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Der verwelkte Mann: Roman
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Der verwelkte Mann: Roman

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About this ebook

„DER VERWELKTE MANN“ ist quasi eine Abrechnung des Erzählers mit sich selbst, ein tiefgründiger Rückblick auf sein Leben, seine Kindheit, die damit verbundenen Ängste, kindlichen Dummheiten und der fehlenden Liebe durch das Elternhaus. Sein ganzes Leben jagt er einer falsch verstandenen Liebe hinterher und findet keinen Weg seine Ängste abzustreifen, die ihm schon als Kind aufgezwungen wurden. Nur langsam tastet er sich an die Frage heran, wie sein Ego und das innere Kind in ihm auf die Probleme des Erwachsenwerdens reagieren, was er unterdrücken und was er befördern muss. „DER VERWELKTE MANN“ bringt dem Erzähler Leid und Schmerzen, aber auch Erkenntnisse, die ihn von seinen Ängsten befreien. Lesen Sie selbst, welch innerer Auseinandersetzung sich zwischen dem Ego und dem inneren Kind eines Mannes abspielt und woraus dieser Kampf resultiert.
LanguageDeutsch
Release dateJul 9, 2015
ISBN9783739272955
Der verwelkte Mann: Roman
Author

Matthias Hartje

Matthias Hartje (Buchautor, Maler und Autodidakt) wurde im August 1960 in Berlin als Einzelkind geboren. Nach Beendigung seiner Schulausbildung absolvierte er eine erfolgreiche Lehre als Filmkopierer und später als Druckformhersteller. Von 2001 bis 2009 arbeitete er als Wohngruppenfachkraft für Demenz in der Altenpflege. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Sein Interesse galt schon frühzeitig dem Malen. So entstanden bis heute mehr als 1400 Aquarelle. Große Teile seiner Bilder hat er auf Vernissagen gezeigt und in einem 2019 unter dem Titel "Das Hellersdorfer Aquarell" erschienenen Katalog veröffentlicht. Im Verlauf der Jahre entdeckte Hartje eine zweite Leidenschaft: das Schreiben. Zunächst waren es Gedichte und Erzählungen, die er 2012 veröffentlichte. Später begann er seinen Zwiespalt bei der Bewältigung des Lebens sowie seine Ansichten und Erfahrungen mit demenzkranken Menschen in Romanen zu beschreiben und mit seinen Bildern zu ergänzen. So veröffentlichte er Bücher wie: "Demenz-Kinder", "Land der Kinder", "Der schwarze Junge", "Das Ekelkind", "Das Gespür der Zeit", "Die Frau in Ton" oder den Gedichtband "Der Meeresspiegel und die Zeit". Auf seinen zahlreichen Lesungen befasst er sich mit den in seinen Büchern beschriebenen Themen: das innere Kind, Religion, Liebe, Angst, Demenz, das Ego im Menschen, Sterben und Leben.

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    Book preview

    Der verwelkte Mann - Matthias Hartje

    Das Nutzlose in mir

    war oft ein Ergebnis dessen,

    was ich nicht getan habe.

    Und wenn ich etwas getan habe,

    war es nur leeres Geschwätz.

