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Eis und Dampf: Eine Steampunk Anthologie
Eis und Dampf: Eine Steampunk Anthologie
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Ebook320 pages10 hours

Eis und Dampf: Eine Steampunk Anthologie

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About this ebook

Im 9. Jh. n. Chr. ereignete sich in Island eine Serie von Vulkanausbrüchen, die eine Kaltperiode nach sich zog, die Entdeckung Amerikas verhinderte, durch Stürme auf dem Meer die Navigation mit Schiffen erschwerte und Nordeuropa mit Eis überzog. Europa versank in Territorial- und Religionskriegen.
Dampfkraft, Æronautik und Elektrizität läuteten eine Periode des wissenschaftlichen Fortschritts ein. Enormer Rohstoffbedarf auf der einen und erschwerte landwirtschaftliche Bedingungen auf der anderen Seite zementierten die Monarchie, die Konflikte der Adelshäuser und die Armut der Arbeiterklasse.
Eis und Dampf erzählt dreizehn Geschichten von zwölf namhaften Phantastik-Autoren, die die Welt des 2013 mit dem Deutschen Phantastik Preis ausgezeichneten Romans Die zerbrochene Puppe von Judith und Christian Vogt auf der Suche nach neuen Geschichten bereisten.
Dreizehn bisher unveröffentlichte Geschichten von Judith Vogts Der Puppenmacher, die auf den Spuren der beliebten friesischen Luftpiratin Tomke aus Die zerbrochenen Puppe wandelt und den Hintergrund der namensgebenden Puppe beleuchtet, über den unheimlichen Bericht der Entstehung der ersten Shellys bis hin zu Stefan Holzhauers Geschichte Das Ægyptische Axiom: Hochspannung ist garantiert.
Mit Beiträgen von Eevie Demirtel, Torsten Exter, Stefan Holzhauer, Ann-Kathrin Karschnick, Mike Krzywik-Gross, Christian Lange, Henning Mützlitz, Marcus Rauchfuß, Stefan Schweikert, Christian Vogt, Judith Vogt und André Wiesler.
LanguageDeutsch
Release dateDec 4, 2013
ISBN9783867622011
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    Eis und Dampf - Mike Krzywik-Groß

    Vogt

    Galileo starb zu Recht

    von Mike Krzywik-Groß

    Nennen sie uns Ziel und Zweck ihrer Flucht!"

    Ich blinzelte in das grelle Licht der Glühlampe, die auf mich gerichtet war. Ich saß gebeugt auf einem ungemütlichen Holzstuhl in einem kargen Büro. Meine Hände waren an die Lehne gefesselt. Mir gegenüber saß ein Mann mit tief gebräunter Haut, gekleidet in weite Gewänder, auf der Nase eine runde Brille. Seine Züge zeugten von innerer Ruhe und Ausgeglichenheit. Vor ihm lag eine offene Akte.

    „Ich möchte Asyl in Lybya beantragen", setzte ich zum wiederholten Male an.

    „Das habe ich verstanden. Ich bin Ihr Sachbearbeiter. Sie müssen mir allerdings Gründe nennen, warum das Freie Lybya Sie aufnehmen soll. Um unsere große Nation zu schützen, sind die Einwanderungsbeschränkungen sehr hochschwellig."

    „Weil ich verfolgt werde! Das sagte ich doch schon!" Langsam wurde ich wütend. Ich hatte viel durchgemacht, um es hier her zu schaffen, und jetzt das!

    „Ich schlage vor, Sie erzählen mir die ganze Geschichte noch einmal. Von Anfang an. Was denken Sie?"

    Ich hätte ihm am liebsten den Schädel eingeschlagen. Stattdessen schluckte ich meinen Ärger und begann, meine Geschichte zu erzählen.

