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Achtzehn Tage
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Achtzehn Tage

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About this ebook

Rheinland-Pfalz im Sommer. Der siebzehnjährige Tom aus Annweiler am Trifels hat das Schuljahr ohne bleibende Schäden davongetragen zu haben, fast hinter sich, als seine Welt an einem einzigen Tag aus den Fugen gerät. Von einem Moment zum anderen sieht er sich von der Polizei verfolgt und flieht völlig unvorbereitet in den Pfälzer Wald. Dort trifft er auf den zwei Jahre älteren Kai, einen Wehrpflichtigen, der schon seit Monaten wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe gesucht wird.

Sie tun sich zusamenn und machen sich auf den Weg zu Toms Vater, der am Laacher See wohnt. Für den gänzlich unerfahrenen Tom werden die folgenden Tage in den Wäldern zu einer enormen Herausforderung. Für Kai ist er zuerst eine Mischung aus Klotz am Bein und bewundernswertem Spinner. Dann aber zeigt Tom seine wahren Stärken und ihre neu entstandene Freundschaft trotzt mehr als einmal ihren Verfolgern, die ihnen dicht auf den Fersen sind.
LanguageDeutsch
Release dateJun 15, 2015
ISBN9783738693102
Achtzehn Tage
Author

Ulrich Lucas

Der Autor, Jahrgang 1965, lebt und schreibt in Nieder-Wiesen.

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    Achtzehn Tage - Ulrich Lucas

    Tag

    Erster Tag

    Als Tom an diesem Tag, dem vorletzten des vergangenen Schuljahres, seine Honda Virago auf den kleinen Parkplatz neben der Schule fuhr, ahnte er noch nicht, wie sehr sich sein Leben bald verändern würde. Er nahm den Helm ab und fuhr mit den Händen wie mit einem Kamm durch seine dichten, dunklen Haare. Dann löste er den Nierengurt und verstaute ihn zusammengerollt im Helm. Anschließend setzte er seine Sonnenbrille mit den kleinen, runden Gläsern auf und zog den Schlüssel ab, den er in seinem Rucksack verstaute.

    Alltägliche, automatisch ausgeführte Handlungen.

    Manchmal kam er sich vor wie ein Roboter, wie eine Maschine. Es erschreckte ihn zuweilen, mit welcher Widerstandslosigkeit er jeden Morgen aufstand, duschte, sich anzog, etwas aß, einen Kaffee trank, sich auf sein Motorrad setzte und hierher fuhr.

    Und am nächsten Tag wieder.

    Und wieder.

    Warum bog er unterwegs nicht einfach irgendwo ab? Warum nahm er nicht ein Buch (aus dem man wirklich etwas lernen konnte) und setzte sich in den Wald, anstatt in die Schule zu fahren? Tom kannte die Antwort.

    Weil ihm der Wald keine Noten gab, die er später brauchen würde und auf die er angewiesen war, denn er konnte sich keine weitere Ehrenrunde leisten.

    Gott, wie er diesen Gedanken hasste.

    Er seufzte und machte sich auf den Weg.

    Eigentlich hatte er an diesem Morgen allen Grund, auf sich stolz zu sein. Zum einen war ein weiteres Schuljahr an ihm vorübergegangen, ohne dass er auch nur einmal den Verstand verloren hätte, zum anderen hatte er es fertig gebracht, schon seit einigen Tagen sein Frühstück bei sich zu behalten. Wenn das keine Leistung war, die honoriert werden wollte! Er stand am Schultor und blinzelte in die Sonne, die sich in den Fenstern des abgrundtief hässlichen Gebäudes spiegelte. Tom fragte sich fast jeden Morgen, ob denn die Sonne nichts Besseres zu tun hatte, als ihr wärmendes Licht an einer solch widerwärtigen Institution wie einer Schule zu verschwenden. Er hasste die Schule mit einer Inbrunst, die ihn zeitweise selbst erschreckte. Nicht einmal Schroeder, dem Freund seiner Mutter, der sich vor kurzem erst bei ihnen eingenistet hatte, brachte er mehr Abscheu entgegen und Schroeder war in Toms Augen schon ein gewaltiges Ekelpaket.

