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Wilde Freiheit 2. Teil: 15 Monate am Anfang der Welt - Überwinterung mit den letzten Rentiernomaden in der Mongolei
Wilde Freiheit 2. Teil: 15 Monate am Anfang der Welt - Überwinterung mit den letzten Rentiernomaden in der Mongolei
Wilde Freiheit 2. Teil: 15 Monate am Anfang der Welt - Überwinterung mit den letzten Rentiernomaden in der Mongolei
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Wilde Freiheit 2. Teil: 15 Monate am Anfang der Welt - Überwinterung mit den letzten Rentiernomaden in der Mongolei

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About this ebook

Ziel unserer Expeditionsreise waren die letzten tuwinischen Rentiernomaden in der Mongolei. In diesem Buch berichten wir über das abenteuerliche und einfache Leben mit den Nomaden, in dem die kleinste Fehlentscheidung – ein einziger Schritt daneben – tödlich enden kann. Und doch ist es ein Dasein, welches bis zur letzten Sekunde wert ist, gelebt zu werden.

Schon die Tuwa zu erreichen war schwierig. Die Rentiernomaden leben in der Taiga, einer schwer zugänglichen Region der Nordmongolei. Auf der anderen Seite des 3.000 Meter hohen Schneegebirges Khoridol Saridag, unweit der sibirischen Grenze, dort wo Flechten den Rentieren der Nomaden Nahrung bieten, trafen wir die Tuwa in ihrem Winterlager.

Wir ersuchten um ihre Gastfreundschaft. Im eigenen Tipi durften wir als erste Europäer einen kompletten Winter mit diesem Urvolk verbringen. Bei Temperaturen von minus 50 °C ließ der arktische Winter das Leben erstarren. Die einsamen Tage und Nächte, das Heulen der Wölfe, Blizzards, Erdbeben und das pure Überleben sowie das Leben mit archaischen Riten und Gebräuchen wurden für uns Herausforderung und Bereicherung zugleich.

Im Frühjahr, noch bevor der Boden zu einem tückischen, unpassierbaren Morast mutierte, brachen wir wieder mit unseren Pferden auf, um die 1.500 km lange Rückreise anzutreten. Pferdediebe, tägliche heftige Gewitter und das außergewöhnliche Kontinentalklima mit 40 °C im Schatten waren nur ein kleiner Teil der sich unaufhörlich verändernden Herausforderungen. Ohne Zweifel eine Expedition am Limit des menschlich Machbaren, gebündelt mit Tiefgang und großem Respekt für unsere Mutter Erde.

Ein fesselndes Buch, in dem die Abenteurer es schaffen, als vollwertige Stammesmitglieder der letzten noch ursprünglich lebenden Rentiernomaden aufgenommen zu werden.

Pures, ungeschminktes Abenteuer, spannend und authentisch erzählt.

Mutter Erde lebt!


Eine in sich abgeschlossene Geschichte
LanguageDeutsch
Release dateMay 26, 2015
ISBN9783739252346
Wilde Freiheit 2. Teil: 15 Monate am Anfang der Welt - Überwinterung mit den letzten Rentiernomaden in der Mongolei
Author

Denis Katzer

Denis Katzer, am 25.01.1960 in Nürnberg geboren, hat das Reisen zu seinem Lebensinhalt gemacht. Nach Berufsausbildung und Bundeswehrzeit bei einer Spezialeinheit arbeitete er als Verkaufsleiter und begann 1983, Expeditionen zu abgelegenen Urvölkern unserer Erde durchzuführen. 1991 gab er die Berufstätigkeit auf und startete sein 50-jähriges Lebensprojekt: Die Grosse Reise. Während der Zwischenstopps veröffentlicht der Abenteurer, Autor, Fotograf und Filmer seine Erlebnisse in Zeitschriften und Magazinen, hält Diavorträge, schreibt Bücher und arbeitet an Filmdokumentationen. Tanja Katzer, 1970 in Nürnberg geboren, ist gelernte Reiseverkehrskauffrau und professionelles Fotomodell. 1991 gab sie ihre Berufstätigkeit auf; seitdem begleitet sie Denis Katzer auf der großen Reise, um gemeinsam mit ihm als Fotografin und Filmerin ihr Lebensprojekt zu dokumentieren. Auf ihren oftmals spektakulären Exkursionen durchquerte sie mit Denis 1.000 Kilometer zu Fuß die Wüste des Todes (Taklamakan) in Westchina, ritt als erste Europäerin 1.500 Kilometer mit Kamelen durch das wilde Pakistan, machte sich mit ihrem dreijährigen, 7.000 Kilometer langen Marsch unsterblich, in dem sie zu Fuß mit eigenen Kamelen das australische Outback von Süd nach Nord und vom Indischen Ozean bis zum Pazifischen Ozean durchmaß, und radelte 15.000 Kilometer von Deutschland über Österreich, die Slowakei, Ungarn, Serbien, Rumänien, Moldawien, Transnistrien, die Ukraine und die Halbinsel Krim, Russland, Kasachstan, Sibirien bis in die Mongolei - um nur einige Etappen der bald legendären großen Reise zu nennen.

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    Book preview

    Wilde Freiheit 2. Teil - Denis Katzer

    Katzer

    Erklärung der großen Reise

    30 Jahre lang wollen wir auf dem Land- und Seeweg von Deutschland 30 bis nach Südamerika reisen, und zwar mit landesüblichen Verkehrsmitteln. In den letzten 24 Jahren legten wir über 340.000 Kilometer ohne Flüge zurück. Wir waren mehrmals über mehrere Monate – manchmal bis zu zwei Jahre – am Stück unterwegs. Spätestens nach zwei Jahren Reise müssen wir aber immer wieder nach Deutschland zurück, um den Kontakt zu unseren Sponsoren, zu den Medien und vor allem zu unserer Familie nicht zu verlieren. Wenn wir dann die sozialen Beziehungen wieder aufgefrischt, die Finanzierung und vieles weitere Organisatorische geklärt haben, begeben wir uns wieder genau an den Ort, an dem wir zuletzt unser Lebensprojekt unterbrochen hatten, und setzen von dort aus unsere Expeditionsreise fort. So soll im Laufe der Jahrzehnte die längste dokumentierte Expedition der Geschichte entstehen. Durch die wichtigen Zwischenaufenthalte in Deutschland wird die 30-jährige Expedition, die unter dem Namen „Die große Reise" bekannt ist, entschieden länger als 30 Jahre dauern. Unser ganzes Leben fließt hier ein. Begonnen hat unsere große Reise 1991 in Deutschland – sie führte uns nach Österreich, Italien, mit der Fähre nach Griechenland und Ägypten. Dort machten wir das erste Mal Bekanntschaft mit Kamelen und durchquerten mit ihnen die Wüste Sinai. Dann überquerten wir per Schiff den Golf von Aqabha nach Jordanien und setzten unsere Reise mit dem Bus durch Syrien, die Türkei und den Iran fort.

    In einem Schmugglerzug – bis zum Dach mit Handelsgütern gefüllt – ging es über die Grenze nach Belutschistan, wo wir Kamele kauften, mit denen wir dann durch Pakistan ritten. Die gefährliche Expedition führte uns am Indus entlang, dem Vater aller Flüsse, weiter an der afghanischen Grenze und durch das Stammesgebiet der Paschtunen bis nach Peshawar.

    Um nach Indien zu gelangen, nutzten wir wieder den Zug. Indien, das Land der Gegensätze, bereisten wir eineinhalb Jahre lang auf einem alten indischen Motorrad, besuchten Sri Lanka, um nur kurze Zeit später mit dem Schiff zu den Andamanen aufzubrechen. Auf dieser Inselgruppe im Golf von Bengalen gelang uns ein seltener Kontakt zu den wie in der Steinzeit lebenden Jarawas, die in einem militärischen Speergebiet lebten. Das Militär bekam Wind von den zwei Abenteurern, weshalb wir dann unseren Aufenthalt abbrechen und fliehen mussten. Wieder führte uns der Weg nach Pakistan, entlang der alten Seidenstraße bis nach Westchina. Dort stellten Tanja und ich eine Expedition auf die Beine, um die Wüste des Todes, die Taklamakan, von Süd nach Nord ca. 1.000 km zu Fuß und mit Kamelen zu durchqueren.

    Nach diesem riskanten Unternehmen sollte es weiter nach Tibet gehen. Wegen der Reinkarnation des Panchen Lama waren die Grenzen allerdings geschlossen. Eingewickelt in Decken und Mäntel ließen wir uns in einer 36 Stunden langen Busfahrt von tibetischen Mönchen nach Lhasa schmuggeln. Viele Wochen verbrachten wir in dem mystischen, gläubigen Land und überquerten mit dem Jeep das Dach der Welt, um nach Nepal zu gelangen, dessen Tiefland wir auf dem Rücken eines Elefanten erkundeten. Danach fuhren wir mit dem Zug durch China bis in die Mongolei. Das Land Dschingis Khans durchritten wir 1.600 Kilometer von Ost nach West. Wir überlebten dabei einen bewaffneten Überfall, waren den Härten einer gnadenlosen Natur ausgeliefert und erfuhren als Ausgleich für alle Strapazen eine unermessliche Gastfreundschaft.

    Im Rahmen unserer großen Reise durchschritten wir von 1999 bis 2003 die endlosen Weiten des australischen Outbacks. 7.000 Kilometer zu Fuß und mit eigenen Kamelen durchmaßen wir den Kontinent von Süd nach Nord und von der Westküste bis zur Ostküste. Es war eine gewagte Unternehmung, deren Ausgang von Beginn an ungewiss war. Ein Abenteuer der Superlative, eine Reise in das noch unbekannte Innere eines mystischen und geheimnisvollen Landes.

