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Vincent macht sich auf den Weg
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Vincent macht sich auf den Weg

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About this ebook

Vincent, ein junger Holländer, macht sich auf den Weg nach Berlin. Dort will er die große Schauspielkarriere starten, strandet jedoch in einer Agentur für Arbeit.
Auf dem Weg zu sich selbst lernt er das Innenleben einer deutschen Behörde kennen, begegnet der Liebe seines Lebens und bekommt einen unerwarteten Einblick in seine Zukunft.
Begleitet wird er dabei durch die Emails seines Vaters, in denen dieser Erinnerungen an ein untergegangenes Westberlin aufleben lässt und Vincent nebenbei das Geheimnis seiner Herkunft offenbart.
LanguageDeutsch
Release dateJul 27, 2013
ISBN9783732226016
Vincent macht sich auf den Weg
Author

Bernardus Hauptmeijer

Bernardus Hauptmeijer lebt seit 1980 in seiner Wahlheimat Berlin. Davor hat er Anglistik und Germanistik in den Niederlanden studiert und einige Zeit in London verbracht. In Berlin entdeckte er durch seine Liebe zum Kino den Wunsch, Drehbücher zu schreiben. Mehrere Geschichten entstanden, ein Kurzfilm hat er in Eigenregie realisiert, der Anfang der 90er Jahre in Schwerin während des KunstFilmFestivals uraufgeführt wurde. Bernardus Hauptmeijer arbeitet seit vielen Jahren in der Berliner Arbeitsverwaltung. Die Erfahrung mit dieser Behörde und dem West-Berlin der 80er Jahre bis zum Mauerfall inspirierten ihn zu seinem Debütroman "Vincent macht sich auf den Weg".

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    Book preview

    Vincent macht sich auf den Weg - Bernardus Hauptmeijer

    Ostsee

    In der Agentur für Arbeit

    Vincent kam aus einem erstaunlich modern eingerichteten, ja fast sterilen Büro, wo er einen Vertrag unterschrieben hatte, den er eigentlich nicht wollte. Ab Montag Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit. Als gelernter Schauspieler! Einen erfolgreichen Matchingprozess hatte er sich anders vorgestellt. Das Gespräch mit seinem Arbeitsvermittler konnte er noch nicht so richtig einordnen.

    »Sie kommen aus Holland. Das haben Sie mir schon gesagt. Und jetzt wollen Sie Ihr Arbeitslosengeld von dort gerne weiter beziehen. Hier. Auch das verstehe ich. Hier sind Sie aber in Deutschland. Und hier gelten unsere Regeln. Wir wollen gerade vermeiden, dass noch mehr Geld ausgegeben wird. Das müssen Sie verstehen.«

    Vincent hatte seinen Vermittler fassungslos angestarrt. Er war gekommen um sich hier nach Arbeit um zu schauen, weil er hoffte, als junger Schauspieler an Ort und Stelle seine Chancen besser wahrnehmen zu können. Alle hatten ihm dazu geraten, jetzt den Schritt ins Ausland zu wagen. Sogar sein Vater hatte ihn ja geradezu gedrängt; verständlich, war er doch selbst in jungen Jahren nach Berlin gegangen und immer noch begeistert von dieser Stadt. Diese väterliche Unterstützung hatte ihn in seiner Abenteuerlust bestärkt und so fand er den Weg nach Berlin und hier wollte er mindestens die nächsten drei Jahre verbringen.

    Jetzt galt es aber, einen deutschen Beamten bei der Arbeit zu verstehen. Weshalb nicht umgekehrt? Was hatte ein Schauspieler in einer Behörde zu suchen, wieso Potential so versauern lassen, weshalb einen jungen Menschen an diesem Ort zum Glück zwingen, das er ganz woanders finden wollte?

    Ein Engagement in einer Arbeitsverwaltung, und das auch noch im Archiv, gehörte nicht zu seinen Träumen. Akten aussondern, von hier nach da schleppen, in den Keller verfrachten, oder sie Mitarbeitern auf den Tisch, ja was, knallen?

