Basisbedürfnisse: Psychologie geht auch logisch
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About this ebook
Dieses Buch berichtet von einer geisteswissenschaftlichen Entdeckung, mit der sich genetische von kulturellen Bestandteilen menschlichen Verhaltens trennen lassen.
Bei der Vererbung von Informationen ist die biologische Evolution systematischen Einschränkungen unterworfen. Das Verständnis dieser Einschränkungen liefert einen Schlüssel, mit dem sich ererbte Verhaltensstrukturen erschließen lassen.
Auf anschauliche und logisch nachvollziehbare Weise erklärt das Buch die Grundlagen der neuen Erkenntnisse und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Unter anderem ergibt sich ein Qualitätskriterium, mit dem die wissenschaftliche Qualität psychologischer Aussagen geprüft werden kann.
Das Buch lädt zum Mitdenken und Argumentieren ein und bleibt bei aller Logik allgemein verständlich.
Mit der neuen Methodik entfaltet sich ein faszinierend klarer Blick auf die menschliche Psyche. Bedürfnisse werden mit ihren Funktionsprinzipien erkennbar. Scheinbare Widersprüche im Verhalten klären sich auf. Und bei aller sachlichen Analyse bleibt die Vielfalt menschlicher Persönlichkeiten stets im Blick.
Die neue Methode liefert eine Grundlage der theoretischen Psychologie. Theoretische Psychologie kann die empirische Forschung nicht ersetzen, aber sie liefert das Gerüst, das die Einordnung von Forschungsergebnissen ermöglicht und das Aussagen eine bestimmte Form gibt.
Peter Trauberg
Peter Trauberg, geboren 1965, arbeitet als IT-Spezialist für einen internationalen Konzern.
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Book preview
Basisbedürfnisse - Peter Trauberg
Inhalt
Einleitung
Worum es geht
Erkennbarkeit des Gegenstandes
Antworten der Fachgebiete
1 Fragen an die Fachgebiete
2 Philosophie
Argumentationskette
Erkenntnistheorie
Kant
Materialismus
Phänomenologie
Kognitionswissenschaft
Postmoderne
Rawls
Habermas
Postmoderne philosophische Ethik
Umgang mit dem Tabu
3 Psychologie
Psychoanalyse
Popper
Behaviorismus
Motivationsforschung
Experimentelle Psychologie
Kognitive Psychologie
Verhaltensbiologie
Neuropsychologie
Emotionsforschung
4 Der Begriff Wille
5 Gene und Umwelt
Verhaltensforschung an Tieren
Evolutionäre Psychologie
Grundlagen einer Ethik
Ist die Trennung möglich?
Abschließend
Methodische Grundlagen
6 Entstehungsgeschichte
7 Kognitives Modell
Das Modell
Wahrnehmungen und Handlungen
Inversion des Modells
Der Begriff Kognition
Ideale Elemente
Zur handelnden Psyche
8 Kybernetisches Modell
Elemente des Regelkreises
9 Weitere Methoden
Reichweite
Grenzwertbetrachtung
Zwei Arten von Bedürfnissen
Wellenbewegungen
Lineare Unabhängigkeit
Basisbedürfnisse
Geeignete Gegenstände
Anzahl der Bedürfnisse
Fähigkeiten
10 Psychologischer Skeptizismus
Trennung zwischen Natur und Kultur
Das Synchronisationsproblem
Kulturelle Begriffe
Pfade
Drei Arten von Zweifeln
Satz von der Zuverlässigkeit
Qualitätskriterium
Übersetzung kultureller Begriffe
Bedeutungsverschiebung
Sprachkritik
Beispiele
Einschränkung der Natur
11 Was sind Gefühle?
Bedürfnisse
12 Einleitung
Beispiele
Benennung
Allgemeinheit der Gegenstände
13 Resonanz
Konzeption Resonanz
Wahrnehmungsstrecke Umwelt
Persönliche Wahrnehmungsfähigkeiten und sinnliche Strukturen
Pfad Messgröße Resonanz
Benötigen wir Resonanz?
Persönliche sinnliche Strukturen
Resonanz in geringer Reichweite
Ästhetik und Relativismus
Terminologie
Nützlichkeit
Monolithisches Bedürfnis?