    2005 bis 2010 wechselten wir unser Transportmittel erneut und schwangen uns zum ersten Mal auf den Sattel eines Tretrosses. Der Plan war, das Fahrrad zu nutzen, um von einer Expedition zur anderen zu gelangen. Unser nächstes Expeditionsziel war wieder die Mongolei. Dort beabsichtigten wir, 3.000 km mit den Pferden zu den letzten Rentiernomaden zu gelangen, um mit ihnen bei Temperaturen von minus 50 °C als erste Europäer einen arktischen Winter zu verbringen. Um das geplante Expeditionsziel zu erreichen, radelten wir 15.000 km von Deutschland über Österreich, Slowakei, Ungarn, Serbien, Rumänien, Transnistrien, die Ukraine, die Halbinsel Krim, Russland, Kasachstan und Sibirien bis in das Land Dschingis Khans. Nie hätten wir gedacht, welch eine unsagbare Herausforderung das Radfahren sein würde. Es war eine abenteuerliche Reise – gespickt mit unvergesslichen Erlebnissen, die wir Trans-Ost-Expedition nannten und in vier packenden Büchern festgehalten haben. Von 2011 bis 2012 verwirklichten wir unseren lang gehegten Traum, 15 Monate am Anfang der Welt mit den mongolischen Nomaden und den letzten Rentiernomaden zu leben. Ein Leben zwischen uraltem Schamanismus und Brauchtum, zwischen minus 50 und plus 40 °C. Wie es uns dort ergangen ist und welche Abenteuer in diesem wilden Land auf uns warteten, werden wir auf den folgenden Seiten erzählen.

    Wir wissen nicht, ob wir unseren Traum – die längste dokumentierte Expedition der Geschichte – je verwirklichen können. Das hängt nicht von uns allein ab – viele Aspekte und Unwägbarkeiten spielen hier mit hinein. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass Tanja und ich unsere gemeinsamen Interessen bewahren und über die Jahrzehnte hinweg das gleiche Ziel verfolgen. Enorm wichtig ist auch die Gesundheit, die uns nicht im Stich lassen darf. Außerdem hatten wir immer wieder Unfälle oder Überfälle, ja sogar Naturkatastrophen oder sonstige Schicksalsschläge zu überstehen. Natürlich dürfen wir bei alledem auch nicht die Lust, die Energie, den Willen, die Kraft und unsere Zuversicht verlieren. Nebenbei muss auch die Finanzierung geregelt sein. Angesichts knapper Budgets ist es ein spannendes Abenteuer für sich, die richtigen Förderer zu finden, die zu uns passen, sie dauerhaft für unser Projekt zu begeistern und sie auch langfristig an unserer Expedition teilhaben zu lassen.

    Alles in allem ist nicht absehbar, was morgen sein wird. Bis heute haben wir unsere Lust an der großen Reise, am Entdecken und Forschen nicht verloren – am wenigsten die Liebe zu den Menschen und zur Mutter Erde. Ungebremst und vielleicht mehr denn je suchen wir das Unbekannte, um jeden Tag mehr und mehr Teil eines großen Ganzen zu werden.

    Wenn Sie sich jetzt fragen, wie ein Mensch auf die Idee kommt, sein Leben dem Reisen zu widmen, dann erklärt das eventuell der bisherige Verlauf meines Lebens.

    Biographie eines Vollblut-Abenteurers

    1960 – Erste Erfahrung

    Die ersten Jahre meines Lebens wohnte ich mit meinen Eltern in einer kleinen Holzhütte am Waldrand von Nürnberg. Es gab kein fließend Wasser, keine Zentralheizung und keinen Strom. Im Winter legte meine Mutter die Windeln vor die Hütte. Sobald sie steif gefroren waren, konnte sie diese gegen den Apfelbaum schlagen und grob reinigen. Wegen der knappen finanziellen Mittel waren meine Eltern gezwungen, ganztägig zu arbeiten. Deswegen verbrachte ich schon als Zweieinhalbjähriger die Wochentage in einem katholischen Kindergarten. Um dem Zwangsaufenthalt dort zu entgehen, nutzte ich morgens bald jede Gelegenheit zur Flucht. Ich kletterte auf den Apfelbaum, versteckte mich im Garten oder in der Hütte unseres Hundes. Vielleicht wurde in diesen frühen Lebensjahren meine Abneigung gegen Zwänge, Fremdbestimmung und Unfreiheit geprägt und der spätere Abenteurer in mir geweckt.

    Nach dem Kindergarten gab es die nächste unangenehme Überraschung: Schule und Kinderhort. Für ein junges, unbeflecktes und freies Abenteurerherz der absolute Albtraum. Erneut war ich dazu verdammt, weitere neun Jahre meines Lebens in einer Gesellschaftsschmiede geformt zu werden.

    1967 – Zwang

    Wegen großer Prüfungsangst vermasselte ich alle Aufnahmeprüfungen in weiterführende Schulen. Meine Freunde waren nicht von dieser Angst geplagt, schafften den Sprung aufs Gymnasium und ließen mich in der Hauptschule zurück. Im Alter von 16 Jahren bekam ich als Zweitbester der Schule meinen Abschluss. Nun hatte ich das geeignete Zeugnis, um ohne weitere Prüfungen auf eine höhere Schule zu gehen, doch man riet mir davon erst einmal ab. „Du musst eine Lehre machen. Dann hast du etwas in der Hand. Wenn du dann immer noch dein Abitur machen willst, kannst du es nachholen und später vielleicht sogar studieren. „Die müssen es wissen, dachte ich mir und suchte das Arbeitsamt auf, um mich beraten zu lassen, welcher Job für mich geeignet wäre. „Büromaschinenmechaniker ist ein toller Beruf. Der passt zu Ihnen. Sie sind handwerklich begabt und kommen im Außendienst mit Menschen zusammen. Sie sind ein kommunikativer Mensch, dieser Beruf ist ideal für Sie", sagte der Berater. Ich bewarb mich also als Büromaschinenmechaniker. Während der Aufnahmeprüfung bei der Fa. Olympia sollte ich unter anderem mit einer Zange Draht in einer vorgegebenen Zeit zurechtbiegen. Trotz meiner handwerklichen Begabung habe ich das Ding vor lauter Aufregung verbogen. Geknickt offenbarte ich dem Ausbildungsmeister meine Prüfungsangst. Der wiederum war von meiner Ehrlichkeit so angetan, dass ich unter 130 Bewerbern die Lehrstelle bekam.

    1979 – Einzelkämpfer

    3½ Jahre später, nach dem Abschluss der Gesellenprüfung, stand ich vor der Wahl, den Wehrdienst zu verweigern oder anzutreten. Für mich als junger, sportlich sehr engagierter Mann war die Versuchung verlockend, bei einer Spezialeinheit der Bundeswehr sportlich gefördert zu werden und dabei noch Geld zu verdienen. Da ich die Musterung in allen Bereichen mit Bestnoten abschloss, hatte ich die Wahl, in welcher Form ich dem Staat dienen wollte. Ich entschied mich für eine Spezialeinheit der Fallschirmjäger. Endlich lagen Abenteuer, Action und Freiheit vor mir. In den folgenden 15 Monaten durchlief ich alle Ausbildungen mit Bravour und wurde zum Unteroffizier und Ausbilder junger Soldaten befördert. Endlich glaubte ich, dort angekommen zu sein, wo ich immer hinwollte, denn als Einzelkämpfer, Elitesoldat und Extremsportler war ich in meinem Element und fühlte zum ersten Mal in meinem Leben Selbstsicherheit. Es war die Zeit des Falklandkrieges 1982, als ich, von einem inneren Gefühl getrieben, meine Soldaten fragte, wer sich von ihnen zum Falklandkrieg freiwillig melden würde, um die Engländer zu unterstützen. Da die Bundeswehr eine reine Verteidigungsarmee war, eine Frage ohne realen Hintergrund. Als ca. 80 Prozent der jungen Männer mit hohem Bildungsniveau die Hand hoben, war ich fassungslos und entsetzt. „Warum?, fragte ich. „Weil Sie uns ausgebildet haben, um zu töten. Wir wollen nicht mehr auf Pappfiguren schießen, Herr Unteroffizier. Das langweilt. Wir wollen die Realität! In diesen Minuten wurde mir bewusst, dass ich selber ein ausgebildeter Killer war mit der Aufgabe, junge Männer ebenfalls zum Profikiller auszubilden. Offensichtlich war mir das gelungen. Für mich der erste dramatische Wendepunkt im Leben. Ich bemerkte, dass ich im Grunde meines Herzens Pazifist bin und obwohl mir meine Vorgesetzten eine fantastische Karriere versprachen, verlängerte ich meinen Vertrag nicht.

    1982 – Veränderung

    Als ausgebildeter Elitesoldat saß ich nun wieder in der Werkstatt und reparierte Schreibmaschinen. Welch ein Schock. Durch meinen hohen Fitnessstand bekam ich die Chance, bei einer Ersten-Bundesliga-Mannschaft American Football zu spielen. Innerhalb von sechs Wochen war ich offizielles Mannschaftsmitglied der Nürnberg Rams. Neun Monate später, kurz vor der Prüfung zum Skilehrer, wurde meine Sportkarriere durch einen schweren Sportunfall – doppelter Bänderriss und Meniskusabriss im Knie – abrupt beendet. „Wenn Sie Ihr Leben nicht umstellen, werden Sie mit 30 im Rollstuhl sitzen, warnte mich der Operateur. Wieder ein einschneidendes Erlebnis in meinem Leben, denn ich dachte, ohne meinen Sport wäre das Leben sinnlos. Ein Freund empfahl mir, nach Asien zu reisen, um auf andere Gedanken zu kommen. „Was soll ich in Asien?, sagte ich. „Ich möchte Fallschirmspringen, Starkwindsurfen, Tauchen, Mädels und ein schönes Auto fahren." Kaum genesen, flog ich trotzdem nach Asien. Als sich die Tür des Jumbos öffnete und mich die tropisch schwüle Luft umarmte, als mein Gaumen Speisen entdeckte, die ich nicht kannte, als ich nette Menschen traf, deren Charme und Kultur mich bezauberten, wusste ich, dass ich das Tor zu einer anderen Welt durchschritten hatte, die mich nicht mehr loslassen sollte und ein wesentlicher Teil meines Lebens werden würde.

