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Der Schmuggel über die Zeitgrenze: Erinnerungen
Der Schmuggel über die Zeitgrenze: Erinnerungen
Der Schmuggel über die Zeitgrenze: Erinnerungen
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Der Schmuggel über die Zeitgrenze: Erinnerungen

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About this ebook

Im ersten Band seiner Erinnerungen beschäftigt sich Chaim Noll mit seiner Kindheit im geteilten Berlin. Noll, der vor zwanzig Jahren nach Israel auswanderte und heute in der Wüste Negev lebt, wuchs in Ost-Berlin auf, als Sohn des bekannten DDR-Schriftstellers Dieter Noll, der zur privilegierten Führungsschicht des Landes gehörte. Doch nur vordergründig ist dieser Band eine Auseinandersetzung mit dem politischen System im Osten Deutschlands, gegen das Noll als junger Mann opponierte, bis er im Winter 1983 - nach Versuchen der Staatssicherheit, sich seiner Manuskripte zu bemächtigen - sein erstes Buch von Diplomaten in den Westen schmuggeln ließ und selbst einen Ausreiseantrag stellte.
Vor allem erzählt Noll die Geschichten von Menschen, prominenten und unbekannten, denen er im damaligen Berlin begegnete, und erinnert an die aufregende Geschichte seiner Geburtsstadt, die er noch heute für ihren Überlebenswillen bewundert. Nolls Erinnerungen sind spannend, zugleich warmherzig erzählt, klar formuliert und frei von Betulichkeit.
LanguageDeutsch
Release dateApr 2, 2015
ISBN9783957321039
Der Schmuggel über die Zeitgrenze: Erinnerungen
Author

Chaim Noll

Chaim Noll, ehemals Hans Noll, geboren 1954 in Berlin als Sohn des DDR-Schriftstellers Dieter Noll, studierte Mathematik an den Universitäten Jena und Berlin sowie Kunst und Kunstgeschichte. 1980 verweigerte er den Wehrdienst, stellte 1983 einen Ausreise-Antrag und übersiedelte mit seiner Familie 1984 nach West-Berlin, später lebte er in Stuttgart. Er arbeitete von 1988 bis 1991 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin (Literatursoziologie), ging aber 1992 nach Rom, wo er bis 1995 freiberuflich tätig war. 1995 übersiedelte er mit seiner Familie nach Israel und seit 1997 lebt er in der Wüste Negev. Seitdem war er bis 2019 Writer in Residence und Dozent am Center for German Studies an der Ben Gurion University, Beer Sheva, Israel, und hatte Gastdozenturen an verschiedenen ausländischen Universitäten inne. Noll ist Autor zahlreicher Buch- und Medienveröffentlichungen.

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    Der Schmuggel über die Zeitgrenze - Chaim Noll

    Der Schmuggel über die Zeitgrenze

    In meiner Kindheit war viel von Polen die Rede – von dort stammen die meisten meiner Urgroßeltern. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts müssen sie eingewandert sein. Viel konnte ich nicht darüber in Erfahrung bringen, in der Familie herrschte ein Hang zum Verschleiern des Vergangenen.

    Die Eltern meiner Berliner Großmutter kamen als junge Leute nach Berlin, die Stadt verkörperte damals Hoffnung und Zukunft, wie das ganze Deutsche Reich der siebziger, achtziger Jahre, eben durch einen sensationellen Sieg über Frankreich zustande gekommen, im wirtschaftlichen Aufschwung, eine kommende europäische Macht. Erst damals fand Berlin seine eigentliche Gestalt. Die neue Reichshauptstadt erlebte einen »Bauboom«, dehnte sich aus, es gab Arbeit, von überall strömten junge Menschen herbei, um ihr persönliches Glück auf das der Stadt zu gründen.

    Die meisten Berliner waren von »auswärts«, noch heute erinnern viele Berliner Familiennamen an die polnische, schlesische, tschechische, jüdische Herkunft. Meine Urgroßeltern, wie viele andere, lösten sich aus ihrer früheren Identität, um in eine neue zu schlüpfen. Sie bemühten sich darum, »richtige Berliner« zu werden, Deutsche von der neuen, aufsteigenden Art. In ihren Kreisen betrug man sich »anständig«, das hieß zurückhaltend und dezent. Der Erwerb höherer Bildung war mühsamer als heute und galt als Ideal. Über bestimmte Dinge wurde einfach nicht gesprochen, zum Beispiel über Sex oder darüber, wie viel oder wenig Geld man hatte. Man erzählte auch nicht jedem, woher man kam, und Polen gehörte nicht zu den Herkunftsländern, die viel Eindruck machten.

    Meine Großmutter wurde schon in Berlin geboren, genau zur Jahrhundertwende. Der junge Mann, den sie in Berlin kennenlernte, mein Großvater, war Schweizer, in ihren Augen »eine gute Partie«. Er kam aus Basel und arbeitete als Ingenieur für eine im Aufstieg befindliche deutsche Firma. Die Schweizer Staatsbürgerschaft, die Schweizer Beziehungen erwiesen sich später als lebensrettend. In das brünette Fräulein »mit den sprechenden Augen«, wie meine Berliner Großmutter sich selbst als junge Frau beschrieb, verliebte er sich bei den allmorgendlichen Begegnungen auf einer Brücke über die Spree – eine »Straßenbekanntschaft«, wie seine Schweizer Schwestern, Cousinen und Tanten mit spürbarer Missbilligung anmerkten. Meine Großmutter lachte darüber. Sie war ihrem angehenden Ehemann nur deshalb jeden Morgen auf der Brücke begegnet, weil sie schon als junge Frau »tüchtig«, das heißt berufstätig war. Sie arbeitete in Wolffs Telegraphischem Büro als Dolmetscherin für Englisch und Französisch, und war darauf sehr stolz.

    Die Familie meines Vaters stammt aus Sachsen und Schlesien. Die väterlichen Großeltern, nach Verfolgung und mehrfachen Umzügen, lebten in Chemnitz. Mein Vater wurde etwa zwei Jahre vor meiner Geburt von der Universität Jena nach Berlin geholt, um Redakteur der Zeitschrift Aufbau zu werden. In der Redaktion lernte er meine Mutter kennen, die dort nach dem Abitur als Volontärin arbeitete. Als ich geboren wurde, war meine Mutter zwanzig, mein Vater siebenundzwanzig Jahre alt – für heutige Verhältnisse junge Eltern. Ich war ihr erstes Kind und wurde an einem heiteren Sommertag, dem 13. Juli 1954, gegen neun Uhr morgens im Krankenhaus Friedrichshain in Berlin geboren. Nach Auskunft meiner Mutter wog ich achteinhalb Pfund und maß vierundfünfzig Zentimeter, ein großes, kräftiges Baby. Fotos zeigen mich fast immer guter Laune. Ich hatte allen Grund dazu: Seit dem ersten Tag umgaben mich Liebe und Wohlwollen – jetzt, wo ich da war. Vor meiner Geburt hatte es Kämpfe in der Familie gegeben, ob ich überhaupt zur Welt kommen sollte. Doch davon erfuhr ich erst später. Mein Vater fuhr mit der S-Bahn in den Westen der Stadt, um Alete Babykost für mich zu kaufen, Bananen, Orangen und alles, was es im Osten nicht gab.

