Kalktown Stories
By E. Sawyer
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About this ebook
Was läuft bloß schief in „Kalktown“, dieser verlorenen Trabantenstadt am Rande von Ostdeutschland? Hier lungern gewaltbereite Schlägertypen auf den Straßen herum, nehmen Drogen und prügeln sich gegenseitig fast zu Tode. Manche finden den Weg aus dem „Ghetto“, während andere längst dem Untergang geweiht sind.
Einer von ihnen ist Brad, ein Wendekind, das sich im Verlauf der dramatischen Geschichte für einen der beiden Wege entscheiden muss. Und so unternimmt er eine Gratwanderung zwischen Absturz und Hoffnung, Drogenrausch und Liebesglück. Welche Richtung sein Leben einschlagen wird, bleibt offen...
Als plötzlich ein Mädchen in sein Leben tritt, kann er sein Glück kaum glauben. Er durchlebt den warmen Kontrast zur grauen Kalktown mit allen Höhepunkten einer romantischen Liebesbeziehung, bis es zum schrecklichen Erwachen kommt und das Mädchen spurlos verschwindet...
Ob er sie jemals wiedersehen wird?
Tiefgründige Erkenntnisse zur wahren Existenz der Menschheit und zum endgültigen Verbleib der Erinnerungen an das Erlebte überschatten die Suche nach dem verschwundenen Mädchen. Dann findet Brad mehr heraus, als er eigentlich wissen dürfte. Vor seinem Auge tun sich die Zusammenhänge des Weltgeschehens als greifbare Spinnennetze auf, die ihn und den Leser fesseln. Unbequeme Wahrheiten treten ans Tageslicht und kreieren das Konstrukt einer Welt, die kein Mensch jemals zuvor erahnt hätte.
Hintergründe:
Dieser einzigartige Entwicklungsroman ist nichts für schwache Nerven, basiert auf einer wahren Begebenheit und verwebt aktuelle Ereignisse des Weltgeschehens zu einer spannenden Geschichte.
"Sehr spannend geschrieben. Die vielen [...] Bezüge zur Realität machen das Lesen noch interessanter. Der Autor schafft es mit seiner anspruchsvollen Wortwahl die Neugierde zu wecken, einen förmlich ans Buch zu fesseln und zum Nachdenken zu bewegen [...] Mir hat das Lesen Spaß gemacht!" Zitat: Mystical
"Schockierend. Verblüffend. [...] erschreckend realitätsnah und aufwühlend. Versteckte Querverweise und Anspielungen halten den Leser geistig wach. Ein Buch, das der heutigen Zeit einen Spiegel vorhält. Lesenswert!" Zitat: Wellenbrecher
Die Amerikanisierung der ostdeutschen Gesellschaft kurz nach dem Mauerfall führte zur Herausbildung einer sozialen Unterschicht, die zusammengepfercht in Plattenbauten ums Überleben kämpfte. Suchtkrankheiten, Gewalt und Jugendkriminalität waren die Begleiterscheinungen dieser auseinanderdriftenden Gesellschaft. Die Themen im Buch sind tagesaktuell und brisant auf den Punkt gebracht!
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Book preview
Kalktown Stories - E. Sawyer
E. Sawyer´s
Kalktown
Stories
Roman
I M P R E S S U M
E. Sawyer´s Kalktown Stories
© 2014 E. Sawyer.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: E. Sawyer
Kontaktdaten: esawyer@web.de
Blog: www.kalktown.blogspot.de
Facebook: www.facebook.com/kalktown
E-Book-ISBN: 978-3-95830-886-2
Verlag GD Publishing Ltd. & Co KG, Berlin
E-Book Distribution: XinXii
www.xinxii.com
Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden. Verstöße werden strafrechtlich verfolgt. Die Figuren und Orte wurden frei erfunden. Alle Persönlichkeitsrechte wurden bewahrt, dies wurde in einem juristischen Verfahren geprüft.
Inhalt
Prolog
Kneipenausflug
Walpurgisnacht
Weihnachtsgebäck
Studentenleben
Frust der Gang
Shit, die Bullen!
