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Endmoräne: Erinnerungen an eine Heimat 1938-1949
Endmoräne: Erinnerungen an eine Heimat 1938-1949
Endmoräne: Erinnerungen an eine Heimat 1938-1949
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Endmoräne: Erinnerungen an eine Heimat 1938-1949

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About this ebook

Türkheim, ein mittelgroßer Marktflecken im bayerischen Schwaben, ist das Handlungszentrum dieser autobiographischen Darstellung. Der Autor, Hubert Eichheim, ist dort geboren und hat den zweiten Weltkrieg mit wachem Auge erlebt: seine Familie, die Nachbarn, die Mitschüler, die Kapuziner und die Fremden, die innerhalb von 10 Jahren dem ländlichen Ort einen völlig neuen Charakter verliehen haben. Dazu gehören auch die französischen und russischen Kriegsgefangenen, die Zwangsarbeiter und die Juden im Konzentrationslager, um das die Kinder herumgeschlichen sind. Seine Beschreibung der Lebensformen dieser Epoche lässt etwas lebendig werden, was in historischen Darstellungen meist ausgelassen wird. Wie haben die Bürger die Zeiten des Nationalsozialismus und des Krieges erlebt, wie war deren Alltag, was waren die Folgen für die ländliche Gemeinde und deren Bewohner?
LanguageDeutsch
Release dateJun 25, 2015
ISBN9783738695946
Endmoräne: Erinnerungen an eine Heimat 1938-1949
Author

Hubert Eichheim

Hubert Maximilian Eichheim Geboren am 11.9.1934 in Türkheim, bayerisches Schwaben. 1953 Abitur am humanistischen Gymnasium in Kaufbeuren; Studium der Germanistik und Anglistik in München und Newcastle/UK mit beiden Staatsexamen für das Lehramt, sowie Schauspielschule mit Bühnenreifeprüfung; Engagements an mehreren Theatern, ab 1959 Studienreferendar, Gymnasiallehrer am Dürer Gymnasium in Nürnberg 1967 Übertritt in das Goethe-Institut als Dozent; Stationen Kairo, Tripoli (Libanon), Peking/Shanghai, Paris, Athen. Von 1989 bis 1995 Leiter der Abteilung Forschung und Entwicklung an der Zentralverwaltung des Goethe-Instituts in München, Lehrauftrag an der LMU Seit 1965 verheiratet mit Panayota (Pitsa) Eichheim, geb. Kourbeti, kinderlos Lebt seit 1998 überwiegend in Griechenland; Mitglied im Vorstand des Deutsch-griechischen Vereins Philadelphia (gegr. 1837) Publikationen: zahlreiche Fachpublikationen zu Deutsch als Fremdsprache und zur Auswärtigen Kulturpolitik, regelmäßige Mitarbeit an der in Athen erscheinenden deutschsprachigen Griechenlandzeitung, Verfasser der Broschüre Griechenland , bei C.H. Beck 1999, Originalgriechische Küche im Seehamer Verlag, 2003

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    Book preview

    Endmoräne - Hubert Eichheim

    machte.

    KAPITEL 1


    Wege nach Türkheim

    Der Schneider Michel verlässt die Stauden

    Die Herkunft des Großvaters - die Braut als Mitgift -

    Abschied vom Bauernhof - Austrag in Türkheim

    Gleich unterhalb von Türkheim erhebt sich eine dreieckige Hügellandschaft, wie mit einer riesigen Planierraupe als lästiges Geröll aus dem übrigen Gelände geschoben, mit dem Ergebnis, dass letzteres eine makellos flache und meist waldlose Ebene ergibt, die sich im Süden bis Bad Wörishofen, im Osten bis Buchloe und im Westen bis Rammingen, Matsies und Tussenhausen erstreckt, lediglich von zwei oder drei Flussläufen durchzogen, die vom Wasserwirtschaftsamt zu linearer Disziplin gezwungen wurden. Für die Bewohner dieses Flachlandes Ursache für ein bleibendes Gefühl der Minderwertigkeit angesichts des imposanten Alpenpanoramas, das an klaren Tagen den Horizont begrenzt. Ein Gletscher war vor Tausenden von Jahren da stehen geblieben und hatte eine sogenannte Endmoräne vor sich liegen lassen. Die hügelige Landschaft dahinter im Norden des Marktfleckens trägt den Namen „Stauden, die sich 40km weit fast bis nach Augsburg hinzieht, wo man sie heute werbewirksam „Naturpark Augsburg - westliche Wälder nennt. Der Interessenverbund „Stauden hat sich die folgende wissenschaftliche Beschreibung formulieren lassen: „Erdgeschichtlich sind die Stauden das Hochplateau einer eiszeitlichen Schotterdecke mit einem eigenen (autochthonen) Gewässernetz. Die Staudenplatte stammt aus den alten Eiszeiten im frühen Quartär, als die Fläche zwischen Alpen und Jura eine weitgehend geschlossene Ebene war. Die Schmelzwasserströme der jüngeren Eiszeiten (Günz, Mindel usw.) schnitten die Staudenplatte aus der geschlossenen Ebene heraus. ² Heute verzeichnet diese Landschaft nicht weniger als 68 amtlich notierte Biotope. Damit ist sie ein Paradiesgarten für nach Frischluft gierende alternativ orientierte Mitmenschen. Die Augsburger unternehmen an warmen Sommertagen Ausflüge mit dem Fahrrad, bis ihnen ein Wirtshaus die Weiterfahrt erschwert. Bisweilen verbringen Menschen aus dem Norden des Landes ihren gesamten Urlaub in den Stauden, auch wenn die auf den Prospekten abgebildeten Allgäuer Alpen noch 80km entfernt sind.

