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Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters
Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters
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Ebook457 pages4 hours

Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters

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Übersichtlich und verständlich führt dieses Buch in das Gebiet der Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters ein. Die Autoren untersuchen dabei die Lebensläufe und Entwicklungen erwachsener Menschen unter der Fragestellung, wie sich Identität, Lebensziele und soziale Beziehungen verändern und welche Rolle Lebensereignisse und -krisen spielen. Der Leser erhält in dieser überarbeiteten und erweiterten Neuauflage einen Überblick über die möglichen Entwicklungsprozesse dieser Lebensphase, über zentrale theoretische Modelle und die aktuelle Forschungslage.
LanguageDeutsch
Release dateDec 12, 2013
ISBN9783170244405
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    Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters - Toni Faltermaier

    1          Einleitung

    Mit psychischen Phänomenen wie dem, was wir »Entwicklung« nennen, ist es eigentümlich: Sie sind so alltäglich, dass wir sie kaum bemerken. Oft fällt uns erst spät und im Nachhinein auf, dass wir uns selbst weiterentwickelt haben. Bei Bekannten erkennen wir das meist früher und fassen dann unsere Einschätzung etwa in der Bemerkung zusammen: »Der oder die hat sich aber zu seinem oder ihrem Vorteil entwickelt!« Stagniert der Entwicklungsprozess oder ist er gestört, kann oder will sich jemand nicht mehr an eine veränderte Lebenssituation anpassen, dann tritt zutage, dass wir eine Entwicklung von uns und von anderen erwarten, auch im Erwachsenenleben.

    Bei Kindern ist es augenfällig, dass und wie sie sich entwickeln: Wenn sich zum Beispiel ihre motorischen Fähigkeiten entwickeln und sie vom Krabbeln über das Sitzen und Stehen zum Gehen kommen, zunächst unsicher und ungelenk, dann immer harmonischer und geschickter; wenn sie sich sprachlich entwickeln und sie von ersten Lauten über Wortkombinationen zu vollständigen, grammatikalisch richtigen Sätzen gelangen, sich damit immer besser ausdrücken und differenzierter verständigen können; wenn sie sich sozial entwickeln, von ersten schüchternen Versuchen, mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen bis zu lebhaften Interaktionen im Freundeskreis. Bei Erwachsenen sind Entwicklungsprozesse nicht so offensichtlich, und doch ist klar, dass sie sich entwickeln oder – sagen wir es zunächst vorsichtiger – dass sie sich im Laufe des Lebens verändern. Kein Mensch ist mit 50 Jahren noch derjenige, der er mit 20 war. Er ist nicht nur älter geworden, sondern hat sich in zentralen Persönlichkeitsmerkmalen und Kompetenzen, Einstellungen und Verhaltensstilen verändert, vielleicht selten dramatisch, aber immer merklich. Die Erfahrungen im Beruf, in der Partnerschaft oder als Eltern können dem Erwachsenen mehr Wissen, neue Kompetenzen, eine Sicherheit im Umgang mit anderen Menschen, mehr Selbstbewusstsein, Einfluss und Macht, Lebenserfahrung, andere Werteinstellungen, neue Zukunftsentwürfe und Sichtweisen auf sein vergangenes Leben u.v.a.m. bringen, sie können ihn insgesamt positiv verändern. Die Erfahrungen im Laufe des Lebens können Menschen aber natürlich auch negativ verändern, zu Unzufriedenheit, Stagnation, Resignation und Verzweiflung führen. Viele Menschen werden im Rückblick auf ihr bisheriges Erwachsenenleben bei einigem Nachdenken sagen können, worin sie sich verändert haben. Nur machen wir uns meist wenig Gedanken darüber. Ein ausgefülltes und nach vorne gerichtetes Leben bietet wenig Anlass und Gelegenheit zur Reflexion über das gelebte Leben. In Zeiten der Verunsicherung oder im Bewusstwerden des eigenen Alterns sieht das schnell anders aus. Zudem scheint gerade in Phasen eines schnellen gesellschaftlichen Wandels das Bedürfnis der Menschen zu wachsen, innezuhalten und über ihr Leben nachzudenken. Auch daher gehören Formen einer biographischen Selbstreflexion heute zu den Kursangeboten von Einrichtungen der Erwachsenenbildung.

