Tasten auf dünnem Eis
By Karin Linsi
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About this ebook
Mit präziser Sprache, empfindsam, berührend nah, doch ohne zu psychologisieren, erzählt Karin Linsi Maras Geschichte.
Karin Linsi
Karin Linsi, 1967 in Basel geboren, aufgewachsen in Liestal bei Basel, studierte Musik mit Hauptfach Violoncello an der Musikhochschule Luzern (M. Jerie/S. Apolin) und am Utrechts Conservatorium/NL (E. Arizcuren). Später absolvierte sie die Ausbildung zur Korrektorin/Revisorin, übte diesen Beruf aus und erledigte Text- und Übersetzungsaufträge. Nach einigen Jahren wurde ihre Sehnsucht, sich wieder kreativ auszudrücken, statt Texte fremder Leute zu korrigieren, immer drängender. Sie begann zu schreiben und sich damit jener Ausdrucksform zu widmen, die sie lange zugunsten der Musik zurückgestellt hatte. Seit 1999 lebt sie in Luzern (CH).
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Tasten auf dünnem Eis - Karin Linsi
Rilke
Mara spürt die wartenden Blicke der Patientengruppe und der beiden Betreuerinnen auf sich.
«Ich heiße Mara – ich bin dreißig, ich habe Probleme mit dem Essen – und mit einigen anderen Dingen.» Zögernd sieht sie in die Runde. «Muss ich noch etwas sagen?»
Rosanna legt ihren Notizblock nieder.
«Setz ruhig deine eigenen Grenzen! Du brauchst dich hier in deinem ersten Gruppengespräch nur so weit zu öffnen, wie es für dich stimmt.»
Mara lächelt die Betreuerin dankbar an. Dann fürchtet sie, ihr hämmerndes Herz könnte durch ihre Leinenbluse zu bemerken sein, und verschränkt eilig die Arme.
«Wir machen hier Schluss für heute», schaltet sich Bernadette ein. «Mara – in fünf Minuten beginnt dein Eintrittsgespräch. Zimmer 408. Hier, deine Termine.»
Sie streckt Mara einen Zettel hin, bevor sie mit Rosanna zur Tür hinausgeht.
Der Raum leert sich, draußen im Flur verliert sich das Lachen und Schwatzen der anderen.
Mara bleibt allein zurück und lässt ihren Blick über die Einrichtung des lang gezogenen, durch eine Trennwand unterteilten Zimmers gleiten. Pflanzenkübel stehen bei den Fenstern am Boden, unter dem Clubtisch inmitten der Sitzgruppe liegen zerlesene Zeitschriften, die Sofabezüge sind ganz zerknittert.
Maras Augen kehren immer wieder zum Esstisch zurück, der sich fast über die ganze Fensterfront erstreckt. Wie viele Personen mögen daran Platz finden, zwanzig? Mit zwanzig Leuten zusammen essen …?!
Sie reißt sich aus ihren Gedanken, prüft auf dem Zettel nochmals die Zeit und die Zimmernummer, dann rennt sie in die oberste Etage der psychosomatischen Klinik.
In dem kleinen Zimmer unter dem Dach riecht es nach einem eleganten Parfum. Wie damals bei den Großeltern, durchzuckt es Mara.
«Willkommen in der Klinik Dornhof, Mara! Ich bin die Monique, deine Therapeutin. Wir duzen uns hier alle.» Mit ausgestreckter Hand kommt Monique auf Mara zu, Mara drückt ihre Hand und bemerkt dabei, wie eisig sich ihre eigene anfühlt, dann setzen sich beide hin.
Kurz danach hetzt ein südländisch aussehender Mann um die vierzig ins Zimmer.
«Mara! Freut mich! Ich bin Silvio, deine Bezugsperson!» Er nimmt ihr gegenüber Platz und betrachtet sie prüfend, während Monique ihre Unterlagen studiert.
Moniques Gesicht mit der faltenlosen Haut erinnert Mara an eine Porzellanpuppe. Alles an ihr ist braun: die Augen, das Haar, sie ist in Brauntönen gekleidet, seltsam neutral, unangreifbar.
Monique blickt hoch und sagt: «Du bist Korrektorin?» «Ja, aber ich habe vor einem halben Jahr meine Stelle gekündigt. Ursprünglich bin ich Musikerin, doch das ist eine andere Geschichte.» Maras Herzklopfen verstärkt sich wieder.