    Plötzlich ergaben der bisherige Lebensweg und alle Einschnitte einen Sinn. Ab diesem Zeitpunkt reiste ich jedes Jahr für drei Monate nach Asien, um die fernöstlichen Länder mit meinem Rucksack zu erkunden. Noch immer war ich allerdings Büromaschinenmechaniker und musste mein Leben so einrichten, dass ich in den Sommermonaten, während meine Technikerkollegen mit ihren Kindern in den Urlaub gingen, in der Firma anwesend war, um Notdienst zu schieben. Aus Dankbarkeit dafür bekam ich von meinem Chef neben den sechs Wochen Urlaub weitere sechs Wochen unbezahlten Urlaub. Eine ideale Lösung für einen jungen Mann, der die Welt entdecken wollte. Aus meinen ausgiebigen Reisen wurden Expeditionen und wegen meiner Veranlagung zum Extremsport, der Navigations- und Überlebensausbildung der Bundeswehr und der nützlichen Ausbildung als Mechaniker und Techniker hatte ich bis auf Geld alles, was ein Expeditionsreisender und Entdecker benötigte.

    1986 – Karriere

    Die Direktion meiner Firma bot mir an, mir eine Vertriebsausbildung zu finanzieren, und stellte bei Erfolg einen Gebietsverkaufsleiterposten in Aussicht. Wow, welch eine Aufstiegsmöglichkeit, denn man konnte in solch einer Position 100.000 DM oder mehr in einem einzigen Jahr verdienen. Ich fasste die Gelegenheit beim Schopf und fuhr das erste Mal mit einem Firmenwagen von Nürnberg ins ferne Wilhelmshaven an der Nordsee. Dort wurden 16 ausgewählte Mitarbeiter einen Monat lang geschult. Ich war gerade von einer Asienreise zurückgekehrt und voller Tatendrang. Allerdings schüchterten mich manche Mitschüler wegen ihres hohen Ausbildungsstandes ein. Neben mir saß zum Beispiel die Sekretärin des damaligen Vorstandsvorsitzenden der AEG, die ebenfalls umschulen wollte. Nach einem Monat bekam mein Direktor ein Schreiben, in dem man mir große Chancen und Talent einräumte. Der Ausbildungsstandort wurde nach Berlin verlegt. Feldtraining war die letzte Hürde. Hoch motiviert beendete ich das Feldtraining mit dem besten Ergebnis in der Geschichte der damaligen Weltfirma Olympia und bekam sofort eine Verkaufsleiterstelle im Raum Nordbayern. Innerhalb des ersten Jahres mauserte ich mich zum zweitbesten Verkäufer Deutschlands und gewann eine Incentive-Reise nach New York. Ab diesem Zeitpunkt verdiente ich genügend Geld, um mir meine eigenen Expeditionen zu finanzieren.

    1987 – Erste Expedition

    Urvölker hatten mich schon mein ganzes Leben interessiert. Durch Zufall lernte ich auf den Galapagosinseln einen Menschen kennen, dessen bester Freund Halbindianer war. Sofort verließ ich die Galapagos und fuhr mit dem Bus in ein abgelegenes Urwaldnest am Amazonas. Dort lernte ich Gallo Sevilla, den Halbindianer, kennen. Obwohl mein Freund und ich nicht genügend Geld in der Tasche hatten, führte uns Gallo zum vom Aussterben bedrohten, kriegerischen Stamm der Auka-Indianer, die nur wenige Wochen vorher vier Ingenieure mit Speeren getötet hatten. Die Begegnung mit den Aukas veränderte mein Leben und öffnete mir die Augen. Ab diesem Zeitpunkt setzte ich mich, so weit es meine Kraft zuließ, für bedrohte Völker ein und machte jedes Jahr eine extreme Expedition zu abgelegenen Völkern dieser Erde. Mein Engagement öffnete mir Kontakte zu den Medien. Die ersten TV-Auftritte, das Schreiben von Artikeln, das erste Buch, die ersten Sponsoren waren die Folge. Wegen der damit verbundenen ungeheuren Arbeitsflut musste ich mein Leben erneut überdenken. Ich kam zu dem Schluss, Geld zu sparen, um meine Heimat für ein paar Jahre zu verlassen. Ich wollte bei Völkern leben, in ihre Welt einsteigen, sie verstehen. Ich wollte wissen, was es bedeutet, ohne Zeitdruck reisen zu können, echte Freunde anderer Nationen zu gewinnen, deren Religionen und Anschauungen zu verstehen und vieles mehr. Ab diesem Zeitpunkt legte ich jede Mark auf die Seite, um meinem großen Traum des Reisens Stück für Stück näher zu kommen.

    1988 – Tanja

    Während eines Skiausflugs lernte ich ein junges, sehr hübsches, sehr sympathisches Mädchen namens Tanja kennen. Ich war zu diesem Zeitpunkt ein 28-jähriger erfolgreicher, weit gereister Vertriebsmann und sie eine 17 Jahre junge Schülerin. Weil ihre Mutter erst wenige Monate vorher gestorben war, wurde Tanja in kurzer Zeit erwachsen. Der große Altersunterschied war also keine Hürde und wir wurden ein Paar. Ohne Tanja würde ich heute nicht mehr leben. Sie hat durch ihren selbstlosen Einsatz während unserer gemeinsamen Expeditionen in verschiedenen Fällen ihr Leben riskiert, um meines zu retten.

    1991 – Schnitt

    „Sitzt du?, fragte mich mein Boss am Telefon. „Ja, warum?, wollte ich wissen und ließ mich in den Sessel sinken. „Ich schaffe meinen Job nicht mehr alleine und brauche eine rechte Hand. Was hältst du davon, Topmanager zu werden? Du wirst mit mir gemeinsam für einen Umsatz von 30 Millionen verantwortlich sein. Ich biete dir im ersten Jahr ein Gehalt von 150.000 und im zweiten Jahr eine Viertelmillion plus Spesen, Umsatzbeteiligung und einen Mercedes als Geschäftswagen. Was meinst du dazu?, hörte ich es am anderen Ende der Leitung. Es dauerte eine Weile, bis ich meine Sprache wiederfand. Endlich sollte ich wirklich dort sein, wo ich schon immer hinwollte. Ganz oben und die Taschen voller Geld. „Wow, entfuhr es mir. Als Michael über die Einzelheiten sprach, ließ ich meinen Blick über die Ausrüstung gleiten, die vor mir auf dem Boden lag. Rucksack, Isomatte, Wasserfilter, Zelt, Travellerschecks usw. Die gesamte Ausrüstung, die ein Mensch benötigt, um für mehrere Jahre auszusteigen und um die Welt zu reisen. Eigentlich wollte ich in wenigen Wochen kündigen und mindestens drei Jahre unterwegs sein. Tanja und ich hatten alles akribisch genau vorbereitet und geplant. Meine Ersparnisse machten mich für mindestens fünf Jahre unabhängig und Tanja sollte eine Unterstützung von ihrem Vater bekommen.

    31 Jahre jung und nach 29½ Jahren Zivilisationsschmiede, Zwängen und Fremdbestimmung war ich das erste Mal kurz davor, wirklich frei zu sein. Und jetzt hatte ich meinen Chef an der Leitung, der mir anbot, in der Karriereleiter ganz nach oben zu klettern. In wenigen Jahren konnte ich ein reicher Mann sein. Was sollte ich nur tun? „Michael, das ist ein fantastisches Angebot. Tausend Dank für dein Vertrauen. Ich spreche mit Tanja darüber und gebe dir morgen Bescheid", sagte ich und legte den Hörer auf.

    „Ich muss nur zwei Jahre durchhalten. Dann haben wir genügend Geld, um für den Rest des Lebens reisen zu können. Wir müssen nie mehr arbeiten, erklärte ich Tanja. Sie sah mich an, überlegte eine Weile und sagte: „Wenn du wirklich Topmanager wirst und das große Geld verdienst, kann es sein, dass du nie mehr deinen Traum verwirklichen wirst. Die Gefahr ist sehr groß.

    Am nächsten Morgen rief ich Michael an. „Sitzt du?, fragte ich. „Ja, antwortete er. „Nochmals vielen Dank für das beste Angebot, das ich je in meinem Leben bekommen habe, aber ich kann es nicht annehmen. Ich sitze vor meiner Ausrüstung, die ich für einen Trip um die Welt benötige. Ich habe diesen Moment seit Jahren vorbereitet und werde in wenigen Monaten aufbrechen."

    Nach einigen Sekunden der Sprachlosigkeit gratulierte mir mein damaliger Chef zu dieser gewaltigen Entscheidung. „Ich komme vorbei und bringe ein paar Bocksbeutel. Die trinken wir dann, wenn du wieder da bist", sagte er.

    1991 Sommer – Aufbruch in eine andere Lebenswelt

    Im Spätsommer kappten wir die letzten Verbindungen zu Deutschland und brachen zu unserer großen Reise auf. Sie dauerte länger als drei Jahre, denn fast zwei Jahrzehnte später sind wir noch immer unterwegs. Mittlerweile ist diese Reise eine lebenslange Reise geworden, die insgesamt 30 Jahre dauern wird und die längste dokumentierte Reise in der Geschichte der Menschheit werden soll. Seit Beginn legten wir mit Kamelen, Pferden, Elefanten, zu Fuß und mit landesüblichen Verkehrsmitteln 340.000 Kilometer zurück: „Die große Reise" – eine Weltexpedition zu Zeugen des Ursprungs der Menschheit, die wir etappenweise ausschließlich auf dem Land- und Seeweg durchführen.

    2005 – Unfall! Das Ende meines Lebenstraums?

    Auf der zweiten Etappe unserer Trans-Ost-Expedition hatte ich nur 500 Meter nach dem Start einen Unfall mit fatalen Folgen: extremer Bandscheibenvorfall mit Lähmungserscheinungen und folgender Notoperation in Bukarest. Die Fortsetzung unseres Expeditions- und Reiselebens war gefährdet. Die Operation ist geglückt und nach einem Jahr Reha setzten wir unsere Reise erfolgreich fort. Seither hat sich mein Leben wieder einmal geändert. Nach der OP kam es mir so vor, als wäre ich innerlich völlig ausgebrannt. Es ist nur noch Asche übrig geblieben, fruchtbare Asche, in die ein symbolischer Samen fiel und aus der ein anderer Mensch erwuchs. Heute gehe ich viele Dinge im Leben anders und gelassener an. Die Gewichtung hat sich verändert. Im Nachhinein war die Verletzung ein Geschenk. Genauso wie mein damaliger Bänderriss, der mich dazu zwang, mein Leben total zu verändern und mich zu einem Reisenden beförderte.