14 Selbstabbildung
Handlungen und Stimmungen
Langfristige Motive
Bowling
Elementarhandlung
Erwartung
Handlungsstruktur
Routinehandlungen
Zwei Wege
Gedanken
Y-Struktur
Genetischer Algorithmus
Bewertung
Endogene Handlungselemente
Abgrenzungen
Terminologie
Kulturelle Begriffe zu Selbstabbildung
Eine Formel
Beispiel Euphorie
Der Pfad
Selbst oder Fähigkeiten
Lange Reichweite
Aufmerksamkeit
Intelligenz
Abbildung der Umwelt
Virtuelle Gegenstände
Auflösung eines Widerspruchs
Tierische Vermutung
15 Zärtlichkeit
Alltagserfahrung
Berührt werden
Soziales Bedürfnis
Weitere Reize
16 Sexualität
17 Angst
Ausgangssituation
Routinehandlungen
Erinnerungen
Terminologie
18 Aggression
Auslöser
Befriedigung
19 Empathie
Spiegelneurone als Pfadelemente
Empathie über Resonanz
Soziale Empathie
Empathie über Selbstabbildung
Empathie über Sexualität
Empathie der Zärtlichkeit
Empathie der Angst
Zusammenfassung Empathie
20 Konstruktion
Weitere Bedürfnisse
Gerüst
Abbildungen auf die Kultur
21 Zusammenwirken
22 Wettbewerb, Kreativität und Kommunikation
23 Macht
Leben in der Autokratie
Durcheilen der Macht
24 Dienstleistungsgesellschaft
25 Ungewöhnliche Handlungen
Kontroll-Strategie
Strategie der Verantwortlichkeit
Reaktionen
Nutzung der Gegenstände
Elastizität der Gegenstände
26 Traumatisierung
27 Kränkung
28 Religion
Aufgaben der Religion
Resonanz gegen Angst
Rituale
Monotheismus
Seelsorge
29 Erotik
Devotes Verhalten
Würde
30 Liebe
Unerfahrenheit
Kommunikation
Verwerfungen
31 Der Nutzen der Bedürfnisse
Nachbetrachtungen
32 Methodik
Verhaltensbiologie
Psychologischer Skeptizismus
Behaviorismus
33 Kritik der Verhaltensbiologie
34 Über die aktuelle Kultur hinaus
35 Zusammenfassung
Anhang
Anmerkungen
Personenregister
Sachregister
Literaturverzeichnis
Einleitung
Hinterher erscheint alles wie vorher, also was soll das Ganze?
Eine Lehrerin müht sich engagiert den Schülern ihrer Klasse bestimmte Inhalte zu vermitteln. Nach einem Jahr verlassen die Schüler die Schule – die Lehrerin sieht sie nie wieder. Vor ihr sitzt eine neue Klasse mit anderen Schülern. Es hätten die Schüler vom nächsten Jahrgang sein können, oder die vom vorletzten. Die Wahrnehmungen der Lehrerin ändern sich kaum – Warum hat sie sich gemüht?
Eine Ingenieurin konstruiert im Kundenauftrag ein Maschinenteil. Sie setzt sich dafür ein, das Teil nach einem bestimmten, von ihr favorisierten Prinzip zu entwerfen – nicht nach einem anderen, das der Kollege für geeigneter hält. Mit dem fertig entworfenen Teil endet der Auftrag. Der Kunde erhält die Konstruktion. Die Ingenieurin schaut ihre Pläne nie wieder an. Ihre Wahrnehmungen sind hinterher wie vorher.
Ein Hobbygärtner bestellt seinen Garten. Im Frühjahr kauft er frische Pflanzen und begrünt seine Beete. Der Garten erblüht. Im Herbst verwelken die Pflanzen. Im Winter erscheint der Garten trostlos – wie im Jahr zuvor.
Das menschliche Verhalten ist ein Mysterium. Unsere Wahrnehmungen, die Erscheinungen der Welt, die wir aufnehmen, ändern sich durch unsere Handlungen meistens nur minimal. Dennoch setzen wir uns mit Eifer dafür ein, die Welt von einem Zustand in einen anderen zu versetzen. Unsere Natur muss uns mit der Funktion ausgestattet haben, das zu bewerkstelligen. Nicht, dass ich mich über die Mühen beschwere, aber ich möchte doch wissen, wie es funktioniert.
Worum es geht
Das Vorhaben, das diese Untersuchung unternimmt, ist kein kleines. Es geht um die Frage: Was will der Mensch? Genauer geht es darum: Was sind die Bedürfnisse des Menschen? Was will er regelmäßig heute und morgen in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen immer wieder aufs Neue? Was ist die Natur seines Begehrens, auf das er notwendig sein Wollen und sein Leben einrichtet? Wichtiger noch, als eine detaillierte Antwort, die dieses Wollen in allen Einzelheiten beschreibt, ist die Frage nach der Methode: Wie lassen sich überhaupt Prinzipien von Bedürfnissen erkennen?
