Nibelungen Ltd.
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Aber sie sind nicht allein auf Schatzsuche. Ein gefährlicher Wettlauf beginnt.
Steffen Schulze
Steffen Schulze ist selbst Teilzeit-Autor. Den Ausschlag, sich näher mit Alexander Otto Weber zu beschäftigen, hat folgendes Zitat gegeben: "Heute muss man Vermögen haben, um Philosoph zu werden, früher brauchte man Intelligenz dazu." (Alexander Otto Weber, Quelle: Weber, Ohne Maulkorb. Gereimte Satiren, 1905) Nach einigen Recherchen fand "Politika" (1903 - 1913, Verlag A. H. Mueller, Halle/ Saale) den Weg auf seinen Schreibtisch. Rein aus Spaß an der Freude hat er die satirischen Gedichte aus dem Altdeutschen "übersetzt" und eventuell unklare Namen und Begriffe zur Erklärung mit Fußnoten versehen.
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Book preview
Nibelungen Ltd. - Steffen Schulze
Inhaltsverzeichnis
Motto
21. 02.2009, Vorwort
28. 06.0438, später Nachmittag, von dichtem Laubwald umschlossenes Hochplateau
30. 05.2009, früher Vormittag, Worms
31. 05.2009, mitten in der Nacht, Worms
31. 05.2009, Mittag, Worms
31. 05.2009, später Abend, Worms
31. 05.2009, nachts, Worms
31. 05.2009, nachts, Worms
31. 05.2009, nachts, Eisenach
01. 06.2009, früher Vormittag, Worms
25. 07.2009, mittags, 100 km vor Worms
25. 07.2009, abends, Worms
25. 07.2009, nachts, Worms
27. 07.2009, früher Vormittag, Eisenach
24. 08.2009, früher Vormittag, Hamburg
24. 08.2009, morgens, A1 Richtung Norden
24. 08.2009, Mittag, Hamburg
24. 08.2009, früher Abend, Bad Salzuflen
24. 08.2009, später Abend, Bad Salzuflen
25. 08.2009, mittags, Berlin
28. 08.2009, Nachmittag, Eisenach
28. 08.2009, Nachmittag, Parc Naturel Regional des Vosges du Nord
28. 08.2009, später Nachmittag, A33 Richtung Süden
28. 08.2009, später Nachmittag, Parc Naturel Regional des Vosges du Nord
28. 08.2009, früher Abend, Eisenach
29. 08.2009, später Nachmittag, potenzielle Fundstelle des Schatzes
29. 08.2009, morgens, Parc Naturel Regional des Vosges du Nord
29. 08.2009, Mittag, Eisenach
29. 08.2009, später Abend, potenzielle Fundstelle des Schatzes
29. 08.2009, später Nachmittag, Eisenach
29. 08.2009, abends, Eisenach
30. 08.2009, Nachmittag, Eisenach
30. 08.2009, vor dem Morgengrauen, Eisenach
30. 08.2009, Nachmittag, Eisenach
30. 08.2009, Nachmittag, Eisenach
30. 08.2009, Nachmittag, Eisenach
30. 08.2009, Nachmittag, Eisenach
30. 08.2009, später Abend, Eisenach
30. 06.0438, Vormittag, Verteidigungslager
30. 09.2009, später Abend, Berlin
Jackpot
Im Bann des Jonastal
Die Millionen-Beichte
Impressum
Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder
tatsächlichen Ereignissen sind rein zufällig.
21.02.2009, Vorwort
Die Finanz- und Wirtschaftskrise wütete wie die Pest im späten Mittelalter durch Europa. Unzählige Arbeitsplätze, Klein- und Großbetriebe, Konzerne, Bankhäuser, beinahe ganze Regierungen und noch mehr private Geldanlagen fielen ihr zum Opfer. Wer Zertifikate der Lehman Brothers zum Kauf anbot, konnte ebenso seine Pestbeulen offen zur Schau tragen. Er wurde gemieden wie die sprichwörtliche Krankheit.
