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Wieder am Meer
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Ebook119 pages1 hour

Wieder am Meer

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"Ich sollte noch erwähnen, daß ich wieder am Meer lebe. Und daß ich wieder schreibe. Ich schreibe diese Geschichte hier, von der ich nichts weiß. Ich kann nicht einmal sagen, wann sie angefangen hat. Ich weiß es nicht. Niemand kann das sagen, was nicht weiter von Nachteil ist. Denn niemand weiß, wann eine Geschichte anfängt, wo ihre Mitte liegt oder wann genau sie zu Ende ist. Man erfindet einen Anfang, wie man alles andere im Leben erfindet. "
LanguageDeutsch
Release dateJun 19, 2015
ISBN9783739253770
Wieder am Meer
Author

Richard Wolf

Richard Wolf is an Emmy Award–winning composer, multi-platinum-selling music producer, and professor at the University of Southern California’s Thornton School of Music, where he teaches classes on music and mindfulness. As a producer/remixer/songwriter/composer, Wolf worked on projects with Prince, Bell Biv DeVoe, Freddie Mercury, Seal, MC Lyte, and Coolio, and has been contributing to the soundtracks for scores of films and television programs including twelve seasons of the worldwide hit NCIS. He started practicing Zen meditation when he was a teenager.

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    Book preview

    Wieder am Meer - Richard Wolf

    Für Tine Walden und für Dodo Bindel

    Für Melanie Woller, für Giulietta Bender und für Aude Masserann

    Und für Franziska Jung

    Gesehen oder undeutlich gesehen habe ich also in diesen Tagen…

    Philippe Jaccottet

    Während alles bereit war für meinen Tod, habe ich angefangen, das aufzuschreiben…

    Marguerite Duras

    Ich bin im großen Zimmer. Die Fenster sind weit geöffnet. Meine Hände fühlen sich vom kalten Seewind wie gefroren an. Der Himmel ist vollkommen schwarz, wie eine undurchsichtige Nacht. Es ist wie in der Zeit vor Gott, in der man voller Furcht und Zittern das kommende Ende erwartet.

    Es gibt Tage, da ist es bereits Nacht, wenn es hell ist. An solchen Tagen fühle ich mich zu einer Art von Unglücklichsein hingezogen, dessen Vermeidung mir an anderen Tagen so natürlich scheint. Ich bin dann wie ein Stein oder Packeis. In diesem Zustand fällt es mir schwer, einen minimalen Kontakt mit anderen menschlichen Wesen aufrechtzuerhalten. Die stumpfsinnige Langeweile, die damit einhergeht, ist eine zutiefst verstörende Erfahrung und führt zu einem Elend, das ich verachte. Nur weil ich weiß, daß dieses Elend und mein Leben nicht ein und dasselbe sind, bevorzuge ich es, am Leben zu bleiben.

    Zuzeiten träume ich, daß ich weine. Ich weine wie Kinder weinen, unbändig und maßlos, ohne jeden Grund. Obwohl dies nur in meinen Träumen geschieht, fühle ich mich noch Tage später davon innerlich wie aufgerauht. Bisweilen, vor allem nach dem Aufstehen, wünsche ich mir, zu jemandem zu sagen: Wir lieben uns, du und ich, wie schön das ist. Ich finde diesen Satz schrecklich sentimental. Bis ich mir bewußt mache, wie unwiderstehlich seine Worte sind, wenn sie auf einer Liebe beruhen, die von Herzen kommt. Jedesmal erscheint mir mein Wunsch dann über alle Maßen bedeutsam. Ich sage mir, daß ich, wenn ich diese Worte sage, Gründe in mir schaffe, allein indem ich sie sage. Und daß ich, wenn ich sie mit ganzem Herzen sage, damit zum Ausdruck bringe, daß ich mich von diesen Worten weisen und beseelen lasse.