Welche Prinzipien hat die Evolution für das Wollen des Menschen aufgefunden? Welche Prinzipien haben sich in der genetischen Entwicklung vom tierischen Ahnen über den Vormenschen und Frühmenschen herauskristallisiert, die die Handlungen des heutigen Menschen steuern, ihn in der gegebenen Umwelt überleben lassen und ihn dazu bringen, eine ungeheure Vielfalt unterschiedlicher Dinge zu tun?
Nun könnte man meinen, dass die Frage generell unbeantwortbar sei, da sich jeder Mensch mit seinen individuellen Interessen beschäftigt und diese Interessen in einer Weise vielfältig sind, dass sich darin kein gemeinsames Muster finden lässt. Dennoch sind wir in der Lage, miteinander zu kommunizieren, uns über unsere Interessen und Konflikte auszutauschen und gegenseitiges Verständnis zu erreichen. Offenbar gibt es eine gemeinsame Basis des menschlichen Wesens, die uns über die verschiedenen Interessen hinweg verbindet und ein gegenseitiges Verständnis ermöglicht.
So unbeantwortbar die Frage angesichts der zahlreichen menschlichen Neigungen auf den ersten Blick erscheint, so wird sie einfacher, wenn wir die biologische Evolution mit hinein nehmen. Die Evolution bringt einerseits eine große Fülle an Möglichkeiten, biologische Eigenschaften über die Gene von Generation zu Generation zu übertragen. Andererseits ist sie auf diesem Wege bestimmten Gesetzmäßigkeiten und Einschränkungen unterworfen. Gerade solche Einschränkungen können helfen, sinnvolle von weniger sinnvollen Annahmen über ererbtes Verhalten zu trennen.
Beispielsweise könnten wir uns mit einer Grenzwertbetrachtung vorstellen, dass für mehr oder weniger jede Situation, die uns im Laufe des Lebens begegnet, ein eigenes Verhaltensprogramm genetisch überliefert sei. In jeder neuen Situation, in die wir geraten, überraschte uns unsere Natur mit einem neuen Verhalten. Daran können wir die Frage prüfen, ob dieser Umstand für die Evolution effizient wäre. Offensichtlich bräuchte das menschliche Genom eine ungeheure Größe, um alle diese Informationen zu übertragen. Und die überlieferten Verhaltensmuster kämen sich beständig gegenseitig in die Quere. Das Überleben in einer sich stets verändernden Umwelt würde damit zum Glücksspiel. Offensichtlich ist diese extreme Annahme wenig sinnvoll.
Während die meisten unserer physischen Eigenschaften offensichtlich genetisch bestimmt sind, lässt sich das bei den Verhaltensmustern unserer Psyche nicht so leicht erkennen. Praktisch alle Menschen haben Arme und Beine. Und diese haben sie bereits zu einem frühen Zeitpunkt im Mutterleib, zu einem Zeitpunkt, an dem die Umwelt bzw. die Kultur nur einen geringen Einfluss auf ihre Entwicklung nehmen konnte. Überall auf der Welt haben Menschen Arme und Beine und von den vergangenen Generationen wissen wir ebenso, wie von den gegenwärtigen, dass sie so ausgestattet waren und sind. Es ist daher offensichtlich, dass die Ausbildung der Gliedmaßen genetischen Ursprungs ist.
Verhaltensmuster von Menschen sind dagegen keineswegs so einfach gegeneinander abzugrenzen und bei einem Großteil der Menschheit wiederzuerkennen. Die Verhaltensmuster einer Person entwickeln sich erst im Heranwachsen. Diese Entwicklung geschieht im steten Wechselspiel mit der Umwelt und speziell mit der Kultur. Welche Aspekte des Verhaltens sind so relativ stabil, wie man es für eine genetische Determination erwarten kann? Verhalten bringt die unterschiedlichsten Formen hervor. In den verschiedenen Teilen der Welt sind unterschiedliche Kulturen entstanden. Menschen vergangener Generationen dachten anders als wir es heute tun. Sie hatten andere Wertmaßstäbe und taten andere Dinge als wir. Selbst im Vergleich mit unseren eigenen kulturellen Vorfahren handeln wir heute in vielen Situationen anders als sie. Entsprechend schwieriger ist es zu bestimmen, welche Elemente unseres Verhaltens durch die Gene bestimmt sind, und welche die Folge unserer kulturellen oder persönlichen Entwicklung sind.
