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Tropikalisiert: Zehn Jahre arbeiten, leben und lieben in Brasilien
Tropikalisiert: Zehn Jahre arbeiten, leben und lieben in Brasilien
Tropikalisiert: Zehn Jahre arbeiten, leben und lieben in Brasilien
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Tropikalisiert: Zehn Jahre arbeiten, leben und lieben in Brasilien

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About this ebook

„Gehen Sie mal für fünf Monate rüber und unterstützen Sie den Verkaufsleiter in São Paulo. Mit diesen Worten verabschiedete mich mein Chef aus seinem Büro, und zwei Wochen später saß ich im Flieger nach Brasilien.“
Und damit beginnt für Alexander Stampfer das größte Abenteuer seines Lebens. Nach dem anfänglichen Schock über das tropische Klima, die hemmungslose Umweltverschmutzung, die chaotischen Verkehrsverhältnisse und die allgegenwärtige Kriminalität lernt er im Zuge seiner beruflichen Tätigkeit das Land und die Leute unter dem Äquator mehr und mehr kennen und lieben. Und aus den fünf Monaten werden über zehn Jahre, in denen er nicht nur viele Freunde findet, sondern auch eine Familie gründet.
In diesem humorvoll-unterhaltsamen Reise- und Erfahrungsbericht erfährt der Leser nicht nur bemerkenswerte persönliche Erlebnisse und viel Wissenswertes über das fünftgrößte Land der Erde und seine Anrainerstaaten, ganz nebenbei erhält er auch Einblick in die Tätigkeitsbereiche international agierender Unternehmen.

Alexander Stampfer wurde 1971 in Ingolstadt geboren. Seine Ausbildung und sein beruflicher Werdegang in der Rieter AG, einem der weltweit führenden Anbieter für Textilmaschinen, führte ihn in viele Länder der Welt, vor allem aber nach Brasilien, das ihm zur zweiten Heimat wird. Seinen langjährigen Aufenthalt dort hat er in seinem mitreißenden Bericht „Tropikalisiert“ festgehalten.
Alexander Stampfer lebt heute mit seiner brasilianischen Ehefrau und seiner Tochter in Ingolstadt.
LanguageDeutsch
Release dateJan 8, 2014
ISBN9783735799470
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    Book preview

    Tropikalisiert - Alexander Stampfer

    hatte!

    TEIL I – Brasilien von 1995 bis 2002

    Erstes Zusammentreffen, Mai 1995

    Meine Güte, was für eine Enttäuschung! Nasskalt, übler Geruch und hässliche Gegend. Dies waren meine ersten Eindrücke, als ich frühmorgens auf dem internationalen Flughafen São Paulo Guarulhos landete und aus dem Flughafengebäude auf die Straße hinaustrat. Meinen Traum vom tropischen Brasilien musste ich im wahrsten Sinne des Wortes erst einmal auf Eis legen. Südamerika empfing mich mit Nieselregen und rund 10°C. Eine sorgfältigere Abklärung der klimatischen Bedingungen der südlichen Hemisphäre vor Reiseantritt hätte sicherlich nicht geschadet. Was soll’s, dachte ich mir. Ich kam ja nicht zum Vergnügen hierher, sondern der Arbeit wegen, und das Wetter würde sicherlich bald besser werden. Wenn nicht, wäre es auch egal gewesen. Denn das Wichtigste für mich war es doch, Auslandserfahrung zu sammeln, und das begann nun offiziell an diesem kalten Tag.

