Schön verrückt: Mein Leben mit der Bipolarität
Von Wolfgang Becker
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Über dieses E-Book
Daraus wird der Stoff für eine Paranoia, die schließlich immer wieder in die geschlossene Psychiatrie führt. Die bereits in der Kindheit angelegte bipolare Störung entfaltet sich in anhaltenden Depressionen und schizophrenen Schüben: Nicht immer schön verrückte Episoden im Zwiespalt einer Person mit zwei Gesichtern. Erzählt wird auch über die Liebe zum Leben, zu Frauen und zu seinen Kindern. Und über die Suche nach Heimat, in Niedersachsen aber vor allem in Südfrankreich und auf der Kanareninsel La Gomera.
Das Buch schildert die beharrlichen Versuche, einen Ausweg aus der manisch-depressiven Erkrankung zu finden und ist damit gleichzeitig ein Beitrag zur Selbsttherapie. Ein bewegtes Stück aktueller Zeitgeschichte, ein Mutmach-Buch für Betroffene und ein Erfahrungsbericht aus dem Leben eines Post-68ers, der an der Leichtigkeit des Seins verzweifelte und letztlich doch sein Seelenheil fand.
Wolfgang Becker
Wolfgang Becker, geboren 1953 in Celle, lebt als freier Journalist in Hannover. Nach 20 Jahren als Architekt im öffentlichen Dienst widmet er sich im “Unruhestand” wieder ganz dem Schreiben und Filmemachen.
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Buchvorschau
Schön verrückt - Wolfgang Becker
Auszeiten
Es geht voran – Vorwort zur 2. Auflage
Ich sei auch so ein Whistleblower, meint mein Lieblingsschwager. Schließlich hätte ich hemmungslos ausgepackt, ohne Rücksicht auf Verluste. Sehr intim, belastende Details über Angehörige, nicht zuletzt zuviel Eingemachtes über mich selber. Tatsächlich wird im vorliegenden Buch kein Blatt vor den Mund genommen. Ich habe mich komplett und öffentlich ausgezogen. Daran hätten Verfassungsschutz und NSA keine Freude, denn auszuforschen gibt es in meinem Leben nach diesem Text rein gar nichts mehr.
Für die Erstauflage meines Buches habe ich viel Zuspruch geerntet. Einige Stimmen sind auf der letzten Seite zusammengestellt. Aber auch herbe Kritik: unfreundlich zu Frauen, ehrverletzend, oberflächlich beim Krankheitsgeschehen. Ich kann und will es nicht allen recht machen, nur einfach festhalten, was ich so erlebt habe. Dafür habe ich meine eigenen Worte gefunden.
Mit knapp 60 habe ich alles über mein bisheriges Leben aufgeschrieben. Fast alles, denn natürlich gibt es letzte Geheimnisse, die nicht verraten werden sollen. Szenen aus Kindheit und Jugend, aus der Zeit als rasender Reporter, aus dem Sumpf von Rechtsextremisten und Geheimdienstlern, von der Suche nach Heimat und nach eigener Familie. Es ist meine Geschichte über mein Leben. Die kann und muss nicht allen gefallen.
Die vorliegende Autobiografie soll auch ein Erfahrungsbericht sein: Über Zustandekommen und Verlauf der psychischen Erkrankung, einem manisch-depressiven Irresein oder neudeutsch einer Bipolaren Störung. Und vor allem soll sie zeigen, wie sich nach langem Leiden ein bekömmlicher Umgang mit der Krankheit und das Seelenheil finden ließ. Es könnte anderen Betroffenen und deren Angehörigen Mut machen. Und auch Psychiatern und Psychologen den einen oder anderen Denkanstoß liefern.
Wolfgang Becker, im Dezember 2013
Horrornacht in der Nervenklinik
Der Schmerz reißt mich aus dem Schlaf. Leider ist es kein Albtraum, sondern brutale Realität. Jemand hält mich im Schwitzkasten und schlägt meinen Kopf gegen die Wand. Immer wieder und immer wieder. Aus dem festen Griff eines kräftigen Mannes gibt es kein Entrinnen. »Hilfe, Hilfe« – meine gellenden Schreie wecken die ganze Krankenstation auf. Als erster taucht ein Mitpatient auf und geht sofort dazwischen. Der Schlägertyp lässt endlich los. Ich erkenne ein fremdes Zweibettzimmer, dass sich schnell mit Menschen füllt. Auch die Pfleger sind jetzt alarmiert. Sie bringen mich zurück in meinen eigenen Raum, kühlen die schmerzenden Beulen und helfen mir danach, wieder ins eigene Bett zurückzufinden. Mir dröhnt der Schädel und ich kann nur schwer einschlafen.