    Für meine Mutter

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Die erste Seite

    Die zweite Seite

    Die dritte Seite

    Die vierte Seite

    Die fünfte Seite

    Die sechste Seite

    Die siebente Seite

    Die achte Seite

    Die neunte Seite

    Die zehnte Seite

    Die elfte Seite

    Die zwölfte Seite

    Die dreizehnte Seite

    Die vierzehnte Seite

    Die fünfzehnte Seite

    Die sechszehnte Seite

    Die siebzehnte Seite

    Die achtzehnte Seite

    Die neunzehnte Seite

    Die zwanzigste Seite

    Die einundzwanzigste Seite

    Die zweiundzwanzigste Seite

    Die dreiundzwanzigste Seite

    Die vierundzwanzigste Seite

    Die fünfundzwanzigste Seite

    Die sechsundzwanzigste Seite

    Die siebenundzwanzigste Seite

    Die achtundzwanzigste Seite

    Am anderen Tag

    Die neunundzwanzigste Seite

    Die dreißigste Seite

    Die einunddreißigste Seite

    Die zweiunddreißigste Seite

    Die dreiunddreißigste Seite

    Die vierunddreißigste Seite

    Der zweite Tag

    Die fünfunddreißigste Seite

    Die sechsunddreißigste Seite

    Die siebenunddreißigste Seite

    Die achtunddreißigste Seite

    Die neununddreißigste Seite

    Die vierzigste Seite

    Die einundvierzigste Seite

    Die zweiundvierzigste Seite

    Die dreiundvierzigste Seite

    Die vierundvierzigste Seite

    Die fünfundvierzigste Seite

    Die letzten Stunden

    Eine Woche später

    Buchempfehlungen

    Prolog

    Es ist schon verwunderlich, dass ein männlicher Charakter in dieser wilden, unaufgeräumten Welt immer nur wie ein alter, eleganter Oldtimer wahrgenommen wird, der das Herz eines Mannes erfreut. Verwunderlich ist dagegen nicht, dass ein maßgeschneidertes, enges Damenkleid die Aufmerksamkeit eines Mannes erregt, ohne dass er seine Umwelt noch richtig wahrnimmt. Dabei wird der Mann einem Schubladendenken ausgesetzt, wo nur die ermüdende, sich ständig wiederholende, unermessliche, schroffe, Angst machende, erpressbare, androhende, treue, belanglose, unaufhörliche, stichelnde, mörderische, unerfreuliche und langweilige Sexualität im Vordergrund steht.

    Es ist maßlos übertrieben, dass der Mann weniger Gefühl in der Seele oder gar andere Empfindungen hätte als eine Frau, die ihre empfindsame Weiblichkeit der Welt mit vollen Händen offenbart. Im Mann verbergen sich zwei Denkarten, so wird es seit Jahrtausenden beschrieben: das gefühlvolle und das egozentrische Denken. Beide stehen in sehr engem Kontakt, nicht aber immer im Einklang. Leider konnte ich in meinem langen Bücherregal zu Hause kein Buch über einen solchen Mann finden. Ein Buch, das über einen männlichen und wahrhaft lebenden, ehrlichen und liebevollen Charakter berichtet, der nicht schwanzgesteuert denkt und fühlt, sondern von der Umwelt so wahrgenommen wird, wie er wirklich ist. Da es also kein solches Buch gibt (ich wollte es ja verschenken), habe ich selbst ein Buch über einen Mann geschrieben, der anders denkt und fühlt, um anders zu lieben, und der das „Innere Kind und das „Ego zu gleichen Teilen in die Waagschale wirft.

    Der Gedanke, dass der Mann nur ein sexistisch geprägtes Wesen ist und nicht darüber nachdenkt, wie es wirklich in ihm aussieht, macht mich wütend. Ich möchte die Flucht nach vorn antreten, dieses Missverständnis aufklären und beschreiben, warum mich dieses Thema so beschäftigt. Die Frage ist nur: Wer entscheidet in mir? Wer ist für meinen Charakter und für meine Launen zuständig? Und warum versuche ich stets aufzupassen, dass mich ja keiner angreift? Oder anders gefragt: Was bestimmt in mir, welche Frau ich wähle? Ist es der immer wiederkehrende Fortpflanzungstrieb oder die Dominanz meiner Männlichkeit? Ist die Wahl ein schönes Hemd zu kaufen vom Stand der Sonne abhängig oder davon wie man geschlafen hat oder mit welcher Frau man die letzte Nacht verbracht hat? Die ständige Suche nach Antworten macht mich mürbe. Und der Versuch, die Darstellung von Lebensabläufen zu prüfen, macht mir einfach Angst. So ist es auch mit der Verantwortung, wie ich ein Buch zu lesen oder einen Obstsalat herzurichten habe. Ich vermerke ausdrücklich, dass diese Frage nicht sonderlich interessant ist, aber dennoch den wahren Unterschied zwischen mir und dem anderen Teil in mir in den Vordergrund rückt. Ich kann nichts dagegen machen, auch wenn ich am Tag hundert Mal schreiben würde: MIR IST ALLES EGAL. Um das herauszufinden, müsste ich ein Abziehbild finden, das mein Gesicht darstellt. Es sei denn, ich male es selbst. Aber auch dann ist es fraglich, ob dieses Bild meinem Gesicht gleichen würde. Nun, es gibt viele Möglichkeiten seine Identität darzustellen. Es gibt viele Masken, die die Falten der Last, der Scham, der Gefühle und des Stolzes verbergen. Es gibt viele Wege, sich so wahrzunehmen, wie man ist. Man muss nur einen davon finden.

    Kann es ein Vorwort werden oder sollte ich einen Anfang finden, der meine Gedankengänge nicht gleich wieder beendet?

    Ich habe oft gesehen, dass die Traurigkeit sich ihr Antlitz beim schönsten Sonnenschein verbrennt. Ich habe genug vom Ruß und von diesem verölten Boden, um die Ratte zu retten, die mich am Hals packte, als die Schwäche in mir zum Vorschein kam. Ich lehne das Streichholz ab, das den dichten, gelben Nebel zu lichten vermag, der weit unten im Tal die Ruinen vor mir versteckt. Ich wollte nicht begreifen, dass die Hitze von Kampf und Krieg zur Erlösung führt. Ich wollte den inneren Wunsch durchdenken, so wie das kühle Nass mich benetzt, damit ich ab heute nicht mehr zu weinen brauche.