    Der Gestank von Pulverdampf hing in der Nacht. Meine Sohlen schlitterten über das gefrorene Kopfsteinpflaster, als ich ihr nacheilte. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich jage sehr ungern Frauen. Nennen sie mich chauvinistisch, das bin ich gewiss, aber eine männliche Zielperson ist mir allemal lieber. Doch was tut man nicht alles, um ein paar Kröten zu verdienen?

    Das Schneetreiben hatte sich zu einem ausgewachsenen Sturm gesteigert. Dicke Flocken flogen mir ins Gesicht, so dass ich selbst die Pistole in meiner Hand nicht mehr sehen konnte. Doch ich wäre kein Finder geworden, wenn ich so schnell klein beigegeben hätte.

    Damals kannte ich ihren Namen noch nicht, wusste nicht viel mehr, als dass sie eine Diebin war. Eine niedere Verbrecherin, die sich am Wohlstand der Hansestadt bedient hatte – und ich war ihr auf der Spur.

    Sie sollte für den Meistbietenden arbeiten, wurde mir gesagt, was nicht ungewöhnlich für das Veneta dieser Tage war. Jeder in der Stadt arbeitete für den Meistbietenden, egal ob er mit Vitium-Öl, fortschrittlichen Schusswaffen, Drogen oder Menschen handelte. Die Stadt auf der Halbinsel Wolin war der Inbegriff des zügellosen Kapitalismus. Ein Moloch aus Gier und schnellen Geschäften. Niemand scherte sich um das Gemeinwohl, wenn das schnelle Geld lockte. Das Venedig des Nordens, wie manche Veneta nannten, zwischen dem behüteten Pommern und dem freien Polen. Meine Heimat.

    Für den Fall, dass das Gleichgewicht der Kräfte einmal ins Wanken geriet, hatten die Reichen und Mächtigen Venetas Leute wie mich. Ich arbeitete damals schon viele Jahre bei der Hanse-Sicherheit und galt als alter Hase unter den Findern – so nannten sie ihre Spürhunde. Unsere einzige Aufgabe bestand im Aufspüren Flüchtiger. Dafür gab man uns die neuesten Spielzeuge und modernsten Schusswaffen. Ich hatte das Recht, innerhalb der gesamten Hanse zu operieren, auch die Anwendung von Gewalt war mein täglich’ Brot. Somit war der Auftrag, die Diebin, die einen unbekannten Prototyp aus den Werkstätten der Ængländer gestohlen hatte, dingfest zu machen, nichts Besonderes. Reine Routine.

    Sie rannte zum gefrorenen Pier im östlichen Haff. Eine meiner Kugeln steckte in ihrer linken Schulter, doch das machte sie nicht langsamer. Ich folgte ihren weit auseinanderliegenden Fußspuren im Schnee, die von vereinzelten tiefroten Blutstropfen verbunden schienen. Doch ihr Ziel war weder der vereiste Hafen noch das unübersichtliche Stahlwerk, dessen Hitze selbst in dieser entlegenen Gasse zu spüren war und den Schnee schmolz. Nein, ihre Spur bog nach Süden ab, und erst als ich ihr nachlief erriet ich, wohin die Reise gehen sollte. Die Diebin steuerte den Bahnhof an.

    Mit flinken Fingern kramte ich meine Taschenuhr hervor. Ich öffnete den vergoldeten Deckel, ohne langsamer zu werden und betrachtete das künstlerisch gestaltete Zifferblatt: kurz vor Mitternacht. Kurz, bevor der letzte Zug die Stadt verließ!

    Ich beschleunigte meine Schritte, auch auf die Gefahr hin zu stürzen. Ich musste die Verbrecherin erreichen, ehe sie am Bahnhof eintraf.