    Das Seltsame war nur - er war sogar ein recht guter Schüler. Er saß zwar die meiste Zeit still da und ließ den Unterricht an sich vorübergehen (Mitarbeit ausreichend), bei den schriftlichen Arbeiten belegte er jedoch stets die vorderen Plätze. Ein Widerspruch, den selbst die Leerkörper nicht zu erklären wussten. Tom brachte immer gute Noten mit. Abgesehen von dem Jahr, in dem sich seine Eltern getrennt hatten und er zeitweise völlig den Boden unter den Füßen verloren hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er sitzen geblieben. Und das nur wegen ein paar lausigen Punkten, die man ihm nicht hatte geben wollen. Keine Erklärung hatte man gelten lassen, seine innere Zerrissenheit nach dem Verlust seines Vaters war der Bildungsmaschinerie völlig egal gewesen.

    Tom stellte fest, dass er überraschend gut gelaunt war, darum ging er über den Hof und betrat die Pausenhalle, was außerhalb der Pausen natürlich verboten war. In Innern des Gebäudes stellte er weiterhin fest, dass die Sonne doch nicht ganz so dumm war, wie er geglaubt hatte, denn sie behielt ihre Wärme draußen. In der Halle war es kalt wie in einer Gruft, und der scharfe Geruch eines Putzmittels lag in der Luft. Er nahm seinen halbleeren Rucksack von der Schulter, holte aus und ließ ihn quer durch die Halle rutschen. Er landete mit einem hohlen BOIIINGGG an einem Heizkörper unterhalb des einzigen Fensters. Tom folgte ihm gemächlich und versuchte, den Helm auf einem Finger zu balancieren. Am Fenster blieb er stehen und sah hinaus. Vor ihm breitete sich eine Rasenfläche aus, die zu betreten natürlich auch verboten war. Wäre ja auch ein Unding, Schülern zu erlauben, während der Pausen im Hochsommer eine Rasenfläche zu nutzen. Tststs - wo kämen wir denn dahin? Es gab einen Lehrer, der im Unterricht eine recht angenehme Stimme hatte, wenn er aber laut wurde, ähnelte sie entfernt dem Tröten eines jungen Elefanten. Der Rrrraaasen ist nicht frrrrei kreischte er manchmal durchs Fenster, wenn sich einige Kids auf dem Gras balgten. Dass sie es taten, um ihn plärren zu hören und sich anschließend über ihn kaputtzulachen, auf die Idee schien er noch nicht gekommen zu sein. Tom schüttelte verständnislos den Kopf, während er hinaussah und sich solche und ähnliche Begebenheiten ins Gedächtnis rief. Soviel Dummheit und Sturheit gehörte eigentlich noch mehr Anarchie gegenübergestellt, als Tom es jemals mit seinem provokanten Verhalten fertig zu bringen vermochte. Alle müssten sich gegen diese Mini-Diktatur zur Wehr setzen, die ganzen Schüler müssten sich irgendwann einmal geschlossen auf den Rasen setzen und diesem Lehrer Lämpel kreischen lassen, bis ihm der Kopf platzt. Tom bedauerte, dass dem nie so sein würde. Zuviel hängt in dieser Welt von guten Noten ab, vom Urteil der Lehrer, den Punkten, dem Betragen, dem Kopfnicken und Jasagen, dem Kuschen und der widerspruchslosen Hinnahme von sinnlosen Reglementierungen wie der Rasennutzung. Tom spürte wieder das vertraute, grummelnde Gefühl in der Magengegend. Hatte er sich doch zu früh gefreut, was das Frühstück anging? Während er sich darauf konzentrierte, sein Inneres daran zu hindern, sich umzudrehen, wurde er plötzlich von einem Vogel abgelenkt, der auf dem verbotenen Rasen landete. Es war eine dicke Amsel, die - alle Direktiven missachtend - sich auf dem Gras niederließ und nach Nahrung suchte. Es war ein Männchen, er erkannte es am schwarz glänzenden Gefieder und dem gelben Schnabel. Tom hielt die Luft an und beobachtete das Tier. Er beneidete den Vogel um seine grenzenlose Freiheit und um seine Gabe, jederzeit die Flügel auszubreiten und davonzufliegen an einen besseren Ort. In eine bessere Welt.

    Junger Mann, du weißt doch, dass die Pausenhalle gesperrt ist.

    Tom schloss die Augen hinter seinen dunklen Gläsern und erstarrte. Als er sie wieder öffnete, war die Amsel verschwunden. Dafür stand jemand hinter ihm und tippte auf seine Schulter. Tom roch das Parfüm. Ein schweres, teures Zeug. So roch nur Frau Doktor Kramer persönlich. Eine Religionslehrerin der härtesten Sorte.