Natürlich wurden die vermeintlich Schuldigen unverzüglich öffentlich an den medialen Pranger gestellt. An Banken und Investmentgesellschaften, die Hedge-Fonds mit Beteiligungen an US-amerikanischen Hypothekenkrediten aufgelegt hatten, wurde kein gutes Haar gelassen. Als der überseeische Immobilienmarkt ins Straucheln geriet, brachte er den weltweiten Finanzsektor gleich mit zu Fall. Das der Börsenboom der letzten Jahre, so stieg der DAX seit 2003 um 350 Prozent, ebenfalls nicht ganz unschuldig gewesen sein könnte, wurde nur nebenbei und nicht von den großen Tageszeitungen und Wirtschaftsblättern erwähnt.
Aber was tun? Natürlich muss in Zukunft stärker reguliert und kontrolliert werden. Von staatlicher Seite selbstverständlich. Gleichzeitig sollten mehrere der angeschlagenen Finanzriesen in Regierungskontrolle übergehen, nicht ohne vorher Unterstützungsgelder in Höhe mehrerer Milliarden Euro in den Rachen geworfen zu bekommen. Keine Chance mehr für innovative, von Laien und den meisten Bankberatern undurchschaubare Finanzprodukte mit hohen Renditen, bei mindestens ebenso hohen Risiken.
13.03.2009, Wormser Zeitung:
Wie erst heute bekannt wurde, überbrachte ein Mitarbeiter der Klosterbibliothek Waldsassen dem Nibelungen Museum in Worms eine wertvolle Handschrift als Leihgabe für die noch bis September andauernde Sonderausstellung zum Thema „Schatz der Nibelungen". Hier werden seltene Münzen und Schmuckstücke ausgestellt, die zeitlich in die Ära der Nibelungensage passen.
Bei den Dokumenten handelt es sich laut Museumsangaben um eine mittelalterliche Handschrift, die einige Experten als Fortsetzung des Nibelungenliedes ansehen. Die etwa dreißig losen Blätter wurden bei Umräumarbeiten im Zuge einer Teilsanierung des berühmten Klosters Waldsassen entdeckt und sind in einem erstaunlich guten Zustand. Schon nach dem Studium der ersten Strophen entschied sich die Bibliotheksleitung, das Material dem Nibelungenmuseum für die Sonderausstellung zur Verfügung zu stellen.
In den besuchsfreien Zeiten werden die Dokumente von einer Expertin der Uni Hamburg untersucht. Nach einer ersten Analyse durch Frau Dr. Sabine Waltharius bestätigten sich die Vermutungen der Klosterbibliothekare, dass es sich um eine Fortsetzung der Heldensaga um Siegfried handeln könnte. Die sangbaren, vierzeiligen Strophen, die heute auch als Nibelungenstrophe bezeichnet werden, stimmen mit der dem ursprünglichen Original sehr nahe stehenden Fassung „B" des Heldenepos verblüffend überein.
Über den Inhalt der Handschrift hüllen sich alle Beteiligten bisher in Schweigen. Auch auf die gezielte Nachfrage unseres Reporters, ob der Text Hinweise über den Verbleib des Nibelungenschatzes enthalte, wurde von Frau Doktor Waltharius nur mit einem charmanten Lächeln reagiert.
Die Museumsleitung gibt weiterhin bekannt, dass aufgrund des großen Ansturms auf den alten Text, die Besichtigungszeit des wertvollen Dokumentes eingeschränkt werden musste. Besucher werden angehalten, langsam an der Ausstellungsvitrine vorbei zu schreiten. Außerdem herrscht striktes Fotografier- und Filmverbot. Sobald die Übersetzung und wissenschaftliche Auswertung der Schriften abgeschlossen ist, wird deren Inhalt vollständig veröffentlicht werden, versicherte uns Frau Dr. Waltharius.