Vorstadtdisko
Pillenreise
Parkplatzmassaker
Letzter Trip
Begegnung
Stadt der Liebe
Erwachen
Erinnerungen
Spurensuche
Erkenntnispfad
Selbstreflexion
Weg zur Klinik
Reizmagen
Virus
Prüfung
Der Doktor
Kühlschrank
Verfolgungsjagd
Klassentreffen
Wrong Way
Glasgesellschaft
Pneumologe
Abschied
Gesprächsstoff
Die Hand
Chemiewerk
Der Fluss
Viktoria
Gedankenblitze
Traum
Automafia
Naturliebe
Fehlgeburt
Rationalisierung
Kiezwohnung
Letzte Party
Neue Welt
Nachwort
#Prolog
Willkommen in der Vorstadthölle von Kalktown. An diesem Ort versuchen Menschen, zwischen Industrieanlagen und Plattenbauten zu überleben. Jugendliche ohne Perspektive lungern auf der Straße herum, nehmen Drogen und sind zu jeder Gewalttat bereit. Gangs aus Sprayern und selbsternannten Rappern kontrollieren die Straßen. Sie dealen mit Drogen und schlagen Unschuldige brutal zusammen. Was es heißt in einer solchen Parallelwelt aufzuwachsen, wird in dieser Geschichte mit gnadenloser Erzählkunst facettenreich beschrieben.
Brad gerät mit seinen Freunden in Konflikte, die oft ein trauriges Ende nehmen. Viele landen im Knast, verfallen dem Alkohol, den Drogen oder der Spielsucht. Es scheint keinen Ausweg aus diesem Teufelskreis zu geben, bis plötzlich ein rettendes Seil auftaucht. Doch wird Brad nach diesem Seil greifen oder beim bloßen Versuch daran zugrunde gehen?
Für Brad beginnt eine Odyssee der Selbstfindung. Die Drogen versuchen sein Leben zu zerstören, bis ihm eine Überdosis zu einer seltsamen Begegnung verhilft. Plötzlich tritt ein Mädchen in sein Leben. Wundervolle Momente bilden einen scharfen Kontrast zur trostlosen Vorstadthölle. Die Begegnungen werden immer intensiver, bis es zum schrecklichen Erwachen kommt ...
Plötzlich überschatten tiefe Erkenntnisse die Geschichte. Im Drogenrausch gelingt es ihm, Antworten auf die vielen Grundfragen des Lebens zu finden. Er verliert sich in den Untiefen seiner Seele und befördert die unbequeme Wahrheit ans Tageslicht. Selbstkritisch hinterfragt er die Machenschaften des Systems und kommt zu verblüffenden Ergebnissen. Seine Beobachtungsgabe verhilft ihm letztendlich zu einem neuen Lebensweg, frei von Jugendkriminalität und Drogen. Die letzten Kräfte spart er sich dafür auf, anderen Kids aus dem Viertel den Weg in die richtige Richtung zu weisen.
#Kneipenausflug
Zwei weiße Gauloises verglühten im Aschenbecher. Dichter Qualm umhüllte die beiden Stammtischalkoholiker, während der Wirt das nächste Pils abzapfte. Im Nebenraum brannte eine alte Stehtischlampe und zeichnete einen düsteren Schatten auf die vergilbte Tapete. Scheinbar besuchten nur alkoholabhängige Versager diesen Schuppen, um über die Belanglosigkeiten ihres maroden Lebens zu philosophieren.
Nach einem kräftigen Schluck aus dem Bierglas drehte sich der dürre Säufer zu seinem beleibten Trinknachbarn und klopfte ihm beherzt auf die Schultern. Bevor er auch nur einen Mucks von sich gab, knirschte er verbittert mit den Zähnen, bis die Knochen seines Kiefers hervortraten. Dann blickte er lallend zu seinem Saufkumpel.
„Verdammte Scheißwelt ... hicks ... Mein beschissenes Weltbild fällt gerad wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Ich dachte immer, unsere scheiß Demokratie wäre der Weg zur Freiheit. Warum wird dann mein Nutzungsverhalten im Internet überwacht? Wer sich gegen diesen ganzen Dreck auflehnt, wird doch eh für mundtot erklärt. Und dann dieser ganze transatlantische Scheiß. Das ist die reinste Versklavung unseres Volkes! Diese ganzen Politiker hängen da auch irgendwie mit drin, ich sag´s dir ... hicks ..."