    Ich rede mit dir, junger Mann.

    Amen, sagte Tom. Er starrte weiter auf den menschen- und vogelleeren Rasen.

    Dr. Kramer schnaufte schwer.

    Was soll das heißen?

    Na, wenn Sie nicht wissen, was Amen heißt, dann find ich das schlimm, entgegnete Tom.

    Würdest du jetzt bitte sofort auf den Hof gehen, sagte die Lehrerin wütend.

    Warum?

    Du weißt, warum.

    Nö.

    Weil…

    Tom drehte sich so ruckartig um, dass die Lehrerin einen Schritt zurücktrat. Er war gut einen halben Kopf größer als die Frau und sah in seiner schwarzen Motorradjacke, den verwaschenen Jeans und Stiefeln wirklich nicht aus wie ein Musterschüler, den die Dame bestimmt lieber vor sich gehabt hätte.

    Ich hab gerade einen Vogel beobachtet, sagte er. Und außerdem ist es draußen schon beschissen heiß.

    Es interessiert mich nicht, was du beobachtest, giftete sie. Tom zuckte die Achseln und drehte sich um.

    „Was fragen sie dann?"

    Also das ist doch wohl… Ihre restliche Empörung ging im Klingelzeichen unter.

    Tschüß, sagte Tom freundlich, winkte und ging davon. Er hörte noch, wie sie ihm etwas von Direktor nachrief, aber da war er schon auf der Treppe und mischte sich unter die anderen.

    Begegnungen wie diese waren es, die in ihm den Hass schürten. Wo um alles in der Welt war das Vergehen, wenn man sich bei Hitze oder Kälte in der Halle aufhielt, anstatt im Freien? Was war so schlimm daran, sich im Sommer auf die Wiese zu legen, anstatt sich auf dem harten Betonboden die Füße platt zu treten? Tom begriff es nicht und würde es auch nie begreifen. Dafür war er viel zu aufmüpfig geworden und dachte zuerst über den Sinn einer Regel nach, bevor er sich entschloss, ihr zu folgen oder nicht. Viel zu spät, so glaubte er, hatte er sich diese Lebensweise angeeignet. Er fühlte sogar schon so etwas wie Wehmut angesichts der verstrichenen Zeit, in der er immer der brave Thomas von Steinberg gewesen war, bis er dahinter gekommen war, dass auch er Rechte hatte und nicht nur Pflichten. Dass viele, wenn nicht sogar alle Vorschriften, die man speziell als Schüler um die Ohren geschmissen bekam, einfach sinnlos waren und nur dazu dienten, Ruhe und Ordnung zu erhalten und jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Wenn man genau darüber nachdachte, war jede Schule ein Pulverfass, das jederzeit hochgehen konnte, wenn jemand die Lunte zünden würde. Wenn er später darüber nachdenken würde, was eigentlich der Anlass gewesen war, der Auslöser von all dem, was ihm noch bevorstehen sollte, so würde er einen Jungen aus seiner Klasse anführen, einen Peter Sowieso, der Tom zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort unnötigerweise dumm angemacht hatte.

    Steinberg, du siehst echt aus wie schon mal gegessen.

    Peter Sowieso krähte die völlig sinnlose und überflüssige Bemerkung quer durchs Klassenzimmer und vierundzwanzig Augenpaare hefteten sich an Tom. Er drehte sich um und sah dem anderen ins grinsende Gesicht. Peter Sowieso war gegenüber Tom eine schulische Doppelnull, trug dafür aber Designerklamotten und kam sich aus unerfindlichen Gründen unwiderstehlich vor. Tom wusste nicht einmal seinen Nachnamen, so egal war er ihm. Und er hatte überhaupt keinen Grund, Tom anzumachen, die beiden wechselten während des Jahres keine drei Worte miteinander. Tom blieb stehen. Sowieso schlenderte auf ihn zu und blieb mit seinem Dauergrinsen unmittelbar vor Tom stehen. Er genoss ganz offensichtlich die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler.

    „Was willst du denn", fragte Tom gelangweilt.

    „Von dir, fragte Sowieso mit einem dummen Grinsen. „Gar nichts. Du nervst.

    „Ich seh’ da irgendwie keinen Zusammenhang."

    „Häh?"

    „Komm, hau ab und setz’ dich auf deinen Arsch, raunzte Tom. „Du bist mir doch viel zu blöd.