    Aber was war denn eigentlich wirklich passiert? Was brachte mich in dieses so ferne Land? Die ganze Geschichte begann Anfang Mai 1995 im Büro in Ingolstadt. Mein Chef, Herr Koch, der eben von einer Geschäftsreise aus Brasilien zurückgekehrt war, berichtete in unserer morgendlichen Kaffeerunde, wie dieser aufstrebende Markt boomte und unsere lokale Vertriebsmannschaft mit Anfragen geradezu überhäuft wurde. Leider konnte man dies von der Verkaufsregion Osteuropa, der ich angegliedert war, nicht behaupten. Mehr als Scherz sagte ich daher zu meinem Chef, dass ich noch Kapazitäten frei hätte und jederzeit bereit wäre, dort unten auszuhelfen. Herr Koch nahm dies kopfnickend zur Kenntnis und wechselte dann das Thema. Zwei Tage später rief er mich in sein Büro und bot mir an, für fünf Monate in unser Büro in Brasilien zu wechseln, um die Kollegen dort bei der Projekterstellung zu unterstützen. Selbstverständlich überlegte ich nicht lange und sagte unverzüglich zu.

    Bilder der Copacabana und weiterer Sehenswürdigkeiten Brasiliens schossen mir unmittelbar durch den Kopf, und ich erinnerte mich an einen meiner Lieblingsfilme, den ich als Kind sicherlich ein Dutzend Mal gesehen hatte. »Abenteuer in Rio« heißt die Abenteuerkomödie, in der Jean-Paul Belmondo einen französischen Soldaten spielt, dessen Freundin entführt und nach Brasilien verschleppt wird. Rio de Janeiro, Brasília und der Amazonas sind Handlungsorte dieses Klassikers aus den sechziger Jahren. Mein Weg würde mich nach São Paulo führen, eine Großstadt, die gemäß meiner heimischen Weltkarte lediglich zwei Millimeter vom Atlantischen Ozean entfernt lag. Bei dieser Nähe zum Strand konnte die Stadt also nicht so sehr anders als Rio de Janeiro sein, dachte ich zumindest. Ich freute mich bereits auf die Ausflüge ans Meer, die ich nach der Arbeit unternehmen würde. Was für ein Glückspilz ich doch war!

    Ich hatte genau zwei Wochen Zeit, um so zu träumen, denn eine Woche später lag ein Umschlag unseres Reisebüros auf meinem Schreibtisch, den ich hektisch öffnete. Darin befand sich das Flugticket der Swissair, ausgestellt für Mittwoch, den 24. Mai 1995. Mein Herz pochte wie verrückt, als ich die Destination São Paulo las, und ich konnte es kaum erwarten, dorthin zu fliegen. Noch am gleichen Tag kaufte ich mir einen Langenscheidt-Sprachkurs der Extraklasse zum Selbststudium. Mit einem Buch und zwei Audiokassetten verließ ich den Laden im Zentrum Ingolstadts, begab mich zum Parkplatz und legte die erste Kassette in den Rekorder meines VW Passat ein. »Bom dia!«, ertönte es aus den Lautsprechern. Wie gewünscht, wiederholte ich das Gehörte, und so kämpfte ich mich durch den 120-minütigen Portugiesisch-Kurs für Anfänger. Mein Gehirn reagierte jedoch zunächst sehr abweisend auf die neuen Vokabeln und die sehr komplexe phonetische Struktur. Zu sehr hatte ich meinen Kopf in den vergangenen Monaten auf die russische Sprache getrimmt, sodass mir der rapide Richtungswechsel wirklich schwerfiel und ich mir wünschte, man könnte sich in Brasilien auch irgendwie mit Russisch durchschlagen.

    Abflug ins Ungewisse

    Der 24. Mai 1995 war gekommen und meine erste wirklich große Geschäftsreise stand unmittelbar bevor. Dementsprechend groß war auch meine Nervosität. Ich verschluss meinen fast aus den Nähten platzenden Koffer und wartete zu Hause auf meinen Vater, der sich angeboten hatte, mich zum Flughafen zu bringen. Nervös rutschte ich auf dem Sofa hin und her und blickte auf die Uhr, obwohl ich genau wusste, dass noch einige Minuten bis zum Abholtermin vergehen mussten. Pünktlich wie immer kam mein Vater dann auch bei mir an und die Reise nach München begann. Die Autobahn war leer, sodass wir zügig vorankamen und 45 Minuten später den internationalen Flughafen München »Franz Josef Strauß« erreichten. Wir parkten das Auto und notierten den Stellplatz auf dem Parkticket. Bei vier Parkhäusern, fünf Tiefgaragen und insgesamt rund 15000 Stellplätzen eine taktisch kluge Entscheidung.