    Vielleicht ist die Unauffälligkeit der Entwicklungsprozesse von Erwachsenen ein Grund dafür, dass sich die Entwicklungspsychologie erst sehr spät mit dem Erwachsenenalter beschäftigt hat. Lange Zeit verstand man unter Entwicklung fast ausschließlich die Reifungs-, Wachstums- und Veränderungsprozesse von Kindern und Jugendlichen. Dann geriet allmählich das Alter in den Blickpunkt der Entwicklungspsychologie. Der zunehmende Anteil älterer Menschen in der demographischen Struktur unserer Bevölkerung und die damit verbundenen gesellschaftspolitischen und praktischen Herausforderungen waren für die rasche Herausbildung eines Teilgebietes der Gerontologie mit entscheidend. Hier untersuchte man die Dynamik psychischer Veränderungen im Alter und hatte viel Arbeit damit, den gängigen Vorurteilen über »natürliche« psychische Abbauprozesse im Alter durch wissenschaftliche Studien zu begegnen. Für das übrige Erwachsenenalter herrschte lange Zeit das Bild einer »fertigen Person« vor. Nach dieser Vorstellung entwickelt sich eine Person durch Reifungs- und Lernvorgänge in Kindheit und Jugend bis die Entwicklung mit Erreichen des Erwachsenenalters abgeschlossen ist; die erwachsene Person bleibt dann lange weitgehend stabil bis sie sich unter dem Einfluss biologischer Abbauprozesse im Alter allmählich psychisch und sozial zurückzieht. Diese Vorstellung vom Lebenslauf als einem »Auf und Ab« mit einer langen Periode relativer Konstanz um die Mitte des Lebens lässt sich heute nicht mehr aufrechterhalten. Seit dem Beginn der 1970er Jahre hat sich in der Entwicklungspsychologie immer mehr ein Modell der lebenslangen Entwicklung durchgesetzt. Dieses sieht Möglichkeiten für eine Veränderung der Person über den gesamten Lebenslauf und macht entsprechend auch die Entwicklung im Erwachsenenalter zum Gegenstand ihrer Forschungen.

    Diese Einführung in die Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters macht den Versuch, das gesamte Erwachsenenleben in einer einheitlichen Systematik und im Zusammenhang zu beschreiben. Sie geht aus von den Prämissen, dass

    •  sich das Erwachsenenalter als längste Lebensphase sinnvoll abgrenzen und als Einheit verstehen lässt,

    •  sich im Erwachsenenalter eine Fülle von Phänomenen und Prozessen der psychischen Entwicklung beobachten lassen, die zu erklären wissenschaftlich interessant und relevant ist,

    •  die Entwicklungsprozesse von erwachsenen Menschen eine große gesellschaftspolitische und praktische Bedeutung haben, denn der rasche gesellschaftliche, ökonomische, technologische und soziale Wandel erfordert Menschen, die in der Lage sind, auch als Erwachsene ständig dazu zu lernen und sich weiterzuentwickeln.

    Das Erwachsenenalter ist ein relativ junges Gebiet der Entwicklungspsychologie, für das bisher nur recht vorläufige Wissensbestände und Systematiken vorliegen und in dem noch viele Forschungslücken und uneingelösten Forschungsprogramme zu erkennen sind. »Wir sind heute noch nicht in der Lage, eine ›Entwicklungspsychologie des mittleren Erwachsenenalters‹ zu schreiben; wir können höchstens einige Ansätze aufzeigen, die dieses Gebiet anzugehen versuchen.« (Lehr, 1978, S. 148) Diese zurückhaltende Einschätzung einer führenden deutschen Entwicklungspsychologin vor mehr als drei Dekaden gilt in der Tendenz auch heute noch. Dennoch glaubten wir bereits bei der ersten Auflage 1992, den Versuch wagen zu können, wenn wir die vorliegenden Erkenntnisse (mit Anleihen auch aus anderen Teilgebieten der Psychologie) in einen systematischen Rahmen stellen und dabei gleichzeitig ihre Lücken kenntlich machen. Diese Einführung in das Erwachsenenalter wird daher auch heute noch teilweise mosaikartig sein und eine kritische Grundhaltung haben müssen. Wir sind aber überzeugt, dass genügend Material zu einer konsistenten Darstellung vorliegt und dass ein Blick auf das ganze Erwachsenenalter eine fruchtbare Perspektive bietet. Wir können zudem aus unseren eigenen Erfahrungen als Hochschullehrer einen großen Bedarf an deutschsprachigen Texten feststellen, die für die universitäre Lehre und für die psychologisch-pädagogische Praxis als Einführung in die Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters geeignet sind. Obwohl sich heute die Situation gebessert hat und neuere wissenschaftliche Werke zum Erwachsenenalter vorliegen (z. B. Filipp & Staudinger, 2005; Willis & Martin, 2005; Brandtstädter & Lindenberger, 2007), gilt diese Einschätzung immer noch. Nicht zuletzt hoffen wir, dass die Perspektive auf den gesamten Erwachsenenlebenslauf dazu beitragen kann, die Problemfelder des Erwachsenenlebens stärker im prozesshaften Zusammenhang und mit biographisch-langfristigem Blick zu sehen.