Monique sieht sie wartend an. «Mh. Lassen wir das mal so stehen», sagt sie nach einer Weile, macht sich eine Notiz, dann fährt sie fort: «Wir schließen hier mit den meisten Patienten Verträge ab.»
Mara richtet sich in ihrem Sessel auf.
«Verträge?»
«Wir werden gemeinsam dein Minimal- sowie dein Zielgewicht festlegen, und du sicherst mit deiner Unterschrift zu, auf Tricks zur Gewichtskontrolle zu verzichten sowie dein Zielgewicht anzustreben. Falls du es für angebracht hältst, wirst du auch einen Suizidvertrag unterschreiben, das heißt, dass du dich beim Betreuungsteam meldest, wenn du akute Absichten verspürst.» Mara nickt, nimmt die Papiere, die Monique ihr hinhält, und setzt mit steifen Fingern ihre Unterschrift darunter.
«Du wirst dich hier anpassen und einen Teil deiner Autonomie abgeben müssen, Mara», sagt Silvio, und seine dunklen hervortretenden Augen sehen sie plötzlich streng an. «Außerdem wird bei uns das Gruppenleben stark gewichtet und als wertvolles Übungsfeld betrachtet. Dessen sollst du dir von vornherein bewusst sein.» «Natürlich», sagt Mara und sieht mit angehaltenem Atem an ihm vorbei, während er eine Weile weiterredet und ihr das Nötigste zum Klinikalltag erklärt.
«Jetzt heißt es aber Beeilung – dein Arzttermin!», schaltet sich Monique ein und tippt auf ihre Armbanduhr.
Mara verabschiedet sich hastig und eilt zur Tür hinaus.
«Du kannst mit mir im Aufzug mitfahren!», ruft Silvio hinterher, dann überholt er sie im Flur, grinst über die Schulter und schlägt mit flacher Hand auf den Aufzugknopf.
Mara starrt auf das leuchtende Lämpchen, hört das Surren im Liftschacht, ihr Herz beginnt zu klopfen …
«Ehm – kann ich – muss ich – ich möchte lieber die Treppe nehmen.»
«O-oh, da haben wir noch Arbeit vor uns!», sagt Silvio, dann sieht er ihr fest in die Augen: «Angst? Gut, lassen wir durchgehen, solche Dinge sollst du ja hier lernen.» Mara rast die Treppe hinunter und kommt fast gleichzeitig mit ihm bei der Abteilung an.
«Ciao, Mara. Auf gute Zusammenarbeit!»
Silvio verschwindet durch die Tür, worauf «Teamzimmer» geschrieben steht.
Maras Gummisohlen quieken auf dem Linoleum und hallen durch den langen, gedämpft beleuchteten Flur. Die Patientenzimmer liegen alle auf einer Seite, die Türen sind geschmückt mit bunten Federn, Zeichnungen, Fotografien, nur die letzte, hinter der sich das Arztzimmer verbirgt, ist blank …
«Hallo! Auch Arzttermin?»
Die Stimme der jungen Frau, die neben dem Sprechzimmer wartet, tönt rauchig und überraschend laut.
«Ja. Du auch?»
Die Patientin nickt, und Mara sieht sie ahnungsvoll an.
Ein Trainingsanzug schlottert um ihren mageren Körper, ihr Gesicht ist blass, die Augen sind umschattet, breite schwarze Kajalstriche lassen sie noch dunkler erscheinen.
«Ein neues Medi muss her, eines ohne Nebenwirkungen!
Ich bin übrigens Conny. War vorhin nicht im Gruppengespräch, hatte Kopfschmerzen. Du bist in der Essgruppe?»
«Ja, sieht so aus», sagt Mara und errötet, ohne zu wissen, weshalb.
Conny blickt sie mit ironischem Lächeln an: «Na, dann – willkommen im Club!»
«Danke!», sagt Mara und lacht ganz befreit, wie eine erlösende Welle durchströmt Connys lockerer Spruch ihren angespannten Körper.
Als ein Patient aus dem Zimmer tritt, steht Conny auf.
«Okay, dann geh ich mal in die Höhle des Löwen. Dauert nur zwei Sekunden!»
Nachdem Frau Dr. Gaillard etwas auf der Patientenkarte vermerkt hat, beginnt sie Maras Gesicht zu mustern. Bald verzieht sich ihr Mund zu einem aufmunternden Lächeln.
«Sie sehen gar nicht so magersüchtig aus, Frau Kern?!», bemerkt sie in aufsteigender Melodie.
