Freie Hand: Roman
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About this ebook
"Freie Hand" erzählt vom Auf- und Ableben eines Literatur- und Jazzclubs.
Zwei Freunde gründen mit Geschick und Unterstützung von privater und kommunaler Seite das "ZwölfElf". Eine ehemalige Isolierstation des Evangelischen Krankenhauses aus dem Jahr 1915 wird als Kulturtreffpunkt hergerichtet.
Musiker und Autoren treten auf, bekannte und weniger bekannte Namen, denen Rainer Wieczorek in "Freie Hand" ein kleines literarisches Denkmal setzt.
Der tägliche Blick auf die Sterne gibt Wieczoreks Protagonist die Möglichkeit, seine Beobachtungen mit einer Naturbetrachtung ganz besonderer Art zu kontrastieren. Da er hauptberuflich für die Sendung "Sternzeit" beim Hörfunk arbeitet, werden die Geschehnisse rund um das Kulturhaus mit sichtbaren und unsichtbaren Phänomenen aus den Tiefen des Weltalls in Schwingungsverhältnisse gebracht. Die kosmologischen Betrachtungen stellen dem Literaturbetrieb manchmal eine Welt aus Staub, Gas und Leere an die Seite. Dann aber auch eine Welt, die es zu entziffern und zu entdecken gilt, ein Universum, das nie still steht, sondern sich ins Unbekannte ausdehnt und durch das wir lesend, lachend, liebend - rasen.
Scharfsinnig und mit leisem Witz reflektiert der Autor die Veränderungen im freien und unabhängigen Kulturbetrieb der letzten zwei Jahrzehnte und bezieht Stellung zum derzeitigen Stand der Literatur in einer vermarktungsorientierten Gesellschaft.
Flirrend und leicht ums Herz wird einem, liest man die feinsinnigen Beschreibungen jener Abende im "ZwölfElf", wo die Aura von Literatur plötzlich greifbar scheint.
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Book preview
Freie Hand - Rainer Wieczorek
zugeschrieben
Für Heike und Jana,
mit denen es ein Vergnügen ist.
Auf einer Pénichette
Langsam und sanft glitt die Pénichette durch das Wasser des Canal du Midi. Am Bug, wo die beiden Frauen saßen, war der Motor kaum zu hören; das Kind, das fünzehn Meter weiter auf der Heckterrasse Briefe an die Freundinnen schrieb, hatte es da etwas lauter. Wen aber, der seinen eigenen Klang hat, stört der Lärm der Welt?
»Du musst von Zeit zu Zeit lenken, wenn du schon am Ruder stehst«, sagte Wazwab und begann wieder von seinem Projekt zu schwärmen, während ich für meine rapide Kurskorrektur ein Lächeln meiner Tochter erntete, die sich alsbald wieder ihren Briefen zuwandte – nach Aachen, Leipzig, sonstwohin.
»Sie ist noch ganz am Anfang«, sagte ich leise zu Wazwab, der gar nicht wusste, wovon ich redete, und bald wieder sein Gespräch aufnahm: Der Zahnarzt zahle, wenn die Stadt zahle, fifty-fifty, so habe er ihn jedenfalls verstanden, sagte Wazwab.
»Ein einziger Arzt zahlt so viel wie die Stadt?«
»Der arbeitet für ein Publikum, das anderntags vor der Schönheitschirurgie parkt. Den bucht man beim Golfen. Den bezahlt man persönlich. Der kennt die Spielregeln.«
»Und was will er mit einem Literaturhaus, einem Jazzclub?«
»Das weiß nur er. Gutes tun. Als gebildet gelten. Für den Nachruhm sorgen – Zahnärzte geraten leicht in Vergessenheit.«
Das Kind schrieb.
Wir fuhren aus Le Somail heraus, Richtung Capestang. Mal waren es Pappeln, mal Akazien, mal Pinien, mal Platanen, die das Wasser des okzitanischen Kanals am Verdunsten hinderten; es verdunstete nicht, seit dem siebzehnten Jahrhundert verdunstete es nicht.