    Egal was heute noch geschehen mag; ich sehe zu, dass der Staub aus Beton und Putz von meiner Jacke verschwindet und ich endlich einen Weg finde, der mir ein winziges Korn des Vergessens schenkt. Es ist gut, dass diese Ruine den Schwefelgeruch bindet, damit ich endlich in einem Café sitzen und eine Reise beschreiben kann, die ich Tage vor meinem Zusammenbruch nie für möglich gehalten hätte.

    Der Nullpunkt meiner Lebenslinie, der Schmerz, machte sich, wie vor vielen Jahren schon, am selben Tag breit. Alles ist über mich hereingestürzt, wurde mir genommen: der Job, der mich ernährte. Die Familie, die mich beschützte. Die Gesundheit, die mir Stärke gab. Und die Seele, die mir die Gewissheit gab, ich sei unantastbar. Ich konnte nichts mehr sehen, und das Gespür von Nähe und Anziehung war verschwunden. Der Name war gelöscht. Das Konto war gesperrt. Das Geburtsdatum war verschwunden und meine Jeanshose war verdreckt, stank nach alter Zeit und nach Ruß. Ich saß auf einem dieser Baumstämme, die Straßenmarkierungen darstellen sollen, damit kein Auto an diesen Stellen parkt. Dem gegenüber sah ich die Trümmer eines Wohnhauses, aus dem nur noch feuchter Dampf aufstieg. Nichts ist mir geblieben. Ich sah den verkohlten Kühlschrank und den Flachbildschirm, der mir abends eine bunte, heile Welt bescherte. Kühle Luft streichelte mich, sodass ich zu frösteln begann. Eine Jacke hatte ich auch nicht mehr. Mir blieb nur eine schwarze Aktentasche, die ich früher immer zur Arbeit mitgenommen habe. Darin war ein Handy, das nicht mehr ging, ein Kamm, ein Buch mit dem Titel: Das Kind umarmen, ein A4-Notizbuch und die Frage: Wie geht es jetzt weiter?

    Eigentlich hätte ich alles so stehen lassen und das Feld aus Silber verlassen können, ohne mich aufzuregen oder mir darüber Gedanken zu machen, wie mein Leben weitergehen würde. Lange habe ich überlegt und die Blätter des Baumes gezählt, der viele Jahre von meinen Beeten umsäumt wurde. Mir fiel auf, dass dieser Baum verschont geblieben ist, dass ihm die Hitze und das Feuer nichts ausgemacht hat. Er hat diesen Widrigkeiten wie ein einsamer König getrotzt.

    Ich holte mein Notizbuch und meinen Bleistift heraus und skizzierte diesen wunderschönen Baum in meinem Buch. Und beim Zeichnen gingen mir so viele Gedanken durch den Kopf. Dabei spürte ich, wie sich mein Lebensfaden neu aufspulte. Und gerade beim Zeichnen dieses Baumes (es war ein alter Apfelbaum), hatte ich eine Idee. Dieser Idee wollte ich nachgehen, sie beschreiben. Ich brauchte dazu meine ganze Vorstellungskraft, um an den Ort des Geschehens zurückzukehren. Meine Gedanken trieben mich einfach fort.

    Ich sah die Trümmer meines abgebrannten Hauses, wo der Rauch nach Heilung suchte. Und dann sah ich eine Kreatur im Rauch – erst den Umriss, dann den Kopf. Es war ein alter Mann, der an einer Mauer lehnte. Er schaute mich an und winkte mir zu wie ein Freund, der ein Zeichen geben wollte. Er löste sich von der Mauer und drehte sich langsam um, lief leise aus dem Ruinenfeld heraus und verschwand in einer der vielen grauen Rauchwolken. Nur ein schmales, ausgebranntes Fenster konnte ich sehen, das mit einem Netz unterschiedlicher Grautöne versehen war. Meine Welt lag im Dunkeln. Die Wände waren grau und kalt. Die schlichten Farben sprengten förmlich meinen Kopf, sodass ich meine Erinnerungen nicht mehr ordnen konnte. Sie flogen über mich hinweg. Ich bekam keinen noch so winzigen Gedanken mit meinen schmutzigen Händen zu fassen. Ich sah meine Gedanken verstreut auf einer grünen Wiese liegen, als ob ich sie nur aufzusammeln bräuchte. – War das eine neue Chance? – Ich ließ sie liegen und spürte eine neue Zeit, die mich berührte. Eine Zeit, die von Melancholie und Wahrheitsfindungen bemuttert und passend gemacht wurde. Dabei konnte ich auch diesen Gedanken nicht festhalten, weil die Nachdenklichkeit meine Müdigkeit wach hielt. Ich wurde in eine erstaunliche Euphorie versetzt, die den Verlauf des Geschehens nicht verriet. Und dennoch wollte ich die Straße verlassen, um den Mann zu suchen, der in dieser nebelhaften Lücke verschwunden war. Ich hörte nur das leise Knistern in der Glut der niedergebrannten Ruine, die das Löschwasser in sich aufsaugte.