    Gemeinsam hievten wir meinen deutlich über der Zwanzig-Kilogramm-Grenze liegenden Hartschalenkoffer aus dem Auto und verließen das Parkhaus in Richtung Flughafenhauptgebäude. Es war ein herrlicher Frühlingstag mit strahlendem Sonnenschein und Temperaturen deutlich über 20°C, sodass mir unter meinem neuen Sommeranzug recht schnell heiß wurde. Abkühlung musste her, also löste ich den Krawattenknoten etwas, um die Luftzirkulation zu verbessern. Trotzdem spürte ich die Schweißperlen auf meinem Rücken hinuntergleiten, während ich meinen bleischweren Koffer zielstrebig zum Check-in-Bereich zog. Als wir nach einigen Minuten am Schalter der Swissair ankamen, fühlte ich mich wie nach einer Fahrradtour in den Oberfränkischen Bergen. Deutlich frischer wirkte hingegen mein in Jeans, Poloshirt und Turnschuhe gekleideter Chef, der bereits am vereinbarten Treffpunkt auf mich wartete. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wusste ich, dass die von mir gewählte Garderobe für eine 20-stündige Flugreise doch eher unpassend war. Mit einem freundlichen Lächeln begrüßte Herr Koch meinen Vater und mich, und kurz darauf reihten wir uns in die Warteschlange bei der Swissair ein.

    Mit unseren Einsteigekarten MUC-ZRH und ZRH-GRU in den Händen verabschiedete ich mich von meinem Vater, der sich anschließend auf den Weg zurück in das Parkhauslabyrinth machte. Ein letztes Winken, und dann ging es durch die Handgepäckkontrolle ins Innere des Abflugbereichs. In den letzten Minuten vor dem Abflug studierte ich eingehend meine Boarding-Dokumente. MUC und ZRH konnte ich mir erklären, aber was bedeutete GRU? Ich wandte mich an meinen Chef, der Zeitung lesend neben mir saß. »Das heißt Guarulhos«, gab er augenblicklich die Erklärung. Guarulhos ist eine Stadt mit fast 1,5 Millionen Einwohnern, welche zur Agglomeration von São Paulo gehört. Der internationale Flughafen von São Paulo, übrigens der größte Südamerikas, hat dort seit 1985 seinen Platz. Somit war auch dieses Rätsel gelöst. Was für ein exotisch klingender Name das war -Guarulhos! Ich freute mich auf Brasilien, auf die neue Verantwortung und natürlich auch auf den Strand. Palmen und leicht bekleidete hübsche Mädchen würden mir die Wochenenden versüßen! Kurz darauf riss mich die Lautsprecher durchsage mit dem Hinweis, dass das Flugzeug nun zum Einsteigen bereit sei, unsanft aus meinen Träumen.

    Das Boarding verlief ohne Zwischenfälle und wir starteten unsere Reise in die Schweizer Wirtschaftsmetropole zur planmäßigen Abflugzeit. In Zürich hatten wir dann noch über zwei Stunden Aufenthalt, also genügend Zeit, um einen Abstecher in die Business Lounge einzulegen. Obwohl ich selbst in der Touristenklasse reiste, durfte ich mit meinem Frequent-Flyer-Chef in die erlauchten Gemächer der Geschäftsreisenden eintreten. Ich muss zugeben, das Ambiente gefiel mir, und ich konnte mir gut vorstellen, hier in Zukunft immer meine Wartezeiten zu überbrücken. Anstatt auf harten Plastikstühlen machte man es sich in der Lounge auf eindeutig komfortableren Sitzgelegenheiten bequem. Ich sah mich ein wenig um und beobachtete die anwesenden Gäste, die mit wenigen Ausnahmen alle Anzüge trugen. Volltreffer, dachte ich und schaute an mir herunter. In diesem Moment fühlte ich mich ein klein wenig wichtig, zumindest kleidungstechnisch war ich an der richtigen Stelle. Eine echte Führungskraft war ich zu diesem Zeitpunkt aber noch lange nicht, der Weg dorthin war noch steinig und weit.