    Sich Frustration angedeihen lassen gehörte jedoch nicht zu Vincents Reaktionsmustern. Sein Hirn generierte sofort Alternativen. Sein Erspartes würde für die nächsten Wochen reichen, wenn eine Bleibe nicht zu teuer kommen würde. Sein Auto konnte er nicht verkaufen, es gehörte ihm nicht. Er hatte es von seinem Vater geliehen, einem Fan von englischen Sportautos, der sich nach einem erfüllten Berufsleben endlich einen Morgan geleistet hatte. Umso großzügiger, dass er es seinem Sohn ohne zu zögern für die nächsten Wochen zur Verfügung gestellt hatte. Er war stolz auf seinen Filius und wollte ihn bei seinem Berlinabenteuer unterstützen, und Vincent glaubte später, dass sein Vater das Auto sogar dafür verkauft hätte.

    Und hier, ausgerechnet in einem deutschen Arbeitsamt, sollte sein Abenteuer anfangen.

    Vincent hatte keine Argumente mehr, um die es aber auch gar nicht ging. Auch sein bohrend fragender Blick einhergehend mit einem nicht enden wollenden Staunen langweilte diesen Behördenvertreter. Oder war sein müdes Lächeln schon zynisch zu nennen? Vincent hatte den Beamten angeschaut und gewusst, dass dieser ihn am ausgestreckten Arm verhungern lassen könnte. Nach einiger Überlegung hatte Vincent erkannt, dass diese neue Situation auch Chancen bot. Er beschloss, das Ganze pragmatisch anzugehen. Das Arbeitsangebot nahm ihm den Zeitdruck. Und wenn er nicht mehr auf das Geld seines neuen Arbeitgebers angewiesen sein würde, könnte er sofort aufhören. Im Grunde genommen keine schlechte Ausgangsposition.

    Sein Arbeitsvermittler war zufrieden, als er merkte, dass Vincent seine auswegslose Position erkannt hatte. Damit hatte er sein Kontingent erfüllt: bis Montag musste er drei neue Mitarbeiter finden, die für eine Spezialaufgabe angeheuert wurden, die Vorarbeit für die elektronische Leistungsakte. Da dieses Thema in der Belegschaft kontrovers diskutierte wurde, vor allem wegen der damit einhergehenden Personaleinsparungen, war die Anstellung eines ahnungslosen Ausländers geradezu ein meisterlicher Schachzug. Von diesem Mitarbeiter würde keine subversive Energie ausgehen, dachte Herr Schwab. Er war mehr als zufrieden.

    Ein Stockwerk höher saß Sonja noch in ihrem Büro. Die meisten Kollegen waren schon nach Hause gegangen. Sie war nervös. Sie hatte sich vorgenommen, das Wochenende an der Ostsee zu verbringen, aber nicht allein. Und auch nicht mit Christopher, von dem sie nicht mehr wusste, ob sie ihn noch liebte. Schon lange hatte sie darüber nachgedacht, ihre Kollegin Liane einzuladen, und hatte sich bis jetzt nicht getraut. Sie konnte Lianes Antwort nicht einschätzen. Ihr letztes Treffen lag schon wieder Monate zurück. Weiter darüber nachzugrübeln führte jedoch zu nichts. Einfach tun, sagte sie sich und nahm den Hörer in die Hand.