    Meine Gedanken entflohen mir noch immer. Ich wollte schon diesen Kampf aufgeben, als eine neue Lücke sich auftat und meine Erinnerungen aufsaugte. Ich konnte die prallgefüllten Fächer der vielen Gedanken vor mir sehen. Sie war nicht weit geöffnet, sodass ich nur erahnen konnte, was die Gedanken in den vielen Fächern mit mir machen würden. Nur ein einziger Gedanke kam zu mir, überreicht von dem Mann, der in dieser Lücke verschwunden war, der mich berührt hatte. Er huschte in Sekundenschnelle an mir vorbei und bemerkte durch eine kurze Berührung meiner Hand, dass ich meinen Namen nicht mehr kannte. Alles schien sich aufzulösen. Alles! In dem Augenblick wusste ich, dass die Lebensspule in mir wieder zu arbeiten begann. Ich öffnete mein Tagebuch und schrieb diese Geschichte auf. Eine Geschichte, die ich vorher so nicht kannte. Ich muss aber gestehen, dass ich vorher auch nie ein Tagebuch besessen habe. Als ich aber zu Hause ankam, lag ein Tagebuch auf meinem Küchentisch, das noch unbeschrieben war.

    Ich weiß noch, wie ich vor langer Zeit in einem Bistro saß und mir einen Kartoffelsalat bestellte. Das Bistro war dunkel, abgelegen und wurde von einem U-Bahn-Viadukt überdeckt.

    Eine Kerze erhellte den Kartoffelsalat auf dem Tisch, der mir von einem muffig riechenden und übel gelaunten Kellner serviert wurde. Ohne mir einen guten Appetit zu wünschen, drehte er sich dann um und ging in seine Küche zurück. In dem Augenblick kam ein alter Mann mit einer dicken Zigarre im Mund ins Bistro und steuerte langsam auf meinen Tisch zu. Er fragte mich, ob er sich setzen dürfe. Mit einem Kopfnicken stimmte ich zu. So nahm sich der Alte den zweiten Stuhl zur Hand und setzte sich ebenso langsam mir gegenüber an den Tisch.

    Ich mochte ihn sofort. Ein verknitterter, grauer, leicht verschmutzter langer Regenmantel machte seine Figur schlank. Sein lindgrüner, dicker, aus Baumwolle gestrickter Schal, der seinen Hals warm halten sollte, machte ihn irgendwie zu einem Halunken, ähnlich denen aus den dreißiger Jahren. Dazu kam sein unrasiertes, ungepflegtes Gesicht, das ihn noch älter wirken ließ, als er schon war. Seine achtzig Jahre würde er bestimmt auf dem Buckel haben, schätzte ich, denn auch seine Hände sahen danach aus.

    Ich spürte eine leichte Unruhe, die von ihm ausging. Ich sah seine nervös funkelnden Augen den Raum abtasten, bis er den Kellner erblickte und ihn heranwinkte. Leise, fast unhörbar sagte der alte Mann, dass er eine Bratwurst und eine Schrippe haben wolle. Der Kellner brauchte nicht lange und servierte den Teller mit der bestellten Bratwurst und dem Brötchen. Gierig biss er in die Bratwurst hinein und schaute dabei nur auf seinen Teller. Was um ihn herum geschah, interessierte ihn nicht. Die schmatzende Art, wie er seine Bratwurst aß und wie seine fettigen Hände das Brötchen zerlegten, amüsierte mich. Ich fragte ihn, ob er mit mir eine Tasse Kaffee trinken würde. Seine kleinen Kinderaugen schauten mich erstaunt an. Er nickte wortlos, etwas zögerlich aber freundlich.

    Ich hatte den Eindruck, als wäre ihm das Scheue angeboren, denn seine Augen versanken in Scham. Es schien ihm unangenehm zu sein, von einem Fremden etwas angeboten zu bekommen. Er schaute mich eine Weile nicht mehr an, was aber nichts zu bedeuten schien. Ich spürte seine Aufregung, denn seine Hände begannen zu zittern. Er hatte Schwierigkeiten, den Rest der Bratwurst in den Mund zu stecken, und versuchte mit seinen zwei verknöcherten Fingern den Zipfel der Bratwurst hinterher zu schieben. Dabei lief ihm an den Mundwinkeln der Saft bis zum Kinn herunter. Er spürte die Nässe und wischte sie mit seinem Handrücken einfach weg. „Mach alles in Ruhe, alter Mann!, meinte ich zu ihm. „Wir haben Zeit, und diese Zeit nehmen wir uns einfach!