    Berlin lag damals in Trümmern. Schutthaufen säumten die Straßen, viele Häuser waren Ruinen. Kinderaugen erschienen diese Straßen unendlich lang und leer. Auch die Erinnerung an Staub ist sehr deutlich, an hellen, kalkigen Staub, der die dunklen Schuhe, die wir meist trugen, mit einem Film überzog. Nur langsam erholte sich die Stadt von ihrem Untergang als »Reichshauptstadt« einige Jahre zuvor. Berlin war die deutsche Stadt, der die meisten alliierten Luftangriffe gegolten hatten, der letzte am 19. April 1945. Insgesamt über dreihundert Angriffe, bei denen Zehntausende Tonnen Bomben abgeworfen wurden. Schon das Wegräumen der Trümmer war eine gigantische Arbeit. Man klopfte den Mörtel von Hunderttausenden Ziegelsteinen, um sie erneut verwenden zu können. Die Ziegel wurden in langen Menschenketten von Hand zu Hand durch die Trümmer gereicht und am Straßenrand aufgestapelt. Wie immer nach Kriegen waren die Männer rar, da­her mussten Frauen schwere körperliche Arbeit verrichten. Viele Berlinerinnen bekannten zeitlebens mit Stolz, »Trümmerfrau« gewesen zu sein.

    Im Wirrwarr der Stimmungen dieser Jahre überwog der Über­lebenswille. Über die Katastrophe wurde ungern gesprochen, allenfalls in Andeutungen. Zuerst müsse man, sagten die Erwachsenen, schnell »wieder auf die Beine kommen«. Die politischen Verhältnisse standen dem in gewisser Weise entgegen: Deutschland war ein von fremden Armeen besetztes Land, das einen Krieg verloren hatte. Was immer geschehen sollte, musste von den vier Besatzungsmächten genehmigt werden, die Berlin, die gefallene Hauptstadt, unter sich aufgeteilt hatten, in vier Sektoren.

    Wir lebten im Stadtteil Prenzlauer Berg, im sowjetischen Sektor. Die Wohnung lag in einem Viertel relativ neuer Häuser, gebaut in Form eines mehrfach geöffneten, einen Park umschließenden Rechtecks zwischen Grell-, Gubitz-, Hosemann- und Erich-Weinert-Straße, nahe der Greifswalder, der großen Magistrale nach Norden. Bis auf wenige Narben im Putz waren die Häuser un­be­schädigt, anders als die in der benachbarten Naugarder oder Rietze­straße, deren Bausubstanz die für Prenzlauer Berg typische war: der Raum zwischen den Straßenfassaden mit Hinter- und Quergebäuden zugebaut, einst ein dichtes steinernes Netz. In dem nun große Lücken klafften. Heute, so zeigen mir Satellitenbilder im Inter­net, ist ein Großteil dieser Innenflächen begrünt. Damals wa­ren es Trümmerhaufen, gesperrte Gelände mit verschütteten Kellern, ausgebrannte Hinterhäuser mit hohlen Fenster­öffnun­gen, Brandmauern, geschwärzt von den Feuerlohen der Bombennächte.

    Der Geruch nach Feuer und Asche hatte sich in die Gemäuer eingefressen. Wir Kinder kletterten trotz der Verbotsschilder auf Schutthaufen und wagten Exkursionen in vom Feuer ausgehöhlte Gebäude. Zum Brandgeruch kam, je mehr wir uns den Ruinen ­näherten, der penetrante Gestank von Kalkstaub und feuchtem Mörtel, von Moder, Urin und dem Unsäglichen, das sich in den düsteren Gemäuern verbergen mochte. Immer wieder entdeckte man Skelette in den früheren Luftschutzkellern, denn oft waren die Keller, Zuflucht der Bombennächte, zu Gräbern geworden. Schaurige Geschichten wurden erzählt: Beim Öffnen oder Sprengen einer stählernen Eisentür hätte man Erstickte gefunden, Keller voller Leichen, gespenstisch gebleicht durch herabfallenden Kalk und Schimmel. Die Leichen, hieß es, »zerfielen« in dem Augenblick, in dem sie mit frischer Luft in Berührung kamen. Manchmal war es gelungen, vorher ein Foto zu schießen, mit Blitzlicht, im undurchdringlichen Dunkel der unterirdischen Räume. Da saßen sie auf Bänken entlang der Wände, Frauen, Kinder, alte Leute, nahe der Tür der Luftschutzwart mit der Hakenkreuzbinde am Arm, alle in Mäntel und dicke Wolle gehüllt, die Frauen mit Kopftüchern, die Kinder mit Mützen, vermummt, in sich zusammengesunken, und waren allesamt erstickt.

    Derlei packte meine Fantasie. Ich hatte nie in einem Luftschutzkeller gesessen und stellte es mir grauenhaft vor. Wegen der Enge, der Unentrinnbarkeit. Wenn man es geschickt anstellte, konnte man die Erwachsenen zum Reden bringen, über die Bombennächte und Luftschutzkeller, die gegen Ende des Krieges eine alltäglich aufgesuchte Einrichtung waren. Die Kinder, hörte ich, ­hätten dort gespielt. Die Frauen Neuigkeiten und Klatsch ausgetauscht, zwischen Halbwüchsigen sei es zu verstohlenen Berührungen, ersten Küssen im Kellerdunkel gekommen. Und immer wären dort Menschen »verschüttet« worden, mit unterschiedlichem Ausgang. Die Geretteten litten oft für den Rest ihres Lebens unter Angst, Albträumen und Panikattacken. Wenn sich jemand sonderbar benahm, zu unkontrollierten Zuckungen, hysterischen Zuständen neigte, hieß es entschuldigend: Er oder sie »war ­verschüttet«. Die spärlichen Erzählungen, die vor dem Hintergrund der Schuttberge, der ragenden Brandmauern, Ruinen und mit Stahltüren versehenen Kellergänge suggestiv und vollkommen realistisch wirkten, haben bei mir tiefen Eindruck hinterlassen. Bis heute meide ich enge Räume, Partys, Einkaufszentren, überhaupt Menschenansammlungen, sitze nicht gern in Flugzeugen, Schnellzügen, lebe in der Wüste, in Weite und Wärme, möglichst bei geöffneten Fenstern und Türen.

