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Bibliodrama: Ein Lehr- und Praxisbuch
Bibliodrama: Ein Lehr- und Praxisbuch
Bibliodrama: Ein Lehr- und Praxisbuch
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Bibliodrama: Ein Lehr- und Praxisbuch

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In diesem Lehr- und Arbeitsbuch, das Lust macht auf das vom Psychodrama abgeleitete Bibliodrama, beschreibt Helmut Kreller nach einer theoretischen Grundlegung detailliert und spürbar praxiserfahren Arrangements und Methoden, geordnet nach den drei Schritten >Erwärmung – Im Textraum – Integration<, die sich im Rahmen bibliodramatischer Arbeit bewährt haben.
Dadurch bietet er Einsteigern wie erfahrenen Bibliodramatiker/innen ein weites Spektrum an Theorie, Praxis und weiterführenden Informationen. Einige ausgeführte Beispiele zu Ausschreibungen, verschiedenen Anwendungfeldern und Seminarverläufen, runden das Buch ab.
LanguageDeutsch
Release dateApr 17, 2013
ISBN9783732208050
Bibliodrama: Ein Lehr- und Praxisbuch
Author

Helmut Kreller

Helmut Kreller, geb. 1959, arbeitete von 1985–2004 als Pfarrer und seit 1992 als Bibliodramaleiter. Er leitet seit 2002 das Weiterbildungszentrum >spiel--zeit< in Nürnberg, Erlangen und Berlin und lehrt dort Bibliodrama, Psychodrama und Supervision. Er war mehrfach mit einem Lehrauftrag für Bibliodrama an der Universität Erlangen Nürnberg tätig.

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    Book preview

    Bibliodrama - Helmut Kreller

    Betreuung.

    1 Grundlegung

    1.1 Was ist Bibliodrama?

    1.1.1 Allgemeines

    »Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Geschieht etwas, von dem man sagen könnte: ›Sieh, das ist neu‹? Es ist längst vor uns geschehen in den Zeiten, die vor uns geschehen sind«, meint der Prediger Salomo (Koh 1,9b.10). Und in Goethes Faust II sagt Mephisto zu den Zuschauern: »Auch hier geschieht, was längst geschah, denn Naboths Weinberg war schon da.«¹

    Und tatsächlich: Es gibt keine wirklich neue menschliche Erfahrung. Die großen menschlichen Erfahrungen, die existentiellen Erfahrungen, sind immer gleich. Und es gibt keine dieser Erfahrungen, die nicht auch schon in der Bibel stünde. Alles, was Menschen miteinander und mit Gott erlebt haben und erleben können, ist in diesem Buch bereits Schrift geworden. Die Bibel wird so als Schrift gewordener Niederschlag der von Menschen erlebten Gotteserfahrung verstanden. Was Menschen Jahrhunderte vor uns in ihrem Leben vom Handeln Gottes erfahren haben, ihre Antworten und Gebete, all das ist in der Bibel gleichsam zu Schrift »geronnen«. Jacob Levy Moreno, der Begründer des Psychodramas, nennt diesen Niederschlag, diese Verschriftlichungen menschlicher Erfahrungen »Kulturkonserven.«²

    Bibliodrama (der Begriff »Bibliodrama« setzt sich aus den beiden griechischen Worten »biblion« = »Buch« und »drama« = »Handlung« zusammen und ist wohl Ende der 60er Jahre in Analogie zu Psychodrama gebildet worden) ist der Versuch, die alten biblischen Geschichten mit den vermeintlich »neuen« Lebenserfahrungen heutiger Menschen zusammenzubringen, so dass mein heutiges Leben den biblischen Text deutet und der biblische Text mein Leben. Menschen von heute schlüpfen in die Rollen der Menschen von damals und verlebendigen und vergegenwärtigen so die alten biblischen Geschichten. Auch die in den biblischen Geschichten gespeicherten Heilszusagen können dadurch heute in mein je eigenes Leben einfließen und dieses verändern. »Bibliodrama ist die lebendige Auslegung eines biblischen Textes in die emotionale, politische und religiöse Gegenwart der Teilnehmenden hinein. Im Gemeinsamen und Dissonanten trägt es einen Lebensimpuls in sich.«³

    Kurz gefasst kann man sagen:

    Bibliodrama ist ein kreativer und spontaner Prozess

    Jedem Menschen, der »gesund« geboren wird, sind nach Moreno Kreativität und Spontaneität geschenkt worden. Die Kreativität ist dabei der Anteil, den der Mensch an Gottes Schöpferkraft hat. Wie Gott die Menschen und die Welt erschaffen hat, so kann und soll der Mensch mitschaffen, mitbauen an Gottes neuer Welt.

    Die Spontaneität ermöglicht es dem Menschen, dabei auch Neues zu schaffen, nicht immer nur Altbekanntes zu wiederholen. Durch das Vermeiden dieser immer gleichen Muster machen Kreativität und Spontaneität das menschliche Handeln in jedem Moment unvorhersehbar und nicht planbar. Es wird zu einem lebendigen Prozess. Dieser kreative und spontane Prozess soll auch im Bibliodrama die altbekannten biblischen Texte aus der ewig gleichen Rezitation erlösen, neu zum Leben erwecken und neu fruchtbar machen für ein besseres Leben und eine bessere Welt.