Ein gewisser Pierre-Paul Riquet hatte die Wasserstraße zu Zeiten Ludwigs XIV. politisch durchgesetzt. Wasserbrücken, Schleusentreppen, Tunnel mussten gebaut werden, um jene zweihundertvierzig Kilometer lange Teilverbindung zwischen Atlantik und Mittelmeer schiffbar zu machen.
Heute war es allenfalls noch örtlicher Frachtverkehr, der sich langsam und vorsichtig durch die engen Brücken und Schleusen manövrierte, ansonsten war der Kanal eine Touristenattraktion geworden: Rotwein, Marmelade, Ziegenkäse verkauften die Schleusenwärter den vielen Freizeitkapitänen ohne Schiffsführerschein, die Ende Juli in kleinen Konvois durch die Weinbaugebiete des Midi tuckerten.
Es war ein nutzloser Kanal, ein wunderbar nutzloser Kanal, ein Baudenkmal. Hatten wir in den vergangenen Tagen eine einzige Fabrik gesehen?
Unsere Aufgabe, sagte Wazwab, sei es nun, Stadt und Sponsor finanziell in die Pflicht zu nehmen: Was jetzt vereinbart würde, wäre in den folgenden Jahren unsere Überlebensbasis.
»Unsere Arbeitsbasis«, verbesserte ich ihn.
Die Stadt, fuhr Wazwab fort, müsse unsere beiden Gehälter übernehmen, Calais (der Zahnarzt) überweise dann jährlich eine Summe für die Künstler-Honorare.
»Und was hieße das beispielsweise für uns?«
»Mindestens 2000 Mark pro Nase pro Monat. Darunter machen wir es nicht.«
»Netto?«
»Brutto.«
In der Ferne hob sich hellgrau eine alte Festung von den Feldern ab, war das schon Capestang? Ich schaute ins Bordbuch. Hier war jede Kurve, jeder Abstand, jede Brücke einzeln aufgeführt, das Bordbuch kannte stets den nächsten Ort: »Tatsächlich«, sagte ich zu Wazwab, »da hinten: Capestang!«
»Baden wir heute wieder?«, fragte Jana.
Wazwab runzelte die Stirn. Der Canal du Midi verfügte über keine einzige Entsorgungsstation für das Grauwasser der vielen Boote.
»In diese Dreckbrühe willst du mich locken?«
»Sieht der Herr hier irgendwo ein Schwimmbad?« Wazwab, der keine Kinder hatte, sah mich vergnügt an. Jana hielt es womöglich für eine Art von Fürsorge, ihn mal wieder tüchtig von der Luftmatratze zu stupsen.
»Aber kein Wasser schlucken«, sagte Heike, die mit Marion vom Bug gekommen war.
»Kein Wasser schlucken«, nickte ich Wazwab zu, und presste dabei vorbildhaft die Lippen zusammen.
Ich holte meine Gitarre auf die Heckterrasse und sah den beiden beim Baden zu.
It’s a mighty hard row
that my poor hands have hoed.
My poor feet have traveled
a hot dusty road.
Out of your Dust Bowl
and westward we rolled
And your deserts were hot
and your mountains so cold.
»Von wem ist das?«, fragte Heike.
»Von Woody Guthrie. Eine Dust Bowl Ballad: Wie die Welt ist. Und welche Möglichkeiten sie böte.«
»Guck mal, was sie mit dem armen Wazwab macht!«
»Hoffentlich holt sie sich nichts in dem Dreckwasser.«
»Dieser Woody Guthrie«, sagte ich beim Abendessen – es gab vegetarische Lasagne und Salat – »schrieb Lieder, die noch siebzig Jahre später gerühmt werden, sang sie aber durchweg über zu wenig Akkorden. Auf den alten Aufnahmen hört er oft gar nicht, dass der Akkord gewechselt werden muss, er singt einfach so lange weiter, bis der Akkord wieder stimmt. Wenn Pete Seeger sich dann mit seinem Banjo der Sache annimmt, klingen die Lieder auf einmal wie verzaubert, voller Poesie.«
»Die Musik braucht eben Musiker«, sagte Jana.