    Die Trümmergrundstücke waren auch deshalb zu meiden, weil man dort in die Tiefe stürzen und verunglücken konnte. Selbst im weniger schlimmen Fall, wenn man den Sturz überlebte und verletzt in einem dunklen Loch liegen blieb, würde den um Hilfe ­Rufenden wahrscheinlich niemand hören – auch das eine albtraumhafte Vorstellung. Und dann hieß es, dort trieben Sittlichkeitsverbrecher und Mörder ihr Unwesen, lockten ahnungslose Kinder in zerbombte Häuser und Keller. Zweierlei wurde mir früh eingeschärft: nicht mit »Fundmunition« zu spielen – womit die vielen herumliegenden Patronen und Sprengkörper gemeint waren – und niemals, unter keinen Umständen »mit fremden Männern« mitzugehen. In Hamburg hatte sich einige Jahre vor meiner Geburt eine Serie rätselhafter Morde ereignet, die Leichen wurden in Ruinen gefunden. Man fahndete nach dem Mörder in Bahnhofsgaststätten, Wartesälen, Bunkern und anderen unheimlichen Stätten, an denen sich Obdachlose aufhielten. Millionen Deutsche lebten ohne festen Wohnsitz, bewegten sich als Flüchtlinge oder »Ausgebombte« durch die vier Besatzungszonen. Als besonders gefährlich galten die unterirdischen Teile der Trümmerwelt. In einem damals verbreiteten Rundschreiben der Polizei wurde geraten, »auf der Straßenmitte zu gehen, um nicht aus einem Kellerloch angesprungen zu werden.«

    Viele Menschen galten als »vermisst«. Ich ließ mir von den Eltern erklären, was das hieß: Man wusste nicht, ob sie noch lebten oder »umgekommen waren«. Man sagte in diesem Fall »umgekommen«, nicht »gestorben«, um anzudeuten, dass ihre Todesart – falls sie tot waren – eine tragische, vielleicht gewaltsame war. Das Wort »vermisst« kannte ich aus dem Radio, wo der Suchdienst des Roten Kreuzes täglich von unbeteiligten Sprecherstimmen lange Listen verlesen ließ, Namen von Menschen, die als »vermisst« gemeldet wurden. Diese Sendungen überfielen uns überraschend, mitten im Programm, nach einem Musikstück oder einer heiteren Plauderei, und wirkten deshalb umso gruseliger. Besonders schrecklich fand ich, dass unter den Vermissten viele Kinder waren. Auch Bauersfrauen, zum letzten Aufgebot geholte Hitlerjungen, Volkssturm-Männer. Die Stimme las den Namen vor, dann die Mitteilung: »Zuletzt gesehen am …«, es folgten Zeit und Ort. Manchmal Besonderheiten, auffallende Kennzeichen, sichtbare Anomalien, Behinderungen – auch das wirkte in diesem Zusammenhang bedrückend. Der Zeitpunkt, zu dem sie das letzte Mal gesehen worden waren, lag irgendwann in den letzten Jahren des Krieges oder des großen Durcheinanders, das darauf folgte. Die Orte meist in Deutschlands verlorenen Ostgebieten, aus denen Hunderttausende in Panik vor der anrückenden Roten Armee geflohen oder gewaltsam vertrieben worden waren. Manchmal auch in Gegenden, deren bloßer Name beim Zuhören Gruseln erregte wie »Skagerrak« oder »Kattegat«.

    Die Ängste meiner Kinderzeit waren zu einem Gutteil Ängste der Erwachsenen, die an uns weitergegeben wurden. Es waren ­lebhafte Ängste, sie fanden Ausdruck in drastischen Worten. Lässt sich ein Ort denken, der tiefer verstört, mehr von Angst beherrscht wäre, als ein Land, das eben einen Krieg verloren hat? Noch dazu einen Krieg, den man selbst begonnen hatte … Warum eigentlich? Darüber wollte niemand sprechen. Über die ganze Hitler-Zeit wurde ungern gesprochen. Wie in manchen Familien ein Onkel oder Schwager nicht erwähnt wird, weil er Trinker ist oder kriminell oder aus anderen Gründen beschämend. Die Bombennächte wurden dargestellt wie eine schicksalhafte Katastrophe, ihre Vorgeschichte, der Weg, der dorthin geführt hatten, blieben möglichst unerwähnt.

    Es war, als lebten wir auf einem Tell, einem Hügel über einer zerstörten Stadt, voller Trümmer, die über das Geschehene Aufschluss zu geben vermochten und die dennoch – oder gerade deswegen – niemand ausgraben wollte. Auf diesem brüchigen Untergrund verbrachte ich eine behütete, fast idyllische Kindheit. Unser »Karree« – so sagte man damals in Berlin zu einem Häusergeviert – war von Bombentreffern verschont geblieben, auch die parkähnliche Grünanlage, die es umschloss. Die Anlage spannte sich weit genug, um mir die Illusion von Landleben zu vermitteln, von Wiese, Obstgarten und Gehölz. Ich erinnere mich an Sommernachmittage, die ich liegend im Gras verbrachte, zwischen wilden, duftenden Blumen, mit Blick in den Himmel, an dem silberblasse Cumuli trieben, mit der Beobachtung von Bienen, Hummeln, Käfern, Schmetterlingen beschäftigt, ein kleiner, für sich bestehender Kosmos, der sich für das lärmende Leben der Menschen, für ihre Häuser, Bahnen, Autos nicht interessierte. Er glich den Zeichnungen im »Ameisen-Ferdl«, einem tschechischen Kinderbuch, dessen Autor und Illustrator Ondřej Sekora erklärtermaßen ein Pendant zu Micky Maus schaffen wollte, eine sozialistische Alternative zu der im Westen der Stadt beliebten, im Osten als Ausbund des Amerikanismus verrufenen Welt der Disney-Comics. Womöglich war die Ameise Metapher für das menschliche Dasein in zerstörten Städten. Sie war dünn, drahtig, ein Arbeitstier, mit schweren körperlichen Arbeiten beschäftigt wie viele Menschen dieser Tage. Sekoras Kinderbücher wirkten sympathisch und mitfühlend, wir liebten sie sehr. Der Autor war Kommunist geworden, nachdem er und seine Frau die Konzentrationslager der Nazis überlebt hatten.

    Einige Nachbarn pflanzten gleich hinter den Häusern in umzäunten Gärten – von der »Kommunalen Wohnungsverwaltung« an sie verpachtet – Obstbäume, Johannis- und Stachelbeersträucher, Blumen, Rhabarber, Spinat. Man handelte damit. Körbe voller Gurken, Möhren, Salatköpfe wechselten den Besitzer, auch das erinnerte an Dorfleben. In den Jahren des Mangels hielten viele Berliner Hühner oder Kaninchen. Fotos zeigen mich in einem der Gärten, in einer Kinderbadewanne sitzend, mit hölzernen Schiffen spielend. Bäume spenden Schatten an diesem heißen Tag, um mich Rasen, Blumenbeete. Alles mitten in der Stadt. Wir spielten dort im Grünen oder vorn auf der Straße – damals keine große Gefahr, wenig befahren, und wenn, von langsamen Autos und Pferdefuhrwerken.