    Resümee

    Mein heutiges Leben steht auf den Säulen verschiedener Schicksalsschläge und Entscheidungen: Kindheit, die ich zum Teil als unfrei empfand, unglückliche Schulzeit, Ausbildung zu einem Beruf, der nicht zu meinen Träumen passte, Ausbildung zum Einzelkämpfer einer Spezialeinheit, als geläuterter Pazifist Beendigung der Bundeswehrkarriere, Ende der Sportkarriere durch extreme Knieverletzung, die erste Reise nach Asien, Beförderung zum Verkaufsleiter, Erfolg und Geldverdienen, die Entscheidung, Tanja mit auf die Lebensreise um die Welt zu nehmen, Absage an eine Topmanagement-Karriere, Start zu einer lebenslangen Reise, um Mutter Erde und deren Bewohner zu dokumentieren, das Geschenk, dem Rollstuhl entronnen zu sein und unseren gemeinsamen Lebenstraum weiterführen zu dürfen.

    Was bisher geschah

    Alles begann mit der Idee, auf Pferden zu einem der letzten Rentiernomaden unserer Erde – zu den Tuwanomaden in der Mongolei – zu reiten, um dort mit ihnen einen Winter zu verbringen. Doch bereits die Vorbereitungen zu dieser Reise waren aufgrund der harten Visabestimmungen nahezu unüberwindbar und kräftezehrend. Nach monatelangem Organisieren fanden wir uns – mit 200 Kilogramm Übergewicht und einer NGO-Einladung im Gepäck – in einem Flugzeug nach Ulan Bator, der Hauptstadt der Mongolei, wieder. Viele Behördengänge später durften wir endlich einen mongolischen Personalausweis und eine einjährige Arbeitsgenehmigung in den Händen halten. Die Herausforderungen rissen jedoch nicht ab: Die Technik ließ uns im Stich, das Warten auf die vielen Pakete mit der noch benötigten Ausrüstung und Spezialnahrung erschien uns endlos und erste Gespräche mit unserem Übersetzer Ulzii, der kaum Englisch sprach und sich während der Reise als egoistischer Versager outete, gestalteten sich schwierig. Nichtsdestotrotz starteten wir die erste Etappe unserer Reise und verlegten unser Basiscamp von Ulan Bator nach Erdenet. Dort angekommen, machten wir uns auf die mühsame, aber schlussendlich erfolgreiche Suche nach Wagenpferden. Unser Hund Mogi schloss sich unserer Reisetruppe an. Und wir lernten eines unserer wichtigsten Expeditionsmitglieder kennen: Bilgee. Waren wir anfangs aufgrund seiner überzogenen Gehaltsvorstellung eher skeptisch, so überzeugte er während der Reise durch seine fürsorgliche und besonnene Art, die Hilfsbereitschaft und seinen Ideenreichtum. Zweifelsohne wäre diese Reise ohne ihn nicht so farbenfroh, teils lustig und vor allem erfolgreich verlaufen.

    Wir brachen zu unserer nächsten Etappe auf, verließen mit dem Pferdewagen Erdenet und bezogen unser erstes Camp in der Steppe. Der frühe Wintereinbruch machte uns zu schaffen und verlangte uns viel ab: Wir überquerten felsige Höhen, durchritten eisige Flüsse, kämpften gegen die Tag für Tag zunehmende Kälte und den unbarmherzigen Wind. Das Überleben in der Wildnis war grenzwertig. In Morön, der kältesten Stadt der Mongolei, gingen unsere Vorbereitungen, einen Winter mit den Tuwanomaden zu verbringen, in die nächste Runde: Wir besuchten beinahe täglich den Markt und kauften den kompletten Hausstand, den man benötigt, um in einer Jurte einen extremen Winter zu überleben, und kümmerten uns um die Überwinterung unserer Pferde, die wir nicht zu den Tuwa mitnehmen konnten, da die Wölfe diese angegriffen hätten. Das abgelegene Örtchen Tsagaan Nuur war unser nächstes Etappenziel, von dort fuhren wir in einer wilden Geländefahrt mit einem Allradlastwagen in das etwa 40 Kilometer entfernte Taigalager der letzten, noch ursprünglich lebenden Rentiernomaden, die sich Tuwa nennen.

    Wie die Reise bis hierhin genau verlief, lesen Sie in Band 1.

    „Herausforderung als Motivation.

    Herausforderung, um den Weg ins eigene Ich zu finden.

    Herausforderung, um Flexibilität zu kreieren.

    Herausforderung, um Wachstum zu erzeugen.

    Was möchtest du mehr? Das ist zweifelsohne genug, um nicht die Flinte

    ins Korn zu werfen und weiterzumachen."

    Mutter Erde

    Erster Tag bei den Rentiernomaden

    Mongolei - 26.12.2011

    Tag 154

    Ort: Tuwa-Camp

    Sonnenaufgang: 09:27 Uhr

    Sonnenuntergang: 17:17 Uhr

    Bisher zurückgelegte km: 1281

    Breitengrad N: 51°33’336"

    Längengrad E: 099°15’341"

    Maximale Höhe: 1981 m

    Wegen der Anstrengungen der letzten Tage und des gestrigen großen Umzugs stehen wir spät auf. Dann, nach dem Frühstück, ordnen wir unsere Jurte. Wir stellen alles dahin, wo es hingehört, und sind mit unserem gemütlichen Heim richtig zufrieden. Bei wunderbaren plus 10° C in der Sonne und minus 15° C im Schatten verschnüre ich die drei Solarpanels aufs Jurtendach. Um sie an den Batterien anzuschließen, bohre ich mit dem Besenstiel Löcher am Jurtenboden durch den an der Außenwand aufgehäuften Schnee. Auch die Kabel unserer Thermometer zu den Außenfühlern führe ich durch die Löcher. Nachdem die Kabelverbindungen gelegt sind, schließe ich die Bohrungen wieder mit Schnee, damit die Zugluft keine Chance hat, in unser Reich einzudringen.

    Um die Stromversorgung für unsere technischen Geräte sicherzustellen, verschnüre ich drei Solarpanels auf dem Jurtendach.

    Die Zeit bei den Tuwanomaden ist von Beginn an ereignisreich, sodass ich mit dem Aufschreiben unserer Erlebnisse kaum hinterherkomme.

    Am Nachmittag bekommen wir den ersten Besuch von Purvee, der Frau des Schamanen, und der zwanzigjährigen Monkoo. „Wollt ihr Tee oder Kaffee?, fragt Tanja, die sich über unsere ersten Gäste freut. „Kaffee, sagen die beiden wie aus einem Munde. Tsaya, die ja perfekt Englisch spricht, erklärt uns später, dass es hier in der Taiga jeden Tag Tee zu trinken gibt. „Kaffee ist für uns etwas Besonderes, betont sie. Wir unterhalten uns radebrechend mit unseren Besucherinnen und haben viel Spaß bei den von uns oftmals falsch ausgesprochenen Worten. Die Frauen lassen ihre neugierigen Blicke durch unsere Jurte gleiten. „Jurte dulaan¹, sagen sie. Wir erfahren, dass es in einem Tipi, das sie Urtz nennen, viel kälter ist. „Vorne warm und hinten an der Plane kalt, erklären sie. Schon nach etwa 20 Minuten verlassen uns die beiden höflichen Tuwafrauen. „Ich bin gespannt, wer uns in den kommenden Tagen alles besucht, sagt Tanja. „Könnte mir schon vorstellen, dass sie neugierig sind und wissen wollen, wie es in unserer Jurte aussieht. Vor allem, wenn es immer den leckeren Kaffee gibt. Wer weiß, vielleicht werden wir das Jurtencafé im Tuwacamp", lache ich.

    Nachdem die beiden Frauen gegangen sind, macht sich Tanja auf, um in der Taiga Schnee für unseren Wasserverbrauch zu sammeln. War es schon aufwendig, in Erdenet und Mörön mit Eimern Wasser von den Wasserausgabestellen zu holen und als Steigerung in Tsagaan Nuur das Wasser aus einem Eisloch zu schöpfen, sammeln wir hier Schnee. Um einen Eimer Wasser zu gewinnen, müssen wir drei Eimer mit Schnee füllen. Bei den jetzigen schlechten Schneeverhältnissen eine zeitaufwendige Arbeit. Vor allem ist es bei der dünnen Schneedecke wichtig, nicht aus Versehen Rentier-, Hunde- oder Menschenexkremente mit aufzulesen. Als Tanja den ersten Schnee bringt, schütten wir ihn in den Wok, den wir in die dafür vorgesehene Öffnung des Ofens stellen, um den Schnee zu schmelzen.

    Am Abend suchen uns Tsaya und ihr Freund Ultsan auf. Sie freuen sich sehr über frisch gebrühten Kaffee mit Milch und Zucker sowie Kekse. „Schön ist es bei euch, meint Tsaya. „Ja, richtig gemütlich, bestätigt Ultsan. „Wir fühlen uns auch sehr wohl in unserem Heim. Nur das Feuer haben wir noch nicht im Griff. Mal ist es bis zu 36° C warm und dann ist es wieder kalt. Die richtige Mischung wäre gut. Das kann auf den Kreislauf gehen. Shagai hat über die Jurte eine Zeltbahn gezogen, damit die Rentiere nicht am Filz knabbern. Diese zusätzliche Hülle macht es hier drin noch wärmer als vorher. Aber ich denke, in ein paar Tagen wissen wir, wie viel Holz im Ofen brennen muss, um die Temperatur konstant zu halten", erzähle ich unseren neuen Nachbarn, da die Blockhütte der beiden direkt neben unserer Jurte steht.

