Die Kunst, sich wertzuschätzen: Angst und Depression überwinden - Selbstsicherheit gewinnen
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Heinz-Peter Röhr
Heinz-Peter Röhr (*1949) ist Pädagoge und Sozialarbeiter und war über dreißig Jahre lang an der Fachklinik Fredeburg/Sauerland für Suchtmittelabhängige tätig. Er ist Autor zahlreicher sehr erfolgreicher Sachbücher.
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Book preview
Die Kunst, sich wertzuschätzen - Heinz-Peter Röhr
NAVIGATION
Buch lesen
Cover
Haupttitel
Inhalt
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Heinz-Peter Röhr
Die Kunst,
sich wertzuschätzen
Angst und Depression überwinden –
Selbstsicherheit gewinnen
Patmos Verlag
Entscheidend ist nicht, woher du kommst,
sondern wohin du willst.
(Autor unbekannt)
INHALT
Einleitung
Teil 1: Die Selbstwertanalyse
Wie entwickelt sich das Selbstwertgefühl?
Drei grundlegende Fragen
Was ist Selbstwertanalyse?
Zusammenfassung
Geheime Programme
Das geheime Programm Ich bin nicht willkommen
Das geheime Programm Ich genüge nicht
Das geheime Programm Ich bin nicht satt geworden / Ich bin zu kurz gekommen
Weitere geheime Programme
Zusammenfassung
Gegenprogramme
Das Gegenprogramm Leistung/Erfolgssucht
Das Gegenprogramm Sucht nach Anerkennung
Das Gegenprogramm Helfen
Das Gegenprogramm Anpassung/Überanpassung
Das Gegenprogramm Sich hinter einer Maske verstecken
Weitere Gegenprogramme
Zusammenfassung
Neue Programme
Wie lernt ein Mensch neue Glaubenssätze?
Das neue Programm Ich bin willkommen
Das neue Programm Ich genüge (mir) immer
Das neue Programm In mir ist alles, was ich brauche
Das neue Programm Ich bin ein Gewinner
Was hilft, die neuen Programme zu installieren?
Zusammenfassung
Neues Verhalten
Teil 2: Selbstwertanalyse und Persönlichkeit
Die depressive Persönlichkeit
Geheime Programme und Gegenprogramme
Neue Programme
So wie wir denken, fühlen wir auch – wie Gefühle entstehen
Depressive Erkrankung oder depressive Verstimmung?
Zusammenfassung
Die narzisstische Persönlichkeit
Geheime Programme und Gegenprogramme
Neue Programme
Die narzisstische Verstimmung
Narzisstischer Missbrauch
Zusammenfassung
Die abhängige Persönlichkeit
Geheime Programme und Gegenprogramme
Neue Programme – neues Verhalten
Liebessucht
Mobbing
Zusammenfassung
Die hysterische Persönlichkeit
Geheime Programme und Gegenprogramme
Die Angst vor Zurückweisung
Krankhafte Eifersucht
Selbstwertanalyse und Sexualität
Der Autonomie-Abhängigkeitskonflikt
Zusammenfassung
Die zwanghafte Persönlichkeit
Geheime Programme und Gegenprogramme
Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
Die Zwangsstörung
Zusammenfassung
Die schizoide Persönlichkeit
Geheime Programme und Gegenprogramme
Neue Programme
Zusammenfassung
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung
Geheime Programme und Gegenprogramme
Neue Programme
Zusammenfassung
Sexuelle Traumatisierung
Geheime Programme und Gegenprogramme
Fortgesetzte sexuelle Traumatisierung – sexuelle Hörigkeit
Neue Programme
Zusammenfassung
Teil 3: Selbstwertanalyse und Selbstwertentwicklung in der Praxis
Die heilende Kraft der Selbstvergebung
Heilende Bilder im Neuen Testament
Schuld oder Verantwortung?
Die Kunst zu verzeihen
Das Gespräch mit der inneren Ratgeberin oder dem inneren Heiler
Auf dem Weg der Selbstentfaltung
Psychotherapie ist Begeisterung
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
Ein neues Bewusstsein durch Meditation
Zum Abschluss: Werden Sie »hellsichtig«!