28.06.0438, später Nachmittag, von dichtem Laubwald umschlossenes Hochplateau
Gerhagen drückte sich ganz tief an den aufgedunsenen Bauch des toten Ochsen. Die dumpfen und schmatzenden Einschläge der Pfeile und Schleudergeschosse kamen in immer kürzeren Abständen. Unter jedem Aufprall zitterte das tote Tier, als würden ihm die Stahlspitzen und Bleikugeln immer noch Schmerzen zufügen.
Der Regen hatte das Lager in einen einzigen Morast verwandelt und nahm den letzten Überlebenden die Sicht auf ihre unerbittlichen Angreifer. Sturm erschütterte die mächtigen Eichen, welche die kleine Lichtung wie eine natürliche Palisadenwand umschlossen und schienen sich ebenso unter dem Schmerz des Kampfes zu beugen. Blut sammelte sich in Pfützen. Die Luft war angefüllt mit dem Gestank nach Verwesung und Tod. Und den markerschütternden Schreien von Verwundeten. Gerhagen schaute sich verzweifelt nach seinen Kameraden um. Sie sollten einen gezielten Ausbruch organisieren, eine heftige Gegenattacke, die ihre Angreifer verunsicherte und eine Bresche schlug. Aber daran war im Moment nicht zu denken. Bogodan lag schon seit einer halben Stunde mitten in ihrem provisorisch befestigten Lager am Boden, mit einem schlanken, zitternden Speer in seiner Brust. Und ringsum sah es nicht besser aus. Die Männer suchten Schutz hinter den zur Verteidigung umgestürzten Ochsenkarren, hintertoten Zugtieren, teilweise sogar hinter ihren Kameraden. Panik und Angst machten sich breit.
Sie hätten es nicht nehmen dürfen. Gerhagen hatte es von Anfang an gewusst. Aber er musste gehorchen. So war es seit jeher fest geschrieben. Und auch war die Verlockung groß gewesen. Als das Wasser des Rheins endlich lautlos zurückwich und Stück für Stück die zwei großen Lastkähne am Grunde des ausgemauerten Beckens aus der Erde zu wachsen schienen, da war die glorreiche Vergangenheit zur Gegenwart geworden. In diesem Moment war Gerhagen vor Ehrfurcht auf die Knie gefallen und seine Kameraden hatten es ihm gleich getan. Aber Claudius, der Centurio, hatte kein Mitgefühl und keinen Respekt gekannt. Erbarmungslos hatte er die Mannschaften angetrieben. Sie hatten Planken aus uralten Bäumen gehauen und den schweren Inhalt der Kähne auf fünfzehn Ochsenkarren verladen. Als es dem Centurio, der die Arbeiten stolz in seinem glitzernden Brustharnisch in der untergehenden Sonne funkelnd, überwachte, zu langsam voran ging, hatten die Hunnen und sogar einige römische Soldaten mit anfassen müssen. Eine Schande. Der Schatz gehörte den Burgundern. Von Anbeginn an. Er war Fafnir abgetrotzt worden. Und jetzt verluden sie ihn auf Karren, um ihn in die neue Heimat zu bringen. Als Tribut.
Die neue Heimat. Für Gerhagen gab es die nicht. Aber er musste gehorchen. Und so zogen sie los. Ein mächtiger Trupp. Römer, natürlich, Hunnen und Burgunder für die niederen Arbeiten. Sie waren gut voran gekommen. Die Wege waren passier- und die Furten gangbar. Die Flüsse waren nach einem trockenen Sommer seicht und erwarteten sehnsüchtig die Unwetter des Herbstes und die Schneeschmelzen des Frühjahrs. Und die Ochsen waren ausgeruht und standen gut im Futter.
Schon am zweiten Abend, sie waren bis zur Dämmerung gezogen, kam Unruhe auf. Gerhagen kannte die Nervosität, die plötzlich aus dem Nichts entstehen konnte, meist Vorbote schlimmen Unheils. Er hatte schon viele Schlachten erlebt und gute Männer im Kampf sterben sehen. Und jedes mal hatte sich diese Unruhe über die Verdammten gelegt.