    Die Unversehrtheit dieser Gegend mag im 21. Jahrhundert ein großer Segen sein. Vor 140 Jahren jedoch bedeutete dies für die Bewohner ein nur spärliches Auskommen. Land- und Waldwirtschaft brachten nicht viel ein, zumal der Landbesitz sich auf nur wenige Tagwerk (1Hektar = 2,935 Tagwerk) pro Kleinbauern erstreckte. Weder Handwerk noch Industrie konnten sich dort entwickeln. Lediglich eine Bahnlinie durchzog die Stauden von Türkheim nach Gessertshausen und weiter nach Augsburg, das Staudenbähnle, das überwiegend dazu diente, die Bauern und Kleinhäusler zum Rentamt und Amtsgericht in Türkheim oder nach Augsburg und zurück zu befördern. Angesichts der geringen Wirtschaftskraft war es kein Wunder, dass sich die jungen Leute, soweit sie nicht den Hof erbten, auf den Weg machten, um anderswo ein Auskommen zu finden.

    Was den Michael Schneider, unseren Großvater von Mutters Seite, wirklich dazu bewog, das Staudendorf Grimoldsried, wo er am 22. September 1864 geboren wurde, zu verlassen, ist nicht mehr auszumachen. Ich schließe nicht aus, dass der „Söldnersohn und Dienstknecht", wie er in der Lindenberger Dorfchronik des Josef Weißenhorn ³ bezeichnet wird, sich seines dürftigen Erbgutes entäußert hat, um mit dem Erlös am Rande des von der Milchwirtschaft geprägten Allgäus günstigere Wirtschaftsbedingungen sich nutzbar zu machen. Er war, wie aus dem Werktags-Schul-Entlassungs-Schein des Jahres 1877 hervorgeht, ein guter bis sehr guter Schüler gewesen, der lediglich im Sittlichen Betragen die weniger gute Note „lobenswert" erhielt.

    Es könnte auch ein Heiratsvermittler eingeschaltet gewesen sein, der den stämmigen und geschickten Bauernburschen mit der zierlichen Franziska Blon in Lindenberg bei Buchloe zusammen brachte. Diese war 1866 als Tochter des Schreinermeisters Josef Blon und seiner Frau Thekla auf die Welt gekommen. Ersterer war früh gestorben und hatte eine noch junge Frau mit ihrer kleinen Tochter Franziska hinterlassen. Diese schloss dann mit einem Kollmann Baur aus Zaisertshofen eine zweite Ehe, der dafür in den Besitz des Anwesens kam und die kleine Franziska als Dreingabe hinnahm. Da der Kollmann und die Thekla mit keinen weiteren Kindern gesegnet waren, wurde auf diese Weise das Stiefkind Franziska zu einer attraktiven Partie für den Michael Schneider, der damals schon als Viehhändler zunehmend eine rührige Rolle in der Bauerngesellschaft der um Buchloe liegenden Dörfer zu spielen begonnen hatte.