    Die Wartezeit in der Lounge verging wie im Flug, und gegen 22 Uhr ging es zu Fuß zum Gate A 67. Als wir dort ankamen, hatte das Boarding bereits begonnen. Gemeinsam stiegen wir in die McDonnell Douglas MD 11 ein, dann aber trennten sich unsere Wege. Herr Koch bog nach links in die Business Class ab und mein Weg führte in den hinteren Bereich des Langstreckenfliegers. Ich hatte einen Fensterplatz in einer Dreierreihe reserviert, denn ich wollte mir meine zukünftige Heimat gerne von oben anschauen. Den Umstand, dass zur Landezeit in Brasilien noch alles in Dunkelheit gehüllt sein würde, hatte ich nicht einkalkuliert. Ich verstaute mein Handgepäck in der Gepäckablage, entledigte mich meiner Krawatte und begab mich auf meinen Platz. Kurz darauf kam die Meldung, dass das Boarding beendet sei. Zu meinem Entzücken blieben die beiden Plätze neben mir unberührt. Somit hatte ich drei Sitze für mich, was praktisch einem Businessclass-Bett entsprach. Sofort verspürte ich die neidischen Blicke anderer Passagiere, die eingepfercht in der Mittelreihe saßen. Daher wechselte ich unverzüglich auf den Platz am Gang, um meine Reihe hermetisch von der Konkurrenz abzuriegeln. Es war bereits nach Mitternacht, als die Stewardessen mit dem Service begannen. Glücklich saß ich in meiner Komfortzone, genoss das unerwartet schmackhafte Abendessen und trank dazu ein Glas Rotwein. Der bisherige Verlauf der Reise gab wirklich keinen Grund zur Beanstandung, sodass ich etwas später zufrieden mein Nachtlager zurechtmachte. Hierzu schob ich die Sicherheitsgurte zwischen die Sitze, breitete eine Decke über alle drei Plätze und legte mich hin. Es reichte zwar nicht, um die Füße komplett auszustrecken, aber es war deutlich angenehmer als in sitzender Position mit eingekeilten Knien.

    Der Kabinenmonitor zeigte bereits wieder Festland, als ich die Augen öffnete. Wir hatten also den Atlantik überquert und befanden uns über brasilianischem Territorium. Der letzte Teil dieses langen Flugs führte uns über exotisch klingende Städte wie Recife, Aracajú und Belo Horizonte bis nach São Paulo. Rund zwei Stunden vor der Landung servierte die nun auch etwas müde wirkende Kabinenmannschaft noch ein warmes Frühstück. Kurz darauf erhielten die Reisenden zwei Formulare und wurden gebeten, diese auszufüllen. Ein Einreise- sowie ein Zollformular lagen nun vor mir auf dem Klapptisch. Mit der Entscheidung, Tourist oder Business anzukreuzen, zögerte ich. Was sollte ich antworten, wenn mich der Beamte fragte, was genau für ein Business das war und vor allem wie lange ich vorhatte, dieses in Brasilien zu betreiben. Damit war die Entscheidung gefallen und als Purpose of the visit to Brazil kreuzte ich Tourismus an. Nachdem die beiden Formulare ausgefüllt waren, verstaute ich sie sicher in der Brusttasche meines total zerknitterten Hemds, das mir vor einigen Tagen noch als absolut bügelfrei verkauft wurde. Ein Tourist in Brasilien, der mit Anzug anreist, passt das?, dachte ich mir. Zumindest hatte ich mich bereits der Krawatte entledigt, und das Sakko würde ich aufgrund der schweißtreibenden Temperaturen Brasiliens sicher auch nicht benötigen. Etwas später ertönte dann die Stimme des Piloten, um uns über die Ankunftszeit und die aktuellen Wetterdaten in Guarulhos zu informieren. Der Flug verlief planmäßig, sodass die Landung um sechs Uhr morgens erfolgen sollte. Nach einer kurzen Pause folgten die Wetterinformationen, welche mich in eine leichte Schockstarre versetzten. »Leichter Nieselregen und zehn Grad Celsius«, ertönte es aus den Lautsprechern. Nur gut, dass ich ein Sakko dabei hatte!