Es ist lange nach Mitternacht auf Station 1 der Nervenklinik in Langenhagen. Teil des Klinikums Region Hannover und neudeutsch KFPP – Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Hier habe ich mich am Vortag selbst eingeliefert. Zuvor war ich nach einem zweiwöchigen Kanarenurlaub psychotisch geworden und bin dann 48 Stunden lang herum geirrt. Habe mich in meinen flamingofarbenen Porsche 924S gesetzt und bin nach Celle gerast, meine alte Mutter Eleonore besuchen. Auf der Rückfahrt am Autobahndreieck Mellendorf mit vollen 220 Stundenkilometern auf der Überholspur. »Slow down, you move too fast«, nach zwei Tagen und Nächten krankhafter Odysee, in voller Manie und ohne Schlaf, weiß ich an diesem 9. Februar 2006 selbst, was zu tun ist und wo ich hingehöre.
Gegen Mittag sitze ich in der Institutsambulanz der KFPP in der hannoverschen Königstraße. Mein behandelnder Psychiater Dr. Thomas Kammeyer braucht nicht lange, um den Ernst der Lage zu erfassen. Er telefoniert sofort mit der Aufnahmestation der Klinik und schreibt eine Einweisung. Fortgehen lassen will er mich nicht mehr und drängt auf eine schnelle Fahrt mit einer Taxe oder einem Krankenwagen direkt nach Langenhagen. Ich bestehe darauf, vorher nochmal nach Hause zu gehen, um meine Sachen zu packen. So läuft es dann auch, von meiner Wohnung aus rufe ich bei meiner Ex-Frau Brigitte an, ob die mich hinbringen kann. Nach kurzer Zeit kommt sie mit ihrem Lebenspartner Rudolf und wir fahren zügig zur Klinik. Hier kennt man mich schon. Außerdem bin ich ja bereits angemeldet, so dass die Formalitäten schnell erledigt sind.
Schon bald liege ich in einem Zweibettzimmer. Mein Mitpatient, ein etwa 40-jähriger Bursche mit langen Haaren und starkem Bartwuchs, schläft bereits. Sein lautstarkes Schnarchen füllt den Raum. Gegen abend gibt mir der diensthabende Arzt eine Spritze. Zur Beruhigung, heißt es. Nach einer halben Stunde setzt die Wirkung ein. Plötzlich todmüde schlafe ich schnell ein. Es folgt ein schrecklicher Traum: die Ärzte haben mich mit dem Schnarcher von nebenan verkabelt und gemeinsam sollen wir die Welt retten. Dabei ist einer von uns der Verlierer und zum Sterben verdammt.
Ziel dieses grausamen Spiels ist es, sich tot zu stellen und keinerlei Bewegungen oder Geräusche mehr zu machen. In dem Maße, in dem man das selber schafft, geht es dem Spielpartner im Bett nebenan immer schlechter, bis er irgendwann stirbt. Ich reduziere all meine Körpertätigkeiten, bin ganz ruhig und stelle sogar das Atmen ein. Nur meinen Herzschlag vermag ich nicht zu stoppen. Durch dessen lautes Pochen kommt es schließlich zur Katastrophe: Ich bin der Verlierer und die Welt geht in einer atomaren Explosion unter. Aber damit ist nicht Schluss. Im Zeitraffertempo der Evolution baut sich eine neue Welt nach der anderen auf, um sogleich wieder unterzugehen. Im medikamentösen Tiefschlaf erlebe ich eine Apokalypse nach der anderen. Und ich bin schuld daran, dass sich alle Zivilisationen schnell wieder selbst vernichten.
Aufgewacht bin ich mit dem Kopf an einer Steinmauer. Hinterher erfahre ich, dass ich wohl schlafgewandelt bin. Auf der Suche nach einer Toilette lande ich in einem Nachbarzimmer und uriniere dort in meiner Not in das Waschbecken. Einer der Bewohner dieses Zimmers, ein muskulöser und offenbar zu Gewalttätigkeiten neigender Russe, findet das gar nicht lustig. Er packt mich mit festem Griff und rammt meinen Schädel an die Wand. Ich kann froh sein, dass nichts Schlimmeres passiert.
Von den ups and downs des Lebens
Höhen und Tiefen kenne ich schon immer. Seit der Kindheit gehören sie zum Alltag meines Lebens. Mal schwarz, mal weiß. Aber in meiner midlife-crisis schreit meine Existenz nach Auszeiten. Die Leichtigkeit des Seins ist nicht mehr zu ertragen. Ich will lieber schön verrückt als stinknormal sein. Grenzerfahrungen machen, keine Kompromisse schließen. In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod ist die Devise. Besser mit dem Kopf gegen die Wand als kopflos an die Mauer. Obwohl das am Ende immer als Ergebnis steht.