Anhang
Fragebogen zum geheimen Programm Ich bin nicht willkommen
Fragebogen zum geheimen Programm Ich genüge nicht
Fragebogen zum geheimen Programm Ich bin nicht satt geworden/Ich bin zu kurz gekommen
Anmerkungen
Literatur
Einleitung
Die Seele zwingt uns dazu,
uns mit dem auseinanderzusetzen,
was wir im Innersten sind.
DALAI-LAMA
Wer bin ich in meinem Innersten, wer bin ich wirklich? Um sich dieser Frage zu nähern, muss man sich dem eigenen Selbstwertgefühl zuwenden – und das wird wesentlich durch unsere Entwicklung geprägt. Das Selbstwertgefühl ist etwas, das man immer bei sich trägt, das ständig präsent ist, bei Tag und bei Nacht, das die Stimmung maßgeblich beeinflusst, die Lebensfreude bestimmt, über Erfolg oder Misserfolg entscheidet, also in besonderer Weise für unser Lebensglück verantwortlich ist. Deshalb gehört es ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gestellt.
Wir glauben, viel für unser Selbstwertgefühl zu tun, wenn wir uns Mühe geben, gute Leistungen erbringen, erfolgreich sind, uns um unser Äußeres kümmern, etwa durch Schminken oder schöne Kleidung. Dabei bleibt das Selbstwertgefühl von solchen Aktionen letztlich wenig beeindruckt. Gerade extreme Anstrengungen sind eventuell schädlich, da sie das Gegenteil von dem bewirken können, was wir erreichen wollen. Die Leistungs- und Konsumgesellschaft suggeriert hier falsche Lösungen: Wer viel hat, ist glücklich; wer wenig hat, muss unglücklich sein. Wer eine hohe Position bekleidet, ist wertvoll; wer arbeitslos ist, wertlos. Diese Klischees sind oft tief in unserem Denken verankert. Wie sehr Erfolg, Reichtum, Macht usw. vielfach nur »Beruhigungsmittel« sind, wird nicht verstanden.
Aber wie kann man effektiv an seinem Selbstwertgefühl arbeiten? Sind wir unserem Schicksal ausgeliefert oder gibt es wirksame Lösungen? Mit Hilfe der in diesem Buch vorgestellten Selbstwertanalyse lassen sich die inneren negativen Programme, die unser Selbstwertgefühl untergraben, verstehen. Weiterhin wird deutlich, welche neuen Programme zu einer positiven Veränderung führen. So wird es möglich, die Wahrnehmungsperspektive zu erweitern und eine neue Vision für das eigene Leben zu entwickeln und umzusetzen.
Die meisten seelischen Krankheiten sind Folge eines gestörten Selbstwertgefühls. Dazu gehören Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen. Für Menschen, die Mobbingopfer werden oder ein Burnout erleben, ist es ebenfalls hilfreich und effektiv, sich mit der Selbstwertanalyse zu beschäftigen, um so neue Perspektiven zu erkennen und in den Alltag zu integrieren.
An den Anfang haben die Götter die Diagnose gestellt – so heißt es in der Medizin und so muss es auch im Bereich der Psychotherapie heißen. Nur wenn ein Problem wirklich verstanden ist, die Ursachen klar und beschreibbar sind, kann nach einer wirklichen Lösung gesucht werden. Leider wird viel zu häufig der wahre Grund für Symptome nicht gesehen und nicht entsprechend gewürdigt. Viele seelische Probleme haben ihre Wurzeln bereits in der Kindheit. Die Entwicklung der Persönlichkeit, gerade während der frühen Phasen, ist ein sensibler Prozess, der leicht beeinflusst werden kann. Störungen haben nachhaltigen Charakter, da die Psyche geprägt wird und bestimmte Muster in das erwachsene Leben »mitgenommen« werden. Die Behandlung seelischer Probleme kann nur dauerhaft gelingen, wenn die frühen Verletzungen und Kränkungen des Selbstwertgefühls aufgearbeitet werden. In der Psychotherapie ist die Rede vom »Wiederholungszwang«. Bestimmte Probleme und Störungen haben die Eigenschaft, immer wieder aufzutauchen. Warum das ohne innere Veränderung so sein muss, wird ausführlich bei der Beschreibung der Selbstwertanalyse erklärt.