    Die Einteilung des gesamten Lebenslaufes in Phasen oder Abschnitte ist nicht nur ein Problem für eine wissenschaftliche Disziplin wie die Entwicklungspsychologie, das uns im Weiteren noch beschäftigen wird. Sie ist auch als Produkt einer historisch-gesellschaftlichen Situation zu verstehen, ein Ausdruck des Denkens und der Wirklichkeit einer historischen Epoche und einer Gesellschaft. Wie beispielsweise Ariès (1975) gezeigt hat, sind unser heutiges Verständnis von der Kindheit und ihre Abgrenzung als Lebensabschnitt in der historischen Entwicklung erst spät entstanden und beileibe nicht für alle Gesellschaftsformen gültig. Gleichfalls ist die Abgrenzung des Erwachsenenalters als Lebensabschnitt, seine zeitliche Ausdehnung und Unterteilung historisch variabel und durch die gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse einer Epoche bedingt. In den meisten modernen Industriegesellschaften setzt man heute den Zeitpunkt der Volljährigkeit mit dem 18. Lebensjahr an und damit beginnt dann zumindest im rechtlichen Sinn das Erwachsenenleben. Aber es ist offensichtlich, dass Jugendliche mit Erreichen dieses Alters nicht automatisch zum Erwachsenen werden.

    Wir wollen uns trotzdem zunächst pragmatisch darauf einigen, das Erwachsenenleben etwa mit dem Alter der rechtlichen Volljährigkeit beginnen zu lassen. Während sich im Beginn des Erwachsenenalters eine gesellschaftliche Konvention ausdrückt, ist das Ende des Erwachsenenlebens eindeutig durch den biologischen Tod bestimmt. Auch dessen Zeitpunkt ist jedoch nicht invariabel, sondern von sozial und kulturell geprägten Lebensverhältnissen abhängig. Wie der dramatische Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung von 47 Jahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf über 75 Jahren am Ende des Jahrhunderts zeigt, hat sich in den westlichen Industriegesellschaften die Lebensphase des Erwachsenenalters zeitlich enorm ausgeweitet. Diese große Ausdehnung des Erwachsenenlebens hat ein völlig anderes gesellschaftliches Bild vom Erwachsenen zur Folge, das wiederum die Lebensvorstellungen des einzelnen Menschen prägt. Unser Gegenstand Erwachsenenalter ist somit historisch in der vorliegenden Form erst entstanden und umfasst heute eine Epoche von fast sechs Jahrzehnten im Leben. Entsprechend ergibt sich die Notwendigkeit, diese lange Phase des Erwachsenenalters zu unterteilen, wobei eine Tendenz zu beobachten ist, immer differenziertere Untergliederungen vorzunehmen, je weiter sich die Phase des Alters ausdehnt.

    Das betrifft auch den Aufbau dieses Lehrbuchs. Wir haben uns entschieden, unsere Darstellung an einer Grobgliederung des Erwachsenenlebens in drei Abschnitte auszurichten. Wir sehen aber die Probleme, die jede Phaseneinteilung des Erwachsenenalters mit sich bringt, und werden diese auch im Kap. 3 ausführlich diskutieren.

    In Kap. 2 werden wir zunächst das Erwachsenenalter in seinem gesellschaftlichen Kontext und in seinem aktuellen Stellenwert in der Entwicklungspsychologie beschreiben; dabei wird es auch zur Klärung grundlegender Fragen wie der nach dem wissenschaftlichen Begriff von Entwicklung und nach den grundlegenden Modellen einer Subjektentwicklung im Erwachsenenalter kommen.

    Das Kap. 3 wird dann das Erwachsenenleben in seiner Gesamtheit und seiner Stellung im Lebenslauf darstellen; dabei werden wir sowohl die zentralen Konzepte zur Erfassung des Erwachsenenalters als auch die aktuellen Forschungstrends beschreiben.

    In den Kap. 4, 5 und 6 werden wir dann auf dieser Grundlage die drei großen Abschnitte des Erwachsenenlebens ausführlich beschreiben:

    •  frühes Erwachsenenalter (Alter: 20 bis 40 Jahre),

    •  mittleres Erwachsenenalter (Alter: 40 bis 60 Jahre),

    •  spätes Erwachsenenalter (Alter: über 60 Jahre).