Ich bin bipolar, leide seit bald 30 Jahren unter einer manischdepressiven Erkrankung. War bisher elfmal in der Psychiatrie, meist gegen meinen Willen. Habe jahrelang Therapie gemacht und schlucke dauerhaft Psychopharmaka. Bin all die Jahre berufstätig geblieben, habe zwei Kinder mit groß gezogen. War für meine Mutter immer ein guter Sohn. Zwei Ehen und eine langjährige Beziehung sind in der Krankheit gescheitert, trotzdem lebe ich heute wieder in liebevoller Partnerschaft. Vielleicht habe ich früher mit den Frauen einfach etwas falsch gemacht.
Es ist wie es ist. Ich bin so hoch auf der Leiter, doch dann stürze ich ab. Wiederkehrende Schübe von Schizophrenie oder manisch-depressivem Irresein. Des Wahnsinns fette Beute. Bipolare Störung oder Psychose aus dem schizo-affektiven Formenkreis. Nicht mehr normal, sondern eben verrückt. »Wolf, tu es comme un ours. Du bist wie ein Bär,« hat meine französische Freundin Marianne einmal gesagt. »Mal verkriechst Du Dich müde in Deine stille Höhle, dann wieder läufst Du voller Lebenslust und laut brüllend durch die Gegend.«
Der Bär hat sich ausgebrüllt. Mit den Jahren habe ich gelernt, mit wechselnden Stimmungen klar zu kommen. Mich selbst zu kontrollieren und bekömmlich zu leben. Das muss trainiert werden. Systemische Gesprächstherapie und Psychoedukation führen zum Durchbruch. Den kleinen Schalter im Kopf brauche ich jetzt nicht mehr umlegen. Nicht mehr zwischen Normalität und Verrücktheit hin und her switchen. Ergänzend gehören Pillen morgens und abends zum täglichen Alltag. »Daddy's little helper« eben.
Die Krankheit hat ihren Schrecken verloren. Ich kann heute mit ihr umgehen und habe keine Angst mehr vor einem neuen Schub. Ein Psychologe hat mich jahrelang gecoacht, Psychiater mich beraten und medikamentös eingestellt. Synapsen, Dopamin und Endomorphine sind zumeist im grünen Bereich. Sehe ich doch mal rot, versuche ich gegenzusteuern. Ist das Limit überschritten, gehe ich zum Arzt und anschließend in meine Klinik. Die kenne ich mittlerweile gut und dort kennt man mich auch. Bei allem Schrecklichen, was sich hinter Krankenhausmauern auch abspielt: Ein Schonraum, in dem mir geholfen wird. Nach vier bis sechs Wochen ist meist alles vorbei.
Kindheit und die frühen Jahre
Ich bin ein Kuckuckskind. Meine Mutter Eleonore hat schon immer etwas Besonderes mit mir vor. Sie bringt mich in einer langen Geburt am 23. November 1953 im St. Josefstift in der Celler Kanonenstraße zur Welt. Leider komme ich für ein Sonntagskind eine Viertelstunde zu spät. Dafür besucht mich der »Vater« gleich am ersten Tag stolz in dem Kreißsaal und bewundert voller Begeisterung seinen Stammhalter. Endlich ist es ein Junge geworden. Herbert Becker ist damals 39 Jahre alt und hat schon drei Kinder. Was er ahnt aber wohl auch nicht so genau weiss: Nur eins davon ist von ihm. Den Rest hat der Kuckuck ihm in's Nest gelegt.
Rosemarie, die Zweitgeborene, zeugt Herbert in der ersten Euphorie der 1940 geschlossenen Kriegsehe mit seiner Erika Eleonore. Vom Standesamt in Wuppertal geht es damals als Wehrmachtssoldat direkt auf die Zugmaschine der Nebelwerfer und damit gen Belgien und Frankreich. Da ist deren älteste Tochter Annegret als uneheliches Kind schon fast ein Jahr auf der Welt. Eleonore hat sie sich mit neunzehn mehr oder weniger unfreiwillig andrehen lassen. »Der Mann hat mich betrunken gemacht«, erzählt sie noch viele Jahre später, es sei sozusagen im Vollrausch über sie gekommen.