Wer sich mit seinem Selbstwertgefühl beschäftigt, braucht Mut. Viele haben Angst vor dem, was in ihrem Innersten geschieht, und vor den Kräften, die hier wirken. Der berühmte Psychoanalytiker C. G. Jung sprach in diesem Zusammenhang vom »Schatten«, den jeder Mensch in sich trägt, und meinte damit die Persönlichkeitsanteile, die nicht so gerne gesehen werden, die nicht zu dem Bild zu passen scheinen, das wir von uns persönlich haben und das wir auch anderen zu vermitteln suchen. So wie unser Schatten verfolgen uns diese geheimnisvollen Programme. Erst wenn wir den Mut haben, sie wahrzunehmen, wenn wir sie verstehen, können wir wirksame Strategien entwickeln, um besser mit ihnen zurechtzukommen.
Jeder Mensch ist ein individuelles, einzigartiges Wesen. Dennoch werden in der Psychologie verschiedene Persönlichkeitsstrukturen beschrieben, die man immer wieder vorfindet. Typische Muster wie das Depressive, das Narzisstische, das Abhängige, das Zwanghafte, das Hysterische oder das Schizoide gehören zum Menschen. Die meisten tragen Eigenschaften verschiedener Persönlichkeitstypen in sich. Ist eines dieser Muster stark ausgeprägt, z. B. das Depressive, entstehen typische Probleme, auch bezüglich des eigenen Selbstwertgefühls. Diese spezifischen Probleme werden im zweiten Teil des Buches aufgezeigt, mit dem Ziel, individuelle Wege zu erkennen.
Im dritten Teil geht es um die Selbstwertanalyse und Selbstwertentwicklung in der Praxis, wobei auch spirituelle Aspekte einbezogen werden. An vielen Stellen liest sich das Neue Testament wie eine Anleitung zur Entwicklung eines neuen Selbstwertgefühls. Den Bildern wohnt eine heilende Kraft inne, sie können einen therapeutischen Prozess wirkungsvoll unterstützen. Des Weiteren geht es im dritten Teil um Selbstakzeptanz und Selbstliebe – das Ziel jeder Psychotherapie. Sie sind die Quelle von innerer Zufriedenheit und die Voraussetzung für Beziehungsfähigkeit, Begegnungen auf Augenhöhe und gelingendes Leben. Selbstverwirklichung wird so erst möglich.
Mein Anliegen ist es, mit Hilfe dieses Buches aufzuzeigen, wie die Entwicklung von Selbstliebe möglich wird. Es ist eine Vertiefung und wesentliche Erweiterung meines Buches Wegweiser zum Glück. Die geheimen Programme der Seele entschlüsseln, das ebenfalls im Patmos Verlag erschienen ist, dem ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. Die Selbstwertanalyse ist eine psychotherapeutische Methode, die einen raschen Zugang zu tiefen Störungen des Selbstwertgefühls ermöglicht. Viele Menschen, die sich mit der Methode vertraut machten, bekräftigten, dass sie erstmals ein wirkliches Verständnis für ihre emotionalen Probleme gewinnen konnten.
Sehr herzlich möchte ich wieder meinen Patientinnen und Patienten danken, die mit ihrem Mut zur Offenheit maßgeblich dazu beitrugen, dass ich vieles besser verstehen durfte. Meiner Tochter Michaela danke ich sehr herzlich für die zahlreichen Anregungen und Hinweise sowie für die Überarbeitung des Manuskripts. Meiner Frau Annemie gilt ein besonders liebevoller Dank für ihr unablässiges Zuhören sowie für die kritischen Anmerkungen und die zahlreichen Vorschläge, mit denen sie das Schreiben dieses Buches begleitete.