    Schon sah ich das prächtige Gebäude mit der riesigen, freitragenden Kuppel. Trotz der späten Stunde drängte sich eine beachtliche Anzahl Reisender durch das schmale Tor. Ich stieß einige zur Seite. Anfangs hörte ich, wie sie mir Verwünschungen nachriefen. Doch als ich ihnen mit meiner nagelneuen Repetierpistole winkte, verstummte schnell jeder Protest. Zur Sicherheit hatte ich meine Hanse-Marke offensichtlich an den Gehrock geheftet. Ich durchquerte die Halle des Kopfbahnhofs und suchte die Bahnsteige ab. Nur noch eine große Lokomotive stand mit einem riesigen Anhang von Waggons abfahrbereit.

    Kurz darauf musste ich mir eingestehen, versagt zu haben. Unter gewaltigen Qualmwolken schob sich die tonnenschwere Dampflok aus dem Kopfbahnhof Venetas. Aus der Ferne konnte ich die junge Frau im veilchenblauen Kleid erkennen, die sich aus dem Fenster eines Waggons lehnte und mir zuwinkte, ehe sie ihr Gesicht unter Schmerzen verzog. Zumindest hatte sie ein Andenken von mir, dachte ich in Hinblick auf die Kugel in ihrer Schulter.

    Meine Vorgesetzten würden nicht begeistert sein.

    Als ich am nächsten Morgen das Luftschiff bestieg, war ich von einer Entschlossenheit erfasst, die ich in den letzten Jahren nur selten verspürt hatte. Ich hielt kurz auf dem Landungssteg inne und schaute über Veneta. Es war der amoralischste Ort, den ich kannte, und es war mein Zuhause. Ich würde diesen Moloch vermissen.

    Schnell stieg ich in den Linienflug, suchte mir ein Platz weit weg von den Fenstern – ich hasse Höhen – und öffnete meine Tasche. Ich zog die Akte hervor, die mir auf wenigen beschriebenen Blättern den aktuellen Vorgang näherbringen sollte. Ich schaltete die kleine Karbidlampe auf dem runden Bistrotisch ein und bestellte einen heißen Tee.

    Meine Zielperson hieß Aurora Garibaldi. Eine beigelegtes Bild lies mich die Frau vom Vorabend erahnen. Ich hatte während ihrer Flucht nur einen knappen Blick auf ihr Gesicht werfen können, doch ich war sicher, dass es sich um dieselbe Frau handelte. Auf dem blassen Lichtbild wirkte sie noch sehr jung. Dunkle Locken umrahmten ein rundes Gesicht mit großen, himmelblauen Augen. Die gebürtige Italienerin war einundzwanzig Jahre alt, wie die Akte verriet. Sie entstammte einer adligen Familie aus Florenz, hatte aber vor drei Jahren mit ihrer Familie gebrochen. Es folgten zahlreiche Anzeigen quer durch Europa. Die junge Dame hatte sich einer Frauenrechtsgruppe angeschlossen und machte überall Ärger, wo sie ihre Schritte hinlenkte. Ob Paris oder London, es spielte keine Rolle. Doch zwischen all den Verfahren wegen Ruhestörung, Verunglimpfung und Nötigung wirkte ein Diebstahlsdelikt merkwürdig fehl am Platze. Frau Garibaldi hatte es eigentlich nicht nötig, einen Prototyp zu stehlen.

    Was es damit auf sich hatte, entzog sich mir zu diesem Zeitpunkt. Ich wusste nur, dass es sich um eine Art Puppe handelte. Sie hatte die Größe eines einjährigen Kindes und sollte sehr lebensecht aussehen. Ein gewisser Professor Clockworth-Merenge war mit der Puppe in Veneta. Warum jemand ein Spielzeug stehlen sollte, teilte man mir nicht mit. Erst meine eigenen notdürftigen Recherchen verrieten mir, dass der Wissenschaftler geschäftlich in Veneta weilte und für eine ænglische Firma arbeitete.

    Es war eine magere Faktenlage. Wohin sie mit ihrer Beute wollte? Reine Spekulation!

    Ich hatte mir noch in der Nacht den Zugfahrplan angesehen. Die Dampflok brachte ihre Passagiere nach Stettin. Ich hielt es für recht unwahrscheinlich, dass Aurora Garibaldi direkt im nächsten Bahnhof ausstieg.