    Bibliodrama ist eine Haltung

    Diese Prozesshaftigkeit des Bibliodramas hat zur Folge, dass die Leitung eines Bibliodramas nicht das Erlernen einiger weniger Methoden erfordert, sondern das Erlernen und Einnehmen einer bestimmten Haltung – den Menschen und dem biblischen Text gegenüber. Diese Haltung wird unter 1.1.18 näher beschrieben.

    Bibliodrama ist Slow Motion mit intensiver Beteiligung möglichst vieler Sinne und Gefühle

    Wer mit seinem Auto auf der Autobahn dahinrast, kann die Blumen und Insekten auf den Wiesen neben der Autobahn nicht erkennen – und will es wahrscheinlich auch nicht. Wer es aber möchte, der braucht Verlangsamung, Slow Motion. Dazu muss ich die Autobahn verlassen, mich auf die Wiese begeben und in Muße die Schönheit und die Einzelheiten der Wiese erkunden. So ist es auch mit biblischen Texten. Auch das einfache Verlesen eines vermeintlich bekannten Textes ist immer noch sehr schnell. Erst wenn ich einsteige in den Text, mich mit viel Zeit und allen Sinnen einlasse auf seine Bilder und seine Schönheit, wenn ich seine Rollen ausprobiere und die Patina durchdringe, die er in der langen Tradition angelegt hat, erst dann werden die Blumen und Farben des Textes neu erstrahlen.

    Bibliodrama hat sich Anfang der 70er Jahre entwickelt – auch aus einem spürbaren Unbehagen an den festgefahrenen Traditionen kirchlicher Verkündigung. Vieles wurde damals probiert, um biblische Texte zu demokratisieren. Es war die Zeit der narrativen Theologie, der feministischen Aufbrüche, des politischen Engagements der Gläubigen.

    Dennoch hat sich bis heute an den Strukturen der Verkündigung nicht wirklich viel verändert. Von der Aufbruchsstimmung des Kirchentags in Nürnberg 1979 beispielsweise ist in der Kirche nur noch wenig zu spüren. Noch immer ist Predigt und Religionsunterricht eher eine Einbahnstraße, noch immer liegt die Deutungshoheit von biblischen Texten nahezu ausschließlich beim Pfarrer oder der Religionslehrerin ⁴.

    Bibliodrama wollte dem ein prozessuales Gruppengeschehen entgegensetzen, das demokratisch und herrschaftsfrei ist, erfahrungsorientiert und ergebnisoffen. Menschen von heute, möglichst Menschen jeden Alters und jeder sozialen Schicht, sollten herausfinden, was ihnen die alten Texte der Heiligen Schrift konkret in ihrem je eigenen Leben zu sagen hätten – und ob sie ihnen noch etwas zu sagen hätten. Nicht von außen erklärt mir jemand, der mein Leben gar nicht wirklich kennt, die Bedeutung dieser Perikope für mich und mein Leben, sondern ich selbst – als der einzige wirkliche Spezialist für mein Leben, als die »größte eigene Autorität«⁵ für mich selbst – verwebe mich spielerisch, spontan und kreativ hinein in den alten Text und finde selbst heraus, wo der Text auf mein Leben trifft und umgekehrt.

    Es hat nicht an Kritik gefehlt an dieser »neuen« Methode. Sie wurde als bloße Spielerei und pseudotherapeutische Methode abgetan oder als pseudotheologisch verteufelt. Ihr wurde vorgeworfen, sie gehe respektlos mit den biblischen Texten um und sie gebe diese der Beliebigkeit oder gar der Gefühlsduselei preis.

    Zugleich erlebte Bibliodrama in den folgenden Jahren einen Boom, der bis heute nicht vorbei ist. Und schon 1989 hieß es in der Berliner taz: »Der bibliodramatische Zauber lässt sich nur erleben, nicht erklären, nur erfühlen, nicht ergründen, nur erfahren, nicht erfassen, nur verspüren, keinesfalls verstehen.«⁶ Und in den Nachrichten der Bayerischen Landeskirche stand 1989: »Insgesamt könnte Bibliodrama die um sich greifende Bibelmüdigkeit und die Unkenntnis biblischer Geschichten (auch bei Theologie-Studierenden!) durchbrechen und wieder Lust machen auf Schönheit und Wahrheit biblischer Geschichten. Wer sich auf das Spielen im Bibliodrama einlässt, der spielt sich jetzt schon hinein in das Heil und die Ewigkeit unseres Gottes. Skeptiker seien deshalb gewarnt: Bibliodrama-Erfahrungen sind ansteckend!«⁷

    Was so vor Jahren aus Methoden von Psychodrama, Theater der Unterdrückten, Rollenspiel, Theaterpädagogik, Gestalttherapie u.a. zusammenfloss und sich als »Bibliodrama« manifestierte, hat sich heute längst kirchlich und religionspädagogisch etabliert. An vielen Orten werden Kurz- und Langzeitausbildungen angeboten, in vielen Kirchengemeinden, Bibelgruppen und Hauskreisen gibt es immer wieder Bibliodramaseminare. Viele Einrichtungen greifen für Workshops, Kurse oder Jahreskonferenzen auf Bibliodrama zurück.

