Irrlicht 21 – Mystikroman: Teufelskult auf Manderley
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Finstere Schatten aus dem Jenseits greifen nach dir, Kelly! Das frisch ausgehobene Grab – auf die Maße eines Kindersarges zugeschnitten – war klein, und in den Gesichtern der Trauergemeinde spiegelte sich Bestürzung wider. Abseits von den anderen stand eine zierliche Frau ein Stück näher am Grab. Sie weinte, doch ihr Weinen blieb stumm. An sich war Schmerz nichts Neues für sie, nur war er diesmal grausamer als je zuvor. Der Geistliche, ein Mann von großer, gebeugter Gestalt, schaute dann und wann über den Rand seines Gebetbuches zu ihr hinüber. Er hoffte, daß kein unschicklicher Anfall von Hysterie die Trauerfeier stören würde, denn er wußte, daß Jessica kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Der Tod ihres Mannes vor knapp einem Jahr war ihr nicht so nahe gegangen – in Wahrheit hatte der Kerl nichts getaugt – doch der Junge war stets der Mittelpunkts ihres Lebens gewesen. Mutter und Sohn hingen sehr aneinander, und sie hatten die Schlechtigkeit des Vaters bald vergessen, hatten ihn rasch aus ihren Gedanken und Gesprächen verdrängt. George Buchanans Tod war entsetzlich gewesen, und der Geistliche fragte sich, wie die Witwe und das Kind – jenes Kind, das jetzt zu Grabe getragen wurde – damit fertig geworden waren. Schließlich war der Sohn dabei gewesen, als der Vater starb. Selbst der Reverend betrachtete es nicht als unchristlich, daß George Buchanan in seinen Augen nichts getaugt hatte, denn der Verblichene war ein so schlechter Mensch gewesen, daß er nicht einmal bei einem Mann der Kirche Mitleid erwecken konnte. Dennoch fühlte er sich schuldig, wenngleich in anderer Hinsicht. Er vertiefte sich wieder in sein Gebetbuch. Seine knotigen Hände zitterten, während er die Zeilen aus dem Gebetbuch leise verlas: »Herr, du weidest uns auf einer grünen Aue. Nichts wird uns mangeln, wenn du bei uns bist. Deine Engel mögen uns behüten…« Behutsam wurde der Sarg in die Erde gesenkt, und für einen Augenblick befürchtete der Pfarrer, die Mutter würde hinterher springen. Bedenklich schwankend stand sie vor dem offenen Grab und schien jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Zum Glück trat einer der Trauernden zu ihr – ein Freund oder Verwandter, aber sicherlich kein Dorfbewohner –, nahm sie am Ellenbogen und zog sie vom Grab weg.
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Irrlicht 21 – Mystikroman - Gloria von Raven
Irrlicht
– 21 –
Teufelskult auf Manderley
Finstere Schatten aus dem Jenseits greifen nach dir, Kelly!
Gloria von Raven
Das frisch ausgehobene Grab – auf die Maße eines Kindersarges zugeschnitten – war klein, und in den Gesichtern der Trauergemeinde spiegelte sich Bestürzung wider. Abseits von den anderen stand eine zierliche Frau ein Stück näher am Grab. Sie weinte, doch ihr Weinen blieb stumm. An sich war Schmerz nichts Neues für sie, nur war er diesmal grausamer als je zuvor. Der Geistliche, ein Mann von großer, gebeugter Gestalt, schaute dann und wann über den Rand seines Gebetbuches zu ihr hinüber. Er hoffte, daß kein unschicklicher Anfall von Hysterie die Trauerfeier stören würde, denn er wußte, daß Jessica kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Der Tod ihres Mannes vor knapp einem Jahr war ihr nicht so nahe gegangen – in Wahrheit hatte der Kerl nichts getaugt – doch der Junge war stets der Mittelpunkts ihres Lebens gewesen. Mutter und Sohn hingen sehr aneinander, und sie hatten die Schlechtigkeit des Vaters bald vergessen, hatten ihn rasch aus ihren Gedanken und Gesprächen verdrängt. George Buchanans Tod war entsetzlich gewesen, und der Geistliche fragte sich, wie die Witwe und das Kind – jenes Kind, das jetzt zu Grabe getragen wurde – damit fertig geworden waren. Schließlich