Bei den Bedürfnissen, die unser Verhalten lenken, sind wiederum die physischen besser zu erkennen als die psychischen.
Der Zusammenhang ist leicht zu erkennen, dass wir essen, um unseren Körper zu ernähren und dass unser Körper uns eindringliche Signale gibt, wenn er zu wenig Nahrung erhält. Offensichtlich sendet unser Körper ein Signal an die Psyche, wenn ein Mangel an Nahrung unserem Körper und damit unserer Handlungsfähigkeit zu schaden droht. Ein entsprechendes Signal verursacht uns Leid und nötigt uns zu handeln. Eine Kultur, die darin bestünde, sich dieser Nötigung zu widersetzen, wäre wenig erfolgreich. Die meisten Menschen würden der Forderung einer solchen Kultur, die Nahrungsaufnahme zu verweigern, vermutlich nicht nachkommen. Auf jeden Fall bliebe ihnen ein intensives Bedürfnis nach ausreichend Nahrung. Offensichtlich handelt es sich also bei dem Bedürfnis Hunger um ein genetisch veranlagtes, an dessen Prinzip die Kultur nicht zu rütteln vermag. Wir können unseren Umgang mit dem Hunger ändern, nicht aber das Bedürfnis an sich.
Schwieriger sind dagegen psychische Bedürfnisse zu erklären. Warum spielen wir gerne Fußball oder warum lesen wir gerne ein Buch? Es kann zum Beispiel sein, dass wir in unserer Jugend gerne Fußball spielten. Nichts konnte uns davon abhalten, zu den Freunden auf den Bolzplatz zu laufen und zu kicken. Irgendwann haben wir uns davon abgewandt und beschäftigen uns in unserer Freizeit lieber mit dem Lesen von Büchern. Wir denken vielleicht gerne an die Fußballerlebnisse in unserer Jugend zurück. Dennoch verspüren wir keinerlei Bedürfnis, wieder hinaus zu laufen und zu kicken. Es könnte auch anders herum sein, dass wir uns stets mit geistigen Tätigkeiten beschäftigt haben und plötzlich den Sport für uns entdecken. Welches dieser Bedürfnisse ist nun angeboren und welches hat sich durch die Kultur und persönliche Entwicklung herausgebildet?
Verhaltensweisen sind schwierig gegeneinander abzugrenzen. Wir nutzen ständig unsere Psyche, um Handlungen zu steuern. Ebenso erleben wir ständig die Handlungen unserer Mitmenschen. Wir können daher relativ einfach sagen: Der hat dieses gemacht und ich habe jenes getan. Wollen wir die beobachteten Handlungen jedoch in allgemeine Begriffe abstrahieren, so dass nicht jede Handlung als unverständliche Einzelaktion für sich stehenbleibt, sondern verständlich in einer Ordnung erscheint, so bieten sich dafür bald zahllose Alternativen an. Jede Handlungsbeschreibung ist von einer Perspektive abhängig, aus der heraus sie das Verhalten interpretiert. Wenn es dann weiter darum geht, zu unterscheiden, welche Aspekte dieser Handlung sind uns mit unseren Genen überliefert, welche sind aus unserer kulturellen Entwicklung hinzugekommen und welche werden durch die momentane Situation bestimmt, wird die Lage unübersichtlich. Die unzähligen Aspekte menschlichen Handelns haben keine Kennzeichen, an denen wir ihren Ursprung erkennen können.
Verhaltensforscher, insbesondere Motivationsforscher sprechen von Disposition, wenn sie meinen, ein Individuum habe eine bestimmte Veranlagung zu einem Verhalten mitgebracht. Mit Disposition kann einerseits eine genetische und andererseits eine kulturell bzw. individuell erworbene Voraussetzung gemeint sein. In dieser Untersuchung haben wir ein besonderes Interesse an genetisch veranlagten Verhaltensdispositionen, die zudem mehr oder weniger allen Menschen gemeinsam sind.