Obwohl Wein und Met für die Dauer der Reise verboten waren, hatte sich ein streitlustige Gruppe um den Hunnen Bogodan daran ergötzt und fing an, gegen die etwas abseits, absichtlich in einiger Entfernung zu den von den Römern bewachten Wagen postierten Burgundern, zu pöbeln. `Sie würden sich niemals zu Untertanen Cäsars beugen lassen.`, hatte Bogodan gebrüllt und Gerhagens tapfere Gefährten verhöhnt und beleidigt. Schon griffen einige zu ihren Speeren und vereinzelt war das unheilvolle Surren der Bleischleudern zu hören, die erwartungsvoll durch die Luft gedreht wurden. Auch Gerhagen hatte sein Kurzschwert gefasst. Genau wie sein Helm, den er allerdings mit Runen und einem Wildkatzenfell versehen hatte, war es ein ehemaliges römisches Beutestück.
Und dann war alles so schnell gegangen, das Gerhagen sich an den genauen Ablauf der Geschehnisse nicht erinnern konnte. Plötzlich, wie aus dem nichts, metzelten Bogodans Männer die Römer nieder, schlugen Legionäre auf Hunnen ein und schlachteten Burgunder jeden ab, der sich ihnen näherte. Eine Blutorgie ohne erkennbares Ziel. Kampferprobte Soldaten hieben auf schlaftrunkene und unvorbereitete Kameraden ein. Das Blut spritzte aus Armstümpfen, aufgeschlitzten Kehlen und Bäuchen. Es gab weder Freund noch Feind, nur Raserei und fiebrige Wut. Die Männer schrieen und röchelten, zuckten im Todeskampf mit weit aufgerissenen Augen und Mündern. Ein schreckliches Bild.
Dann war plötzlich alles vorbei gewesen, genau so schnell und unerwartet, wie es begonnen hatte. Gerhagens Schwert hatte vom Blut getöteter Gegner getropft, ohne dass er ihnen ein Gesicht oder eine Zugehörigkeit geben konnte. Und auch er war verletzt worden. Nur ein Kratzer an der Schulter.
Eine unheimliche Stille hatte sich im Lager ausgebreitet und der Geruch nach Tod. Und aus der Totenstille war Bogodan zwischen die überlebenden und schwer atmenden Männer getreten, die sich respektvoll vor ihm geteilt hatten, in der einen Hand den Kopf des Centurios Claudius haltend und hatte gerufen: `Römer, Burgunder, Hunnen, zieht gemeinsam mit mir in die Heimat oder sterbt.`
Und wie vom Wahn befallen hatten ihm die Überlebenden zugejubelt und ihn hoch leben lassen. Seit dem waren sie vorsichtiger marschiert, hatten Nachhuten und Voraustrupps gebildet. Aber sie waren verfolgt worden. Das Gemetzel konnte nicht ungesühnt bleiben. Ebenso wenig der Raub des Schatzes. Immer wieder stießen sie auf Späher ihrer Verfolger, die vor allem von den überlebenden Hunnen mit unaussprechlicher Grausamkeit getötet und verstümmelt und hinter ihnen als Warnung an Bäumen aufgehängt zurück gelassen wurden.
Das Wetter hatte sich verschlechtert. Es hatte zu regnen begonnen. Kein heftiger, aber kurzer Sommerschauer, sondern dicke Wasserfäden, die unaufhörlich aus einem grauen Himmel fielen. Wege wurden zu schlammigen Bächen, Furten zu unkalkulierbaren Risiken. Doch sie hatten die müder werdenden Ochsen immer weiter angetrieben, ihnen keine Pause gegönnt. Denn die Tiere verlangsamten ihr Tempo. Machten es den Verfolgern leicht, Schritt zu halten, sie eventuell auch zu umgehen, um sie in einen Hinterhalt zu locken.