    Im Frühjahr 1887 fand die Hochzeit statt, bei der „Heimath- und Bürgerrechtsgebühren in Höhe von 30 Mark an die Gemeinde Lindenberg fällig wurden, was damals einen nicht geringen Betrag darstellte. Den konnte er sich offensichtlich bereits leisten, da er neben dem Viehhandel auch mit Grundstücken zu handeln begonnen hatte. Vom „Handwerk des Güterschlächters spricht der missgünstige Chronist, weil der Schneider Michel vom Zeitpunkt seiner Einbürgerung an nicht nur seinen Grund- und Hausbesitz um einen größeren Getreidestadel erweitern konnte, sondern bei der „Zertrümmerung des Wirtsgutes im Jahre 1910 von dem damaligen Judenhändler Einstein, für Beihilfe den gegenüberliegenden Gras- und Obstgarten (genannt Lehrergarten), fast ganz als Schmus erhalten hat. Von dem übel wollenden Dorfchronisten ist auch zu erfahren, dass das Anwesen Nr.50 der Großeltern den Hausnamen „beim Bonifaz trug. 1819 hatte es der Schreinermeister Bonifazius Blon für 300 fl. erworben. Es ist nicht mehr ersichtlich, woher dieser Bonifazius Blon kam. Nach Aussagen unserer Mutter war er der Nachkomme eines französischen Arztes namens de Blon. Aus der Chronik aber geht hervor, dass die angeblich adelige Herkunft des Großvaters unserer Großmutter das Produkt der lebhaften Phantasie dieses Mannes gewesen sein muss. Dafür spricht auch, dass dieser nicht im Lindenberger Sterberegister aufgeführt ist. Im Zuchthaus soll er gestorben sein. „Wie jetzt klar liegt, haben die Kinder eines späteren Besitzers und Verwandten, Schneider Michael von ihrem Urgroßvater etwas geerbt." ⁴ schließt Josef Weißenhorn seinen Eintrag zu unserer Großmutter Herkunft.

    Die Familie Schneider um 1910 (vorne von l. nach r.: Maria, Franziska, Mutter Franziska, Hermann, Lori, hintere Reihe: Resi, Vater Michael, Engelbert, Remig)

    Über Geschwister und andere Verwandte des Großvaters haben wir nie viel erfahren. Bis zu dessen Tod 1941 wohnten im oberen Stockwerk unseres Hauses in der Wörishoferstraße in Türkheim die Eltern des Vetters Kraus, deren weiblicher Teil wohl eine Kusine des Großvaters war. Zu Grimoldsried, dem Staudendorf und Geburtsort unseres Großvaters, bestand auch später noch eine lose Verbindung. Von Zeit zu Zeit erschien eine etwas linkische Nichte des Großvaters, die Hannebäs, in Türkheim zu Besuch. Umgekehrt fuhren auch wir mit der Staudenbahn mehrmals nach Mittelneufnach, um dann noch eine Stunde bis Grimoldsried zu laufen, was mühsam war, wofür man aber mit einer reichlichen Brotzeit bei der Bäs entlohnt wurde. Die dabei geführten Gespräche dienten überwiegend dazu, sich gegenseitig auf den neuesten Wissensstand in Familienangelegenheiten zu bringen. Am Ende solcher Besuche steckte die Bäs der Mutter jeweils ein Stück Geräuchertes oder einen halben Laib selber gebackenes Bauernbrot in die Tasche, was vor allem in der Nachkriegszeit mit wiederholtem „Des hätt´s doch it braucht!" (Das wäre doch nicht nötig gewesen!) erwidert wurde.

    Den Großvater habe ich nur als einen etwas mürrischen dickhalsigen Mann auf der Ottomane oder in dem grau gesprenkelten Ohrensessel in der Stube in Erinnerung. „Manchmal ein etwas herber Weggenosse" charakterisierte ihn der Pfarrer (K.) Hengge von Lindenberg in einem Brief an unsere Mutter. Mit uns Kindern konnte er wenig anfangen, wohl weil er Ende der dreißiger Jahre gesundheitlich schon nicht mehr ganz auf der Höhe war. Wir suchten ihm deshalb möglichst aus dem Weg zu gehen, was dadurch erleichtert wurde, dass wir im 5 km entfernten Ettringen wohnten und die Mutter ungern mit den beiden minderjährigen Kindern die lästige Bahnreise nach Türkheim unternahm, zumal sowohl in Ettringen als auch in Türkheim der jeweilige Bahnhof in erheblichem Abstand zu unserem bzw. zum Haus der Großeltern lag. Das chronische Venenleiden der Mutter gab eine zusätzliche Begründung für das Unterlassen dieser Mühen ab.

    Der Michael Schneider war in seinen guten Zeiten offensichtlich ein selbstbewusster, wenn nicht dominanter Mann gewesen, der das landwirtschaftliche Anwesen in Lindenberg mit Fleiß und Geschick führte. Er wusste sein Sach´ zusammen zu halten, trieb Viehhandel und war aktives Mitglied in der Allgäuer Herdebuchgesellschaft. Seinen Aktivitäten kam zugute, dass sich das Kirchdorf Lindenberg nur wenige Kilometer von dem Bahnknotenpunkt Buchloe entfernt befindet, auf dem sich die Zugverbindungen Augsburg - Kaufbeuren - Kempten -Oberstdorf und München - Memmingen - Lindau - Zürich überschneiden. So pflegte er Beziehungen in viele Richtungen und genoss ein beträchtliches Ansehen nicht nur in seinem Dorf.