Der Begriff Disposition wird von Forschern, die eine These über Verhalten vertreten, häufig so eingesetzt, dass er die These relativiert. Es wird gesagt, Menschen haben eine Disposition so oder so zu handeln. Da Verhalten aber stets im Zusammenhang mit individuellen Unterschieden der Person, mit Kultur und einer besonderen konkreten Situation einhergeht, könne man nicht genau sagen, worin die Disposition im Einzelnen bestehe. Einerseits sagt man also, man wolle eine These aufstellen, andererseits sagt man, es könne nicht genau beschrieben werden, worin die These besteht. Diese Ungenauigkeit der Theorie gilt es zu überwinden. So soll zumindest eine klare Behauptung erreicht werden, eine Behauptung darüber, was in der menschlichen Psyche der Fall ist, wenn schon die Überprüfung einer solchen Behauptung durch Messungen des Verhaltens ihre großen Unsicherheiten mitbringt.
Um den Prinzipien der Verhaltensweisen nachgehen zu können, sollten die Beschreibungen beobachteter Verhaltensweisen eindeutiger und damit nachvollziehbarer gestaltet sein. Darauf aufbauend werden Theorien über Verhaltensdispositionen tendenziell besser überprüfbar. Der Skeptizismus, den diese Untersuchung vorstellen wird, liefert Kriterien und zeigt eine Methode auf, mit der Beschreibungen von Verhaltensdispositionen bestimmter werden.
Eine andere Frage, die man hinter dem Thema »Was will der Mensch?« vermuten könnte, ist die: Was will der Mensch auf lange Sicht? Welche Ziele steckt er sich, oder gar, welchen Sinn hat das Leben? Diese Frage ist jedoch nicht Gegenstand der Untersuchung. Vielmehr liegt ihr die Vorstellung zugrunde, dass der Mensch angeborene Verhaltensdispositionen hat. Mit Intelligenz sucht er nach Strategien, den Verhaltensdispositionen besonders gut gerecht zu werden, viel Lust und wenig Unlust zu erleben. Bei der Optimierung der Strategien, die durch Versuch und Intelligenz erzeugt und durch Kultur überliefert werden, wäre es dem Menschen hilfreich, er könnte sich an einem letzten Ziel orientieren. Ein solches Ziel zu bestimmen ist aber nicht Gegenstand unserer Betrachtung.
In dieser Untersuchung geht es um die Bestimmung der Verhaltensdispositionen, genauer gesagt, um Bedürfnisse. Es geht also um die Frage, was der Fall ist. Dies gilt es so klar wie möglich von der Frage zu trennen, welche Strategien sich zur Optimierung von Verhalten anbieten, also der Frage, was soll ich tun. Erst eine Grundlagentheorie verbunden mit einer Grundlagenforschung, die nicht nach dem Wozu fragt, kann eine solide Basis liefern für eine nachfolgende Suche nach optimierten Strategien.
Erkennbarkeit des Gegenstandes
Als moderne, aufgeklärte Menschen in einer Wissensgesellschaft verstehen wir selbst als Laien hochkomplexe Gegenstände unser Umwelt zu erklären. Wir wissen aus welchen Basiskomponenten ein Automobil besteht. Wir können verschiedene Antriebstechniken wie Otto-, Diesel- oder Elektromotor benennen und wir wissen zwischen den Komponenten zu unterscheiden, die Energie bereitstellen, wie Motor und Batterie, und denen, die sie nutzen, wie Getriebe, Antrieb, Lenkung und Bordelektronik. Auch bei anderen komplexen Gegenständen unseres Alltags wie Computern, der Quantenmechanik oder den Institutionen unserer Gesellschaft zum Beispiel, weiß der durchschnittlich Gebildete einige Kernelemente aufzuzählen und ihre Bedeutung zu erklären. Doch wenn es darum geht, die Grundelemente menschlichen Wollens zu benennen, dann stehen wir dem hilflos gegenüber.
Aber die Frage nach menschlichem Wollen ist keine nach einem Gegenstand jenseits aller Erfahrung, wie die nach dem Innenleben Schwarzer Löcher, Fragen wie »was war vor dem Urknall?« oder »warum ist nicht Nichts?« Wir gehen täglich mit dem menschlichen Willen um. Wir probieren unseren Willen in zahlreichen Situationen aus und nutzen dazu wachsende und wechselnde Fähigkeiten. Wir lernen auf vielfältige Weise nicht nur unsere Bedürfnisse sondern auch die unserer Mitmenschen kennen. Wir schaffen es, gezielt miteinander umzugehen, fremde Wünsche und Empfindungen zu erahnen oder nachzuempfinden und über Gespräche Konflikte zu lösen.
