten, mit dem dazugehörenden Bewegungsprogramm, sollten mir wenigstens halbwegs den erforderlichen körperlichen und geistigen Gesundheitszustand zuteilwerden lassen.

    Der Tag im Samariter Fastenzentrum begann um 7.15 Uhr unter Anleitung eines Fastenleiters oder einer -leiterin mit dem Morgenlob und einer halben Stunde Frühsport zum Auflockern. Zum Frühstück gab es im so genannten Speiseraum warmen Kräutertee mit einem Teelöffel Honig zur Stabilisierung des Kreislaufs. Um 9.00 Uhr folgten Entspannungsübungen mit informativen Gesprächen und Vorträgen. Mittags gab es etwas Solideres: ein Glas Obstsaft – es wurde empfohlen, den Saft langsam mit einem Löffel zu verspeisen. Danach folgte die Mittagsruhe mit einem Leberwickel.

    Abends war der Höhepunkt der täglichen Fressorgie mit der Wahl einer Tasse Gemüsebrühe oder einem frisch gepressten Fruchtsaft erreicht, ebenfalls langsam mit der Löffelmethode zu genießen. Dagegen gab es im Überfluss Gebete, Meditationsübungen, Ernährungsvorträge und Kapellenbesuche, bei welchen man nebenbei die Gelegenheit hatte, dem Herrn zu danken, dass man noch nicht verhungert war und der Versuchung tapfer widerstanden hatte, der Tischnachbarin in den Arm zu beißen.

    Es wäre schon vorteilhaft gewesen, ein wenig dement zu sein oder, wie in meinem Fall, den größten Teil seiner Gehirnzellen versoffen zu haben, um zu verstehen, warum man freiwillig hierher kommt und dafür auch noch gutes Geld hinblättert.

    Meine Unterkunft in einem neuen Gebäude dagegen war ein schönes, modern eingerichtetes, lichtdurchflutetes Zimmer mit Toilette und Badezimmer und aufgrund der Weisheit der guten Leute, die das Martyrium leiten, ohne Fernseher.

    Eines Tages, circa zwei Wochen später, bei einem Trainingsmarsch durch die hügelige Landschaft überfiel mich ein Zustand von fast ehrfürchtigem Staunen über diese schönen, friedlichen Weiden und Hügel. Das Fasten mit dem Effekt eines gründlichen Hausputzes für Körper und Geist zeigte eine tief greifende Wirkung.

    Ein unerwartetes und mir unbekanntes Wohlgefühl kam auf, mein anfangs schwieriger Aufenthalt im Fastenzentrum erwies sich jetzt doch als die richtige Medizin und vernünftige Entscheidung. Ich war glücklich und ruhig, ein sanfter Frieden hatte mich erfasst. Zu meiner Freude stellte sich zudem eine Verbesserung der zuweilen noch schmerzenden Hüfte und einiger anderer Wehwehchen ein. Sollte ich jemals in meinem Leben ernsthaft der Erholung bedürfen, würde ich zu diesem Ort zurückkommen. Hier wird einem wahrhaftig geholfen.

    Die Quelle der Aach ist angeblich die größte Quelle Europas, sie ist drei Kilometer nach ihrem Ursprung schon ein kleiner, rasch fließender Fluss. Das durfte mir nicht entgehen und schon in den frühen Tagen meiner Kur machte ich mich fünf Kilometer durch den Wald auf den Weg dorthin. Ich wurde nicht enttäuscht.

    Die Quelle, auch scherzhaft »Aachtopf« genannt, ist ein Gewässer von der Größe eines halben Fußballfeldes, und mit den Gänsen des anliegenden Bauernhofs und anderen munteren Vögeln, die schnatternd darauf herumschwimmen, ist sie ein Naturschauspiel erster Klasse. Durch den enormen Wasserdruck aus der Tiefe sprudelt es in der Mitte tatsächlich wie in einem Topf kochenden Wassers und von dort an bildet sich ein lebhaftes Flüsschen, das nur 14 Kilometer weiter durch die Hegau-Niederung in den Bodensee fließt. Das Wasser stammt interessanterweise größtenteils aus der Donau, welches weiter nördlich des Landes durch poröses Gestein versickert. Es gibt einen Rundgang um die Quelle mit einer charmant aussehenden, bedachten Holzbrücke, die zugleich als verstellbarer Staudamm dient, und es ist schwer zu entscheiden, an welcher Stelle das Ganze am schönsten ist. Meiner persönlichen Meinung nach vom anliegenden, mir jedoch momentan verbotenen Biergarten aus betrachtet.