    Auch Dresden, der folgende Halt, schied für mich aus. Die Diebin wurde dort bereits wegen Aufwiegelei gesucht. Die Hansesicherheit hatte die örtlichen Kollegen informiert, die auf dem Bahnsteig Stellung bezogen hatten. Sollte Frau Garibaldi dort aussteigen, würden sie sie fassen.

    Als nächstes Ziel lag Prag auf der Strecke. Ich schüttelte innerlich den Kopf. Soweit ich wusste, wurde der Zug bei Einfahrt in die Stadt mit stahlverstärkten Panzerplatten vor den Fenstern geschützt. Niemand stieg in Prag aus. Nicht in diesen Zeiten.

    Blieben Viyana oder der Endbahnhof Venedig. Mein Gefühl lies mich schnell auf Letzteres tippen. Die Stadt lag nahe ihrer Florentiner Heimat und war eine ausgewiesene Handelsmetropole. Wenn ich einen Käufer für einen Prototyp hätte suchen müsste, ich hätte mich für Venedig entschieden. Obendrein war die Stadt bekannt für die dort regelmäßig stattfindenden wissenschaftlichen Veranstaltungen, wie den Internationalen Kongress der Gesellschaft für Außerordentliche Naturwissenschaften mit wechselnden Schwerpunkten.

    „Da wird sie hinwollen", dachte ich.

    Doch vielleicht nahm sie auch in Viyana den Anschlusszug in die Hansestadt Bratislava oder nach Zagreb. Eine Gefahr, die ich nicht vernachlässigen sollte. Also suchte ich mir ein schnelles Luftschiff und buchte den nächsten Flug nach Viyana. Mit etwas Glück würde ich eine Stunde vor Frau Garibaldi am Bahnhof ankommen. So hätte ich genug Zeit, mir ein Billet für den Zug nach Venedig zu kaufen. Das Zeitfenster war klein, aber vorhanden.

    Ich öffnete die Schmuckknöpfe meiner Weste, setzte den Zylinder ab und machte es mir bequem. Auch wenn ich eine Flüchtige verfolgte, würde dies wohl die entspannteste Dienstreise meiner Laufbahn werden. Ich ließ mir vom Oberkellner ein Glas eisgekühlten Wodkas bringen, lehnte mich zurück und genoss den Erste-Klasse-Flug.

    Am Abend des nächsten Tages ging das luxuriöse Luftschiff in den Sinkflug über. Ich hatte gerade ein paar Stunden geschlafen und kontrollierte mittels meiner Taschenuhr die Zeit. Es wurde knapp. Der Zug aus Veneta musste jeden Augenblick in den Bahnhof einfahren.

    Ich stand auf, nahm meine Reisetasche und sah aus einem der Panoramafenster. Unbemerkt von den Umstehenden hielt ich mich an einem der Geländer fest. Erwähnte ich schon, dass ich Höhen nicht mochte?

    Unter uns sah ich die Metropole an der Donau, die ehemals Wien geheißen hatte. Ich konnte mehr und mehr Einzelheiten der einzelnen Häuser ausmachen, je tiefer wir flogen. Erkannte sowohl Habsburger Prachtbauten wie auch die gewöhnlichen Häuser der Arbeiterklasse. Unverkennbar hatte das Osmanische Reich seine Spuren in der Baukunst hinterlassen. Zahlreiche Minarette schraubten sich wie Bäume in einem lichten Wald in die Höhe und konkurrierten mit den sakralen Bauten der Vergangenheit. Ich sichtete den Stephansdom. Mehr als hundertdreißig Meter ragte der Südturm in den Himmel und war lange Zeit das höchste Gebäude der Region gewesen. Doch die Zeiten der christlichen Märtyrer wie des Heiligen Sankt Stephanus hatte Viyana lange hinter sich gelassen. Mein Blick fiel auf das gewaltige Nachbargebäude, das die Szenerie dominerte. Die acht Minarette der riesigen Moschee überragten selbst den Dom um ein paar Dutzend Meter. Unzählige Kuppeln aus hellblauen Fliesen bildeten den Korpus des Gotteshauses, das dem Islam in Europa als spirituelles Zentrum diente.