    Das brachte ihn in die Lage, unsere Mutter in der Molkerei Ebner in der Kazmeierstraße im Münchner Westend als Lehrmädchen und später als Verkäuferin in der Victoria Molkerei in der Herzogstraße unterzubringen. Täglich machte er sich am späten Nachmittag auf den Weg nach Buchloe, wo er im Gasthaus zum Hirsch seinen Dämmerschoppen mit Brotzeit einnahm. Nach Aussagen unserer Mutter bestand der „Schoppen" in der Regel aus mehreren Maß Bier. Man muss zu seiner Entschuldigung vorbringen, dass das Bier in der damaligen Zeit weniger Alkohol dafür umso mehr Kalorien enthielt als heute, wie anlässlich der Heiligsprechung des Bruder Konrad von Parzham dem Advocatus Diaboli entgegengehalten wurde, der den Bierkonsum des Kandidaten als für einen Heiligen nicht angemessen vorbrachte.

    Anzeige im Buchloer Lokalblatt von 1926

    Darüber hinaus war der Schneider Michel wohl ein guter und witziger Unterhalter. Von ihm stammt der oft zitierte Ausspruch, mit dem er die Weihnachtsdepression charakterisierte „Dia hura heiliga Däg (Die verdammten heiligen Tage). Einmal im Jahr machte er sich mit der ganzen Familie auf den Weg zu einer Wallfahrt zum Kloster Andechs, das knappe 20 km von Lindenberg entfernt liegt. Außerdem suchte er auch mehrmals den Pfarrer Kneipp in Wörishofen auf, weniger wegen geistlichen Beistands als zur therapeutischen Behandlung seiner Zipperlein. Mit Sicherheit wurde er dort nicht zur Vorlage für die Satiren der angesehenen englischen Schriftstellerin Katherine Mansfield, die 1909 ein halbes Jahr dort im Hotel Kreuzer verbrachte und ihre Beobachtungen in dem kleinen Bändchen „In a German Pension niederschrieb. Eher entsprachen meine anderen Großeltern, der Justizrat Eichheim mit seiner Familie, den hier skizzierten bayerischen Sommerfrischlern, eine Mutmaßung, die diese mit Entschiedenheit zurückgewiesen hätten.

    Seine Mobilität aber auch sein wirtschaftliches Geschick bewies der Michael Schneider erneut 1926, also 2 Jahre nach der katastrophalen Inflation, als er, nachdem keines der Kinder den Hof übernehmen wollte, sich kurzerhand entschloss, den Bauernhof mit 30 Tagwerk Grund „mittlerer Bonitätsklasse für dreißigtausend Mark an den Landtagsabgeordneten Scheifele zu verkaufen und Vieh und Maschinen versteigern ließ. Ein Zuchtstier, elf Kühe („teils trächtig, teils frischmelkend), drei Zugpferde kamen unter den Hammer, wie aus einer Zeitungsanzeige ⁵ hervorging. Mit dem Geld kaufte er sich „ein Privathaus in Türkheim, übersiedelte mit Familie dorthin und macht dort großen Herrn." wie Josef Weißenhorn eifersüchtig nachlegt.

    Im Zuge der Auflösung des Landtages durch die Nationalsozialisten verlor der Käufer des Anwesens in Lindenberg, der Abgeordnete der bayerischen Bauernbund- und Mittelstandspartei, der Ökonomierat Scheifele später sein regelmäßiges Einkommen und beantragte ein Entschuldungsverfahren beim Landgericht Memmingen. Dafür musste nun unser Großvater, der Michael Schneider, herhalten. Er wurde 1937 dazu verurteilt, von der verbleibenden Hypothekenschuld einen Nachlass von sechs- bis siebentausend Mark zu gewähren, da laut Gericht die Verkaufssumme ohnehin zu hoch gewesen sei. Das Gesetz zur Entschuldung von landwirtschaftlichen Betrieben vom Juni 1933 war einer der Gründe für den Erfolg des Hitlerregimes bei den Bauern. Dass unser Großvater diesem Reformwerk seinen Tribut zahlen musste, hat bei diesem selbstsicheren Mann sicher nicht zu einer allzu positiven Einstellung dem Regime gegenüber geführt. Doch das ist reine Mutmaßung. Niemand hat sich je über die Ansichten dieses Großvaters geäußert. So oder so hätte ihm niemand zu widersprechen gewagt. Also hatte seine Meinung innerhalb der Familie auch keine Bedeutung.