    Für mich wurde dieser wunderbare Platz meine morgendliche Pilgerstätte und mit den Brötchen von der nahe liegenden Bäckerei, die ich anfänglich mit im Munde zusammenlaufendem Wasser liebend gerne selbst verzehrt hätte, setzte ich mich auf eine Bank und fütterte die schon auf mich wartenden oft frechen Enten und Gänse und verbrachte dort die schönste Stunde des Tages. Allein dieser Quelle wegen hatte sich mein Besuch in Volkertshausen und Umgebung gelohnt.

    Mit einer mühelos erreichten Wandertagesquote von 20 Kilometern und einigen verschwundenen Kilos Gewicht, genauer gesagt 15, sah ich nach vier Wochen auch nicht mehr ganz so aus wie Mister Mond und mein geplantes Unternehmen wandte sich nun gemächlich der Realität zu. Der Rest vom Speck würde auf der Tour abgewandert, da war ich mir sicher.

    Nun war ich auch bereit, die Vorbereitungen in Angriff zu nehmen beziehungsweise in die nötige »Wanderausrüstung« zu investieren. Wie sich später herausstellen würde, ohne einen Hauch von Ahnung.

    Bei Hertie in Singen erwarb ich einen Minirucksack und Nordic Walking Sticks, die Schuhe waren gut eingelaufen, die Regenjacke hatte ich in Köln schon besorgt und alles andere, was vielleicht fehlen könnte auf meinem Weg, würde meine Maestro-Card erledigen, so stellte ich es mir auf jeden Fall vor. Den Rest von meinem Kram verpackte ich und schickte ihn nach Köln zu meiner Nichte, ein immer hilfsbereites Engelchen.

    2 SCHAFFHAUSEN

    Das Abenteuer Fasten war gelungen, mit offenen und geschärften Sinnen konnte es am folgenden Morgen, dem 14. Juli 2007, um 6.00 Uhr losgehen. Von Volkertshausen aus nahm ich einen Bus nach Singen und von dort einen weiteren Bus bis zum Bodensee beziehungsweise Stein am Rhein. Herrliches Wetter begleitete mich bei einem der erfreulichsten und sicherlich auch einem der schönsten Tage meines Lebens.

    Stein am Rhein ist ein Juwel von Kleinstadt und liegt am westlichen Ende des Bodensees in der Schweiz, etwa fünf Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. An dieser Stelle fließt oder saugt sich der Hochrhein aus dem Bodensee, die Quelle liegt in den Schweizer Alpen und der dort als Altrhein bekannte Fluss mündet am östlichen Ende bei Lindau in den »Lake Constance«, wie die Englisch sprechende Welt den Bodensee nennt, was eigentlich unverschämt und respektlos ist. Wir benennen ihre Landschaften und Seen auch nicht um, wie es uns gefällt.

    Eingebettet in einen paradiesischen Umkreis war der Ort selbst nicht nur der erste, sondern auch zufällig der allerschönste meiner Reise, die malerischen Orte im Rheintal von Mainz bis Köln inbegriffen.

    Auf das Risiko hin, einige Leser mit meinem vom Fasten entstandenen »Auge für Schönheit« und der fast kitschigen Schwärmerei zu nerven, muss ich sagen, dass Stein am Rhein, bezeichnet als eine der am besten erhaltenen mittelalterlichen Städte in der Schweiz, gewisslich und ohne Zweifel einen Besuch wert ist. Die Uhr scheint hier wahrhaftig angehalten worden zu sein, wenn ich es so sagen darf. Staunend und bewundernd ging ich durch die kleine Stadt und fragte mich: »Wo bin ich hier? Wohnen hier wirklich Leute wie ich?«

    Inmitten von Fachwerkhäusern, durch urige, mit Kopfstein gepflasterte Gassen wandelnd und starrend, über einen Marktplatz mit Brunnen und Denkmal, der von freskengeschmückten Bürgerhäusern umgeben war, fühlte ich mich geradewegs ins Mittelalter versetzt oder in eine Märchenfilmkulisse wie aus »Hänsel und Gretel«.