Bad Fredeburg, im Mai 2013
Heinz-Peter Röhr
Teil 1
Die Selbstwertanalyse
Wie entwickelt sich das Selbstwertgefühl?
Die Frage, wann sich das Selbstwertgefühl entwickelt, ist etwa so zu beantworten: Das Selbstwertgefühl entwickelt sich maßgeblich während der ersten sechs Lebensjahre. Darüber besteht Einigkeit bei den meisten Forschern und Wissenschaftlerinnen. Während dieser Zeit werden die Weichen gestellt, die lebenslänglich von Bedeutung sind. Doch wie sehr frühe Erfahrungen das Leben bestimmen, ist den meisten Menschen gar nicht bewusst.
Die Entwicklung beginnt während der Schwangerschaft: Wie steht die werdende Mutter zu dem, was in ihrem Leib wächst? Ist sie in großer Erwartung und Freude? Oder wird sie von Zweifeln, Angst und Ablehnung geplagt? Kinder, die schon während der Schwangerschaft nicht gewollt waren, haben meist nach der Geburt viele Probleme. Sie sind häufiger untergewichtig, leiden öfter unter Ernährungsstörungen und sind aufgrund ihres schlechteren Immunsystems für Infekte anfälliger als erwünschte Kinder. Die Haltung der Mutter in der ersten frühen Phase zu ihrem Kind hat Auswirkungen auf die gesamte Persönlichkeit, bis hinein in die körperlichen Strukturen und Abläufe. Die Auswirkungen auf die Seele, und damit auch auf das Selbstgefühl, sind so gravierend, dass sie in ihrer Bedeutung schwerlich überschätzt werden können.
Jeder Mensch kommt mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen auf die Welt. Gene tragen dazu bei, wie sich das Selbstwertgefühl entwickelt. Darauf haben wir jedoch keinen direkten Einfluss. Nachgewiesen durch die moderne Hirnforschung ist inzwischen, dass sich die Genstruktur durch die Umwelt verändert. Sie kann sich durch Psychotherapie, durch die Arbeit an der eigenen Person verändern, ebenso durch regelmäßig praktizierte Meditation, aber auch z. B. durch die Werbung, die uns täglich berieselt. Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass die Gene relativ großen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung haben.
Gleich zu Beginn ist jedoch zu erwähnen, dass es sie gibt: die Unverletzlichen. Trotz früher negativer Erfahrungen, schwierigster Lebensumstände und Vernachlässigungen scheint es immer wieder Menschen zu gelingen, ein zufriedenes Leben zu führen. In der Fachsprache nennt man sie »resilient«, das heißt, dass sie über konstruktive Strategien und Fähigkeiten verfügen, trotz widrigster Umstände ihre psychische Gesundheit und ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten. Bei ihnen kann man positive innere Programme erkennen, die Orientierung und Halt geben.
Drei grundlegende Fragen
Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, stellen sich gleich zu Beginn des Lebens drei wichtige Fragen, die für das Selbstwertgefühl von entscheidender Bedeutung sind.
Die erste Frage lautet: Bin ich willkommen?
Jedes dritte Kind kommt ungeplant und leider häufig auch unerwünscht auf die Welt. Manchmal erwacht ein positives Gefühl für ein Kind erst nach seiner Geburt. Wie man sich ihm zuwendet, wie es berührt und angefasst wird, trägt entscheidend dazu bei, ob es sich auf dieser Welt willkommen fühlt – oder nicht. In dem Zusammenhang spielt das sog. Körpergedächtnis eine Rolle. Die Zuwendung geht sozusagen unter die Haut. Streicheln, Berührung und Liebkosung werden als angenehm empfunden und im Körpergedächtnis gespeichert. Wenn diese positive Zuwendung in der Kindheit fehlte, kann es sein, dass Menschen körperliche Nähe als unangenehm empfinden und dass sie im späteren Leben Angst haben, wenn ein anderer Mensch ihnen nahe kommt. Besonders in Partnerbeziehungen muss dies zu enormen Schwierigkeiten führen.
