Zimmer zum Hof: Erzählungen
By Jürg Amann
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About this ebook
Ein Schriftsteller bekommt über Jahre hinweg Briefe von jemandem zugesandt, der sich nicht zu erkennen gibt. Er hofft, mit Hilfe eines Graphologen das Rätsel lösen zu können.
Ein Kongressteilnehmer in einem Hotelzimmer mit Fenster zum Hof verwechselt Eros mit Thanatos.
Ein Ehemann erwacht aus einem orgiastischen Traum und trägt von da an das Bild seiner Traum-Frau mit sich.
Ein alter Mann schiebt den leeren Rollstuhl seiner verstorbenen Frau vor sich her und bilanziert ihr gemeinsames Leben.
Ein Angestellter befindet sich im World Trade Center, während es brennt und zusammenstürzt. Er erfährt via TV von der Katastrophe, deren Teil er selber ist.
Wie Jürg Amann knapp und klar vom Unerklärlichen erzählt, ist große literarische Kunst und Lesevergnügen zugleich.
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Zimmer zum Hof - Jürg Amann
TURM
EIN PAAR BRIEFE
Gegen Ende des Jahres 1987 erhielt ich, zum ersten Mal in meinem Leben, einen anonymen Brief. Eigentlich nur eine Postkarte, aber in einen Briefumschlag gesteckt. Ohne Absender, ohne Anrede, ohne Unterschrift, ohne Datum. Das Absendedatum, undeutlich auf die Briefmarke gestempelt, war, Irrtum vorbehalten, der 27. 10. 87. Der Poststempel nannte als Absendeort die Stadt Klagenfurt. Die Karte, die in dem Umschlag enthalten war, eine Fotografie, zeigte die Klagenfurter Kreuzberglkirche, erbaut 1738–1741, in strahlendem Kaisergelb, auf einer leichten Anhöhe gelegen, eingerahmt von prächtigen Herbstbäumen, vorgelagert die Bildstöcke eines Kreuzwegs, der zum Portal der Kirche hinanführt. Auf der Rückseite der Karte standen, in einer angenehmen Handschrift, mit blauer Tinte leicht leserlich geschrieben, die wenigen Zeilen: »Liebe Grüsse aus dem herbstlichen Klagenfurt, an das Sie sich, wie ich hoffe, vielleicht gelegentlich noch erinnern. Ich habe auch Ihre jüngsten Werke gelesen, Patagonien sogar mehrmals, und freue mich auf weitere Veröffentlichungen.«
Das war fürs erste alles. Der Brief folgte ein paar Tage später. »Lieber Dichter«, war er überschrieben: »Vor nun schon über fünf Jahren habe ich Sie zum ersten Mal gesehen. Schon damals hätte ich Sie gerne kennen gelernt. Immer wieder hoffte ich, dass der Zufall uns einmal, für Augenblicke wenigstens, zusammenführen würde. Aber es sind andere Wege, auf denen Sie sich bewegen, wir wären uns nie begegnet. Haben Sie keine Angst, ich will Ihnen Ihre Freiheit oder allenfalls Gebundenheit nicht nehmen, von einem solch ungeschickten und wenig raffinierten Menschen wie mir droht Ihnen keine Gefahr. Auch bin ich selbst nicht mehr frei. Und doch wünsche ich mir, Sie einmal zu treffen, nicht sterben zu müssen, ohne Sie noch einmal gesehen zu haben, für ein paar Stunden nur, um dann wieder einzutauchen in meinen Alltag, mich wieder zurückzuziehen, aber nicht zu vergessen. Im kommenden Juli, Ihrem Geburtsmonat, werde ich ein paar Tage in Wien verbringen. Ich weiss aber noch nicht, ob ich den Mut aufbringe, mich dann telefonisch bei Ihnen zu melden. Liebe Grüsse.« Und ein P.S. war noch angefügt: »Bis dahin werde ich nichts mehr von mir hören lassen. Sie können also beruhigt sein.«
Wiederum keine Unterschrift und kein Absender. Das Datum des Poststempels, auch diesmal ohne Gewähr, war der 16. 11. 87, nur der Aufgabeort Klagenfurt war wieder deutlich zu lesen. Vor fünf Jahren also. In der Tat hatte ich in der besagten Zeit in der besagten Stadt zu tun gehabt, ich hatte dort gelesen und sogar einen Preis dafür bekommen. Aber ich konnte mich nicht an eine Begegnung irgendwelcher Art erinnern, auf die ich die plötzlichen Zuschriften hätte zurückführen oder beziehen können. Beigelegt war dem Schreiben ein Blatt, das die Überschrift »Unbedacht« trug und eine Art kleiner Erzählung oder Bericht enthielt:
»Du stehst in einer dieser stickigen Fernsprechkabinen des hiesigen Bahnhofspostamtes, in die dich schon kurz zuvor, als du am Schalter standst, eine alte Frau mit dem Ansinnen gerufen hat, sie sei nicht in der Lage zu wählen, sie habe die Brille vergessen, das schlechte Licht, du mögest so lieb sein, es für sie zu tun. Natürlich, das tust du ja gern! In diesen kurzen Augenblicken, in denen du also für jemand anderen eine Verbindung herstellst, von hier nach dort, in denen du es dir selber sozusagen vormachst, wie einfach das ist, in diesen Augenblicken bemerkst du noch gar nicht, wie du dich von dir entfernst, wie du das Unvorstellbare, wie du das Gefürchtete beschliesst. Dann hörst du dich wie von weitem fragen, stottern, pressen, besinnungslos vor Angst, vor Angst vor dir selbst, vor deinem Mut – woher du den nur genommen hast? –, erschrickst über jedes Wort, das du sagst, das du nicht sagst, das gesagt wird von weither, das aber so nicht gesagt werden sollte, so nicht! Und als dann die Empörung kommt von der anderen Seite, vom anderen Ende, die doch verständlich ist, weil es ja nicht zu verstehen ist, was du sagst, da weisst du plötzlich, dass du alles verdorben hast.«
Eine Art Hilferuf, schien es mir, eine Art Flucht nach vorn, ein Versuch im nachhinein, doch noch verstanden zu werden, ein Amoklauf, ein Harakiri. Aber mir sagte auch das nichts. Wie sehr ich mich auch erforschte, ich war mir ganz sicher, beim besten Willen, ein Telefongespräch der geschilderten Art hatte ich nicht geführt.
Wohl am 14. Dezember erreichte mich ein Brief, der am 12. 12. 87 in Klagenfurt abgestempelt worden war. »Weinen hätte ich können«, hiess es da, »weinen vor Wut und Verzweiflung, als ich am Montag, den 7. Dezember, die Ausgabe vom Freitag, den 4. Dezember, der Kleinen Zeitung durchblätterte und darin den Kulturkalender las. Ich glaubte zu träumen. Eine Viruserkrankung hatte mich tagelang geplagt, das Tagesgeschehen hatte mich nicht interessiert. Aber am Sonntagabend war es mir schon etwas besser gegangen,