»Besser kann man es wohl nicht ausdrücken.«
»Mein Vater«, sagte Marion, »hatte eine Ziehharmonika, bei der überhaupt nur zwei Akkorde zur Verfügung standen: Tonica und Subdominante. Die Dominante war mit dem Instrument gar nicht spielbar: Vielleicht hatte Woody Guthrie die Akkordfolgen solcher Quetschkommoden im Ohr, als er seine Lieder begleitete.«
»Das wäre doch was für dich«, sagte Heike leise, »ein Musikprogramm zu gestalten und Autoren, die du schätzt, vor kleinem Publikum ihre Bücher vorstellen zu lassen.«
Wazwab nickte ihr mit hochgezogenen Augenbrauen zu.
»Und 2000 Mark im Monat könnten wir auch gebrauchen. Dann wäre ein Urlaub wie dieser schon eher zu finanzieren.«
»Wenn wir einmal fester im Sattel sitzen, lassen sich sicher noch ein paar Hunderter rausschlagen.«
»Ihr habt gesagt: Nach dem Essen spielen wir – und jetzt fangt ihr schon wieder an zu quatschen!«
»Jawohl, jetzt wird Malefiz gespielt!«
»Mit rausschmeißen?«
»Mit rausschmeißen.«
Es war frisch auf dem Kanal, als wir am nächsten Morgen die Schiffstaue lösten. Wazwab stand wie zufällig mit seiner Kaffeetasse neben dem Ruder. Er habe sich natürlich schon einige Gedanken gemacht bezüglich des Spielortes: So ein Jazz- und Literaturclub dürfe sich weder im Bereich der Fußgängerzone befinden noch außerhalb der Innenstadt. Man müsse dort gut parken können, auch brauche es eine nahegelegene Haltestelle. Vor allem aber müsse der Club problemlos zu beschallen sein, möglichst keine Nachbarn, möglichst keinen Hausmeister.
»Kennst du die ehemalige Isolierbaracke vor dem Evangelischen Krankenhaus in der Wilhelmstraße?«
»Ist da nicht eine Art Kasperltheater drin?«
»Eine Puppenbühne. Als Jana vier war, haben wir uns dort eine Reihe hervorragender Aufführungen angesehen. Die spielen nachmittags. Da könnte man sich einigen.«
»Wilhelmstraße,« überlegte Wazwab. »Von der Lage her könnte es passen, von der Größe könnte es passen. Ein Literaturhaus muss so beschaffen sein, dass es halbvoll wirkt, wenn fünfzehn Besucher kommen, und nicht überfüllt, wenn es mal hundertfünfzig sind.«
So eine Baracke wie diese ehemalige Isolierstation, überlegte Wazwab weiter, ließe sich mit Geschick und Geld ganz hübsch herrichten: eine unambitioniert wirkende Aura, die doch ihren Charme, ihre Gemütlichkeit hat.
»Den Wella-Leuten«, fuhr Wazwab fort, »könnte ich die Grundausstattung eines solchen Hauses möglicherweise aus den Rippen leiern. Die wollen fotografieren können, wofür sie ihr Geld ausgeben; Lesungen, Konzerte sind da zu ungreifbar. Von einem Gebäude aber, einer Bestuhlung, einer Lautsprecheranlage könnte ich sie vielleicht überzeugen. Mit Schuchmann gehe ich dreimal im Jahr essen. Es wird Zeit, dass der mal wieder etwas springen lässt. Und wenn die mitmachen, dann steht der OB unter Zugzwang – und das mögen die. Das sind Menschen, die mitmischen wollen.«
Wazwab war in Stimmung gekommen.
»Wenn Schuchmann kommt, will