    „Religion", dachte ich kopfschüttelnd und nicht frei von Herablassung.

    Zwischen all den Gebäuden, ob religiös oder profan, lagen zahlreiche Grünflächen. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass die verschneiten Wiesen Friedhöfe waren. Man sagt, in Viyana gebe es mehr tote Menschen als lebendige. Der Gedanke ließ mich schaudern.

    Ich knöpfte meine Weste zu, setzte meinen Zylinder auf und strich meinen Backenbart glatt. Ehe wir endgültig vor Anker gingen, suchte ich den Waschraum auf. Aus meiner Reisetasche fischte ich die doppelläufige Repetierpistole. Ich überprüfte den Selbstlademechanismus und den Schlagbolzen sowie die zwei Abzüge. Die Schusswaffe, ein Prototyp modernster Technik, war in einem tadellosen Zustand und wanderte ins Schulterhalfter. Ich schlüpfte in meinen schweren Gehrock, der mich nicht nur vor der Kälte Viyanas schützen, sondern auch neugierige Blicke von meiner Schusswaffe fernhalten sollte.

    Kurz darauf war das Luftschiff vertäut, und wir konnten von Bord gehen. Ich war einer der ersten, die den Landungssteg überwanden und schnellen Schrittes in Richtung Bahnhof steuerten.

    Nachdem ich mich an den Kontrollpunkten als Mitglied der Hanse-Sicherheit ausgewiesen hatte, ließ man mich rasch durch. Zwar hatte ich in Viyana keine Befugnisse, doch behandelte man mich als Kollegen bevorzugt. Ich eilte die Stufen hinunter zum Bahnhof.

    Zu meinem Erschrecken stand der Zug schon am Bahnsteig. Ich hatte keinen Zweifel, dass diese majestätisch anmutende Schönheit von einer Dampflok das gleiche Modell war, das mir in Veneta vor der Nase weggefahren war.

    Verdammt, ich war zu spät!

    Hektisch sah ich mich unter den Reisenden um. Doch ich konnte niemanden erkennen, der Aurora Garibaldi auch nur ähnelte. Meist handelte es sich um Männer in teuren Anzügen und mit stinkenden Haschischpfeifen. Eine junge Alleinreisende wäre mir aufgefallen.

    Der Schaffner sah auf die mannshohe Uhr am Kopf des Bahnhofs und nahm seine Trillerpfeife zwischen die Lippen. Ein schriller Pfiff erklang, um dem Lokführer zu signalisieren, dass der Zug weiter fahren konnte. Ich musste mich entscheiden. Suchte ich Frau Garibaldi weiter im Hauptbahnhof Viyana oder setzte ich alles auf die Karte Venedig und sprang noch rasch in den Zug?

    Die Dampflok spie große Mengen Qualms aus. Ein mechanisches Pfeifen ertönte, als wolle das Ungetüm dem dünnen Pfiff des Schaffners antworten und gleichzeitig klarmachen, wer der Herr im Haus der Töne war.

    Kurzerhand ergriff ich einen der glänzenden Messingbeschläge und zog mich in den nächstbesten Waggon. Dann also Venedig …

    Den Schaffner konnte ich mit pekuniären Anreizen davon überzeugen, mich mitzunehmen. Er hatte sogar ein kleines Abteil für mich frei. Ich denke, es war sein eigenes, und er ließ sich diesen Umstand fürstlich entlohnen. Mir war es egal, schließlich zahlte die Hanse, nicht ich.