Gerhagen hatte sich nah an die Karren gehalten. Das war jetzt nicht mehr untersagt. Sie waren nun eine Horde. Ein Trupp Verstoßener, Verdammter. Die Last seiner Waffen und Taten drückte schwer auf seine Schultern. Er hatte unruhig und aufmerksam das dichte, undurchdringliche Unterholz an den Wegrändern beobachtet. Dort drinnen konnten sich hunderte von Kriegern verbergen, nur wenige Meter entfernt, ohne dass sie bemerkt worden wären. Der Schamane hielt sich immer in seiner Nähe, gierte mit brennenden Augen die Kisten und Säcke auf den Wagen an. Gerhagen mochte ihn nicht. Er redete jedem nach dem Mund, immer auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Als die Römer in Burgund einfielen, hatte er die burgundischen Anführer angestachelt, Widerstand zu leisten, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Er hatte gewettert und die alten Götter beschworen, sogar ein Blutopfer gefordert. Nach der unvermeidlichen Niederlage war er jedoch der erste, der dem römischen Feldherrn Aetius ewige Treue schwor.
Zehn Tage und zehn Nächte waren sie unterwegs gewesen, bis sie an dieses Hochplateau gelangt waren. Ein schmaler Weg führte hinunter ins Tal. Eine lang gezogene Schlucht. Gewunden und von steilen Felswänden, die auch mittags fast jedes Sonnenlicht vom feuchten und von Moosen bewachsenen Boden fern hielten, bedrohlich überragt. Zu schmal für die Karren und außerdem beschützt vom Geiste Fafnirs.
Die Nachhut war nicht zurückgekehrt. Es hatte schlimmer als je zuvor geregnet. Die Ochsenkarren waren tief im Morast versunken. Eine Falle. Blitz und Donner. Bäume waren vom Sturm gepeitscht zerbrochen, hatten mehr als einmal den Weg versperrt. Und die Verfolger kamen näher. Gerhagen konnte sie nicht sehen, spürte aber deren Anwesenheit. Angst sprach aus vielen Gesichtern. Aber Bogodan blieb stark. Sie hatten den Schatz wieder dem Wasser übergeben. Ein kleiner Weiher, nicht sehr tief und nicht weit vom Plateau entfernt. Auf ihrem weiteren Weg hätten sie die Kisten und Säcke einzeln durch die schmale Schlucht tragen müssen, völlig etwaigen Verfolgern ausgeliefert, unfähig gleichzeitig ihre Waffen zu führen. So hatten die überlebenden römische Pioniere eine Grube auf dem Grund des Tümpels in der Nähe der Schlucht ausgehoben und sie hatten ihre Beute darin versenkt und sich dann auf Kampf eingestellt. Viele Ochsen waren bereits vor Erschöpfung verendet. Den übrigen wurde die Kehle durchgeschnitten und aus den Karren und Tierleibern bauten sie einen Schutzwall, eine Befestigungsanlage gegen die anrückenden Verfolger.
Plonk. Wieder wurde der tote Ochse, hinter dem Gerhagen Schutz suchte, von einem mächtigen Speer getroffen. Der Bauch des toten Tieres wurde aufgerissen und eine Wolke fauler, stinkender Gase hüllte ihn ein. Der Boden bebte. Erneut schrieen Männer im Todeskampf. Ein weiterer Hagel von Pfeilen und Bleigeschossen regnete auf die Stellung herab. Gerhagens Nachbar spähte über einen umgestürzten Karren, einen Speer wurfbereit in der Hand. Ein Bolzen aus einer Torsionsarmbrust riss ihm den halben Kopf weg. Er verharrte einen Moment in der Luft, bevor er in sich zusammen sackte.
Die Erde erzitterte. Hufgetrappel. Mächtige Pferde, mit ihren Keulen schwingenden Reitern brachen durch den Wald. Sie drückten Zweige und junge Bäume wie Grashalme auseinander, unaufhaltbar in ihrer gerechten Wut stürmten sie durch die grauen Regenschleier. Rachegeister. Gerhagen umklammerte sein Kurzschwert. Wie viele Gegner hatte er damit schon zur Strecke gebracht? Er spürte, dass es nun ein Ende finden würde. Heute verteidigte er nicht seine Heimat oder kämpfte zum Ruhme seines Herren. Nein, heute war er ein gewöhnlicher Dieb. Lohnte es sich, dafür zu sterben? Gerhagen hatte den Schwertgriff fest gepackt. Er stand auf und mit einem mächtigen Streich spaltete er den nächstliegenden Brustkorb. Nein, dafür lohnte es nicht, zu sterben.