    Er schaute mich überrascht und auch etwas misstrauisch an, wischte nochmal über seinen fettigen Mund, legte die benutzte Serviette dann säuberlich auf seinen schmutzigen Teller und brachte ihn nach vorn zur Geschirrablage.

    Ich dachte er würde jetzt gehen, ohne mit mir den Kaffee zu trinken. Aber er drehte sich um, kam zum Tisch zurück, setzte sich und schaute mir in die Augen. Dieser Augenblick warf mein ganzes Leben aus der Bahn. Den Blick in seinen Augen werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Ich konnte zum ersten Mal seine Augen sehen. Sie elektrisierten mich so sehr, dass ich nicht mehr in der Lage war, vollständige Sätze auszusprechen. Alles um mich herum verschwand. Nur ich schien noch im Bistro zu sein.

    Ich habe in seinen Augen einen Kasper gesehen, der auf einer kleinen Bühne stand. Er fuchtelte mit einem Zauberstab herum und drohte der Welt mit der Hölle. Neben ihm sah ich einen winzigen Gnom, der aus Holz bestand und ihm zuredete, es nicht zu tun. Dieser Holz-Gnom war es, der mich mit grünen Augen ansah und mit seinem dicken Knuppelfinger auf mich zeigte. Ich sah deutlich, wie der Kasper erschrocken seinen Zauberstab fallen ließ. In dem Augenblick war der alte Mann am Tisch – ein gelöster und freier Mann, der still und bedächtig eine Bratwurst mit Brötchen verspeist hatte. Seine Falten im Gesicht bildeten sich zurück und die tiefen Furchen an den Augenrändern und der großen verkrümmten Nase verschwanden. Selbst die fettigen, kurz geschnittenen Haare wurden dunkler. Sie waren sorgfältig gekämmt. Ich konnte sehen, wie seine Ohren sauber und seine Zähne heller wurden. Der große dreckige Hut passte ihm nicht mehr, sodass er ihm fast vom Kopf fiel. Die unrasierten Kinnpartien waren glatt. Ich sah in seinen Augen, wie ein kleiner Junge über eine Wiese lief und mit einem Pferd spielte. Ich erkannte in seinen von Sonnenlicht durchfluteten Augen, dass ich es war, der dort mit dem Pferd spielte und ritt. Ich sah aber auch, wie dieser kleine Junge mich anschaute. Das Pferd machte eine Kehrtwende und verschwand im wilden Galopp. Ich konnte nicht fassen, was ich in den Augen des alten Mannes gesehen hatte. Ich begriff nicht, dass sich in diesen fremden Augen eine kleine Märchenwelt spiegelte, die mich förmlich einnahm. Die starke Anziehungskraft dieser Augen machte den Augenblick magisch, rätselhaft.

    Ich bemerkte nicht, dass der unhöfliche Kellner erneut an unseren Tisch kam und uns den Kaffee brachte. Ich war von den Augen des alten Mannes wie gefangen und wollte mich auch nicht mehr von ihnen lösen. Nein, ich wollte miterleben, was jetzt weiter geschehen würde.

    Ich sah den kleinen Jungen wieder, der auf einer Straße lief. Erst konnte ich ihn nicht gleich erkennen. Er war ganz weit entfernt. Winzig noch, fast verwischt sah ich seine Konturen. Aber dann bemerkte ich, dass dieser kleine Junge immer näher kam. Ich konnte sein gebügeltes Hemd sehen, seinen schönen Gürtel. Ich war erstaunt, wie säuberlich das Oberhemd unter dem Gürtel lag. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als dieser Junge in den Augen des alten Mannes ein graues Buch aus seiner Hosentasche zog und es mir gab. Ich nahm es in meine Hand. Es fühlte sich kühl an und wurde größer, Stück für Stück. Der alte Mann beobachtete diesen Vorgang mit Freude und beglückwünschte mich zu diesem Buch.