Damit ein Mensch ein starkes Selbstwertgefühl entwickeln kann, benötigt er positive Signale von den ersten Bezugspersonen, zunächst besonders von der Mutter. Die Erfahrungen, die die kleinen Wesen während dieser Zeit machen, gehen sozusagen unter die Haut, und Lernen findet über die Haut statt. Der Lerntheoretiker Piaget nennt diese Form des Lernens »sensumotorisch«. Kinder lernen, obwohl sie noch nicht sprechen können. Sie spüren, wie die Mutter zu ihnen steht, wie andere Menschen – Vater, Geschwister oder Großeltern – zu ihnen stehen, ob sie willkommen sind oder nicht. Da diese Prozesse so früh stattfinden, dringen sie tief in die Seele ein, viel tiefer als in späteren Lebensabschnitten. Die Art und Weise, wie das kleine Kind angefasst wird, wie man es hält, wie man es streichelt und versorgt, geht als Botschaft in die Seele ein.
Natürlich ist die Behandlung eines unerwünschten Kindes anders als die eines erwünschten. Früh müssen kleine Kinder erleben, dass sie eine Last sind, dass man sie eigentlich nicht haben will. Demgegenüber wird ein willkommenes Kind mit der notwendigen Nähe, Wärme und Liebe versorgt. Die Stimme und die Stimmung, wenn die Mutter mit dem Säugling spricht, werden intuitiv wahrgenommen. Die emotionalen Schwingungen, die von den Eltern ausgehen, nimmt die Seele auf, und sie werden zur Basis für das Selbstwertgefühl.
Die psychologische Forschung, insbesondere die Entwicklungspsychologie, weist immer wieder auf die enorme Bedeutung des ersten Lebensjahres hin, das für die emotionale Entwicklung so wichtig ist. Ein fataler gesellschaftlicher Irrtum ist die Schaffung möglichst vieler Kindertagesstätten, damit Säuglinge möglichst früh versorgt werden und die Mütter wieder berufstätig sein können. Kinder brauchen besonders im ersten Lebensjahr die Mutter, die möglichst immer zur Verfügung steht, die ihrem Kind Sicherheit und Geborgenheit vermitteln kann. Das sog. Urvertrauen und das Gefühl, willkommen zu sein auf dieser Erde, sind die Basis für eine positive Persönlichkeitsentwicklung und für ein starkes Selbstwertgefühl. Die Liebe der Eltern zu ihrem Kind muss in seiner Seele förmlich Platz nehmen.
Das Fundament für das Selbstwertgefühl wird von den Eltern gelegt. Später wollen Kinder in der Gruppe willkommen sein. Sie haben das Bedürfnis, gemocht zu werden und wichtig zu sein. Hier spielen viele Faktoren eine Rolle. Kinder mit auffälligen körperlichen Besonderheiten, Behinderungen, z. B. Fehlstellungen der Augen etc., werden in einer Gruppe leicht zu Außenseitern und leiden unter Zurückweisungen. Kinder mit Migrationshintergrund spüren beispielsweise intuitiv, dass sie weniger willkommen sind als andere. Ihre Eltern fühlen sich in der Gesellschaft eher geduldet als willkommen und geben daher meist die Botschaft weiter: Wir sind (ich bin) hier nicht willkommen.
Die zweite Frage lautet: Genüge ich meinen Eltern?