    Die Schneider Geschwister

    Theresia - Engelbert - Maria - Eleonore - Remigius - Hermann - Franziska

    Aus der Ehe der Schneider Großeltern gingen sieben Kinder hervor, die zwischen 1890 und 1910 geboren wurden. Vier Mädchen und drei Buben. Es müssen ursprünglich mehr gewesen sein, da einige wie früher üblich die ersten Monate oder gar das Kindbett nicht überlebten. Dafür erhielt die Großmutter später von der Naziregierung das Goldene Mutterkreuz, das noch viele Jahre die Schublade eines Nachtkästchens in meinem Elternhaus bevölkerte.

    Die Schneider Kinder hatten neben dem Familiennamen nur zwei Gemeinsamkeiten: Sie wuchsen im selben Haus auf und besuchten die einklassige Volksschule in Lindenberg. Ansonsten entwickelte sich jeder auf seine Weise. Selbst über die sprichwörtliche Schneider Gosch verfügten nur drei von ihnen. Während die Mädchen immerhin im Stall und bei der Ernte kräftig zulangen mussten, zogen die jungen Männer es vor, mit ihren Musikinstrumenten von Kirchweihfest zu Kirchweihfest durch die umliegenden Dörfer zu ziehen. Keiner von ihnen wollte die Landwirtschaft der Eltern übernehmen. Auch den angeheirateten Männern der Töchter traute der Schneider Michel nicht zu, den Bauernhof in seinem Sinne zu bewirtschaften. Das führte 1926 zum Beschluss, den Hof mit allem Drum und Dran zu verkaufen.

    Theresia

    Resi, die etwas linkische Älteste hatte oft den Spott der anderen der Geschwister zu ertragen. Mit ihrem Mann, dem Schreinermeister Xaver Beck zog sie nach Unterrammingen, wo sie eine Schreinerwerkstätte erwarben und im Vorderhaus einen so genannten Kolonialwarenladen eröffneten. Unsere Mutter begleitete sie und ging sogar ein Jahr lang in Unterrammingen in die Schule. Als die Schreinerei samt Laden während der Wirtschaftskrise in Schwierigkeiten geriet (auf die Gant kam, wie man damals sagte), sprang der Großvater ein. Aus dieser Ehe gingen zwei Töchter und ein Sohn hervor. Den Sohn Engelbert zog es zum Militär, wie auch die Männer der beiden Töchter Fanny und Hanni, Voraussetzung für das große Unglück, das diese Familie später ereilte.

    Engelbert

    Der älteste Schneidersohn überstand den ersten Weltkrieg unbeschadet in einem Musikcorps, erwarb danach ein Diplom als Elektroingenieur im Flugzeugbau, was ihm später erlaubte, als Berufsschullehrer zu arbeiten. Um seinen gesellschaftlichen Aufstieg sichtbar zu machen, vertauschte er seine schwäbische mit der angeseheneren oberbayerischen Mundart. Selbst an den von ihm aufgesuchten Stammtischen in Türkheim und in Bad Wörishofen vermied er peinlichst, als Einheimischer erkannt zu werden. Er war schon überständig, als er die Tochter des Ochsenwirts, die Berta Natterer im Jahr 1938 ehelichte, die von einer misslungenen Auswanderung in die USA nach Türkheim zurückgekehrt war und dort nicht nur über einen schönen Obstgarten mit einem alten Barockhäuschen in der Oberjägerstraße verfügen konnte, sondern als amerikanisches Mitbringsel ein „si statt „ja im Munde führte, was auf den überwiegenden Umgang mit Latinos in den USA schließen lässt.

    Maria

    Letztere war das Aschenputtel der Geschwister Schneider. Entsprechend kam sie als einzige nie von Lindenberg weg. Gleich nach der Schule musste sie auf dem elterlichen Hof den Knecht ersetzen. Früh um drei Uhr beförderte sie jeden Tag von dem 3km entfernten Holzhausen mit einem Fuhrwerk die dort gemelkte Milch nach Buchloe, von wo sie in den Morgenzug nach München verladen wurde. Nachdem Eltern und alle Geschwister Lindenberg verlassen hatten, heiratete die Maria den Kleinhäusler Anton Knoll aus Großkitzighofen, der von den anderen nur der Knoll genannt wurde. Er stand offensichtlich nicht sehr hoch im Ansehen, was wohl auch damit zusammenhing, dass er eines von fünf ledigen Kindern war, die seine Mutter von je fünf verschiedenen Vätern hatte. Eine weitere Minderung seiner Reputation erfuhr er, wie unsere Mutter behauptete, als er als überzeugter Nationalsozialist mitsamt seiner Familie aus der Kirche austrat, was aber von der Tochter Gunda bestritten wird. Im Sommer während der Erntezeit ließ er Frau und Kinder die Feldarbeit verrichten, warf sich in einen weißen Anzug und ging zur Kur nach Bad Wörishofen, was ihm von der Verwandtschaft ironische Bemerkungen einbrachte. Wahrscheinlich ist, dass es sich dabei um einen einmaligen Akt handelte. Es gibt immerhin ein beweiskräftiges Foto. Wie hätte er sich als Kleinhäusler jahraus jahrein einen Kuraufenthalt leisten können? Die drei Kinder aus dieser Ehe, die Lori, der Alfred und die Gunda sind in Lindenberg geblieben und haben nicht ein einziges Mal Anlass zu böszungigen Bemerkungen von Seiten der übrigen Verwandtschaft gegeben.