    In Vorbereitung auf die Landung hatte ich mich wieder auf meinen ursprünglich reservierten Platz am Fenster zurückgezogen. Gespannt blickte ich hinaus, in der Hoffnung, etwas von der unter uns liegenden Metropole erhaschen zu können. Der wolkenverhangene Himmel behinderte die Sicht erheblich, trotzdem konnte ich aufgrund der hell erleuchteten Straßenzüge eine erste Vorstellung von den Dimensionen meiner neuen Heimat erhalten. Sacht lenkte der Pilot die MD-11 über die Dächer der Vororte São Paulos hinweg, und kurz vor sechs Uhr in der Frühe berührte das Fahrwerk die Landebahn des internationalen Flughafens in Guarulhos.

    Unsere Parkposition am Terminal 2 war frei, sodass wir nach kurzem Taxieren ohne größere Wartezeit an unserem Gate andockten. Nach dem Öffnen der Flugzeugtür dauerte es noch einige Minuten, bis sich die Menschenmenge in den beiden Mittelgängen des Flugzeugs zu den Ausgängen in Bewegung setzte. Am Ende des Fingerdocks wartete bereits Herr Koch auf mich, und aus einiger Entfernung erkannte ich, dass er sich mit einer anderen Person unterhielt. Bei ihnen angekommen, machte mich mein Chef mit seinem Gegenüber bekannt. Heiri war ein langjähriger Mitarbeiter unserer Muttergesellschaft in der Schweiz. Zuständig für den technischen Service im Nordosten Brasiliens, lebte er bereits seit vielen Jahren im Land. Herr Koch stellte mich als Juniorverkäufer vor, der in den nächsten Monaten im Büro in São Paulo aushelfen würde. Damit war die kurze Vorstellungsrunde beendet und gemeinschaftlich begaben wir uns zur Passkontrolle.

    Auf dem Weg dorthin kontrollierte ich nochmals meine Hemdtasche, um sicherzustellen, dass ich die Einreiseformulare und meinen Reisepass nicht im Aussteigegerangel verloren hatte. Im relativ engen Korridor des Flughafens stießen immer mehr Menschen zu uns, Passagiere von anderen Flügen, die praktisch zeitgleich mit uns in Guarulhos gelandet waren. Lufthansa, KLM, Alitalia und Air France, das heißt ganz Europa kam im Abstand von nur wenigen Minuten frühmorgens in São Paulo an. Am Ende des Korridors führte eine schmale Treppe nach unten. Bereits auf halbem Weg kam die Menschenkarawane jedoch zum Stillstand, und das lange Warten inmitten verschwitzter und unausgeschlafener Passagiere begann. Zwei Schilder separierten anschließend die Ankömmlinge in Brasileiros und Estrangeiros. Die Schlange der Brasilianer, die lediglich die Fotoseite ihres Passes zeigen mussten, kam sehr zügig voran, was man von der Ausländer-Schlange nicht behaupten konnte. Um diese frühe Tageszeit waren die Kabinen der Bundespolizei noch spärlich besetzt und eindeutig zu wenig, um den großen Andrang der Passagiere zu bewältigen. Zudem machten die Beamten auch nicht den Eindruck, dass sie es besonders eilig damit hatten, die Wartenden abzufertigen.