    Der größte Teil unserer Anlage war öffentlich, mit langen Wegen zwischen Büschen und Bäumen. Auf offenen Plätzen hatte man Wippen und Schaukeln aufgestellt, auch »Kloppstangen«, eiserne Gestelle, an denen die Teppiche aufgehängt und ausgeklopft wurden (elektrische Staubsauger galten als unerhörter Luxus), mit einem Instrument aus Rohr, elastisch, kompliziert geflochten, überaus haltbar, das »Ausklopfer« hieß, in Berlin »Ausklopper«. Manche Erwachsene benutzten ihn auch zur Erziehung ihrer Kinder – so wurde erzählt. Ich versuche mich zu erinnern, ob ich es je mit eigenen Augen gesehen habe. Da meine Eltern modern und aufgeschlossen waren, Anhänger des berühmten sowjetischen Pädagogen Makarenko, wurden wir, mein zwei Jahre jüngerer Bruder und ich, selbstverständlich nie »verkloppt«.

    Mein Bruder war zwei Jahre nach mir geboren worden. Ich nahm ihn erst richtig zur Kenntnis, als ich mit ihm spielen konnte. Seit er da war, hieß es »teilen«, jede Süßigkeit, jede Banane – die Eltern legten großen Wert auf diesen Vorgang. »Gib ihm etwas davon ab«, hieß es, wann immer ich etwas geschenkt bekam. Ein Mensch, der alles für sich behalten wolle, lernte ich, sei dumm, er könnte niemals Freunde haben und verurteile sich selbst zur Einsamkeit. Bald entdeckte ich im Abgeben und Teilen ein Vergnügen, das den Verlust aufwog: Es machte mehr Spaß zu zweit. Wenn wir eine Süßigkeit teilten und zusammen aßen, konnten wir uns darüber austauschen, wie gut sie schmeckte. Erst durch Blicke, Gesten und Geräusche, später durch Worte. »Meckt«, erklärte mein Bruder, und auch mir schmeckte die Schokolade dann irgendwie noch besser. Je mehr er Sprechen lernte, umso größer das gemeinsame Vergnügen, Mein Bruder und ich haben bis heute eine gemeinsame Sprache. Trotz großer Unterschiede, Meinungsverschiedenheiten, fast entgegengesetzter Lebensweisen können wir immer miteinander reden.

    Der kleine Bruder ging mit mir zum Spielen, mir wurde eingeschärft, auf ihn aufzupassen, und später, als er dazu halbwegs selbst imstande war, mit ihm »zusammenzuhalten«. Das gehöre sich so unter Brüdern. Falls es Ärger mit anderen Kindern gab, an der »Kloppstange« und anderswo, hieß es summarisch: »Wenn andere euch angreifen, haltet zusammen.«

    Die »Kloppstange« war ein primitives Turngerät, Treffpunkt der Kinder des Häuserblocks. Man hing dort kopfüber und schaukelte, dieses Kunststück wurde »Schweinebammel« genannt, angeregt von den Schweinehälften, die im Schlächterladen »bammelten«, auf eiserne Haken gespießt, und mein kindliches Entsetzen erregten. Die Leute um uns aßen viel Schweinefleisch, als Wurst, Kotelett, Schnitzel oder Gehacktes, als Eisbein oder Schweinebauch mit Grünkohl, sie aßen es bedenkenlos, wollten nach den Hungerjahren des Krieges schnell Gewicht zulegen, das köstliche Gefühl der Sättigung erleben.

    Wenn Mädchen an der Kloppstange bammelten, fielen ihnen die Röcke über die Köpfe, man sah ihre Schlüpfer und nackten Beine, eine Attraktion für die Jungs, die um das Gerät herumstanden und Witze rissen. Wir trugen damals Lederhosen, es war noch vor dem Siegeszug der Jeans. Lederhosen galten als praktisch, da sie schwerer zu zerreißen und zu durchlöchern waren als Tuchhosen. Man wirtschaftete sparsam: Eine Hose wurde auf Zuwachs gekauft und musste ein paar Jahre halten. Oft wurde sie, grau, abgeschabt, voller Narben, an jüngere Geschwister vererbt.

    Während sich die größeren Kinder an der Kloppstange trafen, dort turnten, redeten, stritten und die grausamen, schmerzhaften Kabalen der Kinderzeit austrugen, war der Treffpunkt der kleineren Kinder der Buddelkasten, ein flacher Verschlag aus Brettern, grob gezimmert, zwischen die feiner weißer Sand geschüttet wurde, Sand wie am Meer, das die meisten von uns noch nicht kannten. Reisen, auch Ferienreisen, kamen erst allmählich wieder auf. Nach Jahren der Kriegswirren, Flüchtlingsströme, Völkerwanderungen war man fürs Erste froh, an einem festen Ort zu sein. Auch im Buddelkasten spielten Jungs und Mädchen getrennt, die Mädchen »Einkaufsladen«, »Puppendoktor« und Ähnliches, die Jungs Kämpferisches. Offenes Kriegsspielzeug war in diesen Jahren verpönt, galt geradezu als anstößig. Daher kam das Indianerspielen in Mode, eine vergleichsweise unverfängliche Sphäre, obwohl auch sie ins Kriegerische überging. Aus den Westzonen der Stadt wurden amerikanische Trommelrevolver (»mit Knallplätzchen«) mitgebracht, Indianerkostüme, Trapperhüte und Federschmuck. Zum Spielen im Buddelkasten oder zu Hause gab es aus Pappmaché, später aus Plastik hergestellte kleine Indianer, manche auf Pferden, dazu Zelte, Totempfähle, Palisaden, Grenzfestungen aus Holz, auch Squaws und Cowboys, mit denen wir Kampfspiele austragen konnten, ohne dass richtige Soldaten zu sehen waren oder gar Panzer und Kanonen. Solches Spielzeug fand erst einige Jahre später Verbreitung, unwiderstehlich, sowohl im Osten wie im Westen der Stadt. Zuerst löste sein Erscheinen noch moralische Entrüstung bei den Älteren aus, dann sah man es überall.

    Der Buddelkasten war das erste gesellschaftliche Zentrum, das ich kennenlernte. An die frühen Spiele, das Herumschaufeln im Sand und Bauen von Burgen, kann ich mich kaum erinnern. Sie waren durchweg konstruktiv, fast ohne Spannung, ohne innere Ambivalenz. Als wir größer wurden, kam es zu gemischten Spielen, Jungs und Mädchen gemeinsam, zunächst »Vater-Mutter-Kind«. Die Initiative ging meist von den Mädchen aus. Oft endete das Spiel damit, dass der einbezogene Junge, sobald seine Freunde auftauchten, die fiktive Familie sitzenließ und sich mit der Jungsbande zu interessanteren Unternehmungen aufmachte. Die Mädchen waren auch sonst mit den Vätern des Spiels unzufrieden: Diese verschmutzten die auf den Sandboden gezeichnete Wohnung, erwiesen sich als »trampelig«, »machten kaputt« und »stellten sich blöd an«, was häusliche Verrichtungen oder den Umgang mit Puppen betraf. Nicht selten führte das Spiel zu Krach und Geschrei. Wir Jungs spielten es ungern, meist einem Mädchen zuliebe, dem wir gefallen wollten. Denn bei aller selbstverständlichen, elementaren Verachtung gegenüber Mädchen (»doof«, »zickig«, »Petze«, »Heulsuse«) ging von diesen Wesen ein seltsamer Zauber aus, der uns zwang, sie immer im Auge zu behalten, mit ihnen, sobald sie uns ansprachen, zu reden, gelegentlich sogar zu tun, was sie verlangten.