Offensichtlich sind wir intuitiv in der Lage, diese Prinzipien zu verstehen und sie in unterschiedlichen Situationen erfolgreich anzuwenden, auch wenn es dabei gelegentlich zu Streit kommt, und zu Gewalt. Ein Mangel an Anschauung kann es nicht sein, der uns das Verständnis der menschlichen Psyche erschwert. Und offenbar haben wir im Laufe der Geschichte und der persönlichen Entwicklung des Einzelnen gelernt, immer besser damit umzugehen. Möglicherweise liegt es in der Komplexität des Gegenstandes, der schon eine einfache Ordnung zum Einstieg in diese Materie so schwierig macht. Gerade die psychischen Grundbedürfnisse spontan zu benennen, fällt uns schwer. Das liegt nicht zuletzt daran, dass auch die Wissenschaft keine Position gefunden hat, über die einigermaßen Konsens besteht.
Teil I
Antworten der Fachgebiete
1 Fragen an die Fachgebiete
Der erste Teil dieser Untersuchung stellt einige Fachrichtungen und Forschungsrichtungen der Geisteswissenschaften, speziell der Philosophie und der Psychologie vor, die auf die Fragestellung nach dem Wollen des Menschen hinarbeiten. Die Vorstellung ist recht weit gefasst, denn der Ansatz, den ich im Anschluss vorstellen möchte, sitzt gewissermaßen zwischen den Stühlen. Er ist konsequenter als der Zugang der Psychologie, die eher in zahlreichen Beispielen denkt, als den generellen theoretischen Zugang sucht. Andererseits ist die Psychologie konkreter mit ihren Aussagen über die Eigenarten der menschlichen Psyche, als die Philosophie. Diese sieht in der Psyche eher einen Abgrund mit seinen Unwägbarkeiten und fragt sich, wie damit umzugehen sei, statt zu fragen was es ist.
Im Zuge der Vorstellung der einzelnen Fachgebiete werden wir ihre Perspektive auf die Frage nach dem menschlichen Wollen beleuchten. Dabei werden wir die folgenden Fragen untersuchen:
(1) Mit welchen Methoden wird die Fragestellung angegangen?
(2) Wie werden genetische Ursachen menschlichen Verhaltens unterschieden von kulturellen bzw. anderen nicht genetischen Ursachen?
(3) Welche konkreten Antworten werden gegeben, zum Beispiel in der Form von identifizierten Bedürfnissen?
Ich werde skizzieren, in wieweit diese Ansätze und ihre Lösungsvorschläge Gemeinsamkeiten, Unterschiede oder gar Gegensätze zu den Thesen unserer nachfolgenden Untersuchung haben.
Die Einschätzung der Fachgebiete muss vage bleiben. Ich kann nicht von mir sagen, dass ich in den zahlreichen Gebieten detailliertes Wissen habe. So sind denn die Einschätzungen in ihrer Kürze notwendigerweise pauschalisierend und mit der entsprechenden Vorsicht zu lesen.
Dem Leser, der sich mit diesen Gebieten nicht näher auskennt, sollen die Beschreibungen einen kurzen Einblick ermöglichen. An verschieden Stellen der Untersuchung wird auf einzelne der genannten Gebiete Bezug genommen. Trotzdem soll die Untersuchung für sich ohne tiefere Kenntnisse der einzelnen Fachgebiete verständlich sein.
2 Philosophie
In diesem Kapitel werden wir einen Rundgang durch verschiedene historische wie aktuelle Gebiete der Philosophie machen.
Argumentationskette
Vereinfachend kann man verschiedene Hauptthemen der Philosophie als eine Argumentationskette betrachten, deren Fachgebiete und Methoden aneinander anschließen bzw. aufeinander aufbauen. Den Ausgangspunkt bildet die Erkenntnistheorie (Epistemologie), also die Frage: Wie kommt der Mensch mit seinen Fähigkeiten und durch Berücksichtigung logischer Zusammenhänge zu verlässlichen Erkenntnissen über die Welt und über sich als Mensch? Im zweiten Schritt, der Motivationstheorie könnte man mit den Werkzeugen der Erkenntnistheorie die Frage klären: Was will der Mensch seiner Natur und seiner Kultur nach? In einem dritten Schritt, der Ethik, gilt es unter Verwendung von Methoden und Erkenntnissen der voraufgegangenen Gebiete die Frage zu untersuchen: Wie können wir unser gesellschaftliches Zusammenleben so einrichten, dass jeder möglichst gut nach seinen Wünschen lebt?