Mit einem Nicken bekräftigte der glatzköpfige Saufnachbar die Worte des dürren Alkoholikers, wodurch sich dieser darin bestätigt sah, weiter über politische Themen herzuziehen.
„Hör mal ... hicks ... du fühlst dich vielleicht frei, stattdessen wirst du die ganze Zeit überwacht! Und durch die Gehirnwäsche dieser Propagandamedien verfestigt sich dieser ganze Konsumdreck auch noch. Du bist nicht frei; das wirst du auch niemals sein! Mit viel Glück ergatterst du einen Job, der dir eine gesicherte Armut beschert. Aber um dorthin zu gelangen, benötigst du ein Auto. Also nimmst du einen Kredit bei der Bank auf. Dann willst du Kinder. Aber Kinder benötigen viel Platz, der nächste Kredit für den Hausbau wird fällig. Dein Job gibt dir Halt, doch deine Ängste nehmen zu ... hicks ... was, wenn deinen Kindern etwas zustößt, du berufsunfähig wirst oder einen schweren Unfall erleidest?"
Mit hochgezogenen Augenbrauen zuckte der dicke Saufkumpel mit den Schultern und starrte auf das frischgezapfte Bier vom Wirt. „Ich hab doch keine Kinder; und kein Haus! Scheiße, ich hab nicht mal einen Job! Jedenfalls nichts Vernünftiges. Diesen ganzen Aushilfsdreck beim Paketzentrum kannst du echt vergessen! Buckelst dir einen ab und am Monatsende reicht das Scheißgeld trotzdem nicht. Mache mir echt Sorgen, dass ich irgendwann unter der ganzen Paketlast zusammenbreche."
Als hätte der dürre Alkoholiker nur darauf gewartet, endlich wieder das Wort zu ergreifen, fuhr er unbeirrt fort. „Dafür gibt es doch Versicherungsgesellschaften, mein Lieber ... hicks ... die wittern deine Angst und verkaufen dir passende Produkte, während du an der Kreditnadel der Bank festhängst, um Haus und Auto abzubezahlen. Solange du zahlst und die Zinsen bedienst, darfst auch du im Hamsterrad mitlaufen. Bis zu dem Tag, an dem dich dein Chef entlässt. Wegen der Globalisierung kommt es zu Rationalisierungsmaßnahmen und Einsparungen; heißt es dann aus der Personalabteilung. Die Wut auf deinen Chef wächst schneller als der Profit seines Unternehmens. Dabei vergisst du, dass dein Chef selbst nur eine Marionette dieser Pyramidengesellschaft ist; ein kleines Zahnrädchen in einer tickenden Zeitbombe, die schon bald explodieren wird ... hicks ..." Während der schmale Alkoholiker seinen Satz mit einem lauten Rülpser beendete, überkam seinem Trinkpartner die pure Existenzangst.
„Ich geh kurz pinkeln!", sagte der dickbäuchige Paketarbeiter. Etwas erleichtert kehrte er wenige Minuten später vom stinkenden Männerklo der rauchigen Vorstadtkneipe zurück. In seiner feuchten Hand hielt er ein glühendes Zigarillo, das ihm schon im nächsten Augenblick als Ankerpunkt dienen sollte.
„Und wenn Sie dich dann endlich wegrationalisiert haben; diese Schweine, ziehst du dich gekränkt zurück und fällst in eine tiefe Depression, die dich zu verschiedenen Fachärzten führt ... hicks ... dort erhältst du schnell den passenden Wirkstoff zur Linderung deiner Beschwerden. Dann kannst du endlich aus dem Sozialtopf schöpfen, wenn die erste Packung Antidepressiva auf dem Apothekentisch liegt und das Geld der arbeitenden Gemeinschaft in die Hände der Pharmakonzerne treibt. Und während du vergeblich versuchst, erneut ins Hamsterrad zurückzukehren, sitzen die Wölfe an runden Tischen, um die Geschicke der Welt zu lenken. Durch die Kontrolle ihrer gleichgeschalteten Medienhäuser können sie Lügen verbreiten und Massen manipulieren, sodass selbst Kriege von uns Schafen bejaht werden ... hicks ... diese herzlosen Geschäftsschweine ..."