    Eine frühe Erinnerung ist der Besuch meiner Chemnitzer Großmutter, die mit mir zu einem der Buddelkästen ging. Während ich buddelte, saß sie auf einer Parkbank, rauchte Zigaretten und plauderte mit vorüber kommenden Nachbarn oder mit meiner Mutter. Die Chemnitzer Großmutter war eine dominierende Persönlichkeit. Sie hatte in den zwanziger Jahren als eine der ersten Frauen in Deutschland studiert und ein Lehrerinnenexamen abgelegt. Mit meiner Mutter verstand sie sich gut, zu ihrer Beruhigung war meine Mutter nicht blond, sondern schwarzhaarig und dunkeläugig – die Großmutter mochte blonde Mädchen nicht. »Gott sei Dank kein blonder Zischer«, soll sie nach der ersten Begegnung zu ihrer Tochter, meiner Tante, gesagt haben. Der Chemnitzer Großmutter galt allgemeiner Respekt, weil sie »Verfolgte des Nazi-Regimes« war, abgekürzt VdN, ein Status, der im Osten Deutschlands mit Privilegien verbunden war (etwa bei der »Vergabe von Wohnraum«), außerdem mit einer hohen Rente. Es gab sogar einen Ausweis für die vordem »Verfolgten«, in graues Leinen gebunden, von der Größe eines Reisepasses, mit roter Schrift: »Deutsche Demokratische Republik – VdN«. Die sowjetische Besatzungsmacht und später die Verwaltung der DDR wollten Menschen, die gegen die Nazis gekämpft hatten, betont bevorzugen und aus der Masse der übrigen Bevölkerung herausheben. Mir wird erst heute bewusst, dass mein Vater als Sohn einer »Verfolgten« von Anfang an gute Startbedingungen in diesem Staat gehabt haben muss.

    Die Geschichte meiner Chemnitzer Großmutter wurde mir lange vorenthalten. Ein Kommunikationsproblem über drei Generationen. Durch beharrliches Fragen konnte ich den Eltern Andeutungen entlocken, doch keine zusammenhängende Erzählung. Auch die Großmutter verlor kaum ein Wort über das, was mit ihr geschehen war. Erst Jahrzehnte nach ihrem Tod erfuhr ich ihr Schicksal, aus einem Buch »Literarisches Chemnitz«, veröffentlicht im Jahre 2008 zur Erinnerung an die Schriftsteller dieser Stadt, in dem ein Kapitel meinem Vater gewidmet ist, ein weiteres seiner jüdischen Mutter, gestützt auf Material aus Archiven der Stadt.

    Meine Großeltern hatten sich 1938 scheiden lassen, worauf mein Großvater seine Apotheke weiterführen konnte – als Ehemann einer Jüdin wäre er enteignet worden. Mein Vater und seine Schwester lebten zuerst als »Mischlinge« bei ihrem als arisch geltenden Vater (er konnte jedenfalls die geforderten drei Generationen christlicher Vorfahren nachweisen), bis mein Großvater, der weiter mit seiner geschiedenen Frau verkehrte, wegen »Rassenschande« und »Scheinscheidung« angezeigt und von der Gestapo vorgeladen wurde. Die Behörden zwangen ihn, seine Kinder »in arische Hände« zu geben, zu nichtjüdischen Verwandten. Mein Vater wurde in der Schule schikaniert und von den anderen Jungen mit dem Ruf »Halbblut!« über den Schulhof gejagt und verprügelt. Erst kurz vor seinem Tod sprach er mit mir über diese Zeit. Es kostete ihn sichtlich Mühe. Der Grausamkeit der Hitlerjungen stand das Mitgefühl einiger Mädchen aus christlichen Familien gegenüber, die den »Mischling« beschützt hatten. Einer ihrer Väter unterwies ihn in Selbstverteidigung: Er sollte sich genagelte Schuhe anziehen und den anderen Jungen, wenn sie näher kämen, gegen die Schienbeine treten, immer gleich gegen die Schienbeine.

    Währenddessen war seine Mutter in der böhmischen Kleinstadt Leitmeritz in einer Spedition »zwangsverpflichtet«, wo sie die »Kohlenkartei« führte und – korrekt, wie sie war – die Schiebereien einiger Nazi-Bonzen mit der für die Bevölkerung bestimmten Kohle beanstandete. In der folgenden Untersuchung des Falles durch die »Reichsstelle Reichenberg« schob man jedoch ihr, der zwangsverpflichteten Jüdin, die Schuld am Verschwinden von »zwei ganzen Waggons Kohle« zu und verhaftete sie. Über die Verhöre durch die Gestapo verlor sie uns Kindern gegenüber nie ein Wort. Doch offenbar hatte sie früher, gleich nach dem Krieg, darüber gesprochen, mit der einen oder anderen Freundin, sodass mir viele Jahre später von Bekannten aus dieser Zeit erzählt wurde, sie sei geschlagen und gefoltert worden. Den größten Teil des Jahres 1943 verbrachte sie in Untersuchungshaft.

    So schrecklich diese Zeit im Gefängnis gewesen sein mag, sie ersparte ihr das Schicksal der anderen Juden ihrer Stadt: die Deportation in ein Vernichtungslager. Nach deutschem Rechtsverständnis durfte in ein schwebendes Ermittlungsverfahren nicht durch Entfernung der Angeklagten eingegriffen werden. Ein Rechtsanwalt, den sie noch aus früheren, gutbürgerlichen Tagen kannte, verteidigte sie vor Gericht, und da ihr in der Kohlen-Affäre keine Schuld nachgewiesen werden konnte, wurde sie im Sommer 1944 aus der Haft entlassen. Und wenige Wochen später erneut verhaftet. Sie soll despektierliche Bemerkungen über Hitler gemacht haben, angeblich nannte sie ihn »der braune Lump«. Eine Nachbarin denunzierte sie bei der Gestapo. Im Herbst 1944 wurde sie zum zweiten Mal aus ihrer Wohnung geholt. Diesmal machte man sich nicht die Mühe eines Verfahrens, sondern überstellte sie bald nach der Verhaftung ins KZ Theresienstadt. Dort traf sie jedoch so spät ein, dass sie nicht mehr nach Auschwitz deportiert werden konnte. Sie war unter den dreitausend Häftlingen, die das Lager Theresienstadt überlebten. Überstand auch die Typhus-Epidemie, die nach der Befreiung das Lager heimsuchte, mein Großvater hatte sie kurz vor ihrer zweiten Verhaftung gegen diesen Erreger geimpft. Ihr Mangel an Zurückhaltung, ihr für eine Jüdin und »Sternträgerin« atypisches Verhalten, warf sie aus den organisierten Abläufen der Vernichtung, verzögerte ihre Deportation, rettete ihr vermutlich das Leben. Im Sommer 1945 kehrte sie aus dem KZ zurück, abgemagert, schwer krank, mit Anfang vierzig vollständig ergraut, aber lebendig, und heiratete zum zweiten Mal ihren geschiedenen Mann.