    Der vorläufige Charakter dieser Alterseinteilung sollte dem Leser und der Leserin¹ aber immer bewusst bleiben. Die Darstellung der verschiedenen Lebensabschnitte wird jeweils ähnliche Themen aufgreifen, die zuerst in Kap. 3 eingeführt werden. In jeder Phase des Erwachsenenalters werden aber auch jeweils spezifische Schwerpunkte gesetzt. Auf diese Weise wird ein ganzheitlicher Blick auf die sich entwickelnde Person möglich, der uns für die Darstellung des Erwachsenenalters besser geeignet erscheint als eine Beschreibung der Entwicklung einzelner psychischer Funktionen.

    Die Resonanz auf die ersten beiden Auflagen dieses Buches ermutigt uns, dessen Grundkonzeption auch für die dritte Auflage beizubehalten. Wir haben uns bei der Überarbeitung auf die Aktualisierung der präsentierten Erkenntnisse, auf vorsichtige Ergänzungen und auf einige neue Akzente konzentriert, sofern es neue wissenschaftliche Entwicklungen gab. In den knapp zwanzig Jahren seit dem ersten Erscheinen dieses Lehrbuches sind jedoch in der Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters nur in Teilbereichen neue Aktivitäten zu beobachten. Die geringe Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Disziplin Entwicklungspsychologie in diesem Bereich kann man in gewisser Hinsicht auch mit Enttäuschung registrieren, denn (auch unsere) Erwartungen auf eine stärkere Dynamik dieses Feldes haben sich bisher nicht erfüllt.

    Schließlich noch eine letzte persönliche Bemerkung: Über einen so langen Zeitraum haben sich natürlich auch die Autoren dieses Buches verändert. Sie wurden nicht nur älter, sondern haben inzwischen u. a. auch ihre Hochschulen gewechselt, ihre Arbeitsschwerpunkte verändert und sich hoffentlich auch persönlich weiter entwickelt. Diese Änderungen werden sich in gewisser Weise in dieser dritten Auflage niederschlagen.

    Unser Kollege und Mitautor, Winfried Saup, ist nach langer schwerer Krankheit im April 2011 viel zu früh verstorben. Ihm widmen wir diese Neuauflage.

    1  Zur besseren Lesbarkeit wird im Folgenden darauf verzichtet, jeweils die weibliche und männliche Form zu verwenden; es sind aber natürlich immer beide Geschlechter gemeint, wenn nicht ausdrücklich anders formuliert.

    2          Das Erwachsenenalter in der Entwicklungspsychologie

    Das Kapitel versucht zunächst, die gesellschaftlichen Hintergründe für eine zunehmende Bedeutung des Erwachsenenalters zu erklären. Dann wird das Erwachsenenalter als Lebensphase in den Kontext der Entwicklungspsychologie gestellt und in die in den 1970er Jahren entstandene übergreifende Perspektive einer Entwicklungspsychologie der Lebensspanne eingeordnet. Die Grundlagen und Grundannahmen sowie wichtige Forschungsansätze dieser Orientierung werden dargestellt; dabei werden insbesondere der Entwicklungsbegriff und die Problematik thematisiert, eine geeignete Konzeption für die Erfassung der Entwicklungsprozesse von Erwachsenen zu finden. Abschließend werden grundlegende Modelle der Entwicklung dargestellt und in ihrer Passung für das Erwachsenenalter diskutiert.

    2.1       Das neue Interesse am Erwachsenenalter

    Aus heutiger Sicht ist es schwer verständlich, warum in der langen Geschichte der Entwicklungspsychologie das Erwachsenenalter kaum ein Thema war. Die Entwicklungspsychologie war lange Zeit nahezu identisch mit einer Psychologie des Kindesalters und des Jugendalters. Erst als man sich in den 1960er Jahren auch mit der Entwicklung älterer Menschen zu beschäftigen begann, geriet langsam das Erwachsenenalter in seinem ganzen Verlauf in das Blickfeld der Entwicklungspsychologie. Es ist aber noch nicht einmal vier Jahrzehnte her, dass sich in den 1970er Jahren eine Perspektive zu etablieren begann, welche die psychische Entwicklung über die ganze Lebensspanne zu ihrem Gegenstand erklärte. Diese so genannte »Life-Span Developmental Psychology« erwies sich als neues und fruchtbares Programm für die Forschung, die aber gerade im frühen und mittleren Erwachsenenalter einen enormen Nachholbedarf hatte. Das Erwachsenenalter könnte von einem vernachlässigten Gebiet zu einem innovativen Gebiet der Entwicklungspsychologie werden, wenn die wissenschaftlichen Ressourcen stärker in diesem Bereich konzentriert würden.