    Sowieso schlug Tom mit der flachen Hand auf die Brust.

    „Was hast du gesagt, du Wichser? Was?"

    Sie sahen sich in die Augen, dann hob Tom die rechte Hand, bildete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und hielt ihn vor das Gesicht seines Gegenübers.

    Weißt du, was das ist, fragte er mit unbewegter Miene.

    Häh?

    Das ist eine Null, also so was wie du. Sowieso gefror das Grinsen.

    Und weißt du, was das ist? Tom drehte die Hand blitzschnell und ließ den Zeigefinger vorschnellen. Er traf punktgenau Sowieso´s Nase und der schrie wütend auf.

    Du blöder Arsch!

    Er bekam Toms T-Shirt zu fassen, irgendwo riss eine Naht, und zog ihn zu sich heran. Jetzt war Tom an der Reihe zu grinsen.

    Schlag doch zu, sagte er freundlich. Na los. So richtig fest! Ich freu’ mich schon, dich zu verklagen!

    Peter Sowieso keuchte wütend. Aus den Augenwinkeln sah Tom, dass die anderen sie mittlerweile nicht mehr beachteten. Sie setzten sich und redeten miteinander, manche Mädchen schüttelten die Köpfe.

    Schlechtes Publikum, was, sagte Tom.

    Du bist doch nur ein blöder Punk, zischte Sowieso. An dir mach ich mir doch die Hände nicht dreckig.

    Hmm, was bist du doch für ein cooler Typ, frotzelte Tom und musste lachen.

    Sowieso presste die Lippen zusammen und gab Tom einen plötzlichen Stoß. Überrascht taumelte er rückwärts, versuchte sich zu halten und krachte dann in eine Tischgruppe. Leute schrien auf, als er mit dem Mobiliar zu Boden ging und eine Tischkante schlug schmerzhaft in seinen Rücken. In diesem Moment kam ihr Klassenlehrer ins Zimmer und als er das Durcheinander sah, wurde sein Blick finster. Tom rappelte sich auf und musste trotz dem Ärger lachen. Er kicherte albern und er schaute Sowieso nach, der sich auf seinen Platz trollte, als wäre nichts geschehen.

    Toms Lachen brach erst ab, als Dr. Benz sich vor ihm aufbaute und wissen wollte, was los sei.

    Fragen Sie doch ihn.

    Ich will es aber von dir wissen.

    Ach leck mich doch…, knurrte Tom kaum hörbar. Er begann, die Tische und Stühle wieder aufzustellen, als er grob an der Schulter gepackt und herumgerissen wurde.

    Was war das bitte?

    Tom sah zum Lehrer auf. Er starrte in dessen graue Augen wusste plötzlich, dass, egal was er sagen würde, er auf jeden Fall für die Rangelei verantwortlich gemacht werden würde. Toms Herz schlug zum Zerspringen laut und er schwitzte fürchterlich. Eine grenzenlose Wut, so groß, dass sie das Universum zum Bersten bringen könnte, erfüllte ihn. Er war ein Punk, ein Außenseiter, einer dem man nichts glaubte, egal ob er die Wahrheit sagte oder nicht.

    Ich habe gesagt, Sie können mich mal am Arsch lecken, sagte Tom und betonte jedes einzelne Wort. War der Raum noch vor einer Sekunde erfüllt gewesen vom Reden und Kichern der anderen, so herrschte von einer Sekunde zur anderen Totenstille. Alle starrten ihn an.

    Thomas, ich glaube, eben bist du zu weit gegangen, sagte Dr. Benz rau.

    Er ließ ihn stehen und ging zu seinem Pult, wo er das Klassenbuch aufschlug und einen Vermerk machte.

    Du meldest dich jetzt sofort beim Direktor. Ich hätte zwar nicht gedacht, dass ich noch in den letzten Tagen so durchgreifen muss, aber du lässt mir leider keine andere Wahl.

    Aber es war nicht meine Schuld, rief Tom zornig. Er hat mich dumm angemacht und in die Tische geschmissen.

    Das interessiert mich nicht.

    Das interessiert Sie nicht?

    Ganz recht. Du gehst jetzt sofort ins Büro aber vorher machst du hier noch Ordnung, verstanden?

    Aber…

    Halt den Mund!