    Als Liane das Telefon abnahm, fiel Sonja sofort mit ihrer Einladung ins Haus. An der anderen Seite blieb es still, was Sonjas noch mehr verunsicherte. Sie hatte zwar keine spontane Entscheidung erwartet, aber doch irgendeine Reaktion. Die beiden Frauen verstanden sich gut, wie sie ohne zu zögern behaupten würden. Ihre Lebensmodelle konnten jedoch unterschiedlicher nicht sein. Führte Sonja nach außen hin ein für ihr Alter eher beschauliches Beziehungsleben, galt Liane in ihrem Freundinnenkreis als eine rührige Frau, die immer noch auf der Suche nach dem großen Glück war. Alle kannten sie als klug und lebensfroh und verstanden nicht, wie sie ihr Leben zwar nicht einsam aber doch allein lebte. Und Sonja ahnte, dass sie vielleicht mehr für Liane bedeutete, als beide bis jetzt gewagt hatten zu denken. Sonja verspürte Lust auf ein Abenteuer und glaubte mit Liane ausloten zu können, wie weit sie gehen konnte. Denn sie war neugierig, und wenn sie sich die Intimität mit einer Frau vorstellte, dann auch nur mit Liane. Komischerweise war sie in dieser Beziehung sehr wählerisch. Ging es um männliche Bekanntschaften, hätten mehr in Betracht kommen können. Bei Frauen nicht, wahrscheinlich, weil sie sich dieses Abenteuer zwar wünschte, aber nicht unbedingt zur Gewohnheit machen wollte. Oder doch? Kopf und Bauch konnte sie nicht zusammen bringen. Und sie wollte jetzt auch nicht länger darüber nachdenken. Sie hatte beschlossen, sich darauf einzulassen. Es sollte keineswegs die Beziehung zu Christopher ersetzen, als Ablenkung jedoch mehr als nur zweckmäßig sein. Sie wollte mit allem aufräumen und deswegen alles zulassen. Am liebsten hätte sie bei sich selbst die Resettaste gedrückt.

    »Ich bin sprachlos. Was ist denn in dich gefahren? Und was für eine Frage, natürlich komme ich mit. Ich war schon so lange nicht mehr an der Ostsee!« meinte Liane. Sie war nicht auf den Mund gefallen, aber jetzt hatte sie kurz den Atem anhalten müssen. So spontan kannte sie Sonja nicht.

    Sonja lachte laut auf. Sie fühlte sich erleichtert und aufgeregt zugleich.

    »Ich muss hier noch eine Akte bearbeiten, schwieriger Fall. Wenn ich fertig bin, hole ich dich ab. Oder bist du jetzt schon soweit? Dann lasse ich die Akte bis Montag liegen, geht auch.«

    Liane konnte es kaum noch abwarten. Sonja hielt sie noch ein wenig zurück.

    »Nein, nein, ich muss auch noch was tun. Komm, wenn du soweit bist.«

    Sonja hatte es nicht eilig, denn sie wollte Christopher nicht über den Weg laufen. Er hatte wegen Geldnot für heute noch einen Termin in der Arbeitsagentur, und die Kasse befand sich genau ein Stockwerk unter Sonjas Büro. Sie, mit der Hilfe von Liane, die in der Leistungsabteilung arbeitete, hatte ihm eine Barzahlung ermöglicht, obwohl aktenkundig war, dass er dazu nicht mehr berechtigt war. Nur dann ein riskantes Spiel, wenn jemand sich auffällig benahm. Und Christopher benahm sich dieses Mal unerwartet auffällig.

    »Prima, wunderbar, bis nachher.«

    Liane legte freudestrahlend auf. Auch sie hatte sich schon lange nicht mehr um die Freundschaft mit Sonja bemüht. Umso mehr sehnte sie sich jetzt nach ihr.

    Sonja freute sich, endlich der überspannten Stadt, die seit Wochen unter einer sengenden Hitze litt, zu entfliehen und gleichsam einige Tage ohne Christopher zu verbringen, der zur selben Zeit seine Oma in Westdeutschland besuchen wollte.