«Finden Sie?», sagt Mara und denkt: Nicht diesen blöden Spruch! Ich weiß ja, dass ich ein rundes Gesicht habe … «So, Frau Kern, vorerst ein paar Fragen. Welche Psychopharmaka nehmen Sie ein? Seit wann sind Sie anorektisch? Haben Sie irgendwelche Beschwerden?»
«Nicht wirklich, nein.»
Mara spürt sofort wieder ihren hämmernden Puls. Unbehaglich beantwortet sie alle weiteren Fragen, im Wissen, sich in den letzten zweieinhalb Jahren mutwillig geschadet, also schuldig gemacht zu haben.
«Sie sind sehr blass, Ihre Lippen sind bläulich, könnte Eisenmangel sein oder bereits eine Anämie, kommt häufig vor bei Anorektischen, und Ihr Hormonhaushalt wird ziemlich durcheinander sein – alors, morgen gehen Sie ins Labor, danach wissen wir mehr, Ihr Antidepressivum nehmen Sie unverändert weiter, und wegen Ihrer Angststörung verschreibe ich Ihnen ein Beruhigungsmittel, für den Notfall – zudem eine Physiotherapie, Sie werden sehen, die schafft ein besseres Körpergefühl, ist ja besonders wichtig in Ihrer Situation …»
Frau Gaillard redet mit ihrem französischen Akzent in einem solchen Tempo weiter, dass Mara unwillkürlich auch schneller zu sprechen beginnt.
«Uuuuuh, Sie müssen sich beeilen, das Abendessen hat bereits begonnen, vorne im Salon, wie wir hier alle den Ess- und Aufenthaltsraum nennen», sagt Frau Gaillard plötzlich, und ihr Gesichtsausdruck lässt ahnen, dass in diesem Haus mit Unpünktlichkeit nicht zu spaßen ist.
Draußen vor der Tür atmet Mara tief durch. Sie kommt sich vor wie auf einem Hindernislauf, sehnt sich nur noch nach einer Pause, doch sie muss weiter, eilt durch den Flur zum Salon und lauscht kurz nach drinnen.
Nur das Klappern von Besteck dringt durch die weit offen stehende Tür. Bestimmt bin ich die Letzte!, denkt Mara und hält den Atem an.
Dann geht sie hinein, nickt drinnen der Tischrunde zu und lässt sich auf dem nächsten freien Stuhl am Tischende nieder.
«Die Patienten von der Essgruppe sitzen grundsätzlich alle beieinander. Damit ihr euch gegenseitig beim Essen unterstützen könnt», sagt Bernadette und deutet mit dem Kopf ans andere Ende des Tisches.
Mara schnellt hoch, doch Bernadette winkt ab, für dieses eine Mal. Sie schiebt Mara eine Servierplatte bis vor den Tellerrand.
«So, nun lass es dir aber schmecken!»
Mara starrt die Fleischstücke auf der Platte an.
«Eigentlich bin ich Vegetarierin –»
«Sorry, wir gehen bei Neueintretenden davon aus, dass sie Fleisch essen», entgegnet Bernadette knapp.
Nicht weiter schlimm, Kalorien sparen, denkt sich Mara und streckt den Arm nach der Salatschüssel aus –.
«Beim Fleischmenü ist kein Salat dabei, nur beim vegetarischen!», sagt die Patientin schräg gegenüber.
Mara zieht sofort ihre Hand zurück.
«Entschuldigung!»
Sie schielt auf die anderen Teller, die alle bald leer gegessen zu sein scheinen, malt sich aus, wie sie als Letzte allein zu Ende isst, jede Bewegung von vielen Augenpaaren verfolgt … Fluchtgedanken tauchen auf …
«Magst du etwas vom Vegetarischen?», ertönt plötzlich eine fast märchenhaft lieb klingende Stimme vom anderen Tischende. «Bei uns sind noch Reste übrig.» Die schwarz gekleidete Frau, die Mara schon vorhin im Gruppengespräch aufgefallen ist, sieht sie geduldig an.
Maras Kehle krampft sich zusammen vor Dankbarkeit.
«Elena!», ruft Bernadette. «Hast du abgeklärt, ob bei euch alle satt sind, bevor du anfängst, Essen in der Weltgeschichte herum zu verteilen?» Elena sieht im Essgruppensektor um sich und erntet zustimmendes Kopfnicken.