    In frühen Interviews der Nachkriegszeit hat mein Vater seine Mutter stets erwähnt. Etwa 1953, als Fünfundzwanzigjähriger, in einem Gespräch mit dem Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel anlässlich der Veröffentlichung seines zweiten Buches. In dem Interview, das mir ein West-Berliner Archivar rund vierzig Jahre später fotokopierte, sagt mein Vater über seine Kindheit: »Meine Mutter hatte schwer unter der Nazi-Herrschaft zu leiden; auch wir Kinder wurden gequält.«

    Nach dem Krieg fühlte er sich stark zum Judentum hingezogen, vermutlich gehörte er in den fünfziger Jahren zur Jüdischen Gemeinde in Ost-Berlin. Er war mit Peter Kirchner befreundet, dem langjährigen Gemeindevorsitzenden und Informellen Mitarbeiter der Staatssicherheit (»IM Burg«). Auch Kirchner war Sohn einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters. Auf einem Kachel­ofen, offenbar beiseitegelegt, fand ich als kleiner Junge ein Porträt meiner Mutter, in Pastellkreiden gezeichnet von der Malerin Eva von Brück, die gleichfalls zu diesem Kreis gehörte: meine Mutter als junges Mädchen mit offenem, dunklen Haar und großen braunen Augen, sichtlich – vielleicht absichtlich – so dargestellt, wie man sich eine junge Jüdin vorstellte. Auch dieses Bild verschwand wie die Brücks selbst aus unserem Leben. Evas Mann soll gleichfalls für die Staatssicherheit gearbeitet haben. Bald wollte mein Vater mit den Bekannten der frühen Jahre nichts mehr zu tun haben. Er hörte auf, von seiner Mutter und ihrem Schicksal zu sprechen, auch von seinen eigenen Leiden während der Nazizeit, und betonte stattdessen das »Normale« seiner Biografie. Ihm lag daran, als typischer Vertreter der »Flakhelfer-Generation« zu gelten. Ein Dokument dieses Übergangs ist das Nachwort zu seinem 1952 erschienenen ersten Buch, einem Band mit literarischen Reportagen, in dem Günter Caspar, Cheflektor des Aufbau-Verlags, über ihn schrieb: »Als Dieter Noll sechs Jahre alt war, musste sein Großvater nach Palästina emigrieren. Den Vierzehnjährigen nahm man der Mutter, weil sie ihre »halbarischen« Kinder nicht erziehen sollte. Der Junge verwilderte, wurde Flakhelfer, später Soldat.« Das Buch fiel mir als Kind in die Hände. Ich lief damit zu den Eltern und stellte Fragen. Sie wurden nicht beantwortet. Das war auffallend, da meine Eltern sonst auf alle meine Fragen eine Antwort gaben. Mein Vater behauptete, seine Großeltern nicht zu kennen. Vielleicht trifft es zu: Meine Urgroßmutter starb als junge Frau, ihr Mann verließ Deutschland, als die Nazis an die Macht kamen – seinen Namen habe ich nie erfahren. Sein Schritt, ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina, das heutige Israel zu emigrieren, wurde von den Zurückbleibenden mit der damnatio memoriae bestraft – ansatzweise ist mir sechs Jahrzehnte später, als ich mich selbst dazu entschloss, Ähnliches widerfahren. Nach Israel zu gehen, war schon damals so etwas wie die Überquerung des Rubikon: die Transformation eines als Makel und Schicksal empfundenen Judentums in ein bewusstes, vitales. Angenommen, mein Urgroßvater, damals noch keine vierzig, hatte in Israel erneut Frau und Kinder, so leben heute im selben Land wie ich, vielleicht in meiner Nähe, Verwandte, von denen ich nicht mal den Namen weiß.

    Die Geschichte meiner Chemnitzer Großeltern bereitete mir noch ein anderes Problem. Ich fand es lange dubios, sogar verachtenswert, dass sie sich 1938 hatten scheiden lassen. Mir schien, sie hätten es getan, um ihren Besitz zu retten, ihre Apotheke, die Möbel, das Silber. Davon blieb bei mir ein lebenslanges Misstrauen gegenüber festen Besitztümern: Die Vorstellung, an einem lebensgefährlichen Ort hängen zu bleiben, weil man sich nicht von Hab und Gut trennen kann, war lange ein Albtraum für mich.

    Dass ich meine Chemnitzer Großeltern heute besser verstehe, verdanke ich Erwin Leiser, dem aus Berlin stammenden Filmregisseur. Als ich Leiser im Herbst 1995 in Berlin kennenlernte – beide, er aus Zürich, ich aus Israel, zu einer kurzen Visite in unsere gemeinsame Geburtsstadt gekommen –, besuchten wir am Freitagabend die Synagoge am Fraenkelufer in Kreuzberg, um den Shabat-Beginn zu feiern. Leiser war damals zweiundsiebzig Jahre alt und durch seine präzisen, lakonischen Filme über das NS-Regime weltbekannt. Er beschäftigte sich unablässig mit Hitler-Deutschland, wusste alles über diese Zeit. Kannte auch Ost-Berlin, hatte jahrelang in den Filmarchiven der DDR nach Material für seine Filme gesucht. Wir fuhren im Auto unseres gemeinsamen Freundes Roger David Servais, des belgischen Malers, in dessen Wohnung nahe Kurfürstendamm wir Tee getrunken hatten, als ich von meinen Chemnitzer Großeltern zu erzählen begann und von ihrer Scheidung, die ich nicht verstand. Wodurch mein Vater, wie ich es nannte, »schizophren« aufgewachsen sei: als Sohn einer jüdischen Mutter, die verfolgt und misshandelt wurde, an einem deutschen Gymnasium, der NS-Erziehung ausgesetzt, später sogar zum Reichsarbeitsdienst eingezogen.