Es fällt auf, dass die Philosophien, die im Zentrum allgemeiner Aufmerksamkeit standen und stehen, sich in der Regel nur minimal mit der Frage auseinandersetzen, was der Mensch von seiner Natur aus will, sondern eher gleich mit der Antwort aufwarten, was er soll, dass sie also die Psychologie umgangen haben. Trotz dessen, dass diese Theorien scheinbar an unserem Thema vorbeigehen, bilden sie dennoch eine wichtige Grundlage unserer Kultur. Umso dringender scheint die Frage, welche Vorstellung von der menschlichen Natur sie enthalten, wenn sie diese auch nur am Rande erwähnen und nicht näher ausführen. Darüber hinaus ist es interessant zu sehen, wie es ihnen dennoch gelungen ist, unter weitgehendem Ausschluss der Psychologie, ihre jeweiligen Theorien zu begründen.
Erkenntnistheorie
O.K., so einfach ist die Sache mit der Argumentationskette nicht. Schließlich geht bereits im ersten Schritt so einiges schief. David Hume hat festgestellt, dass sich Kausalität nicht beobachten lässt, Kant hat festgestellt, dass wir das Ding an sich nicht erkennen können und die Solipsisten glauben, allein auf der Welt zu sein; niemand könne schließlich beweisen, dass das, was sie wahrnehmen, außerhalb ihrer selbst liege. Soweit die schlechten Nachrichten. Andererseits gibt es auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie doch einige hilfreiche Ansätze. Die Empiristen sagen, man sollte beobachten und nachmessen, um festzustellen, was der Fall ist. Wenn die Messergebnisse wiederholbar sind, dann verfüge man immerhin über einige verlässliche Aussagen, wenn sich auch keine sichere Gewissheit erreichen lässt. Die Rationalisten oder besser Theoretiker sagen, man braucht zum Messen mindestens vorher eine Theorie, weil Messen ohne eine modellhafte Vorstellung von dem, was man da misst, nur einen zusammenhanglosen Datenberg generiert. Außerdem kann man mit Theorien Voraussagen machen über Umstände, die man zuvor noch nie beobachtet hat. Macht man dann eine Messung, die die Voraussage bestätigt, so ist das besonders beeindruckend und spricht für die Theorie. Karl Popper kam zu dem Schluss, die Gültigkeit einer Theorie könne man mit Beobachtungen und Messungen allerdings nicht beweisen, sondern nur widerlegen. Darüber hinaus gibt es noch eine Fülle weiterer Methoden für die Untersuchung von Allesmöglichem. Erkenntnistheorie gibt es also, mehr konkret oder mehr abstrakt, je nachdem.
Die Erkenntnistheorie interessiert sich für die Fähigkeiten des Menschen in der Regel nur so weit, wie es erforderlich scheint, eine geeignete Methodik zu entwickeln, zuverlässige Erkenntnisse zu gewinnen. So interessiert zum Beispiel die Frage, wie gut Menschen sehen können, mit oder ohne Hilfsmittel. Daraus kann man schließen, über welche Maßstäbe der Welt der Mensch nichts wissen kann, weil sie zum Beispiel zu klein sind. Die Motivation des Menschen spielt dabei eher indirekt eine Rolle. Dahinter steht meist die Vorstellung, dass sich aus verlässlicher Erkenntnis dessen, was der Fall ist, schließen ließe, was der Einzelne tun sollte. Gelänge sichere Erkenntnis, so wäre alles falsche Wollen entlarvt und das richtige Wollen könnte sich durchsetzen. Wollen und Sollen fallen so in einem weit entfernten imaginären Punkt zusammen. Das Erkannte, was der Fall ist, wird zu einem Leitfaden dessen, was wir wollen.
Von der Erkenntnistheorie zur Ethik macht die Philosophie dann doch gerne einen großen Bogen um die Motivation. In der Tat erscheint, bei einem Blick in die Geschichte, die menschliche Seele eher als ein finsterer Ort, denn als ein interessanter Gegenstand für Erkenntnisse. Dort, wo keine staatliche Gewalt den Bürger oder Untertanen in seine Schranken weist, herrschen alsbald Raub, Vergewaltigung und Mord. Und selbst dort, wo eine kulturell gesittete Ordnung herrscht, folgen die Menschen doch hauptsächlich ihrer Habgier, Machtgier, frönen dem Sex und dem Konsum. Wer mag es also den Philosophen verdenken, dass sie wenige Anstrengungen unternahmen, diesen Pfuhl aufzuklären. Allzu leicht macht man sich einer Verharmlosung des Ungemachs verdächtig.