    2.1.1     Gesellschaftlicher Wandel

    Wenn wir nach den Gründen für dieses damals erwachte Interesse am Erwachsenenalter fragen, dann können wir unsere Betrachtung nicht auf innerwissenschaftliche Entwicklungen beschränken, sondern müssen auch gesellschaftliche Veränderungen einbeziehen. Neu hervortretende wissenschaftliche Schwerpunkte können auch als eine Antwort auf neue gesellschaftliche Anforderungen gesehen werden. So ist das auch mit dem Erwachsenenalter und der Entwicklungspsychologie. Ähnlich und nahezu zeitgleich mit verwandten Disziplinen wie Soziologie und Pädagogik wurde das Erwachsenenalter als Gegenstand ›entdeckt‹. Die Gründe dafür liegen in einem gesellschaftlichen und demographischen Wandel, der seit einigen Jahrzehnten das Leben von Erwachsenen stark verändert und große Herausforderungen für sie mit sich bringt.

    Historische Analysen wie die des Soziologen Kohli (1985) über die langfristige Veränderung von Alternsverläufen kommen zu dem Schluss, dass der Lebenslauf und das Lebensalter von Menschen keineswegs als ein rein biologisches Geschehen zu verstehen sind, sondern einer gesellschaftlichen Regelung unterliegen. Es lässt sich nämlich zeigen, dass in den westlichen Gesellschaften über die letzten vier Jahrhunderte eine Zunahme in der Institutionalisierung des Lebenslaufes stattfand: Das Lebensalter eines Menschen wurde zunehmend zu einem Merkmal, das seine gesellschaftliche Position und Lebenschancen mitbestimmte. Eine ganz wesentliche Entwicklung war hierfür der drastische Anstieg der Lebenserwartung, die sich z. B. in Deutschland im Laufe des 20. Jahrhunderts fast verdoppelt hat. Mit der Abnahme der Sterblichkeit von Säuglingen, aber auch von Kindern und Erwachsenen, wurde das Sterben immer mehr ins hohe Alter verschoben. Auf dieser Grundlage konnte erst ein vorhersehbarer Lebenslauf und die Vorstellung einer Normalbiographie entstehen, einer Abfolge von sozial erwarteten Ereignissen, die von den meisten Menschen in einem bestimmten Alter durchlaufen werden (z. B. die Heirat, die Geburt des ersten Kindes, die Aufnahme und Beendigung einer Erwerbsarbeit). In der ›vormodernen‹ Familie des 19. Jahrhunderts war etwa die später typische zeitliche Abfolge von Ereignissen im Familienzyklus (Heirat, Geburt der Kinder, Auszug der Kinder aus dem Elternhaus, Tod des Ehegatten) noch nicht der Normalfall. Die gesellschaftliche Regelung des Lebenslaufes zeigt sich aber nach Kohli (1985) auch in der Entstehung von verbindlichen Altersgrenzen zwischen verschiedenen Lebensphasen. So entstand eine grobe Dreiteilung des Lebenslaufes in eine Vorbereitungsphase (Kindheit und Jugend), eine Aktivitätsphase (›aktives‹ Erwachsenenalter) und eine Ruhephase (Alter). Vor allem die Entstehung des Bildungssystems und des Rentensystems im 19. Jahrhundert trugen zu einer rechtlichen Fixierung von Altersgrenzen zwischen diesen Phasen bei (z. B. die allgemeine Schulpflicht, die Volljährigkeit als Altersmarke im Zivil-, Straf- und Wahlrecht). Sie etablierten damit auch erstmals eine Altersphase, die von einem immer größer werdenden Teil der Bevölkerung erreicht und als Ruhestand erlebt wurde.

    Diese Betrachtung in großen historischen Dimensionen muss allerdings relativiert werden, wenn man sich die jüngere Vergangenheit ansieht. Kohli (1985) stellt fest, dass sich spätestens seit dem Beginn der 1970er Jahre »die empirischen Anzeichen dafür (mehren), dass der Prozess der Chronologisierung zu einem Stillstand gekommen ist oder sich sogar umgekehrt hat« (S. 22). Das zeigt sich im familiären Bereich, wo das Heiratsalter ebenso ansteigt wie das Alter der Frauen bei der Geburt ihrer Kinder; der Prozess der Familienbildung wird damit verschoben. Zudem haben die Heiratsneigung und die Geburtenrate abgenommen, die Scheidungsziffern sind stark angestiegen. Die Familie als dominante Lebensform ist heute brüchig geworden, alternative Lebensformen sind entstanden und haben sich ausgehend von der jüngeren Generation ausgebreitet. Diese empirisch feststellbaren Tendenzen bedeuten eine zunehmende Vielfalt von familiären Verläufen und machen eine Pluralität von Lebensformen sichtbar. Der früher stark altersnormierte Familienzyklus ist in dieser Form heute für viele Menschen nicht mehr ein selbstverständlicher Teil ihres Lebenslaufs.