„Ach, erzähl keinen Unsinn! Ich glaube schon lange nicht mehr an den ganzen Nachrichtenkram. Mich können die nicht beeinflussen! Und wer sind diese Leute überhaupt?"
„Man, das versuche ich dir doch gerade zu erklären, du Blödmann! Pst, nicht so laut! Hier sind überall Spione. Siehst du das Auto dort draußen? Verfolgt mich schon den ganzen verflixten Tag." Misstrauisch musterten die Beiden den roten Honda Civic, der mit tuckerndem Motor vor der Kneipe wartete. Daraufhin rückte der Glatzkopf etwas näher an seinen schlanken Sitznachbarn heran, um sich im leisen Flüsterton weiter mit ihm zu unterhalten.
„Pst ... hör zu! Ich erzähl dir, wie´s läuft. Nachdem du deinen Job verlierst, entwickelst du eine unglaubliche Wut auf die Verursacher deiner Probleme. Doch es fällt dir schwer, die Übeltäter am Kragen zu packen. Wie dein Chef, hängen auch die Politiker nur am seidenen Faden einer globalisierten Weltregierung aus Finanzeliten. Nicht unser Volk steht an der Spitze der Pyramide, sondern eine ausgelesene Elite, die nie öffentlich in Erscheinung tritt und nur im Hintergrund agiert. Augenscheinlich werden Gesetze von Politikern verabschiedet, um den Interessen des Volkes zu dienen ... hicks ... tatsächlich dienen diese Machtbündelungen an wichtigen Schnittstellenfunktionen wie der Europäischen Union ausschließlich den Interessen der Oligarchen ... hicks ... erkennst du an diversen Handelsabkommen und neoliberalen Gesetzgebungen ... Staaten mit Rohstoffreserven sollen weltweit absichtlich in die Staatsverschuldung getrieben werden, damit die Eliten neue Ressourcenwege erschließen und ihre versklavten Volkswirtschaften noch effizienter ausbeuten können. Denn jeder Schuldner des Geldsystems macht sich umgekehrt auch angreifbar für die Heuschrecken der Wall Street. Und über die Kontrolle von Energie lassen sich ganze Volkswirtschaften erpressen, verstehst du?"
Stirnrunzelnd schaute der dicke Glatzkopf ungläubig in sein leeres Bierglas. „Eins noch, dann ist Schluss. Muss morgen wieder früh raus!"
Kieferknirschend ließ sich der dürre Säufer jedoch nicht von seiner Theorie abbringen. „Guck doch mal ... hicks ... Länder, Völker, Vereinigungen und Staatsoberhäupter, die Autarkie anstreben und sich gegen die voranschreitende Globalisierung auflehnen, werden vom westlichen Demokratiesystem als Schurkenstaaten oder Diktatoren verteufelt. Doch die wahren Unterdrücker sitzen am Ursprung des Geldflusses und dürfen keineswegs laut kritisiert werden. Wer Beweise für die Wahrheit auf den Tisch legt und die wahren Diktatoren der westlichen Welt zu enttarnen versucht, bezahlt mit dem eigenen Leben oder wird medial an den Pranger gestellt."
„So euer letztes Bier! Also langsam zum Ende kommen. Ich mache den Laden gleich dicht!", säuselte der grauhaarige Wirt zu seinen beiden Stammgästen. Anschließend zog er sich wieder hinter den Tresen zurück, um die gewaschenen Biergläser mit einem blaukarierten Handtuch abzutrocknen und das Geld in der Kasse zu zählen. Auch der Honda Civic wartete am Straßenrand vor der Kneipe. Leider konnte man vom Billardzimmer nicht erkennen, welche Gestalten sich im Innenraum des abgedunkelten Fahrzeugs aufhielten.