    In unzähligen Lehrplänen für alle Schularten und Altersstufen werden »Bibliodrama«⁹ oder die Arbeit mit »bibliodramatischen Elementen«¹⁰ als Vorschlag zur ganzheitlichen Unterrichtsgestaltung empfohlen.

    Durch die (in manchen Bundesländern noch im Entstehen befindlichen) neuen Lehrpläne für den Religionsunterricht mit Schwerpunkt Kompetenz- und Erfahrungsorientierung und durch das Voranschreiten des Ganztagsschulbetriebs wird Bibliodrama noch erheblich verstärkt einzusetzen sein und zunehmend im Religionsunterricht verankert werden.

    Mit Sitz in Bielefeld versucht die »Gesellschaft für Bibliodrama e.V. (GfB)«¹¹ die vorhandenen Angebote öffentlich zu machen und zu strukturieren und in der Zeitschrift »textraum« den Diskurs über Bibliodrama lebendig zu halten. Die Gesellschaft für Bibliodrama ist es auch, die sich bemüht, die verschiedenen Ansätze und Schulen von Bibliodrama ins Gespräch und den Austausch voranzubringen. Durch das Formulieren von Standards für Bibliodramaleiter und Lehrbibliodramaleiterinnen sichert sie die Qualität der Leiter und Weiterbildnerinnen. Zugleich fördert sie den Austausch in Europa über die Landesgrenzen hinweg, beispielsweise durch die Teilnahme und Veranstaltung des »Europäischen Bibliodramakongresses«.

    1.1.2 Die Konstituenten des bibliodramatischen Handlungsraumes

    Vier Komponenten sind Voraussetzung dafür, dass ein Bibliodrama überhaupt stattfinden kann:

    Es muss ein biblischer Text gefunden sein.

    Es braucht einen geeigneten Raum (Bühne).

    Es muss sich eine Gruppe eingefunden haben.

    Es muss eine ausgebildete Bibliodrama-Leitung anwesend sein.

    1.1.2.1 Der biblische Text

    Der Schweizer Pfarrer und Dichter Kurt Marti assoziierte zu dem, was wir sonst so kurz »biblischen Text« nennen, Folgendes:

    »1 Ein Buch?

    Mehr noch: Eine Bücherei!

    66 verschiedene Bücher von nicht nur 66 verschiedenen Autoren,

    denn manch eines enthält (nach Art der hölzernen Babuschkas)

    in sich wiederum drei, vier kleinere Bücher verschiedener Autoren.

    2 Nicht zu vergessen

    die namenlosen Scharen späterer Bearbeiter, Ergänzer, Verknüpfer,

    der fromme Fleiß ihrer minutiösen Text-Finissage

    während rund eines Jahrtausends jüdisch-urchristlicher Geschichte

    3 Allmählich entstand so:

    ein Bücherbuch vieler Stimmen,

    die nacheinander, nebeneinander, durcheinander, gegeneinander, miteinander

    reden, singen, murmeln, beten.

    Dissonanzen? Jede Menge.

    Widersprüche? Noch und noch.

    Kein ausgeklügeltes Buch.

    Hundert Stimmen Strom (selbst Schriftgelehrte ermessen ihn nicht) – wohin

    will er tragen?

    Über Schwellen, Klippen, Katarakte heimzu, heilzu (hoff ich).

    4 Merklich oder unmerklich nämlich

    strömen die verschiedenartigen, die verschiedenzeitlichen Stimmen

    denn doch und stets wieder zu EINER Stimme zusammen:

    »Das Wunder dieses Zusammenfließens ist größer als das Wunder eines

    einzigen Autors.« (Emanuel Levinas)

    5 Viel-Stimmen-Buch also,

    geselliges Buch (geselligstes der Weltliteratur!):

    in ihm wird die Eine, die verlässliche Stimme

    der geselligen Gottheit laut.«¹²

    Grundlegend für jedes Bibliodrama ist ein biblischer Text des Alten oder Neuen Testamentes, ein kleiner Teil dieses »Viel-Stimmen-Buches« also. Grundlage des Bibliodramas ist damit das Buch, das auch Grundlage der christlichen Religion ist.

    Judentum, Islam und Christentum sind die drei großen Buchreligionen. Die Idee der Buchreligion geht wohl auf das jüdische Exil zurück. Das Buch (zuerst vermutlich das Deuteronomium, dann die Tora und schließlich der Kanon der Hebräischen Bibel) wurde zur Urkunde der Identität Israels. Die hebräische Bibel war den Juden »portatives Vaterland«¹³, mitnehmbare Heimat, die an die Stelle des untergegangenen Staates und des zerstörten Tempels treten konnte. In der Schrift konnte zuhause sein, wer im Exil, im Getto, in den Ländern der Gola nie ganz zu Hause war. »Portativ« war dieses Vaterland nicht nur darin, dass ein Buch ein transportierbarer Gegenstand ist, sondern auch dadurch, dass man es sich einverleiben konnte.