    Eine ganz ähnliche Entwicklung vollzog sich im Bereich der Erwerbsarbeit. Das ›Normalarbeitsverhältnis‹ wurde nicht nur durch eine andauernde Massenarbeitslosigkeit infrage gestellt, sondern auch durch das Entstehen einer Vielfalt von Erwerbsverhältnissen, von diversen Teilzeitformen und befristeten Arbeitsverträgen bis hin zu ›ungeschützten‹ Beschäftigungsverhältnissen (d. h. Jobs ohne Sozialversicherung, Leiharbeit, Heimarbeit, Werkverträge, ›freie Mitarbeit‹). Dieser Tendenz zur Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse und der Arbeitszeit entspricht ein Aufbrechen der normalen Erwerbsarbeitsbiographie: Diese wird an ihrem Anfang und Ende variabel (z. B. verlängerte Ausbildungsphase, erschwerter Berufseinstieg; vorgezogenes und flexibles Rentenalter) und sie enthält zunehmend Brüche im Verlauf einer Berufskarriere. Es wird allmählich für Männer wie für Frauen zur Ausnahme, dass sie einen Beruf ohne größere Veränderung bis zum Erreichen des Rentenalters ausüben. Betriebswechsel, Weiterbildung im Beruf, Höherqualifizierung und Berufswechsel sind heute fast selbstverständlich geworden, aber auch Phasen der Erwerbslosigkeit und Unterbeschäftigung, Erfahrungen der Dequalifizierung oder des beruflichen Abstiegs sind keine Seltenheit mehr.

    Diese Entwicklungen in Familie und Erwerbsleben sind Teil eines gesellschaftlichen Umbruchprozesses, der die sozialen Bezüge der Menschen tief greifend umgestaltet. Dieser Wandel der modernen Industriegesellschaft wird auch als Individualisierungsprozess gekennzeichnet und ist vor allem von dem Soziologen Ulrich Beck (1986) umfassend dargestellt worden. Er macht einen Modernisierungsschub aus, der dabei ist, die westlichen Industriegesellschaften qualitativ zu verändern. Die dabei zentralen sozialen Veränderungen fasst er unter der These der Individualisierung zusammen: »Vor dem Hintergrund eines vergleichsweise hohen materiellen Lebensstandards und weit vorangetriebenen sozialen Sicherheiten wurden die Menschen in einem historischen Kontinuitätsbruch aus traditionellen Klassenbindungen und Versorgungsbezügen der Familie herausgelöst und verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles Arbeitsmarktschicksal mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen« (Beck, 1986, S. 116). Dieser Individualisierungsprozess lässt sich analytisch auf drei Dimensionen darstellen: a) als Herauslösung aus traditionellen Sozial- und Lebenszusammenhängen, insbesondere aus den sozialen Klassen, Geschlechtsrollen und Familienbezügen; b) als Verlust von traditionellen Sicherheiten, die in diesen Strukturen gegeben waren; und c) als neue Art sozialer Einbindung, die Beck im Wesentlichen in der vollständigen Abhängigkeit des Individuums vom Arbeitsmarkt sieht: »Der oder die Einzelne selbst wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen … Die Familie (…) zerbricht, und die Individuen werden innerhalb und außerhalb der Familie zum Akteur ihrer marktvermittelten Existenzsicherung und ihrer Biographieplanung und -organisation« (ebd., S. 209).