    Tom hielt den Mund. Er blieb fassungslos mitten im Raum stehen, während Dr. Benz irgendetwas über die bevorstehende Berufswahl zu dozieren begann. In einem Jahr sei die Schule vorbei und wer sich schon für einen Beruf interessiere, solle die Hand heben und…

    Thomas, ich habe doch gesagt, du sollst das Chaos beseitigen, oder?

    Tom sah ihn nicht an. Er betrachtete seine Klassenkameraden. Alle saßen da und keiner würdigte ihn eines Blickes. So, als habe er tatsächlich Schuld an dem Durcheinander. Keiner gab ihm das Gefühl, nicht allein und eigentlich ja im Recht zu sein.

    Keiner.

    Was sollte er also noch hier.

    Hm, sagte Tom. „Dann räum ich mal eben hier auf."

    Er zuckte die Achseln und Dr. Benz sprach weiter über die Berufsberatung.

    Tom nahm einen Stuhl vom Boden auf, ging in den hinteren Teil des Klassenzimmers und öffnete ein Fenster. Der Schulhof lag menschenleer unter ihm und flimmerte in der Hitze des Vormittags.

    Er nahm den Stuhl und warf ihn hinaus.

    Eine halbe Sekunde später schlug er krachend auf und flog auseinander. Er nahm einen Zweiten und warf ihn hinterher. Dann stemmte er einen der Tische hoch und schmiss ihn in den Hof. Vier Stockwerke weiter unten verteilten sich Holz und Metall sehr dekorativ auf dem Asphalt. Gerade wollte er noch einen Stuhl folgen lassen, als er Dr. Benz schreien hörte.

    Bist du denn wahnsinnig geworden, du Idiot! Hör sofort damit auf!

    Tom schaffte es nicht mehr, das Möbelstück zu werfen, stattdessen landete es auf dem Fuß des Lehrers. Dr. Benz fluchte und keuchte gleichzeitig.

    Los jetzt, ich bring dich ins Büro und dann sorg ich dafür, dass du hier nie wieder jemanden terrorisieren wirst.

    Tom wand sich aus seinem Griff und ging zur Tür. Jetzt waren alle Augen ängstlich auf ihn gerichtet. Aber jetzt brauchte Tom ihre Aufmerksamkeit nicht mehr. Er sah seine Klassenkameraden an, grinste, dann nahm er den Feuerlöscher aus der Halterung und versprühte den Inhalt im Klassenzimmer. Ein einziges Kreischen aus vierundzwanzig Kehlen war die Antwort. Dumpfe Geräusche von stürzenden Körpern und umfallenden Möbeln vervollständigten das Durcheinander. Tom ließ den leeren Feuerlöscher fallen, schnappte seinen Rucksack und den Helm und verließ die Schaumparty. Schon nach dem ersten Treppenabsatz hörte er aufgeregte Stimmen von oben, die ihm folgten. Er griff sich einen zweiten Feuerlöscher und verteilte den Schaum hinter sich auf den Stufen. So schnell würden sie ihn nicht kriegen. Und was später sein würde, darüber machte er sich jetzt keine Gedanken. Ströme von Adrenalin jagten durch seinen Körper, während er die Treppe hinunterlief und ein Chaos hinter sich zurückließ. So muss es einem Junkie nach dem Schuss gehen, fuhr es ihm durch den Kopf. Sein Herz schlug heftig und Schweiß trat aus sämtlichen Poren seiner Haut. Er durchquerte die Pausenhalle mit langen Schritten und trat hinaus in die flirrende Hitze. Im Hof lagen die Reste der Möbel und der Hausmeister und einige Schüler standen darum und sprachen erregt miteinander. Er passierte die Gruppe ohne, dass sie ihn bemerkten und musste lachen.

    Festhalten!

    Jemand schrie hinter ihm und als Tom sich herumdrehte, sah er Dr. Benz und ein paar seiner Klassenkameraden aus der Tür treten.

    Halten Sie ihn fest, schrie der Lehrer und deutete auf Tom. Bis der Hausmeister begriffen hatte, dass Tom für die zerstörten Möbel verantwortlich war und reagierte, hatte er schon die Hauptstraße erreicht und gab Fersengeld. Tom war jünger und sportlicher als sein Verfolger und gewann somit in kürzester Zeit einen guten Vorsprung. Irgendwann jedoch verließ auch ihn der Atem und er versteckte sich hinter einer Batterie Mülltonnen, um zu verschnaufen. Der Schmerz in seiner Seite brachte ihn schließlich in die Realität zurück. Er fing an zu begreifen, was er eigentlich getan hatte. Er hatte sich nicht nur selbst von der Schule geworfen, seinen Abschluss im nächsten Jahr verzockt, sondern sich auch noch einer strafbaren Handlung schuldig gemacht, in dem er Sachbeschädigung an öffentlichem Eigentum begangen hatte. Es war alles megascheiße gelaufen.