    Jüdische wie christliche Heilige Schrift unterlagen einem Prozess der Kanonisierung. Unterschiedliche Strömungen versuchten, überlieferte Texte in einem Vorgang der Ausbalancierung zwischen Ablehnung und Annahme in ein normatives Gesamtkonzept zu fassen: die eine, heilige und wahre Schrift. Sie ist nach christlichem Bekenntnis »einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilt werden sollen.«¹⁴

    Dabei ist ihr Inhalt nicht widerspruchsfrei. So wird das Gleiche oft unterschiedlich, aber ähnlich erzählt, wie schon zwei Schöpfungsberichte und vier Evangelien belegen.

    Der Widerspruch gegen Einzelnes ist daher erlaubt, wenn er sich vom Gesamten her decken lässt. Das zeigen bereits innerbiblische Beziehungen von Texten auf Texte¹⁵. Texte wollen und sollen mit anderen Texten ins Gespräch gebracht werden – auch mit unseren Lebenstexten –, um die Gegenwart zu deuten und heilvoll zu verändern.

    Die Bibel ist zeitübergreifend. In der Heiligen Schrift sind nicht nur verschiedene Zeiten Schrift geworden und nicht nur eine Zeit, sondern alle Zeit ist aufgehoben darin. Das Buch umgreift die Zeit selbst. Die Schöpfungstexte der Bibel sind zugleich eschatologische Texte.

    Für Bibliodrama bedeutet dies folgendes:

    Biblische Texte speichern, was immer gilt und auf mein Leben heute bezogen sein will: »Heute, wenn dich deine Kinder fragen…« (Ex 12,26; Jos 4,6.21).

    Wer die Bibel als Grundlage christlichen Glaubens und wer Bibliodrama ernst nimmt, kann den Texten zustimmen oder mit anderen Texten entschieden widersprechen, aber er kann ihnen nicht indifferent oder – im wörtlichen Sinn – interesselos gegenüberstehen. Er kann erklären, das, was dort stehe, solle jetzt nicht gelten, er kann nicht erklären, es sei gleichgültig, was da stehe.

    Es geht bei der Beschäftigung mit biblischen Texten um die eine Wahrheit in ihren vielfältigen Ausprägungen und deren vielfältige Übersetzungen in mein Leben hinein. Von der rabbinischen Auslegungstradition können wir lernen, dass es immer mehr als nur einen Textsinn gibt. Dabei geht es jedoch nie um Beliebigkeit, sondern um mehrere mögliche, oft miteinander konkurrierende Deutungen. Ps 62,12 beschreibt dies eindrucksvoll: »Eines hat Gott geredet, ein Zweifaches habe ich gehört.«

    Und Rabbi Jischmael ben Elischa, ein früher Rabbiner, lehrt auf Grund von Jer 23,27 (»Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht Er, wie ein Hammer, der Felsen zerschlägt?«), dass ein Schriftvers vielfältige Bedeutungen haben könne. Diese seien als die vielen Funken und Steinbrocken zu verstehen, die beim Zerschlagen des Felsens entstünden.¹⁶ Und jeder dieser Felsbrocken habe dennoch alles wieder in sich und sei eins mit dem Fels, aus dem er gehauen wurde. Die Bedeutung für das je eigene Leben soll jeder und jede selbst finden: »Grundlage ist die Tora, das unveränderliche und klare Wort Gottes. Aber Gott hat so reichhaltig gesprochen, dass man darin vielfältige Bedeutungen finden kann. Nicht also nur die eine richtige Bedeutung, wie sie im Christentum dann lehramtlich durchgesetzt wird, sondern jeder Forscher und seine Schüler können, ja sollen eine Bedeutung für seine Zeit und seine Lebenswelt finden.«¹⁷

    In einer jüdischen Tradition heißt es, jedes biblische Wort habe 70 Gesichter, siebzig richtige Möglichkeiten der Auslegung, ja noch weitergehend, jeder der sechshunderttausend aus Israel, die am Berg Sinai die Tora empfingen (Ex 2), hätte seine ganz eigene »richtige« Möglichkeit des Verstehens zugeeignet bekommen.¹⁸

    Das von Gott Gesagte will von uns gehört und mit unseren Erfahrungen, unserem Lebenstext, verknüpft werden. Tut man dies, beginnt das Alte heute zu leuchten, zu wirken und erschließt sich in seiner Mehrdimensionalität. Tut man dies nicht, bleiben die Texte eindimensional und totes Papier.