Der abgemagerte Alkoholiker ließ sich jedoch keineswegs aus der Ruhe bringen. Bedächtig versuchte er, seinen Saufkumpanen erneut zu überzeugen. „Verstehst du mich jetzt? Schau dich doch mal an ... hicks ... versuchst Sehnsucht und Schmerz mit Alkohol zu unterdrücken. Hast deine Grenze längst überschritten und ertrinkst voller Wehmut im Alkohol. Ist ein Teufelskreis, mein Lieber ... hicks ... aus dem es kein Entrinnen gibt ... hicks ... egal, welche Entscheidung du für dein Leben triffst, das Leid wird dich überall begleiten ... hicks ... verdammter Schluckauf ... hicks ..."
Irritiert hakte der dickbäuchige Glatzkopf nach. „Verdammt, halt die Luft an! Dann geht auch dein Schluckauf weg! Bin echt zu voll, um jetzt noch über solchen Kram nachzudenken."
„Du fühlst dich hilflos, stimmt´s? Schau in den Himmel ... hicks ... Die kleinen Lichter dort oben sagen dir, dass du dein Leben selbst in die Hand nehmen musst, um etwas zu verändern. Die Kraft musst du in dir selbst finden ... hicks ... wenn nicht du, wer sonst? Suche nicht nach der Macht, die dich von oben zu steuern versucht. Solange du einen freien Willen besitzt, kannst du auch für dich selbst handeln. Dazu braucht es keine Pyramide. Selbst wenn um dich herum nur Propaganda läuft, bist du selbst derjenige, der die Wahl hat. Du kannst jederzeit das Haus verlassen und dich in die Welt begeben, um das zu tun, worauf du Lust hast. Oder du ertrinkst deinen Kummer in Alkohol, um deine eigene Machtlosigkeit durch sinnloses Gejammer zum Ausdruck zu bringen. Selbst wenn dein Körper dir sagt, dass etwas nicht mit dir stimmt, halte dagegen und belehre ihn eines besseren ... hicks ... wenn du es tatsächlich willst, dann bringt dein Körper auch die nötige Kraft dafür auf ... hicks ... Du sollst nicht kämpfen, sondern bewusst leben und auf deine eigenen Fähigkeiten vertrauen, kapiert? Was kannst du? Worin bist du gut?"
Unter der harten Schale des glatzköpfigen Paketsortierers befand sich ein weicher Kern, der nun endlich zum Vorschein kam. „Ich bin halt einfach unzufrieden mit mir selbst. Deshalb trinke ich! Ich hatte nie Glück im Leben und bekomme einfach nichts Gescheites auf die Reihe. Niemand ist da, der mich liebt. Meine Frau hat mich verlassen, bevor ich ihr Kinder schenken konnte. Ich fühle mich diesem beschissenen Leben einfach hilflos ausgeliefert. Hab echt kein Bock mehr auf alles!" Eine Träne kullerte entlang seines tiefschwarzen Augenringschattens.
„Es gibt Dinge, von denen du vielleicht noch nichts ahnst ... hicks ... die meisten Menschen verzweifeln an ihrer eigenen Machtlosigkeit. Sie fühlen sich wie Marionetten im Puppenspielhaus. Wenn es zum Kontrollverlust kommt, reagiert ihr Körper mit einer lähmenden Angst. Hält die eigene Machtlosigkeit an, entwickeln sich starke Erschöpfungszustände mit unterschiedlichen Symptomen. Deine derzeitige Antriebslosigkeit ist nur der Ausdruck deiner inneren Gitterstäbe. Obwohl du dich nach Liebe und Geborgenheit sehnst, gelingt es dir einfach nicht zu entkommen. Stattdessen versinkst du in Selbstmitleid, was dich in die soziale Isolation treibt. Je länger dieses Ungleichgewicht anhält, desto größer wird auch der Krater in deinem Kopf, den du mit Alkohol zu überwinden versuchst. Besonders niederschmetternd ist die Erkenntnis, dass du nie Anerkennung für deine Erfolge erhalten hast ... hicks ... vergeblich investierte Gefühle in Beziehungen, die vom ersten Tag zum Scheitern verurteilt waren ... hicks ... vergeblich investierte Anstrengungen in Jobs, deren Vertragsende bereits im Vorfeld feststand ... hicks ..."