    Blut schoss in seinen Kopf und ihm wurde schwindlig. Er fuhr sich durchs schweißnasse Haar.

    Hinter den Mülltonnen stank es erbärmlich, aber er merkte es nicht. Seine Sinne waren nicht empfänglich dafür, alles in seinem Kopf drehte sich um die letzte Stunde. Er beschloss, dass es besser wäre, sich zu stellen. Ohne Zweifel hatte die Schule längst die Polizei verständigt und die würde natürlich nach ihm suchen.

    Tom hatte Angst. Seine Welt war von einer Minute zur anderen völlig aus den Fugen geraten und er wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Nach Hause. Er würde zuerst nach Hause gehen und seine Mutter um Rat fragen. Er hoffte, dass Schroeder nicht da sein würde, dieser Schleimbeutel. Der wäre fähig, ihn auszuliefern, ohne ihn auch nur einmal angehört zu haben. Er atmete tief durch - er inhalierte dabei eine grauenhafte Mischung aus Fäulnisgestank und Alkohol - und lugte hinter der Mauer hervor, die die Mülltonnen vom Gehweg trennte. Die Straße lag leer vor ihm. Er trat hinaus und bemühte sich, einen möglichst unauffälligen Eindruck zu machen, fuhr aber bei jedem Geräusch zusammen. Auf Umwegen ging er zurück zum Parkplatz und fuhr davon. Als ihm unterwegs tatsächlich die Polizei entgegenkam, wurde es Tom gar nicht besser.

    Die Reihenhaussiedlung, in der er mit seiner Mutter wohnte, lag friedlich in der Sonne. Tom näherte sich seinem Zuhause wie ein Verbrecher, er fuhr langsam und sah sich immer wieder nervös um. Polizei schien nicht in der Nähe zu sein, aber das könnte sich schneller ändern als ihm lieb war. Er stoppte sein Motorrad auf dem schmalen Fußweg zur Haustür, als sein Blick auf Schroeders BMW fiel, der in der Einfahrt stand. Die Garage war offen, der Polo seiner Mutter fehlte. Tom biss wütend die Zähne zusammen. Musste denn heute alles schief gehen? Er hatte keine Wahl und so schloss er auf.

    Freudiges Gebell und das Trappeln von vier Pfoten schlugen ihm entgegen. Chester kam die Treppe herabgeflogen, sprang an ihm hoch und verteilte mächtig nasse Küsse. Tom schob den dreißig Kilo schweren Schäferhund in die Diele und schloss die Tür.

    Okay, Dicker, sagte er. Herrchen hat Mist gebaut und ich glaube im Moment bist du mein einziger Freund hier, wie?

    Chester legte den Kopf schief und jaulte leise. Es war manchmal fast unheimlich, wie der Hund Toms Gemütsverfassung zu deuten wusste. Er roch, dass sein Herr Angst hatte. Obwohl jeder gerochen hätte, dass etwas nicht stimmte, denn Tom stank wie ein nasser Fuchs. Sein T-Shirt klebte an ihm und seine Haare waren schweißgetränkt. Er fröstelte in der Kühle des Hauses. In der Küche wurde der Kühlschrank geöffnet und wieder geschlossen.

    Sabine?

    Ich bin's, sagte Tom. Er vermied es, mit Schroeder zu sprechen, wann immer es ging. Es kam selten vor, dass Tom Menschen einfach nicht mochte, aber diese pathologische Abneigung gegen Schroeder war kaum mehr zu toppen. Und ausgerechnet diesen einen von über zwanzig Kollegen aus der Bank hatte sich seine Mutter ausgeguckt. Tom war überzeugt, dass sie an diesem Tag etwas Schlechtes geraucht haben musste. Schroeder war gewöhnlich, unattraktiv und todlangweilig. Außerdem war die Antipathie gegenseitig. Er hielt Tom für faul, verzogen und unhöflich. Zwei gleiche Pole eines Magneten könnten sich nicht stärker abstoßen. Tom akzeptierte Schroeders Anwesenheit zähneknirschend, weil er seiner Mutter nicht wehtun wollte. Wenn sie mit ihm glücklich war, sollte sie es. Sie wusste aber auch, dass Tom ihn nie akzeptieren würde, nicht als Freund und schon gar nicht als etwaigen Stiefvater. Niemand würde ihm seinen Vater ersetzen können. Er kickte die Stiefel von den Füßen und zog seine ausgelatschten Lieblingsturnschuhe an.