war der Sohn dabei gewesen, als der Vater starb. Selbst der Reverend betrachtete es nicht als unchristlich, daß George Buchanan in seinen Augen nichts getaugt hatte, denn der Verblichene war ein so schlechter Mensch gewesen, daß er nicht einmal bei einem Mann der Kirche Mitleid erwecken konnte. Dennoch fühlte er sich schuldig, wenngleich in anderer Hinsicht. Er vertiefte sich wieder in sein Gebetbuch. Seine knotigen Hände zitterten, während er die Zeilen aus dem Gebetbuch leise verlas: »Herr, du weidest uns auf einer grünen Aue. Nichts wird uns mangeln, wenn du bei uns bist. Deine Engel mögen uns behüten…«
Behutsam wurde der Sarg in die Erde gesenkt, und für einen Augenblick befürchtete der Pfarrer, die Mutter würde hinterher springen. Bedenklich schwankend stand sie vor dem offenen Grab und schien jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Zum Glück trat einer der Trauernden zu ihr – ein Freund oder Verwandter, aber sicherlich kein Dorfbewohner –, nahm sie am Ellenbogen und zog sie vom Grab weg. Sie ließ es widerstandslos geschehen und senkte ihr Kinn noch tiefer auf die Brust, als der Mann ihr sanft auf den Rücken klopfte. Nach kurzer Zeit war die Beisetzung vorüber, und Jessica Buchanan, die jetzt noch gebeugter ging als zuvor, wurde auf dem engen Weg zwischen den Grabsteinen und durch das Kirchhofportal zu den wartenden Fahrzeugen geleitet. Der Reverend war überrascht, als sie allein in den ersten Wagen stieg und kurz etwas zu dem Mann sagte, der sie getröstet hatte; dann schloß sie die Wagentür. Das schwarze Fahrzeug fuhr langsam davon und ließ die restlichen Trauergäste stehen. Auf den Gesichtern der Leute, die dem Wagen hinterherschauten, war Erstaunen zu lesen. Der Mann, mit dem Jessica gesprochen hatte, zuckte mit den Schultern, und die anderen schüttelten voller Mitleid den Kopf. Dann gingen sie schlurfend zu ihren Fahrzeugen.
Ich muß allein sein, sagte sich Jessica, als der schwarze Volvo die kurze Strecke zu ihrem Haus zurücklegte. Die anderen würden ohnehin nicht begreifen, was es hieß, sein einziges Kind zu verlieren, den einzigen Menschen, der einen aufrichtig liebte, weil man ihn liebte, der nie in Frage stellte, was man ihm sagte, und der nie Dummheiten machte, wie andere Kinder es tun. Nachdem George Buchanan bei diesem unglücklichen Unfall ums Leben kam, war Jessica nur der Junge geblieben. Und mehr hatten sie auch nicht gebraucht. Oh, Gerrit, mein Sohn – warum du? Warum hat der Allmächtige dich mir weggenommen? Als Strafe für diese schmutzigen Dinge, die ich mit – die ich für – George getan habe? Dinge, für die man sich bis ins Grab hinein schämen mußte: schändliche, schreckliche Dinge. War das die Strafe Gottes? Oh, Herr im Himmel, er hat mich dazu gezwungen. Ich hatte wahrlich
keinen Spaß daran. Aber ich habe sie für dich getan, verstehst du, Gerrit? Oh, gib mir meinen Sohn zurück, lieber Gott, gib ihn mir zurück, nimm mir nicht das Liebste auf der Welt! Ich tue alles, was du willst, o Herr! Gib mir nur Gerrit wieder!
Ein leises Stöhnen entrang sich ihr, nachdem sie den ganzen Morgen keinen Laut von sich gegeben hatte. Sie konnte ihren Kummer nicht mehr zurückdrängen, und endlich strömten die Tränen. Der Fahrer des Leichenwagens beobachtete sie im Rückspiegel, und seine Augen, die in mehr als zwanzig Jahren viel Trauer gesehen hatten, waren ein wenig feucht. Arme Frau, dachte er bei sich. Kein Leichenschmaus nach der Beerdigung, niemand da, der ihr im Leid Trost spenden kann.
Da fuhr sie allein zurück in ihr Haus, um einsam zu trauern. Das war wirklich nicht recht. In ihrer Situation mußte sie jemanden um sich haben – mußte reden, getröstet werden und ein paar Seelenwärmer trinken. Der Alkohol betäubt die Sinne und macht den schrecklichen Schmerz für eine Weile ein bißchen erträglicher.