    Von der Brücke aus bot sich eine herrliche Aussicht auf den Bodensee, der sich im Osten grandios zur Schau stellt, und den Rhein, der zum Westen langsam seinen Weg zur Nordsee antritt. Mit der auf dem Wasser glitzernden Morgensonne verfehlte der Zauber dieser Stadt – noch in leichten Dunst gehüllt – nicht seine Wirkung auf mich, und ich kam der Versuchung nah, vielleicht noch einen Tag hier zu verbringen, bevor ich mich den Strapazen des langen Weges aussetzte. Doch das Bedürfnis, endlich loszuwandern und meine Tour zu beginnen, zeigte sich als stärker; immerhin hatte ich auf diesen Moment lange gewartet, oder hatten die schockierend hohen Hotelpreise meinen Entschluss vielleicht auch ein wenig beeinflusst? Womöglich, denn erkundigt hatte ich mich. Trotzdem war es eine Schande, wo ich schon in dieser Ecke war, nicht den weltbekannten und schönen Bodensee noch etwas genauer zu begutachten.

    Es fällt mir schwer, meine Gefühle an diesem sonnigen Morgen mit treffenden Worten zu beschreiben, es war ein zutiefst erregender Moment, es war der Tag der Tage. Durch gepflegte Parkanlagen und an einem kleinen Jachthafen vorbei wandernd, war ich nach langer Zeit endlich da, wo ich sein wollte, auf einem Radwanderweg am Ufer des schönen Rheins Richtung Kölle. Mit dem überwältigenden Gefühl der Erfüllung meines Traums, unterstrichen vom herrlichen Wetter und einer märchenhaften Aussicht, schien es mir, als wäre jahrelang aufgespartes Glück mit aller Kraft in meinem Bewusstsein explodiert. Ein wirklich atemberaubendes Erlebnis. »Arm ist nicht der ohne Geld, sondern der ohne Traum«, wie man sagt. In diesem Moment war ich steinreich, diese außerordentlichen Sinnesempfindungen hatten alle meine Erwartungen übertroffen.

    Unbeschwert und unbekümmert wanderte ich an einer Badeanlage entlang – mit dem Rhein als Schwimmbad, genoss die Freudenschreie der Kinder, die auf Rutschbahnen in den Fluss schossen, bewunderte eindrucksvolle Villen mit privaten Bootsanlegern, beobachtete Leute beim Schwimmen, Segeln, Rudern, Ballspielen und Angeln. Es war ein Vergnügen, das alles mitzuerleben. Windsurfer zeigten ihre Geschicklichkeit auf dem Rhein, der an dieser Stelle etwa 120 Meter breit ist, und realistisch betrachtet war es für diese Menschen der normale Verlauf eines Wochenendtages - doch in meinem fast ambrosischen Geisteszustand schwebte ich mit den Engeln.

    Meine Nordic-Walking-Stöcke hätte ich allerdings besser bei Hertie in Singen am Ständer hängen gelassen als an einem Baum in der Schweiz. Nach circa zehn Kilometern merkte ich, dass es weder ein Wandern noch Spazierengehen war mit den Dingern, sondern einfach ein ungewohntes Fortbewegen: eine mehr als anstrengende Trainingsmethode. Das neue, angeblich fortschrittliche System des Wanderns sagte mir nicht zu. Oder mag es nur an der zu kurzen Probezeit gelegen haben? Es dauerte auch einige Zeit, bis ich mich an den Rucksack gewöhnt hatte.

    Die deutsch-schweizerische Grenze verläuft teilweise am Rhein entlang, zickzackt aber auch über den sich schlängelnden Strom; sie ist grundsätzlich offen für Radfahrer und Fußgänger ohne Handelsware.