    Für Sonja war es der Anfang einer Auszeit, deren Ende sie offen ließ, um über ihre Beziehung zu Christopher nachzudenken, die sich gefährlich nah zum Abgrund hin entwickelte, wie Sonja empfand. Dass sie damit allein stand, war ihr bewusst. Christopher beschäftigte sich mehr mit sich selbst. Zeit hatte er, war er doch schon seit mehreren Monaten ohne Arbeit. Nach der anfänglichen Euphorie über diese dazu gewonnene Freizeit, bekam ihm die Arbeitslosigkeit jetzt immer weniger gut. Die Aussicht, nicht mehr in seinem Beruf als Fotograf arbeiten zu können und bald eine Aushilfstätigkeit annehmen zu müssen, deprimierte ihn zunehmend. Hartz IV drohte und das würde Sonja nicht mitmachen, da konnte er sich sicher sein. Als Mitarbeiterin einer Agentur für Arbeit hatte sie tagtäglich mit Arbeitslosigkeit zu tun. Und des Öfteren musste sie feststellen, dass Beharrlichkeit sich nicht immer auszahlte, auch wenn der Arbeitsmarkt die Jobs hergab. Dann blieb einem nur noch die Beweglichkeit. Und diese fehlte Christopher.

    Vincent stand im Flur mit dem Arbeitsvertrag in der Hand, immer noch verdattert über die ungewöhnliche Wendung seiner ersten Arbeitssuche in einer für ihn unbekannten Stadt, die er nur ein Mal mit seinem Vater besucht hatte, als er noch ein kleiner Junge war. Daran hatte er jedoch nur vage Erinnerungen.

    Dann dieser Ohren betäubende Knall, Holz splitterte, dann krachte die Tür des Kassenraums aus dem Rahmen. In dem Moment, als Vincent um die Ecke ging, um sich zu orientieren und die Ursache für den Tumult, der losbrach, zu ersehen, wurde er von Christopher fast zu Boden geschubst.

    »Halten Sie ihn doch auf!« keifte eine ältere Dame, die ihren Kopf aus dem Zimmer streckte, das jetzt keine Tür mehr hatte.

    Vincent befand sich immer noch zwischen zwei Gedanken, er fühlte sich nicht angesprochen. Geschockt durch die Gewalt war er nicht mal fähig, sich von der Stelle zu rühren, geschweige denn, einen fliehenden jungen Mann aufzuhalten, der das bestimmt nicht zulassen würde. Langsam sammelte Vincent sich und näherte sich dem Tatort.

    »Falls Sie auch eine Barzahlung haben wollen, es ist zu spät. Freitag um eins ist Schluss!«

    Dieselbe Dame würdigte ihn keines Blickes, sondern begutachtete den Schaden am Türrahmen. Und schüttelte nur noch den Kopf.

    Vincent versuchte zu verstehen, was hier vorgefallen war. An der Tür, die noch halb an den Scharnieren hing, prangte ein Schild »Kasse«. Wahrscheinlich für Arbeitslose in Geldnot, sicherlich nicht für die Angestellten.

    »Ich arbeite hier.«

    Vincent hielt den Umschlag mit seinem Arbeitsvertrag hoch. Er überraschte sich selbst mit dieser Feststellung. Eine sehr kurze Eingewöhnungsphase, dachte er.

    »Ab Montag«, fügte er fast entschuldigend hinzu, als wollte er sich nicht zu schnell mit diesem Arbeitgeber identifizieren, der offensichtlich nicht bei jedem sehr beliebt war. Wieso sollte es hier anders sein als in seiner Heimat.

    »Na dann, willkommen in der Anstalt.«

    Die ältere Dame hatte ihren Humor wieder gefunden.

    »Nicht dass Sie glauben, das hier sei der Alltag. Aber es kommt vor. Und leider immer öfter. Gut, dass wir diese Akten bald nicht mehr benötigen.«

    Sie nahm einige der blauen Akten von ihrem Schreibtisch und legte sie auf einen schmalen Postwagen.

    Vincent wusste, wovon sie sprach. Sein zukünftiger Arbeitsplatz hatte mit diesen Dingern zu tun. Er hatte sich sogar schon das Wort Aktenhaltung gemerkt; wie Käfighaltung, oder ›Bewahren Sie Haltung, Sie Akten!‹ Seine Rolle – bin ich jetzt ein Aktenhalter? – hatte er noch nicht durchschaut, und es interessierte ihn auch noch nicht sonderlich.