    Fast eine Stunde standen wir in der Schlange und unterhielten uns über verschiedenste Themen. Ich war natürlich sehr an Informationen über São Paulo interessiert. Heiri meinte, dass sich seine Kenntnisse über diese Millionenstadt begrenzt hielten, denn sein Zuhause lag rund 2500km nordöstlich von hier in einer Stadt namens Natal. Für die nächsten zwei Wochen sei er jedoch zum Bürodienst ins Büro nach São Paulo abkommandiert und gerne bereit, mir einige Sachen zu zeigen. Ich bedankte mich vielmals und freute mich, einen so sympathischen Arbeitskollegen in São Paulo zu haben, der auch noch im selben Hotel wohnte!

    Das Einreiseprozedere verlief dann problemlos, der Beamte stellte mir keinerlei Fragen und stempelte meine Dokumente ab. Ich hatte es also geschafft und war endlich in Brasilien angelangt. Während der langen Wartezeit waren alle Koffer unserer Maschine bereits auf dem Gepäckband angekommen, sodass wir uns kurz darauf in der nächsten Menschenansammlung einfanden. Eine letzte Hürde trennte mich noch vor dem endgültigen Eintritt nach Brasilien, die Zollkontrolle. Die Schlange der Gepäckwagen schiebenden Menschen hatte ein deutlich höheres Durchschnittstempo als die an der Immigration. Ein offensichtlich noch nicht ganz wacher Zollbeamter nahm an diesem frühen Morgen unsere sorgfältig ausgefüllten Formulare in Empfang und machte uns deutlich, dass wir ohne Gepäckkontrolle passieren durften.

    Einige Meter weiter waren wir dann an der Ausgangstür angelangt, die sich automatisch öffnete und uns in den Ankunftsbereich des Flughafens entließ. Ein älterer und sehr sympathisch wirkender Herr, den meine beiden Reisekollegen anscheinend gut kannten, erwartete uns bereits. Es handelte sich um Herrn Richter, einen Mitarbeiter unserer Vertretung in Brasilien, der freundlicherweise so früh aufgestanden war, um uns abzuholen. Nach kurzer Begrüßung marschierten wir zusammen zum Parkplatz. Nach dem Verlassen des Flughafengebäudes erwartete uns der bereits angekündigte Nieselregen, begleitet von einer ungemütlichen Temperatur von rund 12°C. Der Schock saß tief, denn so hatte ich mir Brasilien beim besten Willen nicht vorgestellt. Wir verstauten unser Gepäck im Kofferraum des VW Santana, einem der populärsten Automodelle in Brasilien, und begannen die knapp einstündige Fahrt zu unserem Hotel.

    Bereits nach kurzer Zeit drang ein recht unangenehmer Geruch ins Wageninnere, kurz gesagt stank es wie die Pest. Ich erkundigte mich bei Herrn Richter nach dem Ursprung dieser Dämpfe und erhielt als Antwort, dass der Fluss, an dem wir gerade entlangfuhren, für diesen bestialischen Gestank verantwortlich sei. Der Río Tiete sei die Endstation der Abwässer unzähliger angrenzender Stadt- und Armenviertel, die im brasilianischen Sprachgebrauch Favelas genannt werden. Die Stoffwechselprodukte und weitere Abwässer hunderttausender Menschen laufen tagtäglich ungeklärt in diesen Fluss, der rund 100km von São Paulo entfernt entspringt und 1000km weiter in den gewaltigen Río Paraná mündet. Dieser transportiert das ganze Gemisch dann bis zum Rio de la Plata, das sich bei Buenos Aires in den Atlantik ergießt.