    Becks Individualisierungsthese hat in den Sozialwissenschaften starke Impulse für eine umfassende Auseinandersetzung mit dem aktuellen Wandel in den modernen Gesellschaften gegeben, dabei teilweise kontroverse Diskussionen ausgelöst, wie diese Veränderungen verstanden werden können und welche politischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind (Beck, Giddens & Lash, 1997). Die fortschreitende Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse hat inzwischen zu einer Debatte unter dem Stichwort »Flexicurity« geführt, wie für die Arbeitnehmer/innen mit arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Instrumenten ein besseres Gleichgewicht zwischen Flexibilität und Sicherheit (»security«) geschaffen werden kann (vgl. Klammer, 2005). Die raschen ökonomischen Entwicklungen und ihre Krisen, die voranschreitende Globalisierung und die Fortschritte der Informationstechnologie haben nicht nur tiefgreifende Veränderung in der Arbeitswelt mit sich gebracht, sondern sie wirken sich auch immer mehr auf die privaten Lebensumstände der Menschen und ihre Lebensverläufe aus. In der Soziologie hat sich bereits in den 1970er Jahren eine Forschungsperspektive auf den Lebenslauf (»life course«) entwickelt, die sich mit den Zusammenhängen zwischen diesem gesellschaftlich-historischen Wandel und den Veränderungen von Lebensläufen und ihren gesellschaftlichen Institutionen befasst (vgl. Kohli, 2007; Heinz, Huinink & Weymann, 2009; Mayer & Diewald, 2007).

    Für unser Thema bedeutet dies, dass das einstmals relativ kontinuierlich verlaufende Erwachsenenalter in vieler Hinsicht unruhig geworden ist. Erwachsene müssen heute eine Fülle von unterschiedlichen Anforderungen bewältigen und mit vielen Veränderungen in ihrem Leben fertig werden. Die Menschen können sich heute nicht mehr darauf verlassen, dass sie die Erziehung und Sozialisation in Kindheit und Jugend so weitgehend auf das Erwachsenenalter vorbereitet hat, dass sie damit problemlos durchs Leben kommen, vielmehr ist eine ›Nachsozialisation‹ erforderlich. Das Bild des Erwachsenen als ›fertige Person‹ gehört der Vergangenheit an, wenn es überhaupt jemals gestimmt hat. Die Gesellschaft erwartet heute von ihren mündigen Bürgerinnen und Bürgern ›lebenslanges Lernen‹, ›Flexibilität‹, ›Mobilität‹, ›ständige Weiterbildung‹, ›Innovation‹ und einen offenen Umgang mit ›neuen Technologien‹ und den Herausforderungen der ›Globalisierung‹ – um nur einige Schlagwörter zu nennen. Ständig neue berufliche Anforderungen und Qualifikationen, diskontinuierliche Erwerbsverläufe und instabile Beziehungsbiographien sowie sich rasch verändernde Familien- und Beziehungsstrukturen machen insgesamt einen anderen Persönlichkeitstypus erforderlich, der auch als ›der flexible Mensch‹ (Sennett, 1998) gekennzeichnet wurde. Dieser gesellschaftliche Wandel lässt somit elementare Fragen nach den Entwicklungsprozessen von Erwachsenen entstehen und einen deutlichen Bedarf für die Erwachsenenbildung erkennen: Einerseits entstehen durch die genannten sozialen Freisetzungen, die Zwänge durch traditionelle Einbindungen wegfallen lassen, für das Individuum neue Handlungs- und Gestaltungsspielräume und damit neue Entwicklungschancen. Andererseits tauchen durch den Wegfall einstmals stabiler Koordinaten im Leben für den Einzelnen viele Unsicherheiten und Widersprüche auf, die auch zu Überforderungen und Krisen sowie zur Gefährdung personaler Identitäten führen können (Keupp, Ahbe, Gmür et al., 1999). Die Entwicklungspsychologie muss sich diesen soziologischen und psychologischen Fragen und den damit verbundenen praktischen Problemen stellen und sich verstärkt den Lebensläufen und Entwicklungsprozessen von Erwachsenen zuwenden.

    2.1.2     Veränderungen in der Entwicklungspsychologie

    Die Entwicklungspsychologie hinkt dieser gesellschaftlichen Entwicklung zwar hinterher. Aber sie reagierte immerhin mit der stärkeren Thematisierung von psychischer Entwicklung im Erwachsenenalter auf diesen gesellschaftlichen Wandel und auf die damit verbundenen praktischen Herausforderungen. Es stellt sich dabei nicht nur die Frage, wie der erwachsene Mensch diese neuen Aufgaben bewältigt und ständig das neue Wissen und die Kompetenzen erwirbt, die von ihm erwartet werden. Es fragt sich auch kritisch, wie viele Veränderungen er verkraften kann, ohne seine psychische Integrität zu gefährden. Das führt schließlich auch zur emanzipatorischen Frage einer Subjektentwicklung, nämlich wo der Spielraum und die Möglichkeiten für den Menschen liegen, sein Leben und seine soziale und gesellschaftliche Umwelt aktiv zu gestalten. Somit ergibt sich für eine Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters die zentrale Aufgabe zu bestimmen, wie Persönlichkeitsentwicklung nicht nur als Anpassung, sondern auch als Wachstumsprozess verstanden und gestaltet werden kann.