Mara lächelt ihr zu, ehe sie einen Blick auf die Platte werfen kann, die bis zu ihr weitergereicht wird.
Zwei schlappe dünne Auberginenscheiben mit einem Klecks rostroter Sauce liegen da – und die Aubergine ist das einzige Gemüse, das Mara nicht mag. Zögernd beginnt sie zu essen. Diese erkalteten Auberginentranchen sollen nun also das Ende der Hungerzeit einläuten …?
Mara stellt ihren leer gegessenen Teller auf den Geschirrberg in der Abwaschküche und eilt am Salon vorbei in ihr Zimmer. Als ob ihr ein Verfolger auf den Fersen wäre, drückt sie die Tür hinter sich zu, und sofort rinnen Tränen über ihre Wangen.
Sie setzt sich auf die durchgelegene Matratze und weint eine Weile still vor sich hin.
Nachdem sie sich etwas beruhigt hat, fragt sie sich, was für ein Mensch dieses Zimmer vor ihr bewohnt haben mag. Sie beginnt den Raum abzusuchen, als könnte sie irgendwelche Spuren entdecken. Es riecht nach frischer Bettwäsche und Möbelpolitur. Ein schlichter Holzschrank steht in der Ecke, an der längeren Wand ein schmaler Schreibtisch, gegenüber das Bett. Die wenigen Möbelstücke füllen das Zimmer beinahe aus, lassen zwischen Bett und Schreibtisch nur einen engen Durchgang. Doch es ist ein Einzelzimmer, das ist die Hauptsache.
Gedankenverloren dreht Mara den Radiowecker an. Als ein Klavierwerk von Mozart aus dem Lautsprecher tönt, zuckt sie zusammen, schaltet wie elektrisiert die kristallklare Musik wieder aus, jene Sonate, die sie einmal auf einem Wettbewerb hätte spielen sollen, wenn sie ihrer Klavierlehrerin auf der Musikhochschule diese Idee nicht vor lauter Lampenfieber ausgeredet hätte.
Sie fühlt sich plötzlich unendlich müde. Wie gelähmt legt sie sich hin, schließt die Augen.
Doch die ganzen Eindrücke des Tages stürmen auf sie ein, die Gesichter all der fremden Menschen starren sie an, nehmen ihr fast den Atem. Mit Unbehagen denkt sie an das Gruppengespräch zurück und an alle bevorstehenden. Wie unerbittlich die Betreuer nachhakten, keine vagen Formulierungen akzeptierten! Und wie offen alle waren, als ob nichts zu persönlich, zu unbedeutend wäre!
Und Essgruppe – das klingt, als ob man da den ganzen Tag nichts anderes tun würde als essen! – Zwölf Wochen hier bleiben?
Die anderen sitzen jetzt vielleicht alle unten im Klinikcafé, im «Intermezzo», und haben es schön zusammen … Wenn Lischka doch jetzt hier nebenan läge, schnurrend, voller Liebe und Liebebedürftigkeit!
Am Morgen, als die Katze zu ihr unter die Bettdecke gekrochen kam und sich an ihren Bauch schmiegte, hat Mara ihr nochmals erklärt, sie müsse sich voraussichtlich drei Monate lang vorwiegend von den Nachbarn versorgen lassen …
Ich kann hier jederzeit wieder austreten, überlegt Mara plötzlich, mir geht’s sowieso zu gut für diese Klinik, jemand anderer von der Warteliste bräuchte meinen Platz sicher dringender, ich hätte ebenso gut zu Hause bleiben und dort meine Therapie weiterführen können …
Sie hält inne. Erinnerungen an die Zeit vor der Klinik tauchen vor ihr auf, als tiefschwarze Wand schieben sich die vergangenen Jahre vor ihre gerade konstruierte heile Kulisse. In ihre Gedankenkette mischt sich Erleichterung, es nun doch nicht länger allein schaffen zu müssen.
Sie steht vom Bett auf und tritt auf den winzigen Balkon hinaus.
Vom Untergeschoss dringt ein dumpfes Brummen herauf, Dampf strömt unaufhörlich aus dem Luftabzug der Wäscherei. Der Park um das frisch renovierte vierstöckige Jugendstilgebäude liegt fast im Dunkeln, gusseiserne Laternen legen schwache Lichtkegel auf die Kieswege.
Im Restaurant neben der Klinik sitzen die Menschen miteinander an gedeckten Tafeln, bei Kerzenlicht, sie reden, lachen, essen.