Einige Dorfbewohner, die mit den Buchanans mitfühlten, hielten inne und schauten dem tristen schwarzen Leichenwagen nach, wie er die schmale Straße entlangrollte. Die älteren Männer zogen aus Respekt ihre Hüte, und einige von den Frauen bekreuzigten sich aus Anteilnahme, als wollten sie stellvertretend ein winziges Stück von Jessica Buchanans Leid auf sich nehmen. Als der Wagen mit der einsamen, trauernden Insassin vorbeigefahren war, gingen die Leute wieder an ihre alltägliche Arbeit. Die Trauer blieb, doch sie verdrängten das schmerzliche Gefühl, weil sie sich um ihre eigene Arbeit kümmern mußten. Arme Mrs. Buchanan – sie war eine gute Frau, die eine schlechte Partie gemacht hatte. Und nun war ihr ein schreckliches Unglück zugestoßen Der Tod war kein Freund, aber für einige Menschen war das Leben es auch nicht. Die Limousine rollte weiter leise dahin. Ihre Geschwindigkeit war dem ernsten Anlaß angemessen. Warum ist es geschehen? Immer wieder stellte Jessica sich diese Frage. Sie war doch nur fünf Minuten fort gewesen – ja, vielleicht auch zehn –, um eine Freimarke zu kaufen und an der Post einen Brief einzuwerfen. Während dieser Zeit saß Gerrit in der Badewanne und spielte, wie so viele Male zuvor. Die Wanne war nur halb voll. Wenige Augenblicke dieses denkwürdigen Tages, ein paar Minuten nur – und, ja, ein Plausch, ein kleiner Tratsch mit Mr. Smiley, dem Postmeister, nur ein paar Worte – weniger als drei Minuten – fünf unbedachte Minuten, in denen Gerrit in seinem Badewasser ertrank –, und dann sofort zurück nach Hause. Doch in dem Augenblick, als sie ihre Schritte auf den kurzen Weg durch den Vorgarten gelenkt hatte, da wußte sie plötzlich, daß etwas nicht stimmte. Eine Ahnung und ein Anflug kalter Angst stach ihr ins Herz. Aber Gerrit war doch schon elf Jahre alt, um Himmels willen – alt genug, um allein zu baden!
Alle hatten das gesagt. Selbst der Leichenbeschauer – obwohl seine Worte barsch geklungen hatten, ohne jedes Mitgefühl – war sehr bemüht gewesen, ihr zu versichern, daß sie keine Schuld treffe. Und alle stimmten ihm zu. Ein Unfall, ein schrecklicher Unfall! Der Körper wies keinerlei Verletzungen auf, es gab keinen Hinweis darauf, daß der Junge ausgerutscht war – geschweige denn, daß jemand ihn unter Wasser gedrückt hatte. Die Vermutung des Leichenbeschauers ging dahin, daß der Junge entweder in der Badewanne eingeschlafen war, weil die Wärme des Wassers ihn müde gemacht hatte, oder daß er »Tauchen« gespielt hatte – und zu viel Wasser geschluckt hatte, als er unwillkürlich wieder atmen mußte. Das erklärte vielleicht den vor Schreck geöffneten Mund des Leichnams. Das war die offizielle Version gewesen. Ein tödlicher Unfall. Warum konnte sie selbst nicht daran glauben? Der Leichenwagen kam langsam vor einer Gruppe dreier schiefergedeckter Häuser zum Stehen. Erst als der Fahrer die Handbremse anzog und sich zu Jessica drehte, die neben ihm saß, fiel ihr auf, daß sie zu Hause angekommen war.
»Darf ich Sie ins Haus begleiten, Mrs. Buchanan?« fragte der Mann.
»Nein«, antwortete sie. Sonst sagte sie nichts, nur dieses kraftlose »nein«.
Dem Fahrer war das gleich. Seltsam, daß sie unbedingt allein nach Hause wollte, daß keine Verwandten oder Freunde eingeladen waren, um ihr Trost zu spenden – und auch kein kleiner Sherry oder Kaffee gereicht wurden – daß es überhaupt kein Ritual gab, die Angehörigen über den Todesfall hinweg zu trösten. Ganz sicher würden die anderen Trauergäste, die auf der Beerdigung gewesen waren, sich im »Schwarzen Eber« ein wenig aufmuntern. Aber diese Frau wollte das offenbar nicht. Sei`s drum. Aber irgendwie war das nicht normal; wenn so ein Trauerfall eintrat, brauchte man für gewöhnlich Menschen um sich herum. Der Fahrer stieg aus und öffnete die Tür des Fonds. Jessica senkte wieder leicht den Kopf, als sie auf die Straße trat. Im letzten der drei Häuser wurde rasch ein Vorhang zugezogen. Die Nachbarin war eher besorgt als neugierig. Jessica nahm es nur ganz am Rande wahr. Sie öffnete das Tor zum Vorgarten, wobei ihr ausgerechnet jetzt auffiel, daß die Angeln geölt werden mußten, die mit ihrem schrillen Quietschen die Stille des Tages störten. Sie ging zum Haus, blieb dann aber auf halbem Wege stehen. Zu beiden Seiten wuchsen Pfingstrosen, Flieder und Schlüsselblumen in einer bunten Reihe – Blumen, die Gerrit und sie liebevoll gepflegt hatten,