    Ich verstaute meine Reisetasche und erkundigte mich zuvor nach der Reisedauer. Es würde einen vollen Tag in Anspruch nehmen, bis wir die Alpen überquert hatten und die Lagunenstadt erreichten. Mehr als genug Zeit, um die Passagiere des Zugs in Augenschein zu nehmen. Selbst wenn es mehrere hundert waren.

    Ich begann in den Großraumabteilen der Zweiten Klasse. Auf den einfachen Holzbänken saßen größtenteils Familien und Wanderarbeiter. Ihre Kleidung war einfach, ihr Gepäck umso größer. Die meisten schienen mit komplettem Hausstand zu reisen. Doch von Frau Garibaldi keine Spur.

    Rund die Hälfte des Zuges bestand aus teuren Abteilen für ein bis vier Personen. Es würde lange dauern, alle zu durchsuchen, selbst wenn mir jeder die Abteiltür öffnete, was ich bezweifelte. Wenn ich allerdings etwas hatte, dann war es Zeit. Sehr viel Zeit.

    „Signora Garibaldi, schön, Sie zu sehen", war das Geistreichste, was mir einfiel, als die junge Frau ihre Abteiltür öffnete. Ihre Pupillen weiteten sich vor Schrecken, als sie mir die Tür vor der Nase zuschlagen wollte. Doch ich war schneller. Mein Fuß verhinderte, dass sie mir den Durchgang vollends versperrte. Ich schob die Tür mit einem Stoß auf.

    Aurora Garibaldi taumelte in Richtung Fenster. Rasch schlüpfte ich in ihr Abteil und schloss die Tür hinter mir.

    Sie blickte sich um wie ein in die Ecke getriebenes Tier. Ihre dunklen Korkenzieherlocken tanzten einen wilden Reigen, während ihre Hände die Umgebung nach einer möglichen Waffe abtasteten.

    „Bleiben Sie ruhig, Signora. Ich möchte nur wiederhaben, was Sie gestohlen haben. Nicht mehr."

    „Einen Dreck wollen Sie! Wenn Sie haben, was Sie suchen, werden Sie mich töten!"

    „Ist Paranoia in Ihrer Familie erblich bedingt oder haben Sie sich diesen Irrsinn selbst zurechtgelegt? Um Himmels Willen, warum sollte ich Sie umbringen?"

    Aurora sah mich konsterniert an. Doch sie fand ihre Fassung schnell wieder. „Etwa, weil ich zu viel weiß? Ich habe alles gesehen und kenne Ihre schmutzigen, kleinen Geheimnisse! Die europäische Presse wird sich sehr dafür interessieren. Wenn Sie mich gehen lassen, werde ich jedem, den ich treffe, meine Geschichte und die des Prototyps erzählen."

    „Es ist ja sehr charmant, dass Sie mir Argumente servieren, warum ich Sie unbedingt beseitigen sollte, aber das interessiert mich nicht. Ich bin Kemil Tadeusz von der Hanse-Sicherheit in Veneta. Ich soll einen Diebstahl aufklären. Das ist alles."

    Sie musterte mich argwöhnisch.

    „Wenn Sie mir nun bitte das Diebesgut aushändigen würden und mich nach Veneta begleiten könnten, wird man Ihnen dort den Prozess machen."

    „Ich traue Ihnen nicht, Kemil Tadeusz. Was, wenn ich mich weigere?"

    „Oh, Sie müssen mir nicht trauen, ich nehme Sie auch gegen ihren Willen mit zurück an die Ostsee." Ich wollte gerade die Pistole ziehen, um meine Argumentationskette zu bestärken, da klopfte es an der Tür.

    „Erwarten Sie jemanden?", fragte sie.

    „Eigentlich nicht, wisperte ich. „Fragen Sie, wer da ist. Ich konnte es nicht erklären, aber mich beschlich ein ganz mieses Gefühl, das mich dazu bewog, noch vorsichtiger zu sein. Ich zog meine Waffe mit dem doppelten Lauf aus dem Holster und spannte die Hähne.