    Eleonore

    Die mit dem Krankenpfleger Johann Lutzenberger verheiratete Lori hatte für meine Kindheit mehr Bedeutung als die übrigen Onkel und Tanten, da wir Kinder jeweils in deren Obhut gegeben wurden, wenn die Mutter im Augsburger Vinzentinum ihre Nierenbecken- oder Venenentzündung therapieren musste. Der Lutzenberger war damals Verwalter des Staatsguts Bickenried, einer Nebenstelle der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren. Erst nach dem Krieg erfuhren wir, was im Kloster Irsee, dem Bickenried unmittelbar unterstellt war, vielen Patienten widerfahren ist. Über unsere Aufenthalte bei Onkel und Tante und die Geschehnisse in Irsee, wird weiter unten berichtet.

    Remigius

    In der Mitte der Geschwisterreihe von Mutters Familie befand sich der Bruder Remig. Er interessierte sich ebenso wenig für den Beruf des Landwirts wie seine beiden Brüder, zumal er recht gut die Zither zupfen konnte. Er schloss ein praktisches Ehebündnis mit der Augsburgerin Zenta Thoma, der Betreiberin einer Kantine und oblag danach dem Beruf eines Gastwirts. Die Zenta konnte gut und deftig kochen. Für die Familie hatte sie den Makel, dass sie im Augsburger Stadtdialekt mit rauchiger Stimme redete, was in Türkheim zum Verlust des gesellschaftlichen Ansehens zu führen pflegte. Außerdem saß auf dem fülligen, einer Wirtin gut anstehenden Körper ein runder rosaroter Kopf, der mit zunehmendem Alter zu wackeln begann, wie bei den Puppen, die manche Leute im Fond ihres Autos haben. Ich kann mich nicht erinnern, dass ihr jemals ein Mitglied der Familie mit freundlichen Worten entgegen kam, was sie aber offensichtlich nicht besonders störte. Zunächst betrieb das Ehepaar den Gasthof zur Eisenbahn am so genannten Oberen Bahnhof, dann übernahmen sie die Sonnenwirtschaft in Türkheim und wohl kurz vor dem Krieg zogen sie nach Augsburg, um den Wörther Hof im Augsburger Vorort Pfersee zu pachten, eine dieser schmucklosen Eckwirtschaften, in denen vor allem ein einfaches und preiswertes Mittagessen serviert wurde. In der Mitte des nicht allzu großen Lokals stand ein schäbiger Billardtisch, dessen grüner Filzüberzug an mehreren Stellen von der nicht ganz sachgemäßen Benutzung des Queues zeugte. In einer Ecke befand sich der große Stammtisch mit einem kunstgeschmiedeten Ständer in der Mitte mit dem Schild „Stammtisch, an dem fast immer ein paar Leute saßen, die darauf warteten, dass sie vom Schneider Remig unterhalten wurden, was dieser keineswegs immer tat, da er ja mit dem Servieren von Speisen und dem Ausschenken von Bier oder gar an der Gassenschänke beschäftigt war, wenn es dort klingelte. Die Gäste waren mittags Handwerker, die einen einfachen Mittagstisch zu sich nahmen, und abends überwiegend Kleinhäusler aus der Nachbarschaft, mitunter auch Arbeiter aus der nahe gelegenen Kammgarnspinnerei, die nach Schichtwechsel sich ihr Bier genehmigten. Da er kein Schwätzer war, beschränkten sich die Wortbeiträge des Onkels auf wenige Bemerkungen, die aber wegen ihrer Treffsicherheit größte Wirkung erzielten. Was diesen Onkel auszeichnete, war seine Sprache; überraschende Bilder und Vergleiche und trockener Witz stellten das Reservoir seiner Sprachwelt dar. Das nutzte er weder für Argumentationen, noch um jemanden zu überzeugen. Als er erfuhr, dass sich unser Bruder Remig mit einem viel größeren Mädchen zusammengetan hatte, reagierte er mit folgendem Satz: „Dau muass ´r ja Schteigeisa alega, wenn ´r sa kussa will, oder hupfa, wia a Henn, wenn´s Beerla stiehlt. (Da muss er ja Steigeisen anlegen, wenn er sie küssen will, oder hüpfen wie eine Henne, die Beeren stiehlt.) Als der Postbote Fritsch, unser wohlbeleibter Nachbar, an ihm mit seinem Fahrrad vorbei fuhr, rief er ihm zu: „Fritsch, pass auf, dass dei Wampa it in Freilauf neibringsch. (Fritsch, pass auf, dass du deinen Bauch nicht in den Freilauf einklemmst.) Seine etwas magere Nichte aus Unterrammingen beschrieb er mit folgendem Satz: „Dia isch wia a Sack voll Hirschgweih. (Sie ist wie ein Sack voller Hirschgeweih)