    Öfter war mir nicht bewusst, in welchem Land ich gerade war, ob in Deutschland oder der Schweiz. Es war mir aber auch egal. Schmunzelnd passierte ich freundliche Grenzübergänge auf stillen Waldwegen mit dem höflichen Hinweis: »Sie verlassen hier die Schweiz, Übertreten der Grenze ist nur bei Tageslicht erlaubt.« Diese Strecke ist derart schön, dass ich sie jedem Naturliebhaber und Wanderer empfehlen kann. Doch Achtung: Es sind 27 Kilometer mit leichten Steigungen, Schwierigkeitsgrad: frühes Rentenalter.

    Meine Kenntnisse von der Schweiz hatte ich bisher ausschließlich aus Fenstern von Zügen erzielt oder beim Durchrasen auf Autobahnen, und das war weniger als beeindruckend gewesen, doch jetzt war ich verzaubert.

    Nach Griechenland, Deutschland, Frankreich oder selbst nach Spanien fahren viele Touristen der Kultur und Kunst wegen. Kirchen und Schlösser, Ausgrabungen der Antike, Museen und Skulpturen, darüber hinaus reizvolle Landschaften mit Seen und besonders die Strände ums Mittelmeer. In der Schweiz sieht das anders aus. Sie ist seit Beginn des Fremdenverkehrs das Reiseziel für Bergwanderer und Bewunderer der Landschaft und ist durch die Entstehung des Wintersports in den letzten 100 Jahren zum Touristenland Nr. 1 in der Welt geworden.

    Eine kuriose Geschichte handelt von einem Schweizer Hotelbesitzer im Winter 1865, zu einer Zeit, als die Schweiz noch ein reines Sommerland war. Dieser bot vier englischen Gästen eine Wette an: Sie sollten Weihnachten erneut kommen und bis Ostern bleiben, von ihm gratis aufgenommen und versorgt werden. Falls ihnen der Winterurlaub nicht zusagte und der Sonnenschein nicht ausreichte, würde er ihnen sogar die Reisespesen bezahlen. Er gewann seine Wette und im folgenden Winter kamen anstatt vier schon zwei Dutzend zahlende Gäste. Es war der Anfang der Schweizer Wintersaison, und wie sie sich entwickelt hat, wissen wohl Hinz und Kunz.

    Mit etwas Obst zur Mittagszeit (Fastenbrechen) und einer Pause nach etwa 15 Kilometern fing meine Wandereuphorie langsam zu schwinden an. Mein Körper zeigte allmählich Widerstände, trotzte meinem noblen Unterfangen und weigerte sich, den Anweisungen meines Gehirns zu folgen. Mit kleinen Wehwehchen signalisierte er Missbehagen über mein leichtsinniges Benehmen. Das Mit-den-Engeln-schweben-Gefühl war vorüber. Ich hatte zwar zuvor in Volkertshausen mit täglich 20 Kilometer Wandern tüchtig an meiner Form gearbeitet, aber das war ohne Rucksack geschehen und mit einer ausführlichen zwei- bis dreistündigen Mittagspause.

    Es folgte, was sich nun täglich wiederholen sollte: DER HARTE TEIL des Tages. Bei der 20-Kilometer-Marke fühlten sich meine rund sechs Kilo Gepäck eher wie 50 Kilo an, und ich spürte jedes Gramm. Es mit den letzten zehn Kilometern eines Marathonläufers zu vergleichen, wäre nicht zu weit hergeholt, nur nachvollziehbar von Extremsportlern und, nun ja, Leuten wie ich, wie immer man sie nennen mag.

    Noch rund sieben Kilometer lagen vor mir. Wie sollte ich das schaffen? Mein Nacken und meine Stirn waren verbrannt von der auf den Schädel knallenden Sommersonne. Mein Hals trocken vom Durst, die Füße schmerzten und schienen drei Schuhgrößen gewachsen in Breite und Länge und obwohl ich bei meiner sorgfältigen Auswahl der Schuhe vorne genügend Freiraum gelassen hatte, berührte ich jetzt mit meinen Zehen die Spitze der Schuhe und fühlte die erste Blase. Zumindest hatte ich durch frühere Erfahrungen in der Welt des Wanderns meine Flip-Flops in die Ausrüstung einbezogen und wechselte nun das Schuhwerk.