    Er hatte andere Sorgen. Sein Arbeitsvertrag brachte ihm zwar eine gewisse Sicherheit, aber er musste jetzt mindestens einen Monat auf sein erstes Gehalt warten. Das hieß, mit seinen ihm noch verbliebenen Euros sparsam umgehen. Zum Glück erinnerte er sich an einen Schauspieler, den er letztes Jahr bei einem Theatertreffen in seiner Heimat kennen gelernt hatte. Damals hatte er gemeint, Vincent könne bestimmt irgendwo in einem besetzten Haus unterkommen. Das wäre jetzt die Lösung.

    »Junger Mann, wenn Sie nur herum stehen, sind Sie auch keine große Hilfe. Besser Sie fahren ins Wochenende.«

    Vincent war wieder in der Gegenwart. Er nickte der älteren Dame zu und verabschiedete sich, froh darüber, dass sein Verantwortungsgefühl für die Situation nicht mehr strapaziert wurde. Er ging zurück um die Ecke in den Flur, an dessen Ende er den Fahrstuhl vermutete. Er kam wieder vorbei an dem Büro seines Vermittlers; die Tür stand auf, Herr Schwab saß an seinem Schreibtisch und hielt ein Taschentuch an seinem rechten Auge, das doch sehr geschwollen aussah.

    »Kann ich Ihnen behilflich sein? Ich habe einen Erste Hilfe Kurs gemacht.« Der unwirsche Blick von Schwab verunsicherte Vincent, der kleinlaut hinzufügte: »Allerdings nicht in Deutschland.«

    Schwabs Blick verriet nur noch Verachtung, Vincent ließ ihn lieber in Ruhe und verschwand zum Fahrstuhl.

    Der dort wartende, etwas ältere, grauhaarige Mann trug ebenfalls einen großen braunen Umschlag. Sie nickten sich zu, als hätten sie gegenseitig ihr Erkennungszeichen richtig gedeutet.

    »Ich kenne den Laden schon länger. Ich hatte vor zehn Jahren schon mal einen Arbeitsvertrag hier. Hab damals nach zwei Monaten entnervt aufgegeben. Jetzt bin ich klüger. Niemals selbst kündigen; dann kann einem nichts passieren. Einfach das Spiel mitspielen, Dienst nach Vorschrift, kann ich nur empfehlen.«

    Vincent schaute ihn an und verstand nichts.

    »Wussten Sie, dass hier an dieser Stelle früher ein Theater gestanden hat. Und dass Marlene Dietrich hier zusammen mit Hans Albers gespielt hat. Das werden Sie aber vergeblich suchen in der Chronik dieses Hauses. Dafür trauen sie sich jetzt, ein Organigramm aus den Dreißigern aufzuhängen mit dem Führer und Reichskanzler an der Spitze der Verwaltung. Das müssen Sie sich mal anschauen.«

    Vincent war zu jung und sah sich zu sehr als Gast in diesem Land, als dass ihn so was aufregen würde. Er fand es eher interessant, dass eine Darstellung der Fakten, so wie sie gewesen waren, jetzt möglich erschien. Dass dieser Kollege, als solcher musste er ihn wohl bezeichnen, ihn gleich damit überfiel, betrachtete er als dessen persönliches Anliegen, das er möglicherweise jedem gegenüber immer wieder vortragen musste, mit oder ohne erkennbaren Grund. Vincent fühlte sich nicht angesprochen.

    »Und das hier war mal ein Theater?«, versuchte Vincent auf das Thema zurück zu lenken, das ihn mehr interessierte.

    »Vergessen Sie es. Eine Anstalt ist es, und nichts anderes. Alles Komödianten. Das werden Sie noch früh genug erkennen. Achten Sie darauf, nicht gleich so verrückt zu werden, wie die meisten hier.«

    Er musste selbst herzhaft lachen.

    »Das hier« – und er deutete auf den Umschlag – »ist Gold wert. Aber lassen Sie sich nicht für immer einsperren. Sie sind noch jung.«

    Dann verschwand er im Fahrstuhl ohne Vincent die Gelegenheit zu geben, ebenfalls mitzufahren.