Kant
Kant hat denn auch davon abgeraten – oder wie spricht: »Seien Sie froh, dass Sie damit nichts zu tun haben.« Affekte, wie derartige Bedürfnisse in der Philosophie genannt werden, können keine Grundlage eines sittlichen Lebens sein. Kant trennt zwischen dem Mensch als Erscheinung und dem Vernunftmenschen, ausgestattet mit Autonomie und freiem Willen.
»[D]a er daselbst nur als Intelligenz das eigentliche Selbst (als Mensch hingegen nur Erscheinung seiner selbst) ist, so daß, wozu Neigungen und Antriebe (mithin die ganze Natur der Sinnenwelt) anreizen, den Gesetzen seines Wollens, als Intelligenz, keinen Abbruch tun können, sogar, daß er die erstere [Natur der Sinnenwelt] nicht verantwortet und seinem eigentlichen Selbst, d.i. seinem Willen nicht zuschreibt«¹
Man solle sich vielmehr seines Verstandes bedienen. Der Mensch sei frei, könne das allgemeine moralische Gesetz erkennen und es zur Grundlage seines Handelns machen. Das Gesetz besagt im Wesentlichen, man solle die Maxime seines Wollens so wählen, dass sie als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnten. Wichtig ist ihm die universelle Geltung, dass alle so handeln könnten, nicht das Alle tatsächlich gleich handeln, aber eben doch nach den gleichen Maximen. Der Zweck ist ihm die Erhaltung vernunftbegabter Wesen.
Bei dieser Argumentation bleibt unklar, woher die Motivation kommt, sich an das Gesetz zu halten. Kant schreibt dazu: »so ist die Erklärung, wie und warum uns die Allgemeinheit der Maxime als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit, interessiere, uns Menschen gänzlich unmöglich.«²
Kant hat das von ihm selbst aufgefundene Gesetz befolgt – oder er hat es zumindest versucht. Als Mensch der Postmoderne würde ich annehmen, er hat es auch deswegen befolgt, weil die Entdeckung und Begründung desselben sein Lebensinhalt war, und weil er von dessen Klarheit und Einfachheit fasziniert war. Kant selbst hätte diese Deutung strikt abgelehnt. Aus seiner Sicht folgt ein Mensch diesem Gesetz, weil er frei ist und dieses als richtig erkannt hat.
Mit dem Kategorischen Imperativ hat Kant ein ehernes Gesetz aufgestellt, auch wenn es viele Fragen zur Alltagstauglichkeit offen lässt. Er hat der Philosophie zugleich einen Weg aufgezeigt, die Frage nach dem Sollen zu diskutieren, ohne die Frage nach dem Wollen berühren zu müssen. Das Beispiel hat insofern Schule gemacht, als auch noch die Existenzialisten in den siebziger Jahren meinten, sie könnten und sollten als autonome Wesen sich ein Ziel wählen und dieses umsetzen, ohne Rücksicht auf die weiteren Umstände. Nach Sartre ist der Mensch das, wozu er sich durch eigene Wahl macht. Sartre hat diesen Ansatz rückblickend als einen Fehler seiner Arbeit gesehen. Allerdings sah er nun stärker die Gesellschaft als prägend an, nicht jedoch die Eigenheiten der menschlichen Natur.³ ⁴
In der Philosophie unserer Tage nennt man einen Ansatz wie den Kategorischen Imperativ den Primat (den Vorrang) des Gerechten vor dem Guten. Was gerecht ist, wird durch Gesetzte geregelt. Daher ist wichtig aufzuklären, wie Gesetze zustande kommen sollten. Wenn sich der Einzelne an die Gesetze hält, kann er sich im Übrigen frei um sein gutes Leben kümmern. Das ist die Privatsache jedes Einzelnen und erfordert keine nähere Aufklärung durch die Philosophie, zumal ohnehin jeder etwas anderes wünscht.
Materialismus
Der Materialismus von Karl Marx kommt mit wenigen Annahmen über die menschlichen Bedürfnisse aus. Mit seiner Kritik am Kapitalismus sieht Marx den Menschen als ausgebeutet und von seiner Arbeit entfremdet. In der Beschreibung dieser Klage scheint ein wenig das Bild durch, das Marx von der psychischen Natur des Menschen hat:
»[D]ie freie bewußte Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen. [...] Die entfremdete Arbeit kehrt das Verhältnis dahin um, daß der Mensch eben, weil er ein bewußtes Wesen ist, seine Lebenstätigkeit, sein Wesen nur zu einem