    Einmal in der Woche war die Wirtschaft geschlossen. Dann zog sich das Ehepaar in seine fast unberührt wirkende Privatwohnung zurück, die man über einen finsteren Korridor aus dem Lokal erreichte. Dort standen schwere dunkle Möbel und später ein Grundig Radio mit dem grünlichen magischen Auge. Als sie sich in den sechziger Jahren ein kleines Auto (einen Lloyd, der im Volksmund wegen der etwas aufgerauten Oberfläche der Karosserie Leukoplastbomber genannt wurde) anschafften, fuhren sie an ihrem Schließungstag nicht selten mal nach Kaufbeuren zur Schwester Lori, oder sie kamen nach Türkheim, wo sie dann jeweils zu unserer großen Freude bei uns abstiegen. Ein solcher Besuch bedeutete, dass die beiden alles mitbrachten, was für eine Brotzeit nötig war, alle möglichen Wurstwaren, Leberkäse, sowie weißen und roten Pressack. Dazu kam natürlich auch die entsprechende Menge Bier. Deren Gerüche vermischten sich nun auch noch mit dem Rauch der Virginier Zigarren, die der Onkel rauchte, wenn er nicht gerade eine Prise Schnupftabak Pöschel Nr. 6 durch die Nase zog. Die Mitbringsel waren weniger für uns gedacht als für sie selber. Vor allem die Tante Zenta, die über eine ordentliche Leibesfülle verfügte, wollte sich an ihren freien Tagen auf keinen Fall aus Höflichkeit einschränken und konnte so kräftig zulangen. Einmal bremste er sie mit folgendem Satz: „Weib, friss it soviel, it dass bei jeder Kurv d´Korsettstanga graunzgat." (Frau, friss nicht so viel, sonst quietschen in jeder Kurve die Korsettstangen.)

    Hermann

    Meine Erinnerung an den jüngsten Bruder unserer Mutter erschöpfte sich in der Erwartung von Carepaketen in den ersten Nachkriegsjahren. Er war nämlich nach einem kurzen Gastspiel bei der Firma Salamander angesichts der Wirtschaftskrise 1929 nach Argentinien ausgewandert. Entweder auf dem Weg dorthin oder in Argentinien tat er sich mit einer Schwedin namens Milan zusammen, die von ihm den Sohn Helmut gebar. Sei es durch die Kriegswirren, oder weil die Ehe ohnehin keinen Bestand hatte, verloren die beiden sich. Nach dem Krieg tauchte plötzlich die schwedische Milan in Türkheim auf, um gewisse Ansprüche auf das Erbe der Großeltern geltend zu machen. Schließlich trug ihr Sohn den Namen Schneider. Doch da war nichts zu holen. Es kam zu Streitigkeiten. Milan reiste ab, machte aber ihrem Ärger Luft in einem abschließenden Brief an die Geschwister Schneider, der mit dem Gruß „Gute Nacht, Ihr Ziegen!" endete und häufig zitiert wurde. Der Hermann fand in Argentinien eine andere Frau. Er starb 1956 im Alter von fünfzig Jahren nach einem ziemlich armseligen Leben in der Fremde.