Mara späht durch die vorhanglosen Fenster des Lokals, spürt, dass schon wieder Tränen in ihre Augen drängen, wie so oft an diesem Tag, Tränen, die ihr das Gefühl vermitteln, allein und verloren zu sein, ein Kind, das ins Internat verpflanzt worden ist und sich mit seinen zarten Wurzeln am neuen Ort festzuhalten versucht.
Die St-Honoré-Torte mit dem gebrannten Zucker und den lustigen Kugeln schmeckt gut, und der französische Name klingt so vornehm. Die Torte stammt aus der besten Konditorei der Stadt. Hat die Großmutter gesagt, die jetzt neben Großvater in ihrem Fauteuil sitzt.
Mara rutscht weit vorne auf das samtene Sofapolster, damit sie mit ihren Lackschuhspitzen den Boden erreichen kann. Die weiße Strumpfhose ist unbequem, und am Hals zwickt der Ausschnitt ihres Kleidchens. Hinter den Ohren drückt der Haarreif, der ihr fliegendes hellblondes Haar aus dem Gesicht halten soll. Großmutter sagt, das sehe anständiger aus.
Mit Mara auf dem Sofa sitzt ihre Mutter und ihr drei Jahre älterer Bruder Roman, der schon in die Schule geht. Er hat von Großvater ein Buch über Flugzeuge in die Hand gedrückt bekommen und zeigt mit seinen zusammengezogenen Brauen, dass er unerreichbar in seine Flugzeugwelt vertieft ist. Vater sitzt auf dem Sessel daneben. Wenn er bei seinen Schwiegereltern zu Besuch ist, stellt Mara immer fest, dass sein kurzes gerades Haar noch strenger gekämmt ist und seine Bewegungen steifer sind als sonst.
Einen Moment lang ist nur das Geräusch von Dessertgäbelchen auf Porzellantellerchen zu hören.
Mara passt auf, dass sie keinen Krümel auf den Teppich fallen lässt und erst recht keine Creme. Ab und zu nimmt sie einen Schluck Tee aus der hauchdünnen Tasse mit Goldrand. Mit dem Silberlöffelchen hat sie heimlich ganz viel Zucker hineingestreut, der sich jetzt auf dem Tassenboden absetzt wie ein Sandberg. Sie wird nicht umrühren, damit sie am Schluss die ganze Süße auslöffeln kann.
Großmutter klopft mit einem Zinken ihrer Silbergabel auf ihr Tellerchen und sieht die anderen zufrieden an.
«Sie ist halt doch die Beste, nicht wahr? Der Gout ist einfach delikater, verglichen mit der St-Honoré der Confiserie Kempfert, das muss man doch einfach sagen.» Alle pflichten ihr bei, bevor sie sich wieder ihrem Tortenstück zuwenden.
«Möchte jemand noch St-Honoré?», fragt Großmutter.
Mit Verweis auf die schlanke Linie lehnen die Großen ab.
«Aber ihr nehmt den Rest mit nach Hause?» Mara freut sich schon darauf, der Katze davon abzugeben, Minkas raues, feuchtes Katzenzünglein auf ihrer Hand zu spüren.
Großmutter sieht klein aus, in sich zusammengesunken, ein Gobelinkissen stützt ihren gekrümmten Rücken, damit er nicht zu schmerzen beginnt. Sie trägt einen knielangen grauen Flanelljupe, eine weiße Bluse mit Spitzenkragen, einen rosa Kaschmirpullover, und um den Hals eine Perlenkette. Sie riecht nach Puder und Parfum, und jedes Haar liegt an seinem Platz. Immer sieht sie so aus. Außer wenn sie im Garten arbeitet, dann trägt sie ausgebeulte Hosen, verwaschene Blusen; ihr Haar ist zerzaust, manchmal verfangen sich winzige Zweigteile darin, auf die Mara dann immer starren muss.
Großvater beginnt mit seinem Schwiegersohn ein Gespräch über hohe Steuern, unverschämte Linke, seine und Vaters Stimmen klingen empört.
Großvaters goldene Uhr mit den dicken Zeigern hängt an einer Kette und liegt im Westentäschchen. Er weiß immer, wie spät es ist, kann Unpünktlichkeit nicht ertragen.
Seine Pupillen in der hellgrauen Iris sind so klein wie Nadelköpfe, und er wird vielleicht eines Tages erblinden, hat Mara