30.05.2009, früher Vormittag, Worms
„Kackfresse!"
Paul stockte kurz, ohne jedoch stehen zu bleiben und ging dann weiter die Wormser Fußgängerzone entlang in Richtung Ludwigsplatz.
„Fickfrosch!"
Nein, das konnte nicht sein. Der Rufer kam näher. Jetzt Paul blieb stehen, drehte sich um. Die Geschäfte hatten gerade erst geöffnet, trotzdem waren schon viele potenzielle Konsumenten unterwegs. Eine Woge von vermummten, türkischen Hausfrauen mit einer unübersichtlichen Anzahl von um sie herum wuselnden Kindern brandete auf Paul zu und nahm ihm die Übersicht. Bevor er in die Gruppe aufgesaugt wurde, setzte er sich mit schnellen Schritten wieder in Bewegung.
„Muschilecker!"
Wie in der Schrittfolge plötzlich versteinert blieb Paul erneut stehen, spürte einen heftigen Aufprall auf seinen Rücken und konnte sich gerade noch so auf den Beinen halten.
„Hunni, Mann, das hätte ins Auge gehen können!"
Paul fuhr herum und blickte ungläubig auf den kleinen Kerl herunter, der ihn beinahe zu Fall gebracht hätte.
„Da guckste, wa? Hab ich mir gleich gedacht, dass Du das bist."
Ein nicht enden wollender Wortschwall in starkem Berliner Dialekt stürzte über Paul herein. Hauptmerkmal war dabei, dass „Gs durch „Js
ersetzt wurden und das eine oder andere „T" schon mal unter den Tisch fiel.
„Schaust ja wie ein Leuchtturm aus den Menschenmassen heraus. Von weitem hast Du Dich auch kaum verändert. Na gut, bei näherer Betrachtung... Das ist ja eine mächtige Stirnglatze, die Du mit Dir herum trägst. Soll ja in Mode kommen. Wenigsten versuchst Du nicht, die letzten drei goldenen Haare lässig über die Fehlstellen zu kämmen. Das sieht nämlich ganz schön blöde aus."
Anscheinend konnte der Kerl reden, ohne Luft holen zu müssen. Typisch.
„Ansonsten hast Du Dich aber gut gehalten. Nur auf den Bauch musst Du aufpassen, sonst hast Du ratzi fatzi eine richtige Trommel an Dir haften und die wirst Du so schnell nicht wieder los. Aber Schlips und Kragen tarnen den Wohlstandsspeck ja ganz gut. Bist Du unter die Banker gegangen, oder was? Sag doch was, Mensch!"
Endlich unterbrach der kleine Dicke, der eigentlich nicht dick, sondern nur gedrungen gebaut und mit kurzen aber kräftigen Armen ausgestattet war, seinen Redefluss und Paul konnte langsam seine Gedanken ordnen und auf die Aufforderung reagieren: „Hallo Penne!"
„Genau! Hast mich ja doch nicht vergessen. Und so schlimm habe ich mich ja auch nicht verändert, wa..."
Der Wasserfall begann von Neuem. Diesmal hörte Paul nicht konzentriert zu, sondern musterte seinen ehemals besten Freund von oben bis unten, als wäre er ihm erst in dieser Sekunde unter die Augen gekommen.
Er hatte sich praktisch überhaupt nicht verändert. Peter Pfennig, Spitzname Penne. In der Schule waren sie die „Geldsäcke" gewesen, allerdings nur ihrer Nachnamen wegen: Hundertmark und Pfennig. Und sie waren unzertrennlich aufgetreten, als siamesische Zwillinge gewissermaßen. Hatten auch eine Menge Mist