    Anstalt, einsperren, Komödianten, Vincent konnte die Zusammenhänge nicht deuten. Sein Deutsch war gerade so gut, dass er als Ausländer nicht auffiel. Dennoch blieben ihm manchmal gewisse Bedeutungen schleierhaft. Goldene Handschellen kamen ihm in den Sinn. Oder ein Nasenring? Na ja, für ihn war zunächst wichtig, sich bei seinem Bekannten zu melden. Vielleicht konnte er ihm für seine Wohnungssuche doch noch einen Tipp geben. Er hatte zwar keine Adresse, wusste aber, dass er damals ein Engagement bei einem kleinen Theater im Wedding hatte, möglicherweise auch jetzt noch. Und ansonsten könnten die anderen Schauspieler ihm hoffentlich weiter helfen. Vincent beschloss, die Treppe zu nehmen. Wer es eilig hat, gehe langsam, hatte sein Vater ihm beigebracht.

    Dieser ganze Tumult war an Sonja vorbeigegangen. Sie war fertig, hatte ihren Schreibtisch vorschriftsmäßig aufgeräumt, damit niemand ihr einen schlampigen Umgang mit dem Datenschutz vorwerfen konnte.

    Sie nahm diese Anweisungen im Moment noch ernster, da ihr Team seit gut zwei Monaten von einem neuen Chef geführt wurde, der frisch aus der Zentrale in Nürnberg gekommen war. Für diesen Herrn Pankow war das oberflächlich betrachtet nicht gerade eine Beförderung gewesen, eher ein Stillstand auf der Karriereleiter. Ihm war das Gerücht vorausgeeilt, er habe in der Zentrale einen Burnout erlitten und sollte es zunächst etwas ruhiger angehen. Andere kolportierten, dass er zwar für höhere Aufgaben vorgesehen war, jedoch noch zu wenig Personalverantwortung getragen hatte und sich deswegen noch bewähren musste. Für Herrn Pankow stellte sich das allerdings ganz anders da. Seine ehrenvolle Aufgabe bestand darin, das Team der Auslandsvermittlung in Berlin jetzt neu auf zu stellen. Waren sie bis jetzt nur mit der Vermittlung ins Ausland beschäftigt gewesen, hieß es von heute auf morgen, dass dieses Geschäft im Hinblick auf den Fachkräftemangel politisch nicht mehr zu vertreten sei. Sie sollten sich jetzt auf die Arbeitgeber im Inland konzentrieren und sie für Fachkräfte aus dem Ausland begeistern. Das bedeutete, dass sie praktisch zu Konkurrenten für die Kollegen in den Agenturen in der Provinz wurden, die ihre eigenen Arbeitslosen versuchten, unter zu bringen. Sonja hatte das sofort erkannt und als ersten Schritt einen Newsletter angeregt, um die Kollegen in der Fläche zu informieren und ihnen diese Befürchtungen zu nehmen. In dem Zusammenhang wurde allerdings der Emailverteiler zum Problem, da dieser seit Jahren nicht aktualisiert worden war. Hier müssten sie als erstes ansetzen, wollte Sonja vorschlagen.

    Sie wurde allerdings vom eigenen Team zurückgehalten. Es sei nicht klug, den neuen Teamleiter gleich mit einer fertigen Handlungsweise zu konfrontieren, ohne ihn selbst eine Idee entwickeln zu lassen. Einige erinnerten sie daran, dass er in seiner Antrittsrede mehrfach betont hatte, dass er den Kopf hinhalten müsse und nicht seine Mitarbeiter. Außerdem wurde aus dem Personalrat signalisiert, dass das Berliner Team als zu eigensinnig galt und deswegen jetzt erst recht auf Vordermann gebracht werden sollte. Es beunruhigte Sonja, dass Herr Pankow in der Erledigung dieser Aufgabe alle Anweisungen von oben eins zu eins umsetzen ließ und bis jetzt keinen Spielraum für Kreativität und Eigenverantwortung zuließ. In Sonjas Augen schien er mehr durch Angst als durch Engagement getrieben zu werden.