    Was machst du denn schon hier? Ist keine Schule mehr? Ach so, letzter Schultag, stimmt ja.

    Er kam aus der Küche und hielt Tom eine offene Dose Bier entgegen.

    Willst du?

    Ich kann mir selbst eins nehmen. Er ließ ihn stehen und ging an den Kühlschrank. Er trank sonst wenig Bier, aber dieses tat so gut wie schon lange nicht mehr. Er hatte gar nicht gewusst, wie durstig er gewesen war. Er sah aus dem Fenster. Nichts.

    Komisch, sagte Schroeder. Nach dem Kalender hättest du heute noch Schule. Wann ist denn nun euer letzter Tag?

    Morgen.

    Tom warf die Dose in den Eimer und knackte eine Neue.

    Du schwänzt?

    Und wenn? Geht dich das was an?

    Allerdings. Bist du nicht schon einmal sitzen geblieben? Deine Mutter…

    Genau Mann, sagte Tom kalt. Wenn das jemanden was angeht, dann meine Mutter, aber nicht dich. Verstanden? Und jetzt sabbel mich nicht voll.

    Er schob Schroeder zur Seite und trat in die Diele, wo Chester schwanzwedelnd wartete. Als er Schroeder sah, knurrte er leise. Tom nahm seinen Rucksack und ging nach oben.

    Es kommen andere Zeiten, mein Junge, hörte er Schroeder auf halbem Weg plötzlich sagen. Tom blieb stehen. Von oben herab sah er in kalte blaue Augen.

    Ach ja? Welche denn?

    Nun, sagte der Bänker. Zum Beispiel ziehe ich demnächst hier ein. Jetzt bist du platt, was? Er grinste übers feiste Gesicht und weidete sich an Toms Fassungslosigkeit.

    Was… wann…

    Demnächst. Hör gefälligst zu, wenn ich mit dir rede! Tom überhörte den Befehlston. Er war sicher, dass das gelogen war. Nie und nimmer würde seine Mutter es zulassen, dass hier jemand anderes lebte und womöglich ihm sagen würde, was er zu tun und zu lassen hatte. Chester knurrte wieder.

    Und zuerst kommt dann der Köter weg!

    Das brachte Tom wieder in die Realität zurück. Eine maßlose Wut überkam ihn. Sie schnürte seine Brust zusammen, sein Atem ging schwer und er spürte, wie das Blut in seinen Kopf schoss. Mit einem Satz sprang er die Treppe hinab.

    Wage es nicht, zischte er. Versuch nicht, meinen Hund anzufassen. Hast du das verstanden?

    Das werden wir sehen.

    Schroeder drehte sich mit einem kalten Grinsen um und ging ins Wohnzimmer. Tom folgte ihm mit butterweichen Knien.

    An deiner Stelle würde ich nicht mal daran denken, Chester anzufassen, du Mistkerl. Er gehört mir.

    Schroeder saß lässig in einem Sessel und musterte Tom schweigend.

    Weißt du, was ich glaube, mein Junge?

    Ich bin nicht dein Junge!

    Ich glaube, deine Mutter ist mit dir völlig überfordert. Ihr braucht beide Hilfe.

    Lass meine Mutter zufrieden! Tom war, als müsste er jeden Moment explodieren.

    Und dein Vater ist ein Versager. Ich brauch mir bloß dich anzusehen.

    Mit einem Schrei stürzte Tom auf Schroeder und zerrte ihn aus dem Sessel.

    DU DRECKSTÜCK!!!

    Er zog ihn hoch und warf ihn über das Sofa. Schroeder wog viel mehr als Tom, aber die unmenschliche Wut verlieh ihm ungeheure Kräfte. Tom holte aus und trat nach ihm. Vom Tisch nahm er die Fernbedienung des Fernsehers, warf und das Gerät traf Schroeder am Kopf und zersplitterte. Der Mann konnte sein Gesicht in letzter Sekunde verdecken und schrie vor Angst und Schmerz auf.