    „Ah, wir müssen gehen, meint Tsaya um 20.15 Uhr. „Warum? Habt ihr einen Termin?, scherze ich. „Ja, haben wir. Um 20.30 Uhr startet die Fortsetzung des koreanischen Dramas im Fernsehen. Die dürfen wir nicht verpassen, hören wir verblüfft. „Ihr habt hier draußen einen Fernseher?, frage ich. „Ja, wir betreiben ihn mit einer Batterie, die wir über Solarpanels laden. Meist kommen alle anwesenden Tuwa aus ihren Tipis zu uns, um die Fortsetzungen zu sehen. Das ist für die Menschen hier die einzige und sehr willkommene Abwechslung. Wir sind also das Campkino, erzählt Tsaya. „Ist ja lustig. Na dann viel Freude bei der Ep isode. „Werden wir haben", ruft Tsaya als sie und Ultsan schon auf dem Weg zu ihrem Blockhaus sind.


    1Jurte warm

    Tödliche Gefahr

    Schon 1 ½ Stunden vor Sonnenaufgang kümmere ich mich wie jeden Morgen um ein wärmendes Feuer. Dann kehre ich den Boden und setze einen Frischkornbrei für unser Frühstück und einen Wasserkessel auf die Platte des Kanonenofens. Anschließend krabble ich noch mal unter den Schlafsack und warte, bis um ca. 10 Uhr die ersten Sonnenstrahlen durch die Dachkrone unserer Jurte blinzeln.

    Nachdem Frühstücken holt Tanja Schnee für unseren Wasservorrat. Ich tippe indes diese Zeilen in den Laptop. Leises Wimmern dringt durch die Filzwand der Jurte zu mir. Weil Mogi noch an der Kette hängt, jammert er ein wenig vor sich hin. Da er durch seinen ausgeprägten Jagdinstinkt unberechenbar ist, müssen wir erst sehen, wie er auf Rentiere reagiert. Sollte er eines anfallen, werden ihn die Tuwa erschießen. Rentiere sind sehr wertvoll. Wir erfahren, dass ein Reittier ca. 350.000 Tugrik² kostet.

    Am Abend bekommen wir wieder Besuch von unseren Nachbarn Tsaya und Ultsan. Durch Tsayas perfekte Englischkenntnisse ist eine ausgelassene Unterhaltung möglich. Wir erzählen, wie unsere Kamele in Australien von jungen Kamelbullen angegriffen wurden. Mit großen Augen lauschen die beiden den Geschichten über eine für sie fremde Welt. „Wurdest du auch mal von einem wilden Tier bedroht?, interessiert es Tanja. „Nicht nur einmal, antwortet Ultsan. „Möchtest du uns die Geschichte erzählen?, fragt sie. „Aber ja, sagt der junge Jäger. In der darauf folgenden kurzen Gesprächspause vernehmen wir nur das Knistern des brennenden Holzes im Ofen. Ein leichter Windzug lässt die Plastikplane rascheln, mit der wir die Öffnung in der Dachkrone schließen können. Die Kerze flackert ein wenig, nur um ein Augenzwinkern später wieder bewegungslos zu leuchten.

    „Es war letztes Jahr im Dezember. Wir waren 14 Mann und auf der Jagd. Wir planten eigentlich nur ein paar Tage vom Camp wegzubleiben. Jedoch wurden wir von einem außergewöhnlich heftigen Blizzard überrascht. Es schneite zwei Wochen Tag und Nacht. Zum Schutz haben wir ein halbes Tipi aufgebaut und im Windschatten ausgeharrt. Ein Weiterkommen war unmöglich. Der feine Pulverschnee war über einen Meter hoch. Nach zwei Wochen klarte es auf. Die Sonne kam heraus und der Himmel überraschte uns mit tiefem Blau. Wir entschieden uns, das Camp zu verlassen. Das Vorankommen war schwierig. Auf dem Rücken unserer Rentiere reitend, ging uns der Schnee bis zu den Knien, an manchen Stellen sogar bis zu den Oberschenkeln. Weil wir zu diesem Zeitpunkt noch nichts vor die Flinte bekommen hatten, waren wir noch immer auf der Suche nach Wild. Aber wegen des hohen, frischen Schnees konnten wir keine Spuren ausmachen.

    Am Abend spannten wir unsere Zeltbahn wieder so zwischen die Bäume, dass wir uns auf der windgeschützten Seite für die Nacht niederlassen konnten. Unsere Gewehre waren nass. Um sie zu trocknen, hängten wir sie an ein Seil, an dem wir die Zeltbahn gespannt hatten. In dieser mondlosen, scheinbar friedlichen Nacht stürmten auf einmal die Rentiere ins Camp, um bei uns Schutz zu suchen. Leider besaßen wir zu diesem Zeitpunkt nur noch eine Taschenlampe, die noch dazu in China produziert worden war, weswegen sie nur wenig Licht abgab. Wir leuchteten so gut es eben ging das unmittelbare Gebiet um unser Lager ab, konnten aber außer Bäumen nichts erkennen. Dann ließen wir uns unter dem Schutz unserer Plane im Schnee nieder, um zu essen. Hundegebell war hinter der Zeltbahn zu hören. Da ich als Erster mit dem Essen fertig war, bin ich aufgestanden, um nachzusehen. Im diffusen Strahl der Lampe erkannte ich eine große, massige Gestalt, die mit unserem Hund kämpfte. Als ich einen riesigen Braunbären ausmachte, erschrak ich furchtbar, bin zu meinem Gewehr gerannt und löste es vom Seil. Erneut sprang ich hinter die Zeltbahn. Ich sah nur noch, wie sich der Bär auf die Hinterbeine stellte. Im verlöschenden Licht der Taschenlampe konnte ich nur zwei glühende grüne Punkte ausmachen, die mich anstarrten. Ich drückte ab und traf den Bären in den Bauch. Der stürmte davon.

    Weil angeschossene Bären immer und ohne Ausnahme zurückkommen, um ihren Feind zu töten, herrschte große Aufregung in unserem Camp. Umgehend trugen wir alles Holz zusammen, das wir finden konnten, und entfachten mehrere große Feuer. Dadurch waren wir in der Lage, im Umkreis von etwa fünf bis zehn Metern die Taiga beobachten zu können. Alle Männer hatten ihre Gewehre geladen. So lagen wir auf der Lauer und warteten auf den Angriff. Es dauerte Stunden. Wir waren von den Anstrengungen des Tages schläfrig. Die Angst vor der lauernden Gefahr war allerdings so groß, dass keiner von uns die Augen schließen wollte. Stunden später sahen wir, wie sich etwas schnell auf uns zubewegte. Einer meiner Freunde schrie: ‘Er kommt!’. Die massige Gestalt wurde rasch größer. Der Bär sprang in großen Sätzen durch den Wald. Er riss einem Rentier mit einem einzigen Biss die Schulter heraus und setzte seinen Angriff fort. Es krachte. Äste brachen. Die tödliche Gefahr donnerte wie eine Lawine in unser Camp. Der Erste von uns schoss. Wegen der nassen Patronen hatte das Gewehr eine Ladehemmung. Der Zweite drückte ab. Wieder Ladehemmung. In einem Sekundenbruchteil hechtete ich von der einen Seite des Feuers auf die andere, um eine freie Schussbahn zu bekommen. Der Bär war schon da, als ich den Abzug zog Die Kugel traf ihn genau zwischen die Augen. Er brach zusammen und sein Kopf landete vor mir im Feuer. Die anderen Jäger hatten sich indes unter ihren Decken und Planen versteckt. Sie zitterten vor Angst am gesamten Körper.

    Weil es in diesem Sommer keine Pinienkerne gegeben hatte, war der Bär sehr hungrig und gefährlich. Dazu kam noch, dass es in diesem Jahr bis zu dem Blizzard kaum Schnee für den Bau einer Höhle gegeben hatte. Solche Jahre sind selten, aber wenn sie vorkommen, sind die Bären unberechenbar und regelrecht mordgierig. Hätte ich ihn nicht richtig getroffen oder wie meine Freunde ebenfalls eine Ladehemmung gehabt, wäre diese Jagd für uns schlecht ausgegangen. Weil der Bär so ausgehungert war, konnten wir sein Fleisch nicht verwerten. Er war einfach zu dünn. Wir nahmen nur sein Fell und die Zähne mit", beendet Ultsan seine Erzählung.

    Für einige Zeit herrscht Schweigen in unserer Jurte. Nachdenklich lausche ich dem Knistern des Feuers und spüre, wie sich meine Haare aufstellen. Die Kerze flackert wieder kurz, als würde ein Windhauch ihre Flamme bewegen. „Mannomann. Das ist ja eine spannende Geschichte. Hast du keine Angst um deinen Ultsan, wenn er auf die Jagd geht?, breche ich die Stille. „Oh ja. Ich mache mir oft Sorgen. Vor allem, wenn er für mehrere Tage ganz alleine unterwegs ist, antwortet Tsaya.


    2200,– Euro

    Fehlende Rentiere, die Pranke des Bären und Erdbeben

    „W as wackelst du denn so herum?, fragt Tanja. „Wie? Ich wackle doch nicht, antworte ich. „Willst du mich ärgern? Du wackelst doch schon wieder. Und noch stärker als zuvor. „Mann, ich wackle nicht! Wahrscheinlich wackelst du so herum! Ich habe eher das Gefühl, dass du diejenige bist, die mich ärgern möchte. „Ich doch nicht. Spürst du nicht, wie unser ganzer Wandan sich bewegt hat? Und jetzt schon wieder. Spürst du das nicht? „Klar spüre ich das. Ich bin doch nicht gefühllos. „Vielleicht ist es ein Erdbeben?, überlegt Tanja. „Klar, ein Erdbeben. Dass ich nicht lache. Denke eher, dass ein Rentier an unserer Jurte herumfrisst, vermute ich, stehe auf, schlüpfe in meine großen Filzschuhe und verlasse die Jurte. „Nichts zu sehen. Kein Tier an der Jurte, sage ich. „Auch kein Braunbär?, scherzt Tanja. „Nein, auch kein Braunbär, antworte ich lachend, hänge den Haken der Jurtentür wieder ein, ziehe meine Filzis aus und krabble aufs Wandan. „Komisch. Ich habe es eindeutig gespürt, wie sich unser gesamtes Bett mehrfach bewegt hat, überlegt Tanja. „Ich auch. Das haben wir uns also nicht eingebildet", antworte ich schläfrig.