Kleine Kinder tun alles, um ihren Eltern zu gefallen. Man kann sagen, dass es ein Grundbedürfnis jedes kleinen Kindes ist, den Eltern zu genügen. Sie spiegeln sich in den Augen der Eltern, die sie anschauen und ihnen ein Wertgefühl vermitteln. Ein Kind, das nicht von Vater oder Mutter anerkannt und akzeptiert wird, leidet. Es entsteht eine innere Verzweiflung, die quält und nach Auflösung schreit. Jedes Kind will von beiden Elternteilen das Gefühl bekommen, dass es ihnen genügt, dass sie mit seinem Sosein einverstanden sind. Für die Entwicklung des Selbstwertgefühls ist es immer problematisch, wenn beide Eltern (oder ein Elternteil) nicht zufrieden sind. Dabei scheint für das Selbstwertgefühl grundsätzlich das von größerer Bedeutung zu sein, was ein Mensch nicht bekommen hat. Wer Mutter oder Vater nicht genügen konnte, trägt eine Wunde in sich, die das Selbstwertgefühl verletzt. Menschen leiden immer unter dieser Kränkung, die auch durch noch so großen Einsatz des anderen Elternteils nicht ungeschehen gemacht werden kann.
Der Leistungs- und Konkurrenzdruck in den Industriegesellschaften nimmt stetig zu. Immer mehr Menschen sind ihm nicht mehr gewachsen und reagieren mit psychischen Symptomen. Die Dänen gelten als das glücklichste Volk auf dieser Erde. Wenn es einen offensichtlichen und aus meiner Sicht entscheidenden Unterschied zu den deutschen Nachbarn gibt, dann der, dass der Konkurrenzdruck in Dänemark weitgehend fehlt: Schon im Kindergarten wird das Ich bin besser als du unterbunden und gilt als höchst unfein. Was zählt, ist die Leistung der Gruppe. Wer versucht, sich über die Gruppe zu stellen, erfährt Ablehnung und keine Bewunderung. Krankhafter Ehrgeiz wird so vermieden. Dänen sind in der Regel recht entspannt, freundlich und gelassen. Die Jagd nach Ehre und Ansehen, etwa auch durch akademische Titel, ist eher selten. Das Einkommen auch der weniger Qualifizierten ist relativ hoch. Das Gefühl der Unterlegenheit ist bei den Einzelnen nicht so ausgeprägt wie in einer Gesellschaft mit hohem Konkurrenzdruck.
Eltern, die selbst einem starken Konkurrenzdruck ausgesetzt waren und sind, geben unbewusst diesen Druck an ihre Kinder weiter. Früh wird die Botschaft vermittelt: Du musst besser werden, du musst viel leisten, um zu genügen, du bist schon gut, aber es reicht noch nicht … Durch diese Forderungen, die zu inneren Antreibern werden, entsteht wie von selbst ein fataler Irrtum, dem in einer Leistungsgesellschaft fast alle Menschen verfallen: der Glaube, dass man sein Selbstwertgefühl erarbeiten kann. Die Folge ist, dass viele der Anerkennung unablässig hinterherjagen, aber unzufrieden bleiben.
Damit sich ein stabiles Selbstwertgefühl entwickelt, ist es wichtig, dass ein Kind das unbedingte Gefühl hat, dass es seinen Eltern genügt. Zunächst sind diese die Maßstäbe, an denen es sich orientiert, und das Vertrauen, das Eltern zu ihrem Kind haben, wird zum Selbstvertrauen des Kindes. Machen wir uns wieder bewusst, dass die frühen Erfahrungen bis zum sechsten Lebensjahr ausschlaggebend sind. Manchmal kommt die Anerkennung nämlich zu spät.
Die dritte Frage lautet: Wurde ich mit genügend Liebe und Wärme versorgt oder bin ich zu kurz gekommen?
Das Grundbedürfnis eines jeden Menschen ist es, von seinen Eltern geliebt zu werden. Auch hier gibt es wieder die Erwartung, dies von beiden Eltern zu bekommen. Die Zusammenhänge sind offensichtlich: Wer nicht willkommen ist, kann schwerlich genügen oder mit ausreichend Liebe und Wärme versorgt werden. Wer den Eltern nicht genügen konnte, wird auch das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, in sich tragen. Es gibt allerdings auch die Situation, dass die Eltern selbst Schwierigkeiten mit Körperkontakt haben. Das Kind ist willkommen, aber man kann es nicht so berühren, wie man eigentlich möchte. Man hat etwa Angst vor Berührung, weil man dies selbst nie lustvoll