    DU WILLST MIR BEFEHLE GEBEN, schrie Tom. DU WILLST MIR MEINEN HUND WEGNEHMEN? WER BIST DU ÜBERHAUPT???

    Das Entsetzen in Schroeders Gesicht über diesen unerwarteten

    Wutausbruch war echt. Tom weidete sich daran. Seine Pumpe lief auf Hochtouren und sein T-Shirt war nur noch ein nasser Lappen. Für einen Moment glaubte er, durchzudrehen.

    Warum will mir eigentlich jeder sagen, was ich zu tun habe, keuchte er. BLEIB GEFÄLLIGST AUF DEINEM ARSCH SITZEN, DU MISTBOCK!

    Schroeder ließ sich in das Sofa fallen, von dem er hatte aufstehen wollen. Chester bellte und knurrte gleichzeitig.

    Bleib, wo du bist, Schroeder, oder ich bring dich um, zischte er. In seine grenzenlose Wut mischte sich Verzweiflung. Eine gefährliche Paarung.

    Du bist ja vollkommen verrückt, sagte Schroeder mit zittriger Stimme. Tom schnaubte.

    Klar bin ich verrückt. Mein Vater ist verrückt, weil er uns verlassen hat, meine Mutter ist verrückt, weil sie sich mit so einem Flachwichser wie dir abgibt und ich bin der Sohn dieser zwei Verrückten.

    Schroeder stand auf.

    Hör zu, Tom, es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe. Ich…

    HALT’S MAUL!!!

    Tom kam wie ein Unwetter über ihn. Er packte ihn am Kragen, doch diesmal war Schroeder nicht unvorbereitet und griff seinerseits nach Toms Hemd. Beide rangen sie keuchend miteinander, irgendwo zerriss Stoff und plötzlich kam Schroeder ins Straucheln, stolperte und fiel hin. Mit einem grausamen dumpfen Geräusch schlug sein Kopf gegen den Kamin und er ging wie ein nasser Sack zu Boden.

    Dann war es sehr still im Wohnzimmer. Nur Chesters leises Winseln und Toms schwerer Atem waren zu hören. Tom starrte entsetzt auf Schroeder, der am Boden lag und sich nicht rührte. Er zitterte, er fror und schwitzte gleichzeitig. Er war überzeugt, dass er jeden Moment in Ohnmacht fallen würde. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er sich aus seiner Erstarrung löste und auf den Mann zugehen konnte. Er rührte sich nicht. Es schien als würde er schlafen und fast wäre Tom bereit gewesen, das zu akzeptieren, als sein Blick auf das Blut fiel, das unter Schroeders linker Gesichtshälfte hervorlief und den Granitsockel des Kamins grausam verzierte. Der Entsetzensschrei blieb Tom im Hals stecken. Alles um ihn herum begann sich zu drehen, er kauerte sich in einen Sessel und seine schweißnassen Hände hinterließen Flecken auf dem Polster.

    Das wollte ich nicht, flüsterte er. Niemand war da, der ihn anhörte. Chester kam winselnd zu ihm und leckte seine Hand.

    Ich wollte es nicht. Ich wollte ihn nicht um…

    Tom rannte in die Küche und kotzte in den Ausguss.

    Es schien eine Ewigkeit, bis er wieder klare Gedanken fassen konnte. Soweit man das so nennen kann, in dem Bewusstsein, jemandem das Leben genommen zu haben. Die logischste Handlung wäre gewesen, die Polizei zu rufen. Tom tat es nicht. Der Zorn kam wieder in ihm hoch, ergriff von ihm Besitz. Zorn auf die Schule, in der er falschen Beschuldigungen ausgesetzt gewesen war. Okay, er hatte die Möbel aus dem Fenster geschmissen, aber niemanden interessierte es, weshalb. Zorn auf Schroeder und seine Gehässigkeiten. Eines war ihm klar - das Bild stand eindeutig vor seinem inneren Auge - er würde sich der Polizei gegenüber den Mund in Fetzen reden, glauben würde ihm niemand. Niemand würde fragen, weshalb er den Freund seiner Mutter getötet hatte. Es würde unweigerlich zur Sprache kommen, dass er und Schroeder sich nicht verstanden hatten. Ob Schroeder ihn provoziert hatte, ob er seinen Vater beleidigt hatte - wer würde sich darum scheren?

    Dad!

    Tom wischte sich Rotz und Tränen aus dem klebrigen Gesicht und griff zum Telefon. Die Nummer kannte er auswendig, er

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