    Das Buch war mit einem roten Ledereinband versehen, doch ich konnte den Namen des Buches nicht richtig deuten. Ich öffnete es und sah nur weißes Papier vor mir. Alles war weiß, leer. Und plötzlich sah ich einen schwarzen Strich auf einer Seite, dann den ersten geschriebenen Buchstaben. In Windeseile war die erste Seite des Buches fertig geschrieben. Ich blätterte um und sah, wie die weiteren Seiten beschrieben wurden. Das Buch wurde in meinen Händen immer dicker. Ich konnte die Zahl 4 erkennen und auf der rechten Seite die Zahl 5. Es erschien mir wie ein Traum, als ich 45 gebundene Buchseiten vor mir liegen sah. Ich war davon so beeindruckt, dass ich vergaß, das Buch weiter zu betrachten. Ich hörte nur, wie der alte Mann zu mir sprach: „Lies, was dort für dich geschrieben steht!"

    Ich sah erneut in seine Augen und konnte diesmal nur seine braunen Pupillen erkennen. Alles andere war verschwunden. Der alte Mann beugte sich über den Tisch und bedankte sich für die Tasse Kaffee, die ich ihm spendiert hatte. Voller Dankbarkeit nahm er meine linke Hand und sagte zu mir, dass ich unbedingt dieses Buch lesen müsse. Mit Sorgfalt sollte ich den Text in mich aufnehmen und prüfen, wie nahe ich das Geschriebene an mich heranlassen kann. Jede Zeile kennt die Ehrlichkeit; und daher ist sie mit einer Seele wie der meinen verwandt. Sie wird im Buch lebendig und beschreibt das Gefühl der Angst, die ich damals fühlen konnte und die dennoch nicht mehr in mir lebt. Nur der Rhythmus meines Atems, so der alte Mann, kann die Wahrheit beschreiben, die ich auch verstehe. „Aber Vorsicht! Man bedenke, dass eine gelesene Seite nie wieder zurückkehrt. Jedes Wort, das dein Auge sieht und dein Geist aufnimmt, verschwindet, als wäre es nie geschrieben worden. Jedes Wort geht zu seinem Ursprung zurück und wird erst dann neu geschrieben, wenn ein neues Buch entstehen soll, wenn feststeht, wer es bekommt. Und im Moment, da die letzte Seite des Buches aufgeschlagen wurde, löst sich das Buch auf und verschwindet in einem wolkenverhangenen Nebel."

    Ich weiß nicht, wie lange ich am Tisch gesessen habe, als der Kellner erneut nach meinen Wünschen fragte. Ich hatte weder Durst noch Hunger, sondern nur das Verlangen nach Haus zu gehen und das Buch zu lesen. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich allein am Tisch saß und dass der alte Mann verschwunden war. Mir kam es so vor, als hätte ich das nur geträumt und der alte Mann wäre nie in mein Leben getreten. Nur das Buch in meinen Händen machte mir klar, dass ich nicht geträumt hatte.

    Die erste Seite

    Ich staune über mich selbst. Willensschwäche flackert über das Land. Der Sinn in mir zerbricht und die entartete Vollkommenheit besiegt die innere Seuche einer Einsamkeit, die in mir wie eine Kaktusblüte wächst. Das euphorische Denken ist verfehlt. Feige begrüße ich die erste Seite und beuge mich symbolisch nieder. Die schöpferische Ohnmacht wartet. Veraltete, törichte Gedanken kriechen nach vorn. Ich gehe zu Fuß, um mein Reich zu finden. Landschaften erquicken mich nebenbei. Mein Verlangen, etwas zu ändern, erstarrt. Eindrücke erliegen meinen Treppenstufen und führen meine Selbstgespräche dorthin, wo die Fenster weit geöffnet sind. Zurückgelassen und fast freudlos sichte ich den Umschlag des Buches. Noch namenlos erhält die gedanklich-freudlose Quelle in mir einen Titel. Selbstverachtung wird bemalt. Ich verwalte ab heute meine Zeit selbst, die ich glaubte verloren zu haben. Meine Absicht ist klar formuliert. Die dünnen Zweige eines Apfelbaums berühren meine Gedanken. Stumme Eindrücke wachsen aus den Knospen heraus und ich halte meinen Atem an. Lange habe ich gewartet, nun beginne ich zu lesen.