    »Theologische Relevanz gewinnen die biblischen Texte erst, wenn das in ihnen Erzählte, Bezeugte und Durchdachte als Widerschein einer das Leben verändernden Erfahrung erkannt wird. In ihnen verweisen Menschen der Vergangenheit auf ein Gotteshandeln, das ihr Leben in einen neuen Sinnzusammenhang gestellt, ihr Verhältnis zu Mitmenschen und Welt grundlegend verändert und ihnen Zukunft eröffnet hat.«¹⁹

    Der biblische Text, die Lebenserfahrung der Damaligen, drängt ins Heute und will sich mit meiner heutigen Lebenserfahrung messen und zur Deckung bringen, will mir Zukunft eröffnen und mein Verhältnis zu Mitmenschen und Welt heilvoll und sinnvoll verändern. Biblischer Text will erfahren, einverleibt werden und mir ebenfalls eine portative Heimat sein.

    Das Beispiel von der Tütensuppe

    Um es in einem Beispiel zu sagen: Der biblische Text ist wie eine Tütensuppe. Da gab es irgendwann einmal ein wohlschmeckendes, dampfendes Essen, vielleicht eine Tomatensuppe, die so gut geschmeckt hat, dass die Menschen, die davon gegessen hatten, diese Suppe unbedingt haltbar machen wollten für nachfolgende Generationen. Sie überlegten, was alles genau zu dieser Tomatensuppe gehörte (Kanonisierung), dampften sie dann ein (Prozess der Verschriftlichung), bis nur noch winzige kleine Körnchen (Buchstaben, Worte) übrig waren, die nun bequem in eine Tüte (Buch) passten. Man kann nun heute, viele Jahrhunderte später hergehen und diese Tütensuppe analysieren (Exegese). Man wird ein grünes Körnchen finden – vielleicht ein Kräutlein –, ein rotes – Tomate oder Paprika –, und so weiter. Ein Exeget wird viel sagen können über die Bestandteile dieser Suppe, wird Auskunft geben können über die Zutaten und das Rezept, aber er wird sie – wenn überhaupt – nur sehr begrenzt schmecken. Erst wer diese Tütensuppe mit dem heißen Wasser seiner heutigen Lebenserfahrung aufgießt, erfährt und schmeckt die in der Bibel gespeicherte Gotteserfahrung und das in ihr gespeicherte Heil am eigenen Leib.

    Bibliodrama versteht biblische Texte als Schrift gewordene – »geronnene« – Lebens- und Gotteserfahrung, die Menschen aufgrund des Offenbarungshandelns Gottes in der Geschichte zuteil geworden ist. Menschen von damals haben Erfahrungen gemacht mit dem Leben, dem Glauben oder Gott, die so wesentlich waren, dass sie aufgeschrieben und der Nachwelt überliefert werden sollten. Diese Erfahrungen – wunderbare, erschreckende, heilende und andere – sind Daseinsauslegung und liegen uns verschriftet als Altes und Neues Testament vor. Diese Schriften sind klassisch, kanonisch und heilig. Sie unterscheiden sich dadurch von anderen Texten, wie Mythen oder Märchen, die ebenfalls geronnene Lebenserfahrung und Daseinsauslegung zum Inhalt haben, aber nur als klassisch und kanonisch gelten können. Biblische Texte speichern geschehene Gotteserfahrung.

    Im Bibliodrama werden die in den Texten gespeicherten Inhalte Weisheit, Heil, Zukunftsverheißung, Gabe und Aufgabe wieder verlebendigt, dynamisiert, indem eine Gruppe sie ein zweites Mal geschehen lässt.

    Menschen von heute schlüpfen mit all ihrer je eigenen Lebens- und Selbsterfahrung in die Rollen und Texte von damals und verlebendigen diese so. Menschen von heute treten ein in einen Zirkel von spontaner Kreation und Bewahrung des biblischen Textes. Biblische Texte werden auf der Bühne des Bibliodramas ein zweites Mal real, werden neu ernst genommen und sprechen ihre Botschaft direkt und unvermittelt in das je eigene Leben der Spielenden. Diese Spielenden erfahren Gottes Wort unmittelbar an sich selbst.

    Grundsätzlich ist jeder biblische Text spiel- und darstellbar – auch Psalmen, Proömien und Genealogien. Allerdings sind unterschiedliche Textgattungen mit jeweils spezifischen Problemen behaftet (Genaueres hierzu s. 2.4).

    Das Bibliodrama nutzt den Text als Spiegel heute erfahrbarer Wirklichkeiten. Zugleich dient der vorgegebene biblische Text als Geländer, an dem wir uns mit unseren Lebenserfahrungen entlanghangeln. Manches scheint identisch, manches völlig fremd. Und all diese Fremdheiten, Parallelen und Koinzidenzen schaffen neue Interpretations- und Verstehensmöglichkeiten des Textes und der je eigenen Lebenserfahrung. Der Bibeltext deutet das Leben und das Leben den Bibeltext.