    »Du musst es so sehen«, erwiderte Leiser, »dass sie dadurch die Kinder retten wollten. Die Kinder solcher ›Mischehen‹ waren bedroht. Blieben die Eltern zusammen, wurde meist die ganze Familie verfolgt. Wenn die Kinder dagegen bei dem sogenannten arischen Elternteil lebten, blieben sie relativ unbehelligt. Jedenfalls bis kurz vor Schluss. Wer weiß, vielleicht ist dein Vater deshalb am Leben geblieben. Und damit deine Geburt möglich geworden. Es stimmt zwar, was du sagst: Deine Großmutter wurde durch die Scheidung der Verfolgung preisgegeben. Aber die Kinder waren fürs Erste geschützt. Sie hat sich geopfert. Was tut eine jüdische Mutter nicht alles für ihre Kinder?«

    Ein regnerischer Herbsttag. Wir fuhren in Rogers Auto auf dem Mehringdamm über den Landwehrkanal, unter dem U-Bahnbogen durch, das Eisen der Brücken und Bögen schimmerte kalt und feucht im Dämmerlicht des Spätnachmittags. Wie immer, wenn ich aus dem Süden nach Berlin zu Besuch kam, war ich zu dünn angezogen und fror. Leiser schien behaglicher in seinem hellen Wollpullover und dem karierten, flauschigen Jackett. Was er sagte, leuchtete mir ein. Ich atmete innerlich auf, als ich meine Großeltern gerechtfertigt fand. Er hatte gerade seinen Film »Feindbilder« gedreht, eine Dokumentation über die Propaganda der Nazis. Ein Jahr später, 1996, ist Erwin Leiser in Zürich gestorben.

    Es gibt so etwas wie das Glück der Nachkriegszeit. Niemals sind Menschen friedlicher, Kinder nie willkommener. Berlin in den fünfziger Jahren war ein kinderfreundlicher Ort. Die Erwachsenen gaben sich Mühe mit uns, weil wir die erste Generation nach dem Inferno waren, unser munterer Lärm eine Erlösung nach dem Geheul der Sirenen, unser buntes Treiben das erste Farbenspiel in der immer noch grauen, rauchgeschwärzten Stadt. Eine Zeichnung meines späteren Schwiegervaters Werner Klemke, abgedruckt in einem seiner Kinderbücher, hat diese Situation festgehalten: kleine Mädchen in roten und hellblauen Kleidern spielen Hopse vor der schwarzen Brandmauer eines ausgebombten Hauses.

    Auch in unserer Straße waren die bunten Kreidestriche auf dem grauen Straßenpflaster, die Roller und Fahrräder aus farbigem Blech, die Puppen und bunten Spielzeugautos, der Wirrwarr unseres Hin- und Herlaufens, die heilsame Unordnung, die wir verbreiteten, das Leben schlechthin. Die meisten Erwachsenen dieser Jahre wirkten unfroh, blass, verhärmt, ihre Gesichter waren von Gram gezeichnet, von Sorgen, überstandenen Schrecken, von kürzlich überwundenem Hunger. Ich denke, die Zeit der Lebensmittelkarten war gerade vorüber. Noch immer war alles, verglichen mit heute, schlicht und dürftig. Kann sich heute jemand eine Welt fast ohne elektrische Geräte vorstellen, ohne Lichteffekte, Geflimmer, angestrahlte Gebäude? Die bunten Farben der Kunststoffe fehlten, wagten sich erst allmählich hervor, galten als geschmacklos, wurden, ehe sie sich wenige Jahre später vehement durchsetzten, möglichst gemieden: kein Rosa, Violett, Schrillgelb oder Papageiengrün im Stadtbild.

    Wenn ich auf der Straße stand und dem Leben der Leute zuschaute, blieb alles im schmalen Spektrum gedämpfter Töne: Putz oder Ziegelstein, verwittertes Holz, Emaille, matt lackiertes Blech. Hölzerne Fässer, bauchig, prall, gehalten von leicht angerosteten Reifen, rollten von einem Wagen, vor den dicke, mit klingelnden Schellen geschmückte Pferde gespannt waren, die aus Hafersäcken fraßen. Die Fässer fielen weich, mit gedämpftem Plumps auf ein Kissen aus Hanf. Dort fasste sie ein Mann mit zwei eisernen Haken und rollte sie in ein Kellerfenster. Diese Männer, groß, vierschrötig, in braunem Lederschurz und Ledermütze, hießen Bierkutscher. Sie belieferten die Eckkneipe, wichtigste Institution im sozialen Gefüge der Straße. Die Männer der Nachbarschaft gingen Abend für Abend dorthin, so selbstverständlich, wie sie sich wenige Jahre später allabendlich vor den Fernseher setzten. Sie hockten lange Stunden an hölzernen Tischen, tranken Bier und Korn, rauchten, spielten Karten, politisierten.

    Gelegentlich gab es »Krach«, eine Schlägerei (berlinisch: »Klopperei«), dann kam der Funkstreifenwagen, die »Grüne Minna«, in schlimmeren Fällen das »Überfallkommando«, ein großer, offener Mannschaftswagen voller Polizisten. Sie trugen grasgrüne Uniformen und schwarze Tschakos, eine Art steifen Hut, bekannt seit den Napoleonischen Kriegen, aus Leder oder Vulkanfiber, vorn geschmückt mit dem Emblem der Polizei. Es gab mehr Polizisten als heute, sie waren meist zu Fuß unterwegs, hatten Gummiknüppel und Pistolen in schwarzen Ledertaschen am Hintern, standen manchmal auch nur herum, als »Schutzmann« in einem Park, an der Straßenecke oder auf einer Kreuzung. Bei uns, Hosemann- Ecke Erich-Weinert-Straße, stand oft ein beleibter, älterer Wachtmeister, er plauderte gern mit den Vorüberkommenden und hieß bei Jung und Alt familiär »der dicke Polizist«.

    Ein paar Schritte weiter, in der Naugarder Straße, war der Milchladen. Dort bildete sich morgens, wenn frische Milch verkauft wurde, eine lange Schlange. Die Milch war im Umland Berlins in den frühen Morgenstunden gemolken, in großen Blechkannen zur »Milchrampe« gebracht, von einem Lastwagen eingesammelt und in die Stadt gefahren worden. Sie wurde per Hand ausgeschenkt, mit Schöpfkellen, von Frauen in weißen Schürzen, mit gestärkten Häubchen. Gelbe Käse lagen auf Holzbrettern, man schnitt mit Messern große Stücke davon ab. Aus hölzernen Bottichen schöpfte man weißen Quark. In der Bäckerei, ein paar Häuser weiter, gab es frische Brötchen, helle »Schrippen« und »Schusterjungen« aus Roggenmehl. Eine Schrippe kostete fünf Pfennige. Dazu ein Sortiment duftender Kuchen vom Blech, Spritzkuchen, Streuselschnecken, ein rundes Gebäckstück namens »Amerikaner«. Für ein paar Pfennige oder umsonst bekamen wir die Kuchenränder in einer Tüte aus Papier.

    Alles wurde in Papier verpackt: Käse, Fisch, Gebäck. Im Westen der Stadt kamen Folien aus Kunststoff in Gebrauch, »Frischhaltebeutel« genannt, und fanden ihren Weg in den Osten. Doch die Pest der Plastiktüte war noch nicht ausgebrochen, es war noch nicht Pflicht, alles zu verpacken, in Plastik zu schweißen, in winzige Scheibchen und Häppchen zu zerteilen. Man zeigte die Dinge noch ganz. Eine Frucht, ein Laib Brot, eine Wabe Honig, ein Huhn waren als solche vorhanden, sichtbar, real, authentisch. Zwischen Hersteller und Käufer stand noch nicht das Heer der schattenhaften, preistreibenden Zwischenhändler, die aus allem ein Paket oder eine Büchse machen, eine bunte, glänzende Packung mit möglichst wenig oder dem Falschen drin. Es gab weit weniger zu kaufen als heute, doch was es gab, war echter und einfacher. Obst kam direkt aus den Gärten der Bauern. Ein Apfel konnte ein Ereignis sein. Das langsame Schälen einer Orange.

