Trümmer, Träume, Wünschelrute: Ein Leben mit Bomben von oben und von unten
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Wolfgang Schmidt
Wolfgang Schmidt ist seit Juli 2012 evangelischer Propst von Jerusalem. In dieser Funktion ist er erster Pfarrer an der Erlöserkirche und Repräsentant der EKD im Heiligen Land. Der Propst vertritt die deutschsprachigen evangelischen Einrichtungen in der Jerusalemer Ökumene und gegenüber den politischen Stellen. Er ist Ansprechpartner für alle pfarramtlichen Dienste der Gemeinde und leitet das pastorale Team in Jerusalem. Wolfgang Schmidt, Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Baden, ist verheiratet mit Anette Pflanz-Schmidt und hat drei erwachsene Söhne.
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Book preview
Trümmer, Träume, Wünschelrute - Wolfgang Schmidt
Geheimmission
Vorwort
Ich weiß aus vielen Begegnungen, dass fast alle Kriegskinder ihre Traumata haben. Für uns gab es noch keine geschulten Therapeuten. Unter Betroffenen fand man am ehesten Verständnis und erleichterte sich gesprächsweise das Leben.
Viele Männer, die damals Kinder waren, taten sich später schwer, eine Ehe einzugehen und litten im Alltag an Beziehungsproblemen. Sie blieben im Grunde immer allein. Wer sollte ihre Erlebnisse, die sie seelisch schwer belastet, kaum verkraftet und innerlich längst noch nicht aufgearbeitet hatten, verstehen?
Unser Kinderleben ist uns vom Schicksal auferlegt worden. Die Gelegenheit, uns mitteilen zu können, geht zu Ende, weil die Zeit für uns abläuft.
Bedauerlich finde ich, dass die Jugend heute so wenig bis überhaupt nichts von diesen unseren Erfahrungen wissen möchte. Dabei ist es so wichtig zu lernen, wie man Gut und Böse erkennen und eine klare persönliche Haltung entwickeln kann.
Es ist erschreckend, zu erleben, wie heute politische Grüppchen, sogenannte neue Parteien und ewig Gestrige genau wie in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf Mitgliederfang unterwegs sind – ohne Verstand und ohne die Lehren aus der Vergangenheit gezogen zu haben.
Wir glaubten, solche Gefahren nach den leidvollen Erfahrungen des 2. Weltkrieges überwunden zu haben, und doch kommen sie immer wieder wie Unkraut nach oben.
Wolfgang Schmidt im Juni 2014
Foto: W. Wedekind
Mutter Eva Schmidt mit ihren Kindern (von links) Sieglinde, Edeltraut, Wolfgang und Eberhard im Juli 1941.
Foto: Atelier Pflugfelder (Halle/Saale)
Stricken für den Sieg
Auch wenn es dem einen oder anderen Leser als ungewöhnlich frühreif für dieses Alter erscheinen mag: Meine ersten bewussten Begegnungen mit dem damaligen politischen System hatte ich 1942/43 mit noch nicht einmal acht Jahren. Ich war ein sehr aufgewecktes Kind, ging gern zur Schule, hatte sehr früh Lesen und Schreiben gelernt und verschlang als angehender Bücherwurm bald jede mir erreichbare und interessant erscheinende Lektüre.
Manches davon überwältigte mich geradezu, anderes beeinflusste mich, bot mir wichtige Anregungen, verhalf mir zu Einsichten und lieferte zusammen mit prägenden Alltagserlebnissen während der Kriegsjahre die ersten Bausteine für mein Weltbild.
Dazu zählte ein Buch über Napoleons dummdreisten Versuch, 1812 mit seinen Soldaten Russland zu erobern. Bekanntlich scheiterte er am harten russischen Winter, an der Weite des Landes und ständigen Nachschubschwierigkeiten. Die Russen wichen einer Entscheidungsschlacht aus. Nach dem Brand Moskaus endete der Rückzug der „Großen Armee" in einer Katastrophe: von anfangs 475.000 Mann dieses bis dahin größten Heeres der Geschichte schleppten sich am Ende noch ganze 1.000 halb verhungert und von russischen Truppen verfolgt über die preußische Grenze. Kaiser Napoleon hatte sich längst nach Paris abgesetzt.
Aus diesem historischen Supergau hatte Hitler offenbar nichts gelernt. Stalin und seine Militärs hielten sich an die bewährte Strategie, zunächst keinen einzigen Soldaten gegen die Invasionstruppen einzusetzen, sondern sich in gesicherten Linien zurückzuhalten nach dem Motto: Das überlassen wir Väterchen Frost, der erledigt das viel gründlicher als wir es könnten. Zwar schafften es Hitlers Truppen 1941 bis kurz vor Moskau, doch wurden sie dann, unter anderem Anfang 1943 in und vor Stalingrad*, wie Napoleons Soldaten am Ende restlos „geschafft". Als man Hitler von der Ostfront meldete, dass seine Soldaten frieren würden, ließ er sich in höchster Not dazu herab, im Radio deutsche Frauen und Mädchen aufzufordern, als Beitrag zum Kriegs-Winterhilfswerk nicht nur wie alle anderen Kleidung und Schuhe zu spenden, sondern auch fleißig Handschuhe und Strümpfe für seine Soldaten zu stricken – aus Wolle. Was bringt Wolle bei diesen Kältegraden und bei dieser Feuchtigkeit, das fragte ich mich schon damals. Die nicht für einen Winterfeldzug ausgerüsteten Soldaten froren sich im Schützengraben den Hintern ab, konnten sich nicht mehr erholen und nirgendwo aufwärmen. So sind sie reihenweise ausgefallen, krank geworden, gestorben. Deutlich wurde, dass Hitler die extremen Bedingungen völlig unterschätzt und gleichzeitig die Kampfkraft seiner Truppen überschätzt hatte. Der Strick-Appell des Führers tat mir weh, weil ich wusste, dass diese Aktion sinnlos war.
Dem Kälteproblem hätte man im Vorfeld schon ganz anders begegnen müssen. Es waren ja nicht nur die Soldaten, die in Eiseskälte verreckten, es waren auch die Motoren. Viele Fahrzeuge versanken schon auf dem Weg zu ihren Einheiten und Stellungen hoffnungslos im Morast. Im Schlamm eingefrorene Panzerketten machten Panzer bewegungsunfähig. Auch die Betankung der Fahrzeuge wurde zum Problem: welcher Tankwagen konnte dorthin gelangen, wo sich selbst Panzer festgefahren hatten, die überdies dem Feind nun ein leichtes Ziel boten? Die dem Hilfswerk von deutschen Wintersportassen gespendeten Skier dürften da kaum für mehr Bewegungsfreiheit gesorgt haben . . .
Die einzige Ohrfeige
Meinem Vater, fast zwei Meter groß, immer in Uniform und überzeugter Nazi, berichtete ich am Abendbrottisch, was der Hitler vorhin im Radio für einen „bestrickenden" Blödsinn erzählt hätte.
Da hob er schon die Hand, um mir eine zu klatschen. Wie ich es wagen könne, den Führer als „Blödsinn redend" darzustellen. Ich habe dann nochmal nachgelegt und ihm gesagt, der Hitler ist doch ein Idiot. Da hat's meinem Vater gereicht, und