    Frau Garibaldi sah mich erschrocken an, fragte aber mit fester Stimme in Richtung Abteiltür: „Wer ist da?"

    „Bordservice. Ich bringe Ihnen ein Freigetränk", erklang eine Stimme mit breitem ænglischem Akzent. Ein leises Klacken war zu hören.

    Die Assoziationen purzelten förmlich durch meinen Kopf: Ængland Prototyp, Klacken Muskete. Scheiße!

    Ich warf mich nach vorne und brach mit der Schulter die Tür aus den Angeln. Mit einem geräuschvollen Knirschen flog sie in den schmalen Flur. Ich sah im letzten Augenblick, wie ein Mann mit einer langläufigen Muskete auf mich und die Tür zielte, ehe selbige ihn von den Füßen riss. Aurora schrie vor Schreck. Die Tür begrub den Ængländer unter sich. Ich sprang darauf und stampfte mit beiden Füßen so fest auf, dass das Holz unter mir splitterte. Ein Schmerzensschrei ertönte.

    Im nächsten Augenblick peitschte ein Schuss an mir vorbei. Die Kugel verfehlte mein Ohr nur um wenige Zentimeter. Ich riss die Repetierpistole herum und feuerte beide Läufe synchron ab. Am Ende des Gangs wurde ein Mann von den Projektilen getroffen und zu Boden geworfen. Eine Kugel durchschlug seine Lunge, die zweite steckte in seinem Bauch. Der Gestank von Schwarzpulver breitete sich aus.

    „Verdammter Mist, entfuhr es mir. „Wir müssen verschwinden!

    „Sie sind ja witzig, wir befinden uns in einem fahrenden Zug", antwortete Aurora.

    Ich überlegte kurz, ehe ich entgegnete: „Nicht mehr lange."

    Ich griff nach ihrem Unterarm, um sie auf den Gang zu ziehen. Sie hielt kurzzeitig meinem Druck stand und angelte mit der linken Hand eine Kinderpuppe unter dem Sitz hervor. Sie sah lebensecht aus, und ich hätte schwören können, dass sich die kleinen Knopfaugen zu mir drehten.

    Aber wir hatten keine Zeit für solchen Unfug. Aurora Garibaldi gab meinem Zerren nach und folgte mir durch den Gang. Der Angreifer, der unter der Abteiltür vergraben lag, stöhnte auf. Er war noch nicht ganz außer Gefecht. Anders stand es um seinen Kameraden am Ende des Ganges. Deutlich sah ich, wo meine beiden Kugeln sein Fleisch durchschlagen hatten und wo das Rot seines Blutes die Teppiche des Zuges tränkte.

    Ehe wir an dem Sterbenden vorbei waren, hielt ich kurz inne und kniete nieder.

    „Was tun Sie denn da? Wir müssen hier weg, haben Sie gesagt", drängte Aurora.

    „Einen kleinen Augenblick noch. Ich zog dem Mann eine blinkende Marke aus der Westentasche. Sie war auf einem ledernen Ausweis aufgenäht. Darauf stand in silbernen Lettern „Europäische Gesellschaft zur Beantwortung moralischer Fragen.

    „Jetzt haben wir wirklich Probleme."

    „Was haben Sie entdeckt?"

    „Die Burschen gehören zu den Weißen Westen, militante Konservative."

    „Was wollen die von mir? Ich habe nichts Unrechtes getan!", rief sie unschuldig.

    „Es ist keine Frage von Recht und Unrecht, sondern von Moral und Anstand, zitierte ich das Motto der aus Ængland stammenden Gemeinschaft. „Ich denke, Sie haben in den letzten Jahren allein mit ihrem Lebenswandel so einigen Staub bei denen aufgewirbelt. Sie sind eine Krawallmacherin.

    Aurora schnitt eine Grimasse.

    „Tun Sie nicht so! In der Hälfte der europäischen Hauptstädte sucht man Sie per Haftbefehl. Anscheinend geht es den Weißen Westen nicht schnell genug."