    Alle Versuche, der Härte mit einem Lachen zu begegnen, scheiterten kläglich. Der erste Tag entwickelte sich schon fast zu einer Tapferkeits- und Ausdauerprobe. Mit einer zusätzlich aufkommenden leichten Depression schleppte ich mich weiter.

    Was sollte ich schon tun? Es gab keine andere Richtung, die ich gehen konnte als vorwärts. Soldier on!

    In einem Supermarkt in Schaffhausen (Schweiz) angekommen, mehr torkelnd als mit erhobenem Kopf selig wandernd wie am frühen Tag, war das einzige Objekt meiner Begierde eine Flasche Wasser, die ich mit übermenschlicher Selbstkontrolle nicht sofort am Regal aussoff. Mit zitternden Knien und dem Gefühl, den kompletten Ablauf in einer mittelalterlichen Folterkammer durchgezogen zu haben, wurde mir von einem Kassen-Johnny mit bemerkenswerter Ähnlichkeit mit »Mister Bean« in arroganter Weise gesagt: »Wir nehmen hier nur Schweizer Franken!« Meinen apathisch bettelnden Gesichtsausdruck und den 5-Euro-Schein in der zitternden Hand ignorierte er total. Das kalte Grauen erfasste mich und in diesem Moment verstand ich, wie normale Leute plötzlich und unerwartet ausrasten und gewalttätig werden können. Der Tag hatte so frohgemut begonnen, sollte er wirklich mit einem Nervenzusammenbruch enden?

    Während ich meinem »Schweizer Freund« in einer Art und Weise, dass mir die Sonnenbrille fast von der Nase rutschte und die nicht von der Hochschule der Selbstbeherrschung stammte, genauer erklärte, wohin er sich seine Flasche Wasser stecken sollte, bot ein mitfühlender Gentleman, der hinter mir geduldig wartete und dem dieses Drama zwangsläufig nicht entgangen war, seine Hilfe an. Mit dem Kommentar, »He looks like he needs it«, bezahlte er mein Wasser, wofür ich mich fast auf den Knien und sehr zu seiner Verlegenheit tausendmal bedankte.

    Ein Hotel in Sichtweite von Mister Beans Nur-Franken-Supermarktimperium musste mir für die erste Nacht dienen. Es hatte ein 2-Sterne-Ambiente, die Preise waren eher der 5-Sterne-Kategorie zuzuordnen. Das Innere unterschied sich kaum vom heruntergekommenen Äußeren. Die verwahrloste Kneipe im gleichen Haus vermittelte den Eindruck, dass sie wahrscheinlich schon Wilhelm Tell und Zeitgenossen als Stammlokal gedient hatte. Doch nach einer Dusche, sauberen Klamotten und dem größten Bier, das der Wirt meistern konnte, war ich trotz Flip-Flops, geschwollenen Quanten und Tomatengesicht nirgendwo anders als in Walhalla angekommen, wo die tapferen und furchtlosen Wikinger verweilen. Nach 27 Kilometern war der erste Tag geschafft, diese Freude konnte mir keiner mehr nehmen, denn wenn ich nur so weit kam, hatte ich wenigstens die persönliche Genugtuung, es versucht zu haben. Ich war ernsthaft voller Emotionen und hatte sogar feuchte Augen.

    Wir alle sind stets damit beschäftigt, unser Glück im Leben zu finden, sei es mit Geld oder über irgendeinen Zustand. Aus meiner Erfahrung ist Glück nicht besonders beständig, doch an diesem Abend umarmte es mich mit aller Herzhaftigkeit.

    Nach dem Updaten meiner Ausrüstung im Souvenirshop mit Halstuch, Schirmmütze, Schweizer Messer und Wasserreserven sowie einer leichten Mahlzeit, alles erledigt

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