    Es ist gut, mit verschiedenen Übersetzungen zu arbeiten. Das allein zerbricht oft schon die festgelegte »Kenntnis« der Geschichte. Meist tritt hierbei zum traditionellen Text in der Übersetzung von Martin Luther oder in der Übersetzung des Einheitstextes ein zweiter, »anderer« Text. Für das Alte Testament empfiehlt sich die sehr wörtliche und ungemein aussagekräftige Übersetzung von Buber/Rosenzweig, für das Neue Testament die (manchmal recht moralische) Gute Nachricht. Für viele Texte ist auch die Bibel in gerechter Sprache sehr erhellend.

    Es ist im Bibliodrama nicht nötig, dass der Text dabei möglichst »richtig« im Sinne von wortgetreu auf die Bühne kommt. Die Teilnehmenden können und sollen den geschriebenen Text bald beiseitelegen und nicht etwa mit der Bibel in der Hand spielen. Zugleich korrigiert der Text aber auch immer wieder das Gruppengeschehen. Immer wieder wird die Gruppe innehalten in ihrer Bewegung und wieder nach dem Text fragen. Neues ist deutlich geworden, bisher Überlesenes in den Blick geraten, Vertrautes fremd geworden. So beginnt Veränderung.

    1.1.2.2 Die Bühne

    »Die einzige Realität auf der Bühne besteht darin, dass auf der Bühne gespielt wird. Spiel gestattet, was das Leben nicht gestattet.

    Was zum Beispiel das Leben nicht gestattet: dass wir die Kontinuität der Zeit aufheben; dass wir gleichzeitig an verschiedenen Orten sein können; dass sich eine Handlung unterbrechen lässt (Song, Chor, Kommentar usw.) und erst weiterläuft, wenn wir ihre Ursache und ihre möglichen Folgen begriffen haben; dass wir eliminieren, was nur Repetition ist usw.

    In der Realität können wir einen Fehler, der stattgefunden hat, zwar wiedergutmachen durch eine spätere Tat, aber wir können ihn nicht tilgen, nicht ungeschehen machen; wir können für ein vergangenes Datum kein anderes Verhalten wählen.

    Leben ist geschichtlich, in jedem Augenblick definitiv, es duldet keine Variante. Das Spiel gestattet sie.«²⁰

    Im Bibliodrama besteht die Bühne oft aus einem für die Darstellung freigemachten Teil des Gruppenraums und wird deutlich von ihm abgegrenzt (z.B. durch Bambusstöcke oder ein Seil o.ä.). Sie kann überall sein: im Klassenzimmer, im Seminarzentrum oder im Wohnzimmer, in dem sich gerade ein Hauskreis versammelt. Sie bietet den repressions- und vorurteilsfreien »Spiel-Raum«, in dem Erfahrung, Veränderung und Gottesbegegnung möglich ist. Im Schutz der eingenommenen Rolle sind hier alle Handlungen und Äußerungen möglich und frei von schwerwiegenden Folgen.

    Während beispielsweise beim Statuentheater ein solcher Bühnenbereich abgegrenzt wird, ist beim bibliodramatischen Gruppenspiel, wenn alle spielen und es keine Zuschauer gibt, der ganze Gruppenraum Bühne. Nur für die Leitung bleibt ein kleiner Ort am Rand, der nicht zur Bühne gehört.

    Sitzt die Gruppe während des Seminars im Stuhlkreis, so wird dieser Stuhlkreis zum Halbkreis, sobald eine Bühne eröffnet wird. Die Bühne wird nie einfach in der Mitte des Kreises eröffnet, da die Zuschauenden sonst nicht die gleiche Sicht auf das Geschehen haben und die Darstellenden umgekehrt nicht wissen, nach welcher Seite sie spielen (darstellen) sollen.

    Die Leitung ist verantwortlich dafür, dass die Bühne leer ist, dass also zu Beginn keine Gegenstände auf der Bühne liegen, die nicht zur Darstellung gehören, und die Bühne nach jeder Darstellung wieder vollständig geräumt wird.

    A Anforderungen

    Die Bühne muss groß genug sein, um Bewegungsfreiheit für die Darstellenden und eine mögliche Vielfalt von Orten (beispielsweise in der Weihnachtsgeschichte: Nazareth, Bethlehem, Hirten auf dem Feld…) und Handlungen gewähren zu können. Viele biblische Geschichten sind Weg-Geschichten und setzen damit eine größere Bewegungsfreiheit voraus.

    Am Bühnenrand müssen leicht zugängliche Requisiten und Verkleidungsmöglichkeiten (Tücher, Masken, Brillen, Hüte…) gelagert sein, die den Darstellenden helfen, in ihre Rolle zu finden. Auch ein paar Stühle, ein kleiner Tisch, Kerzen, Teelichter und Ähnliches werden gebraucht.

    Wichtig sind auch gut variierbare Lichtverhältnisse (Lampen, Vorhänge…).