    Am kommenden Morgen verlasse ich die Jurte, um Feuerholz zu holen. Ich treffe Tsaya beim gleichen Job. „Habt ihr auch das Erdbeben gespürt?, fragt sie. „Ein Erdbeben? Ja, unser Wandan hat mehrfach gewackelt. Tanja dachte erst, ich wäre es. Dann dachten wir, ein Rentier hätte an unserer Jurte geknabbert. Woher weißt du, dass es ein Erdbeben war?, frage ich sie. „Ich habe meine Mutter in Ulan Bator angerufen. Die hat im Internet nachgesehen. Dort wurde berichtet, dass in Sibirien ein Erdbeben war. „Hm, hoffe es hat keinen schlimmen Schaden angerichtet? „Das weiß ich nicht. Bei uns auf jeden Fall nicht. Unser Blockhaus steht noch", antwortet sie schmunzelnd und flüchtet vor der Kälte wieder in ihre Holzhütte zurück.

    Für die Eingewöhnung bei den Tuwa lassen wir uns viel Zeit. Wir möchten sie nicht gleich zu Beginn unseres Aufenthaltes in ihren Tipis aufsuchen – sozusagen mit der Tür ins Zelt fallen und sagen: „Hier sind wir. Dürfen wir euch fotografieren und filmen? Oder vielleicht erzählt ihr etwas über eure Riten? Oder können wir mal an einer Zeremonie eurer Schamanen teilhaben?" Auch wenn dieses Volk ständig Kontakt mit der Außenwelt hat, ein großer Teil von ihnen draußen in Tsagaan Nuur lebt und einige junge Leute sogar in Ulan Bator studieren, ist es unserer Ansicht nach wichtig, behutsam vorzugehen und ein Miteinander wachsen zu lassen.

    Im Sommer bekommen die Tuwa häufig Besuch von Touristen aus aller Welt. Sie werden unaufhörlich abfotografiert und gefilmt. Menschen setzen sich in ihre Zelte und lassen sich mit Tee und Brot bedienen – oftmals ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie schwer es hier draußen ist, an Nahrung zu gelangen. Das kann sicherlich belastend sein. Und genau das wollen wir nicht. Jedes Foto, welches wir mit unseren Apparaten festhalten, soll auch mit dem Willen des Abgelichteten entstehen. Also benötigen wir Zeit und Geduld.

    Verhalten beginnen sie uns zu besuchen und freuen sich über Kaffee und Gebäck – wie schon erwähnt, eine seltene Kostbarkeit in der Taiga. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass Kaffee auf solch große Liebe trifft, und hoffen, dass die Vorräte ausreichen. Aber selbst wenn sie zu Ende gehen, werden wir etwas finden, womit wir diesen Menschen Freude und ihren Gaumen eine Abwechslung bereiten können.

    Am Abend herrscht Aufregung im Tuwacamp. „Was ist los?, fragen wir Tsaya. „Zwei Rentiere fehlen. Wir müssen sie suchen gehen. Es könnte sein, dass sie von Wölfen angefallen wurden, erklärt sie. Ultsan hebt einen Sattel auf den Rücken eines der Reittiere, schultert sein großkalibriges Gewehr und trabt in verblüffender Geschwindigkeit davon.

    Um Mogi mal wieder Auslauf zu gönnen, leine ich ihn an und spaziere mit ihm durch den verschneiten Wald. Plötzlich nehme ich eine Bewegung vor mir war. Wie erstarrt verharre ich. „Es sind zwei Rentiere, flüstere ich Mogi zu. Sie kommen langsam in meine Richtung. Schnell binde ich Mogi an. „Bloß nicht bellen, ermahne ich ihn und laufe den weißen Tieren entgegen. Ihr linker Hinterlauf ist mit einer Schnur am Hals verbunden. So ist es ihnen unmöglich, große Strecken zurückzulegen oder schnell zu flüchten. Im Falle eines Wolfsangriffs nicht von Vorteil, aber hilfreich, um sie zu hüten. Aufgeregt überlege ich, wie ich es fertigbringen könnte, eines von ihnen zu fangen und zu den Tuwa zu bringen. Dann kommt mir eine Idee: Etwa 20 Meter vor dem ersten Rentier bleibe ich stehen, öffne den Reißverschluss meiner Hose und pinkle. Kaum trifft der Strahl den Schnee, hebt das Rentier interessiert den Kopf und kommt zu meiner Freude angerannt. Sofort beginnt es den gelben Schnee zu fressen. Ich konzentriere mich und fasse beherzt und schnell das Seil. „Hab ich dich!", sage ich erfreut und binde es an einen der vielen Bäume an, um mein Glück auch beim zweiten Tier zu versuchen. Leider ist nun kaum noch Vorrat in meiner Blase. Es reicht aber für einen kurzen Sprutz. Sofort kommt auch dieses an, um die Leckerei zu fressen. Rentiere fahren wegen des Salzgehalts im Urin richtig darauf ab.

    Wegen des Salzgehalts fressen die Rentiere den gefrorenen Urin von Mensch und Tier.

    Nachdem ich die zwei ausgerissenen Rentiere gefangen habe, bringe ich sie stolz ins Camp zurück, ohne jemandem zu verraten, wie ich das angestellt habe.

    Ohne meinen Stolz zu zeigen, kehre ich zum Camp zurück. In der linken Hand zwei Rentiere am Seil und in der rechten Mogi. Hinter mir laufen nun plötzlich viele Rentiere. Getrieben von Ovogdorj, einem der Älteren der Gemeinschaft. Auf einmal komme ich mir gar nicht mehr so stolz vor, denn wahrscheinlich gehören die beiden von mir gefangenen Rentiere zu seiner kleinen Herde, die er gerade ins Lager treibt. Als ich sie ihm wenig später übergebe, bedankt sich Ovogdorj überschwänglich und lacht mich warmherzig an. Sein Lachen kommt spürbar von Herzen. Wenn ich es richtig deute, verstand er meine Aktion als gut gemeinte Handlung, die von den Menschen hier wohlwollend aufgenommen wird.

    Abends besuchen uns wieder Tsaya und Ultsan. „Wie geht es dir?, frage ich Tsaya, weil ich den Eindruck habe, etwas Gequältes in ihrem Gesichtsausdruck zu entdecken. „Ach, ich habe Zahnweh, antwortet sie. „Zahnweh? Oh, das ist aber gar nicht gut. Vor allem wenn man in der Taiga lebt, antworte ich besorgt. „Ja, ist nicht gut. Ultsan hat versucht, mir den Zahn zu ziehen, aber es hat nicht geklappt. „Ziehen? Wie denn das?, wundere ich mich. „Wir haben eine Zange. Aber sie ist ständig abgerutscht. Hat ganz schön wehgetan. Ich stach dann die Geschwulst mit einer Nadel an. Hoffe, das hilft, schockt sie uns. „Du hast mit einer Nadel in dein Zahnfleisch gestochen? „Ja. „Na hoffentlich war sie sterilisiert? „Es war eine neue Nadel, antwortet sie, sich über die Backe streichend.

    Bei Kaffee und Süßgebäck unterhalten wir uns über das einsame Leben in der Taiga und die Jagd, die für das Volk der Tuwa zum Leben gehört wie der Sonnenauf- und -untergang. Ultsan setzt seine Erzählung da fort, wo er gestern Abend aufgehört hat:

    „Am liebsten jage ich Gämsen. Sie sind nicht leicht zu erwischen und du brauchst gute Hunde, die in der Lage sind, den Fluchtweg des Tieres zu berechnen. Aber die gefährlichsten Tiere sind und bleiben Wildschweine und Bären. „Sind gute Jagdhunde wichtig für euch?, frage ich. „Aber ja. Ohne Hunde wäre der Erfolg einer Jagd sehr gering. Wir besitzen hier im Camp sehr gute Jagdhunde. Allerdings sind sie nur für die Taiga zu gebrauchen. Außerhalb fallen sie über Schafe, Ziegen und junge Rinder her. „Was? Eure Hunde jagen auch Schafe?, fragt Tanja. „Aber ja. Sie reißen eigentlich alles außer Rentiere. Dafür sind sie erzogen. Wenn wir nach Tsagaan Nuur reiten, müssen wir sie hier im Camp gut festbinden. Einmal allerdings hat sich einer unserer Hunde losgerissen und ist uns gefolgt. Auf dem Weg nach Tsagaan Nuur tötete er gleich vier Schafe. Wir mussten alle bezahlen, hören wir und müssen lachen. „Sorry, aber das ist zu komisch. Unser Mogi liebt es ebenfalls, Schafe in den Hintern zu beißen. Er hat uns auf dem Weg hierher viel Ärger bereitet. Einmal mussten wir auch bezahlen, haben aber das Schaf nicht bekommen. Ich hoffe, euch erging es besser und ihr konntet das getötete Schaf mitnehmen?, frage ich. „Ja, konnten wir. „Das ist gut. Mogi wäre eigentlich ein guter Hund für euch. Allerdings wissen wir nicht, ob er eure Rentiere ebenfalls verfolgen würde. Vor allem die jungen. Er ist in der Stadt aufgewachsen und hat nie mit anderen Tieren zu tun gehabt, erklärt Tanja. „Euer Hund ist ein starker und mutiger Hund. Ich habe bemerkt, dass er vor nichts Angst hat. Wäre ein guter Hund für die Bärenjagd, entgegnet Ultsan. „Hm, ich weiß nicht. Ich denke, seine Überlebenschancen wären äußerst gering. Der Bär würde ihn sofort töten, sage ich nachdenklich. „Kann sein. Die meisten Hunde werden allerdings bei der Jagd auf Wildschweine verletzt oder getötet. Aber wenn ein Hund genügend Erfahrung gesammelt hat, lässt er sich auch nicht so schnell umbringen.