    An Winternachmittagen saßen wir, meine Berliner Großmutter, mein Bruder und ich, um den Tisch und knackten Nüsse. Das Krachen der Schalen war ein unterhaltsames Geräusch, dazu knisterten die Kerzen. Die Orangenschalen dufteten nach südlichen Ländern, die wir nicht kannten. Einmal fand ich einen winzigen Aufkleber, kaum größer als ein farbiger Punkt, mit dem Wort »Jaffa« auf der gelben Schale. Jaffa, erklärte meine Großmutter, sei eine Stadt in Israel. Ihre Schwester im Westen der Stadt, meine Großtante, sei kürzlich dort gewesen. Warum erinnere ich mich daran? Vielleicht, weil von diesem Land sonst nie die Rede war.

    Meine Großmutter wohnte in einem entfernten Stadtteil von Berlin, sie fuhr eine halbe Stunde mit der S-Bahn und lief dann noch mal eine Viertelstunde, bis sie bei uns war. Dieser lange Weg hielt sie nicht davon ab, uns oft zu besuchen. Sie hatte kein Auto und wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, eins zu kaufen. Sie war eine moderne, selbstständige Frau, arbeitete in einem wissenschaftlichen Verlag, doch ein eigener Wagen wäre ihr größenwahnsinnig erschienen. Private Autos waren damals selten, besonders im Osten der Stadt. Zu Beginn der sechziger Jahre gab es nur vier Kinder in meiner Klasse, deren Eltern Autos besaßen. Zwei davon waren Pappautos Marke Trabant, mein Vater kaufte einen Moskwitsch, einen Mittelklassewagen sowjetischer Fabrikation, ein schweres, haltbares Fahrzeug, im Volksmund »Russenpanzer« genannt, bei seinem Fahrstil die sicherste Lösung. Die Mutter von Nina Hagen, fuhr ein Škoda-Cabriolet der Marke »Felicia«, weiß, mit roten Lederpolstern – damit konnte es niemand aufnehmen.

    Meine Großmutter leistete sich manchmal, wenn es spät wurde, ein Taxi. Zur Arbeit fuhr sie mit verschiedenen Bahnen, während der Fahrt las sie Bücher, daher hatte sie, wenn sie zu uns kam, immer Gesprächsstoff. Erst heute wird mir klar, welche langen Wege innerhalb Berlins sie zurücklegte. Sie verließ uns am späten Abend, wenn es längst dunkel war, manchmal wurde sie von meiner Mutter im Auto zum S-Bahnhof gefahren, oft ging sie zu Fuß. Sie bewegte sich energisch, mit entschlossenem Schritt, hielt sich kerzengerade, war immer gut gekleidet, »damenhaft«, mit Handschuhen passend zur Handtasche, nie habe ich sie auf der Straße ohne Hut gesehen. Mir wäre damals nicht in den Sinn gekommen, dass sie eigentlich eine schwache, alte Frau war. Sie fürchtete sich nicht, nachts allein durch dunkle Straßen zu gehen oder mit Unbekannten in der Straßenbahn zu fahren. Waren die Verkehrsmittel sicherer als heute? Ich vermute, sie hatte einfach keine Zeit sich zu fürchten, weil sie unterwegs las.

    Sie brachte auch uns Bücher mit. Da sie in einem Verlag arbeitete, konnte sie dort Bücher mit Rabatt kaufen, auch solche, die sonst nur »unterm Ladentisch« gehandelt wurden – so umschrieb man schwer erhältliche oder rationierte Ware. Bücher lagen überall herum, in ihrer Wohnung, in unserer. Lesen galt als »fortschrittlich«, weil es zur Bildung, zur Verbesserung des Charakters beitrug. Dies – in etwa – die Erklärungen der Erwachsenen über den »Sinn des Lesens«. Mir schien, dass sie etwas verschwiegen: Lesen war ein Vergnügen. Ich entdeckte es früh. Meine Mutter behauptet, ich hätte mir im Alter von vier Jahren selbst das Lesen beigebracht, durch Buchstabieren von Straßen- und Ladenschildern. Mein erstes vollständiges Buch las ich im Alter von fünf Jahren, bis heute erinnere ich mich an den Titel: »Der tolle Ritt«. Eine Geschichte aus dem russischem Bürgerkrieg von Leonid Pantelejew, einem sowjetischen Schriftsteller, berühmt für seinen Roman »Republik der Strolche«, Schilderungen aus der chaotischen, bunten und heldenhaften Zeit nach der Revolution, von deren Glamour die längst stalinisierte, disziplinierte Sowjetliteratur noch lange zehrte. Ich weiß nicht mehr, was in dem Band erzählt wurde (zumindest kann meine Erinnerung die Handlung nicht von der anderer sowjetischer Jugendbücher trennen, von Arkadi Gaidars »Schicksal des Trommlers« oder ähnlichen Geschichten), doch den Titel habe ich nie vergessen – mein erstes »selbst gelesenes Buch«. Der Anfang war mühsam, ich brauchte lange für die ersten Seiten, doch irgendwann vergaß ich die Mühe, die Anstrengung verwandelte sich in eine Lust. Dass ich früh lesen lernte, wurde nicht honoriert, im Gegenteil: Der Schulpsychologe bat meine Mutter, mich zu bremsen, ich würde sonst den Unterricht stören und die anderen Kinder »im Lernen behindern«.

    Lesen lernen war ein Ergebnis meiner Neugier. Während die Verkäuferinnen in den Geschäften mit meiner Mutter schwatzten, erkundete ich die Ecken des dämmerigen Raumes, nahm Einblick in Bottiche, randvoll mit Gurken in würziger, grünlicher Lake, obenauf schwamm die Holzzange, mit der man sie herausfischte. Ich stand vor Kisten aus Sperrholz mit goldglänzenden, geräucherten Sprotten, vor Gläsern voller Bonbons, leuchtend in allen Farben des Regenbogens: blaurote Himbeerbonbons, grüne in Form kleiner Blätter, die nach Waldmeister schmeckten, goldgelbe Malzbonbons, weiße Eisbonbons. Der Laden roch nach dem, was er enthielt, nach Geräuchertem, Gebackenen, nach Hering, Kakao, Käse, Zimt und Nelken. Alle diese Dinge hatten Namen, sie standen auf kleinen Schildern, beschrieben von der Hand des Ladenbesitzers. Name, Gewicht, Preis, manchmal erklärende Attribute, kurze Zustandsbeschreibungen: »frisch«, »trocken«, »gesalzen«, »sortiert«, »prima«,

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