    B Funktion der Bühne

    Die Bühne ist der Ort, auf dem der alte, heilige Text wieder gegenwärtig lebendig wird. Hier entsteht das Geschehen von damals neu. Spontane Handlungen, spontane Änderungen der biblischen Worte, spontane und oft überraschende Änderungen des biblischen Geschehens werden auf der Bühne real ohne Rücksicht auf spätere Konsequenzen. Verändert eine Darstellerin ihre biblische Rolle, so wird das später im Feedback besprochen und ausgewertet. Die Darstellerin genießt dabei den Schutz der Rolle. Sie hat also nicht »falsch« gespielt, sondern sich aus Gründen, die noch zu besprechen sein werden, in der Rolle und der Situation der biblische Person anders entschieden, als der Text dies berichtet.

    Reale oder phantasierte Personen, Gegenstände, Gefühle und Zustände beleben dank der Imaginationskraft der Gruppe die Bühne.

    C Die Bühnenrealität

    Solange die Bühne bespielt wird, ersteht dort eine eigene Wirklichkeit, die Bühnenrealität. In dieser Realität bin ich nicht die Person, die ich sonst bin, sondern ich bin Abraham, Maria, ein Stadttor oder habe sonst eine Rolle inne. Am Ende muss ich »entrollt« werden, um aus der Bühnenrealität wieder in meine sonstige Identität und Realität zurückzufinden. Es gehört zu den wenigen »groben Fouls« im Bibliodrama, wenn Teilnehmer/innen sich nach Spielende noch mit ihren Bühnennamen ansprechen, also beide Realitäten nicht trennen. Das kann passieren bei Konflikten, die den Schutz der Rolle durchdringen oder in Schulklassen, wo die Freiwilligkeit problematisch und die Tendenz, jemandem einen »Spitznamen« zu geben, besonders hoch ist. Hier ist aufmerksames Eingreifen der Leitung gefordert.

    1.1.2.3 Die Gruppe

    Die Gruppe ist im Bibliodrama der lebendige Spiegel des biblischen Textes. Sie ist Rezipientin und (durch das bibliodramatische Arbeiten) zugleich gegenwärtig »neuerschaffende Autorin« des alten Textes. Zusätzlich inszeniert die Gruppe den neuerschaffenen Text, ist also Regisseurin, Bühnen- und Maskenbildnerin und Beleuchterin. Die Gruppe ist im Bibliodrama das, was im Psychodrama der Protagonist oder die Protagonistin ist (s. 1.3.2.2). Auch der Protagonist ist einerseits Wiederholer, andererseits neu erschaffender Autor, Erzähler und Regisseur seiner wieder verlebendigten Lebensgeschichte. Zugleich bildet die Gruppe den Pool an Mitspieler/innen.

    Das Ergebnis eines Bibliodramas sieht einerseits für jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer anders aus (je nachdem, wo genau der biblische Text deren Wirklichkeit trifft und sich dort verbindet), andererseits ist ein bibliodramatisches Gruppenspiel auch bezogen auf denselben biblischen Text immer wieder neu und anders. Nicht einmal die gleiche Gruppe könnte ein Bibliodrama genau so wiederholen, weil zu einem anderen Zeitpunkt jedes Individuum auch an einem anderen Punkt der eigenen Lebensgeschichte steht.

    Dazu kommt, dass jedes Bibliodrama nicht nur das gestaltete Ergebnis genau dieser Summe von Individuen, sondern immer auch das Ergebnis genau dieser Gruppe ist. Wäre auch nur ein Individuum anders oder nicht dabei, wäre das Ganze anders, denn durch die Gruppendynamik ist jede Gruppe zugleich mehr als nur die Summe ihrer Individuen.

    So ist jedes Bibliodrama einzigartig, ist zugleich erstes und letztes Mal, ist Premiere und Derniere zugleich.

    Im bibliodramatischen Gruppenspiel übernehmen nach Möglichkeit alle Anwesenden eine Rolle. Manchmal gibt es zwei Personen, die sich für die gleiche Rolle entscheiden. Das ist oft bei Hauptrollen so. Beide Personen spielen dann zum Beispiel je eine Seite der Rolle (den ängstlichen und den gehorsamen Jesus in Mt 26). Das Umgekehrte, dass eine Person mehrere Rollen übernimmt, ist in der Regel nicht ratsam, da der Gewinn für einen Teilnehmer größer ist, wenn er sich ganz auf eine Rolle einlässt und diese durchhält.

    Traut sich jemand nicht, eine Rolle zu übernehmen, besteht die Möglichkeit, dieser Person die Rolle eines teilnehmenden Beobachters anzubieten, sodass er oder sie dann im Feedback auch wieder zu Wort kommen und so im Gruppengeschehen verbleiben kann. Eigentlich setzt die Teilnahme am Bibliodrama aber die Bereitschaft zur Rollenübernahme voraus. Diese entwickelt sich in der Regel in der Erwärmungsphase (s. 2.3.2) und durch die Einfühlung (s. 2.3.3.35).

    Will jemand partout »nur zuschauen«, sollte die Gruppe entscheiden, ob sie ihm das gestattet. Eigentlich muss diese Person dann das Bibliodrama aber verlassen.