    Ich erinnere mich, als ich mit meinen Bruder auf der Jagd war. Einer unserer Hunde blieb plötzlich stehen und legte seinen Kopf zur Seite. Wir beobachteten ihn, wie er neugierig in die Erde lugte. „Könnte der Bau eines Bären sein, meinte mein Bruder. Ich hielt es für unmöglich, da die Erhebung einer Höhle oder Grube nicht auszumachen war. Allerdings sind Bäre sehr intelligent. Sie schaffen die Erde für ihren Bau über viele Kilometer Entfernung heran. Dabei laufen sie auf den Hinterbeinen und tragen den Aushub in den Vorderläufen, erklärt Ultsan. „Warum machen sie das?, wundere ich mich. „Um Spuren zu verwischen. Sie graben meist nie dort, wo ihre Höhle ist, sondern bringen das Baumaterial von weit her. So ist ihr Winterlager nicht auszumachen. Darauf zu stoßen wäre reiner Zufall. „Und? Was hat euer Hund in der Erde gesehen? War es eine Bärenhöhle?, frage ich, um den Fortgang der Geschichte zu hören. „Na ja. Das wussten wir eben nicht. Wir standen hinter den Bäumen auf der Lauer und beobachteten die Situation. Obwohl ich nicht daran glaubte, eine Bärenhöhle entdeckt zu haben, konnte es trotzdem eine sein. Hunde können das Schnaufen des Bären hören. Und es stand außer Frage, dass unser Hund etwas entdeckt hatte. Wir standen vielleicht 30 Minuten in unserem Versteck, als ich vor Schreck fast mein Gewehr fallen ließ. Urplötzlich schoss eine Pranke aus der Erde, nur knapp an unserem Hund vorbei. Der quiekte vor Schreck und sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite. Denn binnen Sekundenbruchteilen brach ein großer Braunbär durch die Erde nach oben, um den Hund zu reißen. Er hatte nicht geahnt, dass Menschen in der Nähe sind. Ansonsten wäre er nie herausgekommen. Es dauerte nur ein Augenzwinkern, bis wir uns von dem Schreck erholt hatten und schossen. Der Bär war sofort tot, erzählt Ultsan. „War er auch so dünn wie der, der euch fast alle getötet hatte?, frage ich. „Nein, es war ein gut genährtes Tier. Wir konnten alles verwerten und unseren Stamm damit einige Zeit ernähren.

    „Wir müssen gehen, fordert Tsaya ihren Mann auf. „Das koreanische Drama?, frage ich. „Ja, eine neue Episode, antwortet sie. „Na dann bis morgen, antworte ich. „Ihr seid jederzeit willkommen", verabschiedet sich Tanja noch, die beiden wieder zu uns einladend.

    Welche Hilfe ist die richtige?

    Wie jeden Abend besuchen uns wieder Tsaya und Ultsan. „Tanja und ich haben uns Gedanken darüber gemacht, wie wir eurem Volk helfen können. Wie ich euch erzählt habe, schreibe ich ein Buch über unsere Mongoleiexpedition. Da wir den Winter bei euch verbringen, sind auch die Tuwa ein Teil dieses Buches. Was haltet ihr davon, wenn wir von jedem verkauften Exemplar ein Jahr lang 900 Tugrik ³ – das wären etwa 20 Prozent unseres unversteuerten Gewinns – an ein Konto der Tuwa überweisen? Voraussetzung dafür wäre aber, dass es so ein Konto gibt oder ihr ein Konto dafür einrichtet. Dieses Geld darf allerdings nur für Notfälle, Krankenhausaufenthalte, Medikamente und Schulausbildung eingesetzt werden. Was denkt ihr? Wäre das eine Idee, die mit der Gemeinschaft besprochen werden sollte?, frage ich. „Ist ein großzügiges Angebot. Wir hatten bis vor Kurzem solch ein Konto. Es war tatsächlich für Notfälle eingerichtet. Nach einem Jahr hatten wir 9 Millionen Tugrik ⁴ gespart. Es verursachte allerdings auch Streit. Manche wollten sich ein Pferd kaufen. Andere sagten, wir haben kein Kind. Warum bekommen wir nichts davon? Oder: Ich war noch nie krank. Ich möchte auch etwas davon haben. So wurden durch das Guthaben die unterschiedlichsten Bedürfnisse geweckt. Der Verwalter solch eines Kontos hat es nicht leicht, das Geld gerecht zu verteilen, und gerät schnell in die Schussbahn unterschiedlichster Angriffe. Trotzdem hatten wir unser Konto behalten. Es wurde von einer Mongolin verwaltet, deren Namen ich nicht nennen möchte. Im zweiten Jahr fragten wir mal nach dem Kontostand. „Entschuldigung, ich bin mit der Buchhaltung nicht fertig. Ich gebe euch den Kontostand sobald wie möglich bekannt, sagte Tsaya, weswegen wir erst mal nicht mehr nachfragten. Wir arbeiteten noch härter als im Jahr zuvor. Wir gingen davon aus, mindestens das Doppelte, also 18 Millionen Tugrik ⁵ zusammengebracht zu haben. „Ein richtiges Vermögen, unterbreche ich sie kurz. „Ja, ein richtiges Vermögen. Als wir am Jahresende erneut wissen wollten, wie viel Geld wir nun besitzen, war sie nicht mehr da. Sie hatte unser Konto bis auf den letzten Tugrik geleert und war verschwunden. Wir haben herausgefunden, dass unsere Verwalterin nach Erdenet gezogen ist. Sie hat sich für das Geld ein Motorrad und ein Haus gekauft. Obwohl sie schon über 50 ist, bekam sie sogar einen neuen Mann. Mit Geld bekommt man alles, auch einen Mann, beendet sie ihre Geschichte. „Das ist ja furchtbar. Und habt ihr sie zur Rechenschaft gezogen?, frage ich bestürzt. „Was hätten wir tun können? Unser Ruf ist bei den Mongolen nicht der beste. Man hätte weiteren Anlass gehabt, schlecht über uns zu sprechen. Vielleicht hätte man uns nicht geglaubt? Die Menschen hätten gedacht, wir wären bankrott. Wir waren der Meinung, es sei besser, diesen Fall auf sich beruhen zu lassen, hören wir fassungslos. „Ihr habt sie nicht der Polizei gemeldet?, frage ich. „Nein." Nachdenklich sitzen wir da und können nicht glauben, was wir da eben gehört haben. Es ist wie immer. Die Armen können sich nicht zu Wehr setzen. Ein Grund dafür, das bisschen, was sie besitzen, auch noch zu stehlen. Die Diebin sitzt jetzt unbehelligt in Erdenet und verprasst das gestohlene Geld. Wenn es tatsächlich 18 Millionen Tugrik waren, hat sie ein Vermögen von 120 Monatsgehältern ergaunert. Dafür muss ein Mongole 10 Jahre arbeiten.


    30,51 Euro

    45.142,– Euro

    510.286,– Euro

    Hilfspaket

    „E inmal haben wir von einer Touristin ein Paket mit Kleidern geschickt bekommen, erzählt Tsaya weiter. „Ich musste mir Geld von meiner Mutter ausleihen, um das Paket in die Taiga transportieren zu lassen. Als es hier war, rief ich alle Bewohner des Camps zusammen. ‚Jeder kann sich ein Teil davon aussuchen. Denkt aber bitte daran, dass alle etwas bekommen’, sagte ich. Am Ende war der gesamte Inhalt des Kartons verteilt. Die Bewohner unseres Camps nahmen, was zu ihnen passte oder ihnen gefiel. Dann gingen sie ohne ein Wort des Dankes in ihre Tipis. Ich hatte mir so viel Mühe gegeben und nur Ultsans Onkel sagte ein paar nette Worte zu mir. Ich weiß, ich sollte keinen Dank erwarten. Aber es war trotzdem bitter. Ich war sehr traurig und habe lange geweint. Ultsan tröstete mich. Es ist nicht leicht, etwas für die Gemeinschaft zu tun und trotzdem ist es für uns wichtig, dass etwas getan wird, erzählt Tsaya etwas bekümmert.

    Zweifelhafte NGO

    „W as hältst du denn von NGOs? Es gibt doch einige davon in der Mongolei, die sich für euch einsetzen?", frage ich, um eine weitere Möglichkeit zu prüfen, auf die man sich verlassen können sollte. „Ha, ha, ha. Hör mir mit NGOs auf. Es gibt mindestens 11 NGOs in der Mongolei, die unseren Namen nutzen, um Geld zu machen. Ihr werdet es nicht glauben, aber bisher haben wir noch von keiner einzigen NGO Geld oder irgendetwas anderes erhalten. Sie kommen zu uns, fotografieren ein Kind ohne Schuhe, was im Sommer wohl das Normalste der Welt ist, und setzen es ins Internet auf ihre Webseite. Umso ärmlicher das Kind oder der Mensch aussieht, desto besser für die NGO. Mit solchen Aufnahmen gehen sie in Europa oder weltweit auf die Suche nach spendenwilligen Menschen. Und sie finden Menschen, die gerne helfen. Das könnt ihr mir glauben. Nur ist wie gesagt hier bisher noch nie etwas angekommen. Wir glauben nicht an NGOs. Die sind oftmals nur ein Grund, um Geld zu verdienen, aber in seltenen Fällen, um zu helfen. Ich möchte euch eine Geschichte erzählen, die uns vor nicht allzu langer Zeit widerfahren ist.

    Ein Ehepaar aus Holland, welches seit Jahren eine der besagten NGOs unterstützte, suchte uns auf, um zu sehen, was mit ihren gesammelten Spendengeldern geschehen ist. Der Professor und Chef der NGO, dessen Namen ich nicht nennen möchte, brachte einen Übersetzer mit. Wir riefen alle Anwesenden des Camps zusammen und hielten eine große Besprechung ab. Der Holländer sagte: ‚Wir und viele Menschen, die die Tuwa unterstützen wollen, haben pro Jahr und Student 2.000,- Euro⁷ an die NGO überwiesen. Wir hoffen, einigen eurer jungen Leute damit einen Weg zur Bildung geebnet zu haben.’ Der Dolmetscher übersetzte Folgendes; ‚Wir freuen uns, von euch mit offenen Armen aufgenommen worden zu sein. Wir sind überrascht, wie warm eure Sommer sind. Auch hätten wir nie gedacht, dass man auf Rentieren so gut reiten kann.’ Usw. usw. Unsere Männer und Frauen nickten und wussten letztendlich gar nicht, was die zwei Touristen von ihnen wollten. Der Professor und der Dolmetscher hatten keine Ahnung, dass ich in Amerika aufgewachsen bin und die englische Sprache besser spreche als sie alle zusammen. Ich hielt es nicht mehr aus und erzählte den Holländern, dass kein einziger Tugrik von ihrem gesammelten Geld je bei uns angekommen ist. Keiner unserer Studenten hat je etwas davon gesehen. Außerdem ließ ich den ganzen Schwindel hochgehen und berichtete davon, welchen absoluten Quatsch der Dolmetscher übersetzt. Dieser wurde daraufhin sehr verlegen. Der Professor begann mich anzuschreien und zu verfluchen. ‚Ich verfluche dich auf immer und ewig. Du wirst nicht mehr lange leben!’, brüllte er.