    Obwohl ich bestimmte Sätze sentimental finde, habe ich einen opulenten Hang zum Sentimentalen. Opernmusik und Chansons können mich in derselben Weise zu Tränen rühren wie eine Gedichtzeile von Rilke oder ein Satz, den eine Schauspielerin in einem Liebesfilm aus Hollywood sagt. Meine Fähigkeit, mich rühren zu lassen, geht allerdings nicht soweit, daß ich verleugne, wie viele Unwahrheiten über die Liebe verbreitet werden, nicht nur in den Filmen. Mir ist klar, daß wir die Liebe oftmals verwechseln mit den Wirbeln, die durch die Lust, die Romantik und ähnliche Besessenheiten verursacht werden. Ich glaube, daß nur noch wenige wissen, was die Liebe fordert, welche Ängste und Unruhe sie mit sich bringt, wie riskant sie ist und wie sehr sie uns prägt. Was es bedeutet, sich an die Person, die wir lieben, zu binden, sich um sie zu sorgen und sie und uns selbst zu erkunden und zu erkennen. Oder zu verstehen, daß es nicht haufenweise Gründe gibt, weshalb wir einen Anderen lieben, sondern daß wir gerade ihn allein deshalb lieben, weil wir gar nicht anders können. Um so trostloser ist es, wenn wir früher oder später bemerken, daß der Andere geneigt ist, die Liebe zu schwächen oder sich von ihr zu befreien. Wenn wir uns allmählich darüber klar werden, daß wir entweder nie von ganzem Herzen geliebt wurden oder der Andere in sich allmählich Gründe geschaffen hat, die Liebe zu untergraben. Diese Erkenntnis ist bitter, zumindest für jemanden, der von ganzem Herzen liebt. Denn für ihn ist es nicht möglich, die Liebe zum Gehen zu bewegen, so wenig wie den Schmerz, der am Ende der Liebe seltsamerweise nicht mehr verschwindet. Wobei es übrigens genau dieser Schmerz ist, der mich im Lauf des Tages meinen morgendlichen Wunsch, zu jemandem zu sagen: Wir lieben uns, du und ich, wie schön das ist, vergessen läßt.

    Ich sollte noch erwähnen, daß ich wieder am Meer lebe. Und daß ich wieder schreibe. Ich schreibe diese Geschichte hier, von der ich nichts weiß. Ich kann nicht einmal sagen, wann sie angefangen hat. Ich weiß es nicht. Niemand kann das sagen, was nicht weiter von Nachteil ist. Denn niemand weiß, wann eine Geschichte anfängt, wo ihre Mitte liegt oder wann genau sie zu Ende ist. Man erfindet einen Anfang, wie man alles andere im Leben erfindet.

    In dieser Geschichte hier hat vielleicht alles damit angefangen, daß wir frühmorgens von Paris aus nach Le Havre gefahren sind. Wie jedesmal kamen wir um die Mittagsstunde an und gingen ins Café Singer, das am Strand liegt. Von der oberen Terrasse aus beobachteten wir, wie in der Ferne die gewaltigen Containerschiffe in den Hafen gezogen und dort entladen wurden. Wir saßen im Schatten der Sonnenschirme, tranken Whisky Sour und hingen, jeder für sich, unseren Gedanken nach. Luise schaute verzückt nach dem Licht und dem Himmel, die atemberaubend waren in der Hitze jenes Sommers.

    Als ich am Fenster stand, bevor ich anfing zu schreiben, fiel mir wieder ein, daß damals ein Paar im Café Singer war. Und jetzt erinnere ich mich, daß die Frau noch sehr jung war. Ich sehe eine Frau, Mitte bis Ende Zwanzig. Sie strahlt Intelligenz aus, ist kein Mädchen mehr. Der Mann, der ihr gegenüber sitzt, ist bereits alt, in den Sechzigern. Durch sein gepflegtes Äußeres und die Schlankheit seiner Statur, mit der er sich selbst eine gewisse Jugendlichkeit bescheinigt, wirkt er jedoch mindestens zwanzig Jahre jünger. Man hört sie abwechselnd reden. Dann schweigen sie und reden erneut. Ihre Worte sind entmutigend klar. Dennoch klingen sie, als wären sie die Worte von einem Anderen. Als hätte ein Anderer für sie diese Sätze geschrieben, die sie jetzt mühsam aufsagen, und sie hätten sie in der Nacht zuvor auf die unheilvollste Weise auswendig gelernt. Manche ihrer Gesten wirken wie Andeutungen, die ein Geheimnis vor den Blicken des jeweils Anderen ankündigen, ohne es jedoch preiszugeben.