Es schien, als hätte der dürre Säufer seinem Kumpel aus der Seele gesprochen. Mit einem triefenden Schluchzer fiel ihm der Glatzkopf in die Arme. Auch der Wirt bemerkte den Zwischenfall und wurde langsam ungeduldig. „Knutschen könnt ihr auch noch zu Hause. Ich mach jetzt Feierabend, verstanden?"
Sich in den Armen liegend, verließen die beiden Stammgäste wie jeden Freitagabend den stickigen Schuppen im tiefsten Alkoholrausch. Unbekümmert schlenkerten sie zur Endstation der Bahnhaltestelle am äußersten Zipfel von Kalktown. Unterwegs lief das Gespräch jedoch im lallenden Tonfall weiter. Nach einer kurzen Pisspause philosophierte der schlaksige Biergenießer erneut, bis urplötzlich die Frontlichter des getunten Honda Civics aufleuchteten.
„Hicks ... weißt du, was mich am meisten ankotzt? Jeder verdammte Aufbau scheitert. Nichts bleibt ... hicks ... Der Strom der Zeit nimmt das Leben willkürlich, um es an anderer Stelle wieder neu zu erschaffen. Und niemand besitzt die Macht, sich dagegen aufzubäumen ... hicks ... hörst du deine innere Uhr, wie sie kontinuierlich abläuft? Tick. Tack. Tick. Tack ..."
Nun ebenfalls hicksend legte der glatzköpfige Säufer seine rechte Hand auf die eigene Brust. „Ja du hast recht, ich höre es! Tick. Tack ... hicks ... Tick. Tack ..." Nach einer kurzen Schweigeminute legte der langhaarige Philosoph nach.
„Du gibst dich deinen Sehnsüchten hin und verlierst dich im großen Meer an Möglichkeiten ... hicks ... betrachtest du dich als Individuum? In Wahrheit bist du ein vernetztes Geflecht aus Zellen, Bakterien, Viren und anderen Parasiten. Die komplexen Vorgänge in deinem Körper kannst du selbst nicht bis ins Detail erfassen; du kannst sie nur zerstören. Du fühlst dich matt und schlapp? Da gibt es doch bestimmt etwas aus der Apotheke ... hicks ..."
„... von Ratiopharm?", fuhr der Glatzkopf erheitert fort.
„Ja genau und dann wirst du krank von dem Dreck. Aber eigentlich ist es denen auch ganz recht, wenn du davon krank wirst. Dadurch bleibst du eine eierlegende Wollmichsau, die sich gut melken lässt ... hicks ..."
„Hm, eierlegende Wollmilchsau. Irgendwie hab ich jetzt voll Bock auf ein schönes Schnitzel mit Spiegelei bekommen ... hicks ... hat noch irgendwo was offen?", schwärmte der hungrige Glatzkopf mit sabberndem Mund, während ihm die feinen Speichelfäden vom Kinn tropften.
Mit argwöhnischen Augen stielte der dürre Alkoholiker auf den knurrenden Magen seines übergewichtigen Weggenossen. „Natürlich ... hicks ... viel lieber möchtest du jetzt ein saftiges Rinderhüftsteak verspeisen. Scharf angebraten in Keimöl und leicht gewürzt ... hicks ... es kann auch ruhig noch etwas blutig sein, vielleicht sogar mit gedünsteten Zwiebelringen. Verführerisch saftig und appetitlich, sodass es förmlich auf der Zunge zergeht. Dazu noch ein paar junge Kartoffeln, angeschwitzt in Petersilie, verfeinert mit Olivenöl. Und dazu ein edler Tropfen Rotwein. Nach diesem Festmahl tupfst du dir vornehm den Mund ab und verspürst anschließend das Verlangen nach einer würzigen Zigarre aus Tabakblättern, die in der tropischen Abendsonne schonend getrocknet wurden ... hicks ..."
„Du Arsch ... hicks ... hör auf, mein Magen knurrt schon wie verrückt!", erwiderte der Glatzkopf im hintersten Bahnabteil mit triefenden Sabberfäden und Schluckauf. Kurz darauf klappten die Türen zu. Mit einem schrillen Klingeln signalisierte der Schaffner, dass die Fahrt gleich losgehen würde. Es war