    Die in den 1970er Jahren entstandene Konzeption von einer lebenslangen Entwicklung hatte ihre innerwissenschaftliche Grundlage in dem als zu eng erkannten Gegenstand der bisherigen Entwicklungspsychologie. Die ›Leerstelle‹ des Erwachsenenalters wurde von zwei Seiten als solche wahrgenommen und in der Folge zu schließen versucht. Auf der einen Seite hat die klassische Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters zunehmend erkennen müssen, dass die bisherige obere Grenze ihres Gegenstandsbereichs, die abgeschlossene Adoleszenz, nicht so eindeutig zu bestimmen ist und eine psychische Weiterentwicklung im Erwachsenenalter keineswegs ausgeschlossen ist. Entwicklungspsychologische Längsschnittstudien, die Kinder und Jugendliche bis ins Erwachsenenalter hinein wiederholt untersuchten, zeigten, dass auch Erwachsene in zentralen psychischen Merkmalen nicht so stabil bleiben, wie man zunächst erwartete. So demonstrierten zum Beispiel die Ergebnisse der US-amerikanischen Berkeley-Längsschnittstudien, eines der bekanntesten und umfangreichsten entwicklungspsychologischen Projekte, in dem Kinder von der Geburt bis ins 42. Lebensjahr untersucht wurden (Eichorn, Clausen, Haan et al., 1981), dass die intellektuellen Fähigkeiten auch im Erwachsenenalter noch deutlich zunehmen können. Diese intraindividuellen Veränderungen der Intelligenz stehen in enger Beziehung zu anderen Persönlichkeitsmerkmalen (wie z. B. der Fähigkeit zur Introspektion) sowie zu stimulierenden Erfahrungen im frühen Erwachsenenalter und sie zeigen große interindividuelle Unterschiede. Wenn sich aber Erwachsene weiterentwickeln, dann kann die Entwicklungspsychologie nicht einfach ihre Arbeit für beendet erklären, wenn der Jugendliche das Volljährigkeitsalter erreicht hat.

    Auf der anderen Seite hing der gerontologische Zweig der Entwicklungspsychologie immer etwas in der Luft. Zwar konnte die Gerontologie die Veränderung von diversen psychischen Funktionen im Alter beschreiben. Aber um diese Prozesse erklären zu können, musste man sich auch mit den vorangegangenen Phasen des Lebens beschäftigen. So wagte sich die Gerontologie langsam ins mittlere Erwachsenenalter vor und richtete ihren Gegenstand auch an den Prozessen des Alterns aus und nicht nur an der Lebensphase ›Alter‹. Eine wichtige Rolle spielten auch hier Untersuchungen zur Intelligenzentwicklung im Erwachsenenalter. Ging die frühe Forschung noch davon aus, dass Menschen im späten Erwachsenenalter in fast allen kognitiven Leistungen negative Veränderungen zeigen, so wurde dieses Bild eines intellektuellen Abbaus im Alter durch die Forschungen der 1970er Jahre zunehmend infrage gestellt. Sie waren geprägt durch ein differenzierteres Konzept von der Intelligenz und durch methodische Fortschritte bei ihrer Messung. Die bisherige Standardmethode, Leistungen in Intelligenztests zwischen verschiedenen Altersgruppen zu vergleichen und aus dem meist schlechteren Abschneiden der älteren Populationen auf einen Altersabbau zu schließen, erwies sich in vieler Hinsicht als sehr fragwürdig. Die Haupteinwände gegen ein derartiges Vorgehen (vgl. Baltes, Reese & Lipsitt, 1980) umschreiben gleichzeitig wesentliche Probleme einer entwicklungspsychologischen Forschungsmethodik:

    1.  Es stellt sich die Frage, ob eine Messmethode wie der Intelligenztest, der auf einem »trait«-Modell und damit einer statischen Vorstellung von Persönlichkeit fußt, überhaupt dazu geeignet ist, Veränderungen von Persönlichkeitsmerkmalen adäquat zu erfassen. Zudem ergibt sich das Problem, dass die verwendeten Methoden nicht unbedingt für alle Altersstufen passend sind. Die gebräuchlichsten Intelligenztests wurden überwiegend mit Blick auf den jungen Erwachsenen hin konstruiert; sie werden damit dem Leistungsvermögen des älteren Menschen nicht gerecht, weil sie seine spezifischen Fähigkeiten zur ganzheitlichen, integrierenden, langfristigen Problemlösung nicht angemessen

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