    Sonja war noch so in Gedanken, dass sie erschrak, als Liane die Tür aufriss. Sie genoss es, wenn ihre Freundin sie so unbekümmert überfiel. Diese Art passte gar nicht zu einer Kollegin, die Tag für Tag Akten bearbeitete, Leistungen berechnete und sich mit unzufriedenen Arbeitslosen herum plagen musste, weil das Geld, das sie bewilligte, nie genug war. Ihre Berufserfahrung und charakterliche Stabilität hielten sie in der Spur, Rückstände in der Arbeit kamen bei ihr nicht vor, sie konnte mit großer Zufriedenheit und Überzeugung freitags um eins den Stift fallen lassen.

    »Sag nichts, ich hole dich jetzt hier raus.«

    Und schon hatte sie sich einen Stuhl geschnappt, die Füße auf einen Heizkörper gelegt und ihren Tabakbeutel aus ihrer Jackentasche gekramt. Sie drehte sich eine Zigarette für den Weg nach Hause.

    »Schön, dass das sofort geklappt hat«, freute sich Sonja.

    Lianes Augen leuchteten auf. Obwohl beide Freundinnen sich schon so lange kannten, stellten sie zunehmend öfters fest, dass sie außer in diesem Amt immer weniger Zeit für einander hatten. Seit Christopher war die Pflege der Freundschaft zu einer Option verkommen, die es immer gab und deswegen immer weniger wahrgenommen wurde. Die beiden waren sich zu sicher gewesen, dass wieder andere Zeiten kommen würden, aber diese wollten sich einfach nicht einstellen. Das wollte Sonja ändern und Liane freute sich.

    »Ja, hast du was geraucht, oder wie kommst du so plötzlich dazu?«

    Sonja lächelte, Liane schien ihre Gedanken erraten zu haben.

    »Ich habe noch was. Christopher ist nicht da. Das Wetter bleibt warm. Kennst du Boltenhagen?«

    »Ich kenne nur die Westseite der Ostsee, aber ich bin für alles zu haben, Hauptsache mal weg aus dieser stickigen Stadt.«

    Beide genossen die eigene Dynamik, die sie jetzt spürten so lange vermisst zu haben. So einfach ging das, sie lachten laut auf. Sonja war von ihrem eigenen Vorschlag begeistert und nahm ihr Handy, scrollte durch ihre Kontakte.

    »Ich rufe Stefan an. Wenn er selbst nichts mehr anbieten kann, hat er bestimmt einen guten Tipp.«

    Sonja war nicht mehr zu halten und Liane genoss es.

    »Er hat ein wunderbares altes Backsteinhaus. 5 Minuten vom FKKStrand. Und Kuchen sag ich dir. Der Chef backt nämlich selbst.«

    »Ist das da, wo du mal gearbeitet hast?«

    Sonja nickte, während sie auf eine Reaktion wartete.

    »Wenn wir nachher gleich losfahren, liegen wir um vier am Strand. Moment, hallo Stefan. Hier ist Sonja. – Ja, die Sonja.«

    Sonja hätte gerne ausführlich erklärt, weshalb sie so lange nichts von sich hatte hören lassen, aber Stefan gab ihr keine Gelegenheit. Zu begeistert war er über ihren Anruf. Selbstverständlich wäre noch ein Zimmer frei, allerdings nur ein Doppelzimmer. Und ja, auch Sonjas Freundin sei herzlich willkommen. Am Ende wollte er dann doch von Sonja wissen, weshalb sie sich seit mehr als einem Jahr nicht mehr gemeldet hatte. Sie vertröstete ihn auf den gemeinsamen Drink am Abend an der Bar. Am Telefon wollte sie die langsam zerbröselnde Beziehung zu Christopher nicht thematisieren und verabschiedete sich mit einem letzen »Super«. Mit einem triumphierenden Lächeln legte Sonja schließlich auf.

    »Das hatte ich nicht gedacht.«

    Liane nickte anerkennend.