Auch die im ersten Nachkriegsjahr geborene Barbara ist offenbar nicht Herberts leibliche Tochter. Sondern seiner Meinung nach, wie er mir unter Tränen viel später einmal mitteilt, vom eigenen jüngeren Bruder Hans. Offenbar ist meine Mutter kein Kind von Traurigkeit. Ihre vier Kinder sehen alle sehr unterschiedlich aus. Drei davon sind Kuckuckskinder. Aber der 1991 verstorbene Herbert wird noch heute von allen Frauen der Familie fast liebevoll als »der Vater« bezeichnet.
Wir leben in einem kleinen Dreifamilienhaus in der Harburger Straße 83b direkt am Bahnhof Celle-Vorstadt. Es gehört zu einer Gruppe von drei Häusern mit Betriebswohnungen der Privatbahn OHE. In den bestimmt 20 Familien gibt es viele Kinder und damit Spielgefährten. Ich erinnere mich lebhaft an die kesse Eva-Lotte K. und unsere kindlichen Spiele. Mit beschranktem Bahnübergang kreuzt bei uns die Bundesstraße 3 die zweispurige Strecke der Osthannoverschen Eisenbahn. »Ohne Hast und Eile«, übersetzt Herbert deren Kürzel gern. Er hat sich nach dem Krieg bei der Bahn vom Schienenleger zum fahrenden Personal hochgearbeitet. Als Zugführer beeindruckt er mich in seiner blauschwarzen Uniform mit den silbernen Knöpfen. Und mit seiner Trillerpfeife und der Karbidlampe aus Messing. Damit macht er im Dunklen Leuchtzeichen, wenn er mit den Güterzügen an unserem Haus vorbeifährt.
Besonders beeindruckend sind die Panzerzüge. Die werden meist gemächlich von zwei schnaufenden Dampfloks gezogen und fahren in die Natocamps Bergen-Hohne oder Munster-Lager. Flache Güterwagen transportieren Panzer und Haubitzen ins Manöver. Doch zuerst kommen nach den Lokomotiven die Personenwagen mit den Soldaten. Zumeist Amerikaner und Engländer. Dann steht die große Kinderschar aus den anliegenden Häusern am Bahndamm und winkt und schreit, damit die Alliierten etwas herunterwerfen. Es hagelt dann kleine Dosen mit Wurst oder Schokolade. Einmal wird mir eine solche wohlgemeinte Büchse direkt an den Kopf geworfen.
Mein leiblicher Vater heisst »Onkel Richard«. Er ist wie Herbert Becker verheirateter Eisenbahner, dazu Hobbygärtner. Zum Frühling bringt er immer selbstgezogene Blumen und Gemüsepflanzen vorbei. Die muss Herbert dann unter Anweisung von Eleonore in die Erde bringen. Richard kommt oft ins Haus, gibt mir dann meistens ein kleines Geldstück, später sogar oft eine ganze Mark. Dafür soll ich dann losgehen und mir was kaufen. Onkel Richard möchte mit der Mutter Eleonore lieber ungestört sein.
Zum vierten Geburtstag schenkt mir Richard Schulz ein blaues Kinderfahrrad. Geradeausfahren klappt auf dem Weg am Bahndamm in Celle-Vorstadt problemlos, nur zum Anhalten muss ich anfangs immer gegen den Zaun lenken. Einmal komme ich dazu, wie Richard und Eleonore auf dem Sofa im Wohnzimmer beieinander liegen. Ich kann das nicht verstehen und einordnen, finde es aber unangenehm. Schon im Vorschulalter beginne ich, mich an Sofakissen zu reiben. Masturbation ist seitdem ein ständiger Begleiter. Meine geliebte Mutter treibt es mit anderen Männern. Ich bumse dafür die Kissen.
Zwischen den Eltern gibt es oft Streit. Vor allem immer wieder regelmäßig zu Festtagen. Kaum ein Weihnachten oder Ostern vergeht ohne Schreierei. Fast noch schlimmer aber ist das manchmal wochenlange Schweigen zwischen Vater und Mutter. Da werden dann nur noch Zettel geschrieben oder ich als Kind als Überbringer von Informationen eingespannt. In diesen Konflikten schlage ich mich wie meine drei Schwestern emotional immer auf die Seite von Eleonore. Sie ist unsere »Mutti«, setzt sich für ihre Kinder ein. Ist aber auch oft weg, wenn es drauf ankommt.
In zwei aufeinander folgenden Jahren reist Mutti Anfang der 1960er Jahre mit »Tante Hilde« B. in das damals noch von König Isis regierte Lybien. Hilde ist die Mutter meines Großcousins aus Garmisch-Partenkirchen, die wir dort auch oft besucht haben. Meine jüngste Schwester Barbara und ich werden dann in Wuppertal bei »Tante Julie« S. geparkt. Oder ein anderes Mal von der älteren Schwester Annegret beaufsichtigt, die samt ihrer beiden kleinen Kinder dann in Celle das Elternhaus mit dem »Vater« und den kleinen Geschwistern einhütet.