    Früher bist du gern durch ein Getreidefeld gegangen, hast die bunten Schmetterlinge berührt und sie aufgeschreckt, um ihnen für eine kurze Zeit nachzujagen. Aber dennoch machte es dir keine Freude, weil die Sonne in der Mittagszeit sehr hoch stand. Keine Wolke konntest du am Zenit sehen, hast Ausschau Richtung Westen gehalten. Du wusstest, dass der Wind dort seinen Anfang nehmen würde. Du konntest sehen, wie der kleine Kondensstreifen am Horizont immer dicker wurde. Die Haufenwolken, leicht ergraut im Schatten der Sonne, nahmen den Himmel ganz langsam ein, um sich endlich von jener Nässe zu befreien, die zuvor deine Tränen waren. Zu gern hast du über dem Hügel die einzelnen Blitze am Himmel gezählt. Der Wind nahm an Stärke zu, sodass dein dünnes Haar durcheinander wirbelte. Du bist aufgestanden, hast deine Arme weit von dir gestreckt und gedacht, du wärst ein bunter Vogel. In deinem Gesicht nistete sich der scharfe Wind ein und schloss dabei deine Augen, um deine Gedanken in die Fantasie einzubinden. Du hast die Wolken gesehen, in die du als „Seele einer fremden Freiheit" eingetaucht bist. Kleine Häuser und Bäume flogen unter dir dahin, die du mit deinen Fingern nicht mehr berühren konntest, als ein Licht dich erleuchtete. Da hast du deine Welt plötzlich so wahrgenommen, wie du sie früher gern gesehen hättest. Du wolltest wieder ein kleiner Junge werden, der mit den bunten Marsmenschen redet. Mit ihnen wolltest du die Sterne der Milchstraße in eine Reihe sortieren.

    Du wolltest die entferntesten Galaxien besuchen, um zu erfahren, ob dort die Liebe wohnt. Deine Sucht nach der Suche, ob die Liebe auf dem Saturn oder auf dem Jupiter wohnt, hast du nie verloren. In dir wuchs eine besondere Kraft von Zuneigung und Neugier. Du sahst sie, als du diese irdische Welt betreten hast. Du sahst die vielen Geschenke am Bettgitter hängen, die in einzelnen Paketen verschnürt waren. Du hattest nicht den ausgeprägten Willen, die Rätsel dieser Pakete zu lösen. Man sagte dir, dass du viel Zeit hättest und dass das Leben gerade erst in dir zu wachsen beginne. Du wurdest in eine weiche Jacke gepackt und hast die enge Not gespürt, die du heute als „Sinnesangst bezeichnen würdest. Das grelle Licht verbrannte frühzeitig dein Herz, und der endlose Trommelschlag aus den Maschinenhallen machte deinen Geist zu einer weichen Torte. Immerzu kam der weiße Hirsch an dein Bett und wünschte sich, dass du den gewaltigen Schrei unterlässt. Du durftest nicht schlafen und deinen Träumen nachjagen. Du wurdest in die Arme gekniffen, um jedes andere Gefühl in dir zu unterdrücken. Die blauen Flecke haben dich gemahnt. Keine Widerrede war erlaubt, denn die Pakete am Bettgitter kannten ihre Jahreszeiten, die du als Baby nie sehen durftest. Das Verbot war wie eine rote Ampel, die dich ständig angeleuchtet hat als wärst du in einer Trockensauna, die keine Luftfeuchtigkeit abgibt. Allergien waren die ersten Geschenke, die du nach ein paar Monaten ertragen musstest. Ein Weihnachtslied mit der fröhlichen Botschaft von Frieden ließ man im Radio nicht mehr spielen. Die Traurigkeit sollte eine andere Wellenlänge erhalten. Man hat die Angst gesehen, und der Westwind drehte sich. Der Wind wurde kühler und eisiger. Es schneite langsam vor sich hin. Und du durftest deinen Roller zersägen, weil der Winter kam und es nichts zum Heizen gab. Holz war Mangelware und die Liebe entfernte sich schneller als du je geahnt hast. Du hattest die Hoffnung, dass die Liebe ihr Gebet hinter sich lässt. Du hast gesucht und konntest nur ein bisschen Brennholz finden, das deinen winzigen Lebenspfad beleuchtete. Der blutige Tanz entglitt dir durch deine ängstlichen Gedanken, da die Unfruchtbarkeit nicht zu oft das Licht erblickte. Die „Alten Denker hätten genug zu tun gehabt, sich mit dem Gebären zu beschäftigen. Der Hunger konnte sich nicht verkriechen. Und das Butterfach des Zorns „streichelte" die ängstliche Zukunft, die dich später wieder einholte.

    Der Durst nach Bananensaft verlangte sein frühes Opfer, um den Zugang zum Schlachtfeld zu erlangen, das unter dem Wohnzimmertisch zu deiner Spielwiese wurde. Die Muttermilch wurde mit Rosenwasser verdünnt, sodass deine Zerwürfnisse wie bittere Mandeln kaschiert wurden. Es waren wunderbare Emotionen, die deine Hände weich und geschmeidig umarmten. Trotzdem ist dein Leib, wo sich jede Falte mit Wasser füllte, begutachtet worden. Den Strampler aus Marzipan konntest du auf der Toilette liegen lassen, sodass du immer eine Fluchtmöglichkeit in Sichtweite hattest.