    »Manchmal bin ich auch schnell.«

    Sonja lachte, wohl wissend, dass ihre Freundin sie für eher etwas zu genau, ja manchmal pedantisch hielt, weshalb sie meistens mehr Zeit für die Dinge brauchte.

    Sonja nahm ihre Tasche aus der Schublade. Die beiden Frauen waren sich schnell einig, dass sie mit Sonjas Cabriolet fahren würden.

    Die beiden Frauen kamen aus dem Gebäude mit dem A. Sonja schwärmte von den Spaziergängen, die sie machen würden, den Fischbrötchen, die sie zwischendurch verspeisen würden, und den lauwarmen Nächten am Strand.

    Sie legte eine Hand auf Lianes Arm, ein ungewöhnliches Motorgeräusch verlangte ihre Aufmerksamkeit. Liane verstand nicht, dass Sonja sich jetzt ablenken ließ, obwohl sie ihr doch sehr eindringlich die tollen Aussichten für das Wochenende schilderte. Sie drehte sich ebenfalls um und erblickte den Sportwagen, der an ihnen vorbeifuhr.

    »Genau dein Ding, nicht? Aber Sonja, unerreichbar für uns«, meinte Liane. Sie kannte Sonjas Vorliebe für schnelle Autos und wollte jetzt aber endlich ihre ganze Zuwendung. Sie wollte sich auf das Wochenende mit Sonja einstimmen, sie war schon fast an der Ostsee, und in Gedanken auch schon nur noch bei Sonja. Das überraschte und verwirrte sie. Sie erinnerte sich, dass Sonja, obwohl mit Christopher fest befreundet, hin und wieder durchschimmern ließ, dass sie sich, wenn diese Männerbeziehung nicht halten würde, sie sich nur noch mit Frauen einlassen wolle. Sonja hatte das eher scherzhaft gemeint, aber Liane nahm es etwas ernster. Dennoch blieb sie vorsichtig mit ihren Gefühlen. Sonja war manchmal sprunghaft in ihren Emotionen. Eben keine Bearbeiterin von Akten.

    »Gut für einen kühlen Kopf.«

    Sonja drehte sich mit dem vorbeifahrenden Auto mit und scannte den Fahrer, soweit sie ihn in der Dunkelheit des kleinen Cockpits ausmachen konnte.

    Vincent hatte das Verdeck seines Morgans gar nicht erst aufgemacht. Die Sonne schien gnadenlos. Die Straße, die Häuser, alles reflektierte die Hitze. Besser, sich zu schützen. Daher war seine Haut zu hell für die Jahreszeit. Seine blonden Locken unterstrichen diese etwas vornehm wirkende Blässe. Und mit seinen blauen Augen war das Bild eines Engels komplett.

    In der Zentrale der Bundesagentur für Arbeit ging in dem Moment ein enervierender Vormittag zu Ende. Der Vorstandsvorsitzende, der erst vor kurzem diesen Posten geschaffen und mit sich selbst besetzt hatte, war geschasst worden. Die Ankündigung, die Bundesagentur so zu reformieren, dass sie sich selbst abschaffen würde, wurde für ihren ersten Boss unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zu einer selbst erfüllenden Prophezeiung. Er hatte die Widerstände zwar rechtzeitig erkannt, es aber nicht für möglich gehalten, jetzt schon bei Seite geschoben zu werden, denn dafür hatte er gesorgt: der dann fällige goldene Handschlag war dem Chefposten eines Hunderttausend-Mann-Unternehmens mehr als angemessen. Auch wenn er erst einige Monate im Amt war, sein Vertrag war für fünf Jahre abgeschlossen worden und dementsprechend hoch die Abfindung. Er konnte sich nicht vorstellen, dass diese Verwaltungsheinis, wie er sie verächtlich in Gedanken nannte, über ihren Schatten springen und diesen mit so einer schnellen Entlassung verbundenen Imageverlust einfach so in Kauf nehmen würden. Dass sie es dennoch taten, hatte ihm die Sprache verschlagen. Das deutete jedoch mehr daraufhin,

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