    Vorhin, am Fenster, vor dem Schreiben, fragte ich mich, ob die beiden zu etwas Früherem hätten zurückkehren können? Ob sie das, was gerade geschah, hätten aufhalten können, wenn sie bereit gewesen wären, mehr zu zeigen? Nein, eher nicht. Selbst wenn sie dazu bereit gewesen wären, hätte es keine Bedeutung mehr gehabt. Ich sehe, daß sie sich bereits aus den Augen verloren haben, lange bevor sie an diesem Tag ins Café Singer gekommen sind, um sich endgültig zu trennen. Vielleicht waren sie zu naiv gewesen, um das herannahende Unglück zu bemerken. Oder sie haben bewußt weggeschaut. Haben in den gewohnheitsmäßig ausgetauschten Zärtlichkeiten den Verrat nicht wahrgenommen, die seltsam schal gewordene und sich falsch anfühlende Nähe, die ihre Liebe später erstickt hat, unentdeckt gelassen. Die Liebe, die einst von ihnen Besitz ergriffen hatte, war für sie unsichtbar geworden, kaum noch lebendig, fast schon tot. Es gab für sie keinen Grund mehr, noch einmal darauf zurückzukommen.

    In einem bestimmten Moment allerdings, als könnte er es nicht vermeiden, hat der Mann dann mit sanfter Stimme von Antibes gesprochen. Von der weißen Ruine des alten Hotelpalastes Provencal im Seebad Juan-les-Pins. Von einem Jazz-Festival im Juli eines bestimmten Jahres, auf dem eine berühmte amerikanische Sängerin ihr letztes Konzert gegeben hatte.

    Folgendes sehe ich: Der Schmerz über die bevorstehende Trennung hat sich tief im Gesicht des Mannes eingegraben. Wohl aus diesem Grund bleibt sein Lächeln über die Erinnerung an Antibes eher schwach. Während er spricht, sieht er die Frau fortwährend an. Ich betrachte die Frau mit seinen Augen. Ihr blondes Haar, das der von der See kommende Wind leicht bewegt. Die unfaßbare Helle ihrer Haut, als wäre sie gestern oder heute morgen zum ersten Mal in diesem Sommer für ein paar Stunden am Strand gewesen. Ihre rätselhaften, fast durchsichtigen Augen, die weder blau sind noch grau. Die bloße Haut ihrer Arme. Ihr schlanker Körper in dem Kleid aus roter Seide. Ein Körper, den der Mann kennt wie keinen anderen. Die Frau schließt die Augen. Sie denkt an Antibes, an das alte Hotel in Juan-les-Pins, an die glücklichen Tage und die leidenschaftlichen Nächte. Sie hört die Musik wieder, die auf dem Festival gespielt wurde, die Stimme der Sängerin. Sie seufzt leise. Als sie die Augen wieder öffnet, sind unerwartet Tränen darin zu sehen. Ihre Augen schwimmen in einem See aus Tränen. Und als wäre es unabwendbar, beugt sie sich weit über den Tisch in Richtung des Mannes und überläßt ihm ihren Mund zum Küssen. Daraufhin greift der Mann mit einer innigen Geste nach ihren, auf dem Tisch liegenden Händen und küßt lange den Mund der Frau. Sie läßt dies zuerst zu und erwidert dann seinen Kuß. Nach einer Weile zieht sie zuerst ihren Mund und dann ihre Hände zurück. Als hätte der Kuß niemals stattgefunden, nimmt sie sich eine Zigarette aus der Schachtel, zündet sie an und raucht. Dabei sieht sie den Mann durch den aufsteigenden Rauch der Zigarette an, als wäre er ein Fremder, der sich zufällig an ihren Tisch verirrt hat.

    Ich erinnere mich besonders gut an diesen einen Moment, als mir klar wurde, wie sehr der Mann die Frau begehrte, wie sehr er sie noch immer wollte. Diese Frau, der er einmal den schmalen Ehering geschenkt hatte und mit der er zusammengeblieben war, in den guten und den anderen Zeiten, weil er nach diesem inneren Gesetz lebte und nichts anderes kannte. Und neben diesem inneren Gesetz, in dem ihm fremd vorkommenden Raum seiner Gefühle, der von alldem vollkommen unberührt blieb, wollte er mit dieser Frau weiter zusammenbleiben, weil sie alles von ihm wußte, alles begriff, was er war, weil sie die Einzelheiten seines Schmerzes kannte und wußte, wie sehr er an das Glück glaubte. Ich erinnere mich an seine Angst, die jäh sichtbar wurde, als er verstand, daß es zu spät war. Auch die Frau, die ihn ansah, bemerkte diese Angst nun.

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