    Selbst am Taufbecken gab es keine Gedanken; die Grübelei hörte dort auf. Denn die Reise mit dem Kinderwagen ging immer weiter, und die Ruhepunkte fehlten ganz. So war es auch, als Impfungen auf dem Plan standen. Die „Alten Denker" prophezeiten damals schon, dass für jedes Gefühl in dir ein Gegenmittel gefunden würde, damit du nicht jetzt schon ans Sterben denkst. Natürlich warst du froh darüber, welche Führsorge dir zuteil wurde, um nicht auf einem Friedhof das Spielzimmer suchen zu müssen. Gebrechlichkeit und Keuchhusten konntest du dagegen besser einordnen als den braunen Teddybär, der in der Küche in einer Tiefkühltruhe lag und an seinen bunten Bausteinen lutschte, um nicht auch noch zu erkranken. Deshalb durftest du dem Teddybär, der sein Taschentuch unter einer Bettdecke versteckte, um dir nicht zu zeigen, dass er schon vor dir traurig wurde, nicht deine Hand geben. Du konntest die Wirklichkeit nie in einem Bild erfassen, denn die Erregung zelebrierte in deinen Blutbahnen Dinge, die deine Halsschlagader brutal verengten. Wie gelähmt hast du die Abdrücke deiner Vorfahren gesehen. Nun versuchst du, ihre Kleidergröße herauszubekommen.

    Du wolltest wissen, wo die Orte sind, die den Reichtum seltener Liebe verheißen. Du hast nach den Abdrücken alter Vorfahren gesucht, die über die endlosen Weiten verbrannter Erde gegangen sind, da ihre Wunden nie heilten. Suche die Gene jener, die geheimnisvolle Botschaften in den Himmel schreien, die das Bajonett mehr lieben als das Gebetsbuch, das ihnen angeblich Schutz bieten soll! Vertrauen ist ein fremdes Wort, das ist nun gewiss. Aber dass ein Acker bis zum Sonnenuntergang brach liegt, ist die Schuld derer, die sich selbst verdrängen.

    Die Idee sich zu besinnen, bewirkt eine Leere. Und diese Leere ist eine Moral, die keine Idee kennt. Und Sie kannten nicht diese Seite eins.

    Die zweite Seite

    Ich laufe versonnen in den kühlen Tag. Ich ziehe die Gedanken von meiner Haut und versinke in Erinnerungen, um mich in ihnen reinzuwaschen. Mehr noch! Die Gedanken quellen auf und zerbrechen mein angstvolles Gesicht. Alles sieht verbraucht aus, als ob der Zeiger meiner Armbanduhr nie zuvor über die 12 gesprungen wäre.

    Ich sitze am Tisch und sehe in Gedanken den Kellner, der mit einer Tomatensuppe herumhantiert und überlegt, ob er sie zum Gast bringen oder selbst verspeisen soll. Er tut weder das eine noch das andere, sondern stellt den Teller wieder hin, hackt etwas Petersilie klein und streut sie liebevoll über die Suppe. Durch das Geräusch des Hackens der Petersilie werde ich wach; die Welt war wieder vor Ort. Ich blättere das dicke Buch des alten Mannes auf und zerreiße meine alte Zeit. Säuberlich lege ich das Buch auf meinen Wohnzimmertisch und spüre eine Spontanität, die mich nicht mehr loslässt. Es pflanzt sich etwas in meine Seele, zuckt an meiner Nase. Es vibriert in mir leise Musik, der ich nur zaghaft zuhöre. Eine Musik, die keine Noten kennt, keinen Traum, nur das Echo eines Schmetterlings.

    Du hast das Geleit deiner Zukunft in dir gesucht und konntest den Zank und Streit nach Gerechtigkeit nicht verstehen. Die ewige Auseinandersetzung zwischen Schmach und Eitelkeit befriedigt dich nicht mehr. Du hast die sanfte Helligkeit begrüßt, die dich für den Augenblick erleuchtete, sodass du den Spaziergang ganz allein machen konntest. Zu oft war die Angst an deiner Seite, die dir ihr Unwesen immerzu massiv aufdrückte, sodass du nicht mehr atmen konntest. Die Wahl, die Angst beiseite zu schieben, hattest du nicht, denn die Angst war immer in dir. Die Ideen der Angstnovellen waren groß. Selbst die entgegengesetzten Äußerungen von dir, dass du die Idee der Angst abscheulich findest und sie nicht anerkennst, waren ebenso unwichtig. Du hast erst spät begriffen, dass es nicht relevant ist, einem „Alten Denker zuzuhören oder ihn zu verstehen, wenn die Angst regiert. Die Angst überhört die Sprache und verhindert das Zuhören. Die „Alten Denker spüren die

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