    Die Holländer waren entsetzt, einem Betrüger auf den Leim gegangen zu sein und viele Tausende von Euro an Menschen verloren zu haben, die sich daran noch mehr bereicherten."

    Fassungslos sitzen Tanja und ich da und finden für lange Zeit keine Worte. Es ist einfach zu unglaublich und zu übel, was wir über diese NGOs erfahren. Ohne Zweifel könnte man mit solchen Geschichten den Glauben an die Menschheit verlieren. Und gerade deswegen ist es wichtig, etwas zu unternehmen. Gerade deswegen ist es gut, dass wir hier sind und die Wirklichkeit kennenlernen. Dass wir darüber sprechen und schreiben. Natürlich kann jeder etwas Positives in seinem Leben tun. Es ist aber wichtig, seine Taten zu hinterfragen und von Zeit zu Zeit zu überprüfen. So war es auch gut, dass die Holländer sich persönlich nach dem Befinden der Tuwa erkundigt hatten und nachfragten, was mit ihrem Geld geschehen war. Lügen haben bekanntlich kurze Beine. Irgendwann fliegen sie alle auf. Es ist wichtig, an das Gute zu glauben und weiterzumachen. Den Kopf in den Sand stecken ergibt keinen Sinn. Das würde bedeuten, das Schlechte zuzulassen. Und das Schlechte lassen wir nicht zu. Tanja und ich sind der Überzeugung, durch positives Denken und Handeln zur Stärkung der positiven Seite beizutragen. Je mehr Menschen so denken, desto besser – desto stärker die positive Seite.


    6Nichtstaatliche Organisation

    73,5 Millionen Tugrik

    Vom Schamanen verflucht

    Am späten Morgen bekommen wir wieder Besuch. Der 33 Jahre alte Hadaa bringt sein Baby mit, um es uns stolz zu zeigen. Begleitet wird er heute vom 37-jährigen Tso und von Huchee, der etwa ebenso alt ist. Zu unserem besseren Verständnis, wer in welchem Tipi oder Blockhaus lebt, haben wir jetzt die Wohnstätten durchnummeriert. Insgesamt gibt es im Tuwa-Camp zurzeit sieben Tipis, zwei Blockhäuser und unsere Jurte. Hadaa wohnt mit seiner jungen Frau und seinem Baby Undraamaa im Tipi 4. Tso lebt mit der Schamanin Saintsetseg und ihrer 20-jährigen Tochter Monkoo in Tipi 7 und Huchee teilt sich mit seinem Bruder Galaa und Schwester Mama Tipi 2. „Was wollt ihr trinken? Tee oder Kaffee?, fragt Tanja. „Kaffee!, ist die einstimmige Antwort. Soweit es unser Mongolisch zulässt, unterhalten wir uns. Erzählen den Männern, dass wir mit unseren Pferden von Erdenet nach Mörön und weiter nach Tsagaan Nuur geritten sind. Sie verstehen, zeigen uns den nach oben gedrehten Daumen und lachen. „Hm, amttaj" ⁸, loben sie den Kaffee. Wie bisher jeder Besuch von Tuwa dauert auch dieser nicht länger als 20 oder 30 Minuten. Dann bedanken sich die Gäste höflich und verabschieden sich. „Irj irj baigaarai ⁹, sagt Tanja wie immer, um unseren Besuchern zu signalisieren, dass unsere Jurte jederzeit für sie offen steht und wir sehr gerne Kaffee, Tee und Gebäck anbieten. „Bairlalaa, bedanken sie sich höflich.

    Mogi (links im Bild) hat sich im Rudel der Taigahunde schnell behauptet und Freunde gefunden. Immer wieder besuchen sie uns in der Jurte.

    Neben den vielen Tuwa, die uns täglich besuchen, schaut auch ein neugieriges Rentier vorbei.

    Am Abend freuen wir uns über Tsaya und Ultsan. Mittlerweile sind wir uns schon vertrauter und unsere Treffen werden immer lockerer. Tsaya erzählt uns, wie sie als junges Mädchen von ihren Eltern nach Amerika geholt wurde. „Meine Eltern sind schon zwei Jahre vor uns nach Amerika ausgewandert, um Geld zu verdienen. In der Mongolei waren die wirtschaftlichen Verhältnisse zu diesem Zeitpunkt eine Katastrophe. Nach zwei Jahren hatten meine Eltern genügend Geld gespart, um uns Kinder nachkommen zu lassen. Als wir dort ankamen, haben sie alles aufgetischt, wofür Amerika bekannt war: Hamburger, Donuts, Pommes, Ketchup usw. Wir haben gegessen, bis unsere Bäuche fast geplatzt sind. Ich verbrachte einen Teil meiner Kindheit und meine gesamte Jugend dort. Dann wurde es für meine Eltern immer schwerer, Arbeit zu finden. Sie verkauften gerade noch rechtzeitig alles, was sie hatten, und zogen wieder in die Mongolei. Freunde von uns warteten zu lange und können sich jetzt nicht mal mehr das Flugticket leisten, um in die Heimat zurückzukehren. Wie ich hier bei den Tuwa landete, habe ich euch ja schon erzählt.

    Nun, wie ihr wisst, verliebte ich mich in Ultsan. Seither sind wir ein unzertrennliches Paar. Vier Jahre lang sparten wir für ein Baby. Wir wollten besser finanziell abgesichert sein als andere, denn es ergibt keinen Sinn, ein Baby zu bekommen und nicht genügend Geld für sich selbst zu besitzen. Ich wurde, wie von uns geplant, dieses Jahr schwanger. Wir freuten uns sehr auf unser Kind und unsere eigene Familie. Ich war im siebten Monat schwanger, als mein Baby plötzlich aufhörte, sich zu bewegen. Natürlich kam bei mir und Ultsan Panik auf, unser Kleines könnte sterben. Wir baten um Hilfe bei unseren Stammesmitgliedern. Ich bekam ein Pferd mit einem weichen Schritt geliehen. Das war’s aber auch schon. Hier draußen helfen wir zwar zusammen, aber trotzdem müssen die anderen weiter auf ihre Herde achten, Feuerholz machen, die Familie versorgen usw. Jeder hat seine Aufgabe in der Taiga. Das war der Grund, warum uns auf dem Ritt nach Tsagaan Nuur keiner begleitete. Hochschwanger saß ich nun auf dem Pferd, um mit meinem Ultsan so schnell wie nur möglich ein Krankenhaus zu erreichen. Nach sechs Stunden im Sattel kamen wir zu unserem Wintercamp. Weil man dieses, wenn auch beschwerlich, so doch mit dem Auto erreichen kann, wartete dort ein Krankenwagen aus Tsagaan Nuur auf uns. Mittlerweile war mein Kind gestorben. Weil ich nicht in der Lage war, es auf natürlichem Weg zur Welt zu bringen, blähte sich mein Bauch mehr und mehr. Mir ging es übel und ich wurde von innen vergiftet. Mein Leben hing an einem seidenen Faden. Im Krankenhaus von Tsagaan Nuur waren sie nicht ausgerüstet, um das Kind mittels Kaiserschnitt aus mir herauszuholen. Ultsan telefonierte mit dem Krankenhaus in Mörön und forderte einen Krankenwagen an. ‚Wir können keinen Krankenwagen nach Tsagaan Nuur schicken. Ihr seid für die Situation selbst verantwortlich. Warum seid ihr nicht schon früher gekommen? Also bringt euch da selbst wieder raus. Ihr müsst auf eigene Faust nach Mörön kommen’, sagte der Arzt, obwohl für solche Notfälle Krankenfahrten vom Staat bezahlt werden.

    Ultsan organisierte einen Allradbus, mit dem wir dann 12 Stunden nach Mörön fuhren. Als wir dort ankamen, war ich kaum noch ansprechbar und mein Bauch weiter angeschwollen. Im Krankenhaus von Mörön gab es zu diesem Zeitpunkt keine Medikamente und keinen Tropf, um eine Geburt einzuleiten, und ebenfalls keine Möglichkeiten, um einen Kaiserschnitt durchzuführen. Ich war also zum Tode verurteilt. Mit unseren letzten Ersparnissen, die eigentlich für unser Kind gedacht waren, kaufte Ultsan zwei Flugtickets nach Ulan Bator. Als wir dort noch am gleichen Tag ankamen, war kein Bett für mich frei. Ultsan rief meine Mutter an, die einige Chirurgen persönlich kennt. Sie organisierte dann ein Bett für mich. Mit den richtigen Medikamenten war ich nun in der Lage, unser totes Kind auf natürlichem Weg zur Welt zu bringen. Ultsan, der vorher noch nie in Ulan Bator oder einer richtigen Stadt war, hatte es nicht leicht. Er nahm seinen Erstgeborenen, wickelte ihn in ein weißes Tuch und begrub ihn außerhalb von Ulan Bator an einem Hügel. Keiner stand ihm bei. Mein Vater wollte und will nichts mit ihm zu tun haben. Er ist ein Taigamann. So eine Art Unterrasse, mit der man nichts gemein haben möchte. In Großteilen unserer Bevölkerung gelten die Taigavölker heute noch als Taugenichtse, als ungebildete Wilde und Alkoholiker, die um sich schlagen. Meine Eltern wollten mich mit einem reichen Mann verheiratet sehen und nicht mit einem Tuwa. Das ist das Letzte. Liebe zählt nicht. Es geht um Geld und Wohlstand. Das ist es, was meine Eltern für mich wollen. Erfolgreich im Beruf, einen

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