    Ich hörte Schritte im Gang. Ich lief los und hielt Frau Garibaldi weiter am Arm fest. Wir durchquerten zwei Wagen, bevor ich in einem Zwischenabteil stehenblieb.

    Ich ließ von Aurora Garibaldi ab und sah mich suchend im Raum um, ehe ich das fand, wonach ich suchte. An der Decke des Eisenbahnwagens war eine Notleiter befestigt. Sie führte durch eine Wartungsluke auf das Dach des Zuges. Ohne darüber nachzudenken, ob es eine gute Idee war oder nicht, sprang ich nach oben und hängte mich an die unterste Sprosse der ausziehbaren Leiter. Mittels meines Körpergewichts zog ich sie herab.

    „Rauf da, schnell!", drängte ich.

    „Was haben Sie vor?"

    „Daran arbeite ich noch. Wir müssen erst mal raus aus dem Zug."

    Im selben Moment erklang ein Schuss. Neben mir splitterte das Holz der Wandvertäfelung. Am Ende des Ganges sah ich den Ængländer, der eine heftige Begegnung mit der Abteiltür gehabt hatte. Seine Lippe blutete. Doch was mir viel mehr ins Auge sprang, war die Büchse in seinen Händen.

    In schneller Folge gab ich drei Schüsse in seine Richtung ab. Ich hatte nicht die Hoffnung, ihn zu treffen. Er sollte nur einen Moment den Kopf unten behalten.

    Er tat uns den Gefallen, und Frau Garibaldi nutzte die Zeit. Sie klemmte sich die Puppe unter den Arm und erstieg die Leiter. Ich ließ eine weitere Kugel auf den Angreifer los, bevor ich der Frau folgte.

    „Ich bekomme die Luke nicht auf!", ertönte ihre Stimme über mir.

    „Weg da! Ich zielte nach oben und schoss auf die Verriegelung. Das Projektil durchschlug das Metall. „Besser als jeder Schlüssel.

    Aurora stieß die Luke auf und zog sich aufs Dach des Zuges. Sie verschwand aus meinem Sichtfeld. Eiskalter Wind und vereinzelte dünne Schneeflocken drangen ins Abteil. Darüber sah ich die Sterne am Nachthimmel.

    Ich wollte ihr gerade folgen, als erneut das Donnern einer Waffe erschallte. Brennender Schmerz stach in mein Bein. Nur mit Mühe konnte ich mich an der Sprosse festhalten. Blut sickerte durch mein Hosenbein.

    Ich sah, dass der Mann mit dem Nasenbluten Verstärkung bekommen hatte. Drei weitere Weiße Westen strömten finster dreinblickend in das Zwischenabteil. Die Läufe ihrer Schusswaffen zeigten auf mich. Die Erkenntnis traf mich ebenso hart wie zuvor die Kugel: Ich war erledigt.

    Die Männer kamen langsam näher. Sie waren gekleidet wie Herren von Welt. Anzug, Weste und Schlips. Anhand ihrer Bewegungen konnte ich sehen, dass ich es nicht mit verblendeten Hitzköpfen zu tun hatte. So wie sie sich verteilten und gegenseitig Deckung gaben, bestand kein Zweifel daran, dass es sich um Profis handelte. „Fanatische Profis", korrigierte ich mich.

    „Es ist aus, Mister Tadeusz. Legen Sie die Waffe weg und machen Sie die Leiter frei", sagte ein Grauhaariger mit fein säuberlich gestutzten Vollbart und tiefer Stimme.

    Verdammt, sie wussten, wer ich war.

    „Was ist, wenn ich beschließe, stattdessen ein bis zwei von ihnen mit in die Hölle zu nehmen?"

    „Ich kann Ihnen nur sagen, dass das die Mühe nicht wert ist. Nach unseren Informationen arbeiten Sie für Geld und

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