    Bei anderen bibliodramatischen Methoden, wie etwa dem Statuentheater (s. 2.3.3.30-2.3.3.31), stellt eine Person (die sogenannte »Protagonistin«) ihr imaginiertes Bild, und der Rest der Gruppe bildet den Pool der Mitspieler/innen (»Antagonist/innen«).

    1.1.2.4 Die Leitung

    Aufgabe der Bibliodramaleiterin ist es, die Einzelnen in ihren Verstehensbemühungen hinsichtlich des biblischen Textes und in ihren Veränderungsbemühungen hinsichtlich ihres je eigenen Lebens zu unterstützen. Dazu schafft die Leitung einen verbindlichen und verlässlichen Rahmen (Arbeitszeiten, Raum etc.), strukturiert, moderiert und begleitet. Die Leitung ist verantwortlich dafür, dass die in jeder Gruppe vorhandenen selbstregulatorischen Potentiale und die Kreativität und die Spontaneität jedes und jeder Einzelnen zum Tragen kommen können.

    Er ist Spielleiter, Seelsorger und Analytiker zugleich.

    Als Spielleiter ist er verantwortlich für das Zustandekommen und den Verlauf des Bibliodramas. Er greift die spontanen und kreativen Einfälle der Einzelnen und der Gruppe auf, würdigt diese und leitet die Umsetzung in eine bibliodramatische Szene an, die das betreffende Thema oder die biblische Geschichte möglichst deutlich und angemessen darstellt und weiterführt.

    Als Seelsorgerin behält sie den Zusammenhang von Erfahrungshintergrund der Darstellenden (deren Lebensseite) und der gehobenen Schätze aus dem Text (Textseite) im Blick und stellt solche Zusammenhänge immer wieder zur Verfügung.

    Als Analytiker behält er die Gruppendynamik(en) und den Prozess im Blick. Auch das offene Ansprechen von Vermiedenem (s. 1.6.4) und Widerstand (s. 1.6.3) ist Aufgabe der Leitung. Oft genügt eine Frage wie: »Was passiert hier gerade? « oder: »Was meint ihr, ist gerade los?«

    Der Bibliodramaleiter befindet sich hauptsächlich am Bühnenrand und am Gruppenrand. Er ist nicht als Spieler auf der Bühne und ist nicht Teil der Gruppe. Er leitet nicht in einem autoritären Sinn, deutet nicht und gibt keine Ratschläge, sondern ermöglicht, dass die Gruppe und möglichst jede und jeder Einzelne in der Gruppe zu dem je Seinen kommt. Seine Rolle kann man treffend als »enabler «, »Ermöglicher« beschreiben.

    Die Leiterin eines Bibliodramas »ermöglicht« durch ihre Leitung, dass biblischer Text und Lebenstext zusammenkommen können.

    Deshalb macht die Leitung im Verlauf des Seminars immer weniger eigene Vorschläge. An Impulsen sollten von ihr im besten Fall nur Vorschläge kommen, die bereits in der Gruppe aufgeleuchtet waren. Überhaupt sollte der Leitung immer bewusst sein, dass es wichtig ist, dass die Gruppe arbeitet, nicht hauptsächlich sie selbst. Natürlich behält sie die Aufgabe der Strukturierung, setzt Anfangs- und Schlusspunkte neuer Phasen, ist Anwältin des Textes, wacht über die Einhaltung der Regeln und sorgt dafür, dass Text- und Lebensseite auch zeitlich angemessen zu Wort kommen können.

    Im Idealfall ermöglicht die Leiterin eines Bibliodramaseminars zusammen mit der Gruppe, dass das bezeugte Wort Gottes den Menschen in seiner Ganzheit, in seinem Selbst, d.h. in seiner Existenz und mit seinem Gewordensein, trifft, verändert und heilt.

    1.1.3 Der Erfahrungsbegriff

    1.1.3.1 Allgemeines

    »Ich kenne mich selbst. Ich erkenne mich selbst. Mein Leben, gefangen im Netz der Vernunft, das ein Arzt gesponnen hat, das Gesunde zu mehren. Um 4 Uhr 48 werde ich schlafen.«²¹

    Erfahrung ist wohl eines der ungeklärtesten Worte der heutigen wissenschaftlichen Theologie, obwohl es nicht an Versuchen gefehlt hat, der Vielfalt menschlicher Möglichkeiten, Erfahrungen zu haben und zu machen, durch ordnende Begriffe und Systematisierungen Herr zu werden.

    Zugleich ist der Erfahrungsbegriff eine »Schlüsselkategorie«²² der Moderne, ja sogar »die Schlüsselkategorie der Religionspädagogik«²³ geworden, an die sich viele Hoffnungen und Sehnsüchte knüpfen, Glauben und Kirche neu ins Gespräch zu bringen.

    Bedeutsam wird das Nachdenken über Erfahrung, wenn man bedenkt, dass es in Diskussionen kaum eine schwergewichtigere Aussage gibt als die Berufung auf eigene Erfahrung. Was ich erfahren habe, gibt mir festen Halt und ist verlässlich. Die Berufung auf Erfahrung (»Das habe ich selbst

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