    Ziemlich desillusioniert blickte ich aus dem Fenster in die anhaltende Dunkelheit und setzte meine Hoffnungen nun auf die nahe liegenden Strände Brasiliens. Kurz darauf erkundigte ich mich, wie lange die Autofahrt bis zum Strand dauern würde. Das sei ganz verschieden und hänge vom Wochentag, der Uhrzeit und vor allem vom Wetter ab, erhielt ich als Antwort. Im schlimmsten Fall könne man vier bis fünf Stunden bis zur Hafenstadt Santos in der Autoschlange stehen, und da gehe es dann erst richtig los, um an die wirklich schönen Strände zu kommen. Das Thema Verkehrschaos stieß im Auto auf allgemeines Interesse, und rasch entwickelte sich eine intensive Diskussion darüber. Man konnte sich in São Paulo wirklich stundenlang über den Verkehr und die besten Routen und Reisezeiten unterhalten. Das unglaubliche Verkehrsaufkommen ist Teil des Lebens in dieser Metropole, die auf der Karte doch nur zwei Millimeter vom Atlantik entfernt liegt.

    Ansonsten verlief die Anfahrt zum Hotel, mit Ausnahme eines ersten Staus auf der Stadtautobahn, ohne größere Zwischenfälle, sodass wir gegen acht Uhr morgens im Novotel Morumbi ankamen. Ziemlich kaputt gelangte ich schließlich in mein recht nüchtern dekoriertes Hotelzimmer und freute mich auf eine heiße Dusche. Es blieb noch Zeit, meinen Koffer in Ruhe auszuräumen und die zerknitterten Hemden und Hosen im Schrank zu verstauen, bevor wir gegen zehn Uhr abgeholt und ins Büro unserer Vertretung gebracht wurden. Dort hatten wir seit Beginn des Jahres einige Räume angemietet und einen eigenen Mitarbeiter aus Europa zur Verstärkung platziert. Sehr gespannt wartete ich darauf, meinen Arbeitsplatz für die nächsten fünf Monate in Augenschein nehmen zu können und die neuen Kollegen kennenzulernen.

    Die Fahrt vom Hotel ins Büro dauerte keine zehn Minuten. Wir überquerten erneut den Fluss, dessen Geruch wieder intensiv in das Wageninnere drang. Bisher hatte ich das Gewässer nur riechen können, nun konnte ich es zum ersten Mal richtig in Augenschein nehmen. Sein Wasser war schwarzbraun und sah wie Rohöl aus. Ein toter Fluss, der sich in extrem langsamer Fließgeschwindigkeit seinen Weg durch die Stadt bahnte. Auf der anderen Seite angekommen, passierten wir ein großes Gebäude mit der Aufschrift Shopping Morumbi, und fünf Minuten später hatten wir das Ziel unserer Reise erreicht. Ein aus rotem Backstein erbautes Bürogebäude mit Flachdach lag vor uns. Als wir es umfahren hatten, öffnete uns ein uniformierter Bediensteter das Eingangstor zum Parkbereich des Grundstücks. Wir stiegen aus und marschierten zum Eingang, wo ein weiterer Sicherheitsmann an einem Schreibtisch saß und uns freundlich auf Portugiesisch begrüßte. Ein vollständig aus Holz gebauter uralter Schützenwebstuhl mit Jacquardvorrichtung zierte diesen Bereich des Gebäudes. Dieses Meisterwerk des Textilmaschinenbaus ließ mein Herz höher schlagen und erinnerte mich an den innig geliebten Praxisunterricht im Websaal der Textilfachschule in Münchberg. Wir stiegen die Holztreppe in den ersten Stock empor und meldeten uns im Vorzimmer des Büros unseres Vertreters an.

    Nach kurzer Wartezeit begrüßte uns ein groß gewachsener älterer Herr mit weißem Haar auf Schweizerdeutsch. Ich war überrascht, hatte ich doch immer gedacht, dass es sich bei Herrn Erismann um einen Brasilianer handelte. Wir nahmen an einem massiven Holztisch Platz, und kurze Zeit später betrat eine weitere Person den Raum. Martin, der Leiter unseres Büros in São Paulo, den ich bereits aus früheren Begegnungen in der Schweiz kannte, komplettierte die Runde. Herr Koch stellte mich Herrn Erismann vor und erklärte, dass ich für die nächsten Monate zur Unterstützung von Martin abkommandiert war. Vor einigen Monaten war es gelungen, das Projekt Embratex, den größten Einzelauftrag der Unternehmensgeschichte, abzuschließen, und die Abwicklung dieses Geschäfts sowie die Ausarbeitung weiterer Projekte verlangte nach zusätzlichem Personal vor Ort. Herr Erismann dankte Herrn Koch für meine Entsendung, denn es war natürlich auch in seinem Interesse, die Angebotserstellung zu beschleunigen, um so mehr Umsatz zu generieren.