    Franziska

    Die Fanny, unsere Mutter, war die jüngste Tochter der Schneider - Familie, das Nesthäkchen, wie man damals den Verzicht auf eine härtere Gangart im Erziehungsprozess umschrieb. Sie hob sich durch unbekümmerte Fröhlichkeit und offensichtlich auch Gewitztheit hervor. Schließlich hatte sie sich gegen fünf ältere Geschwister durchzusetzen. Als sie 15 Jahre alt war, die Volks- und Sonntagsschule hinter sich gebracht hatte, trat sie in die private Lehrerbildungsanstalt der Crescentia Schwestern in Kaufbeuren ein. Der Aufnahme ging eine gründliche gesundheitliche Untersuchung voraus. Dabei wurden eine gewisse Blutarmut und Tendenz zur Kropfbildung festgestellt. Dem Körper wurde die Fähigkeit zum Klavier- Orgel und Geigenspiel attestiert. Am Ende des ersten Jahres erhielt sie ein ausgezeichnetes Zeugnis. Doch brach sie danach die Ausbildung zur Lehrerin ab. Nach ihrer Aussage, war sie den Anstrengungen wegen Blutarmut gesundheitlich nicht gewachsen. So kam sie nach einem Jahr wieder nach Lindenberg, hatte einige Wörter Französisch erworben und von den Schwestern der Kaufbeurer Stadtheiligen Kreszentia ein ordentliches Maß an Frömmigkeit mitgebracht. Die Spuren dieser religiösen Initiation, der Vorliebe für alles was mit Kirche, Kloster und Geistlichkeit zusammenhing, wurde sie bis zu ihrem Lebensende nicht mehr los. Nach einem Jahr Haushaltsschule in Bad Wörishofen folgte so etwas wie eine Lehrzeit im Milchladen der mit dem Vater befreundeten Familie Ebner in der Kazmaierstraße in München. Das Ende des ersten Weltkriegs sowie die Inflation mit der Vernichtung sämtlicher Geldwerte verhinderten eine weitere berufliche Laufbahn. Nun kehrte sie in das Elternhaus zurück, dessen Schwerpunkt inzwischen in das etwa 10km westlich von Lindenberg gelegene Türkheim verlagert worden war. Die älteste Schwester Resi war ohnehin im benachbarten Unterrammingen verheiratet und Bruder Remig hatte den Gasthof zur Eisenbahn in Türkheim als Pächter übernommen. Auch der jüngste Bruder Hermann hatte Arbeit in der Fabrik der Firma Salamander gefunden. Der Umzug vom reinen Bauerndorf in den etwas bunter gemischten und bürgerlich gefärbten Marktflecken Türkheim war für die damals 23 jährige Franziska eine willkommene Abwechslung. Sie schloss sich verschiedenen Vereinen, vor allem der katholischen Jugendbewegung an und genoss das umfangreichere Angebot an Freiern, von denen einer ihr vorschwärmte, wie schön es sein würde, wenn sie beide am Sommerabenden auf der Bank vor dem Haus ihre Brotzeit einnehmen könnten. Doch sie schlug dieses große Glück aus und zog es vor, trotz ihres fortgeschrittenenen Alters in der Türkheimer Gesellschaft nach einer prestigeträchtigeren Liaison Ausschau zu halten.

    Franziska Schneider, etwa um 1920

    Die Eichheims

    Kammerdiener und Lakaien - Die Familie Eichheim im 19. Jahrhundert -

    die Eichheims made in USA - Idylle im Forsthaus - der Großvater Anton Eichheim

    Kammerdiener und Lakaien

    Auf dem alten, seit 1944 stillgelegten Münchner Südfriedhof gleich hinter dem Sendlinger Tor in der Sektion 7, Reihe 2, steht ein klassizistisches Grabmal, auf dessen Sockel mehrere Personen mit dem Namen Eichheim eingemeißelt sind. Ein nicht allzu schlanker Obelisk in schwarzem Marmor weist in den Himmel, in dem die verstorbenen Personen nach der Vorstellung ihrer Hinterbliebenen Aufnahme gefunden haben müssten. Weder während meiner Studienzeit, noch in den Jahren nach 1989, als ich dienstlich in München lebte, war ich auf die Idee gekommen, dort und auch sonst nach den Spuren der Familie zu suchen.

    Überhaupt hatte mich bis dahin das Thema Herkunft kaum interessiert, auch wenn gewisse Gegenstände in unserem Haus in Türkheim auf die Großeltern und Urgroßeltern hinwiesen, einige romantische Landschaftsgemälde in üppigem Rahmen, ein Lüster aus geschmiedetem Eisen mit vier Hirschköpfen als Fassung für die Lampen, ein Satz Postkarten mit Fotos von zerstörten Gebäuden aus dem 70er-Krieg, sechs Ankerbaukästen, eine Laterna Magica und etliche Möbelstücke, deren Herkunft unschwer auf das Ende des 19. Jahrhunderts zu datieren war. Auf dem Dachboden befanden sich auch so seltsame Möbel wie ein Schrank mit schmalen Schubladen, die unter einer Glasabdeckung Hunderte von Käfern aller Größenordnung jeweils mit kleinen Fähnchen aufgespießt, enthielten. Auch gab es zahlreiche Hirschgeweihe und eine altmodische Fotoausrüstung.

    Grabmal der Familie Eichheim im Münchner Südfriedhof

    Der Anstoß für meine Beschäftigung

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