Wenn Mutter mal wieder reist, landen wir Kinder auch oft bei »Tante« Erna und »Onkel« Willi K. in Ehra-Lessien im niedersächsischen Zonengrenzgebiet. Dort genießen wir das Dorfleben, sammeln von den Pflanzen gelbgestreifte Kartoffelkäfer als Hühnerfutter ein oder gruseln uns beim Hausschlachten des Schweines und spielen mit den herausgeschnittenen Augen Fußball. Die etwas jüngeren Dorfkindern Reinhard und Sabine K. empfinde ich als meine weiteren Geschwister.
Der Vater Herbert ist in meiner Kindheit eine schwache Figur. Unser Haushalt ist frauendominiert, meine Mutter hat die Hosen an. Erziehung und Finanzen liegen in ihrer Hand. Herbert kennt nur die Arbeit im wechselnden Fahrdienst bei der OHE und den Kleingarten mit Karnickelstall. Allerdings übernimmt er auch Hausarbeiten, steht bei der großen Wäsche am Kochkessel, heizt die Öfen ein und kocht uns Kindern seine Lieblingsgerichte: Den Eintopf »Quer durch den Garten« oder passiertes Möhrengemüse mit Schweineschwanz-Einlage. Wenn es Streit mit Mutter gibt, fliegt das Essen auch mal an die Wand. Sein »Dortmunder Union«-Bier und die HB-Zigaretten muss ich ihm oft vom Kiosk holen. Im Urteil der Frauen meiner Familie ist er abwechselnd der »jähzornige Sturi« oder der »Schlappschwanz«, mit dem so gar nichts geht.
Auch ich erlebe Herbert als »Inkarnation der Unkultur«. Im Kaninchenstall hinterm Haus verbringe ich einsame Stunden, baue mir ein Holzgewehr und lege im Geiste auf meinen Vater an. Später schnitze ich Kerben in meinen Bettumbau und wünsche Herbert mit jeder den Tod. Mit 16 kommt es zur Kraftprobe, im Streit stoße ich meinen Vater zu Boden. Der rennt sofort in den Keller und dann mit einer Axt hinter mir her. Meine Mutter stellt sich in den Weg und ich flüchte zu Bekannten. Der in seiner Wut jähzornige Herbert hat das Nachsehen. Danach wird er mich nie mehr mit körperlicher Gewalt züchtigen.
In meinem frauendominiertem Elternhaus erlebe und praktiziere ich zunehmend ein »Schwarz-Weiß-Denken«. Mein Vater ist kein Vorbild, sondern der underdog der Familie. Hass ist das vorherrschende Gefühl für ihn. Und auch die Zuneigung meiner »Mutti« Eleonore findet ihre egoistischen Grenzen. Sie flüchtet in Reisen und zu anderen Männern. Meine Mutterliebe ist gebrochen, immer wieder fühle ich mich auch von ihr verlassen. Im Grunde hasse und verachte ich beide Elternteile.
Erst im Alter wird es mit ihnen zur Aussöhnung kommen. Als Herbert 1991 ins Altersheim kommt, ist er nach mehreren Schlaganfällen weich und infantil geworden. Ich besuche ihn häufig und er kann sich auch mir gegenüber liebevoll öffnen. Ein spätes liebevolles Verständnis bringt ihm kurz vorm Sterben auch seine Ehefrau entgegen, was ihm das Loslassen erleichtert. Heute, im Jahr 2013, lebt auch Eleonore mit schwerer Demenz in einem Altersheim. Schon die letzten Jahre, in denen sie langsam in Vergeßlichkeit und Verwirrtheit hinein gleitet und zum Pflegefall wird, habe ich die Liebe zu ihr neu definiert. Sie ist nicht mehr die widersprüchliche »Mutti« meiner Kindheit, sondern die hilflose Greisin »Eleo«, die meiner liebevollen Unterstützung bedarf.
Suche nach Ersatz für den schwachen Vater
Schon früh orientiere ich mich an Ersatzvätern. Eine wichtige Rolle spielt der 14 Jahre ältere »Onkel« Erwin, eigentlich mein Großcousin mütterlicherseits. Er besucht uns in Celle im Bukkelvolvo mit seiner Mutter, »Tante Hilde« aus Garmisch-Partenkirchen. Und er bringt, wieder im Volvo – diesmal Typ Amazone