    Im weiteren Verlauf des sehr informativen Gesprächs wurde mir zum ersten Mal klar, dass wir in Brasilien gegen lokale Konkurrenz zu kämpfen hatten. Die bei uns anfallenden Importzölle verschlechterten unsere Wettbewerbsposition erheblich, sodass wir bei den betreffenden Maschinen praktisch keine Marktanteile besaßen. Aus diesen Gründen waren Komplettanlagen wie das Embratex-Projekt für uns von extremer Bedeutung. Damit konnte man den Nachteil der Importzölle besser kompensieren, denn der teuerste Teil, die eigentlichen Spinnmaschinen, war vom Importzoll befreit.

    Die Unterhaltung war sehr wichtig für mich, war ich doch mit dieser Art von Wettbewerbssituation bisher noch nicht konfrontiert worden. In Europa kämpfte man mit gleich langen Speeren, was hier nicht der Fall war. Wobei man ganz klar eingestehen muss, dass es die Konkurrenz einfach besser gemacht hatte. Im Gegensatz zu uns hatte man mutig den Entschluss gefasst und in eine Fabrik in Brasilien investiert, um heute die verdienten Früchte zu ernten.

    Kurz vor Abschluss des Gesprächs fragte mich Herr Erismann, ob ich Portugiesisch oder Spanisch sprechen würde, was ich beides verneinen musste. Für meinen Job als Backoffice-Mitarbeiter war dies aber auch nicht unbedingt erforderlich. Trotzdem wollte ich meinen fünfmonatigen Aufenthalt in Brasilien ausnutzen und die Landessprache, so gut es ging, erlernen. Unser Vertreter gab mir den Ratschlag, die Dienste einer Sprachlehrerin, die im Gebäude ein und aus ging, in Anspruch zu nehmen. Ich dankte ihm für diesen Hinweis und bat ihn, mir bei der Kontaktaufnahme behilflich zu sein. Seine Sekretärin übernahm dies und vereinbarte bereits für die kommende Woche meine ersten Unterrichtsstunden.

    Im Anschluss zeigte mir Martin meine neue Wirkungsstätte, ein kleines Büro, das direkt an das seinige angrenzte und mir sehr gut gefiel. Durch die große Fensterfront konnte man auf die wenig befahrene Kopfsteinpflaster-Straße hinunterblicken. Um meinen Arbeitsplatz einzurichten, suchte ich als Erstes eine Steckdose für mein Notebook und schloss den Drucker an. Anschließend verband ich das Modem mit dem Telefonkabel, um den Server in der Schweiz anzuwählen. Auch dies klappte, und einige Minuten später hatte ich meine E-Mails aktualisiert. In weniger als einer halben Stunde war alles erledigt und die Arbeit konnte beginnen.

    Ich erhielt auch sogleich die ersten Projekte, die auszuarbeiten waren. Auf einem Zettel, der schon auf meinem Tisch lag, stand geschrieben: »Projekt: Ringgarn gekämmt, Garnnummer Ne 30 für Strickerei, Rohstoff: brasilianische Baumwolle, Monatsproduktion 500 Tonnen«. Das war alles, was ich benötigte, und es konnte losgehen.

    Bereits mitten in der Arbeit schreckte mich ein lauter Knall auf, der eindeutig von der Straße herrührte. Martin störte das Ganze überhaupt nicht, er meinte nur beiläufig, dass wieder einmal ein Auto zu schnell gewesen und über die Lombada

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