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Wird Zeit, dass wir leben: Roman
Wird Zeit, dass wir leben: Roman
Wird Zeit, dass wir leben: Roman
Ebook395 pages5 hours

Wird Zeit, dass wir leben: Roman

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About this ebook

Schlosser ist Funktionär der KPD. Bis zu seiner Verhaftung bremst er den Eifer der Genossen im Kampf gegen die Nazis, verweigert die Waffen und pocht auf Disziplin. Die Genossen von der Basis aber wollen kämpfen. Kämpfen bedeutet für sie Lust und Leben. Vor allem für Karo, aber auch für Leo, der noch 1930 zur Polizei geht, aber später begreift, dass er auf der falschen Seite steht.

In "Wird Zeit, dass wir leben" erzählt Christian Geissler mit "balladenhaft-lyrischer Präzision" (Heinrich Böll) vom Widerstand der Kommunisten gegen die Nazis in Hamburg.
Als ob er mitten im Geschehen steckt, begleitet er seine Figuren durch die Kämpfe vor und nach 1933. Er erzählt von Gewalt von oben und Gegenwehr von unten, vom Spannungsverhältnis zwischen Kollektiv und Individuum, zwischen Disziplin und Eigensinn - und zieht den Leser in die immer noch aktuellen Debatten mit hinein.

Geisslers Roman basiert auf einer wahren Geschichte: Das Vorbild für Leo war der Hamburger Polizist Bruno Meyer, der Anfang 1935 die Widerstandskämpfer Fiete Schulze und Etkar André aus dem Gefängnis befreien wollte. Detlef Grumbach recherchierte umfassend und erzählt in seinem Nachwort erstmals vom Schicksal Bruno Meyers.
LanguageDeutsch
Release dateJul 17, 2013
ISBN9783943167580
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    Book preview

    Wird Zeit, dass wir leben - Christian Geissler

    Christian Geissler

    WIRD ZEIT,

    DASS WIR LEBEN

    Geschichte einer exemplarischen Aktion

    Mit einem Nachwort von Detlef Grumbach

    INHALT

    I Die nicht überraschende Gefangensetzung eines leitenden Genossen zum Zwecke seiner Vernichtung. Der Gefangene hat Durst. Sein Durst wird gestillt.

    – Vorläufige Erinnerung

    II Von verschiedenen Seiten her, aus elenden Jahren zurück, die allmähliche Anreise dreier Genossen an den Ausgangspunkt ihrer gemeinsamen Vorbereitungen zur Befreiung eines Gefangenen. Widerstände und Umwege. Es wird gelitten. Könner setzen auf Rot. Das führt zu Vernunft, Zärtlichkeiten und Faustfeuerwaffen. Viele bezahlen mit ihrem Leben. Deckadresse Speckstößergruben.

    – Pferdehaarschlingen und Stadtparkmond

    – Blinzeln

    – Banditenleben

    – Mündungsfeuer

    – Aufschlag

    – Hunger und Kränkung

    – Ganterschatten

    – Ruhe stiften

    – Wachsam bleiben

    – Atem an Atem

    – Kampftänze

    – Alles Verwandte

    – Feuer frei

    – Fäuste auf den Ohren

    – Krieg

    – Nicht hinlegen

    – Friedensordnung

    – Fallen stellen

    III Ein Junker von Junkers landet für Junkers auf der Wiese im Grunde des Strudels. Wer das Gras zwar grün, die Wurzeln aber blutrot sieht, steht vorläufig noch allein. Das darf nicht lange so bleiben. Keiner von uns hat viel Zeit. Die Befreiung von Gefangenen wird vorbereitet. Wer Befreiung verhindern will, lebt gefährlich. Gelaber in Sachen Gewalt findet nicht statt. Die Zustände selbst sind Gewalt. Auch die Frage nach den Massen erweist sich als Müll. Sie verschüttet nur die Frage nach dir selbst. Manche möchten auf diese Frage lieber nicht antworten. Manche möchten lieber tot sein als leben. Manche freuen sich auf Weihnachten.

    – Mörderwochen

    – Trau schlau wem

    IV Weihnachtslandschaft mit Menschen und Mördern. Kein Heiland reißt den Himmel auf. Nur Genossen befreien Genossen. Arbeitstakt der Befreiung. Schwarzer König ballt Thron aus Stühlen. Wo was los ist, da sind auch Matrosen im Bild. Kerzenflimmer und fliegende Messer. Die Orgelratte beißt gelb. Federchentod und ein Berg aus Licht. Genossen brechen zur Arbeit auf. Jetzt, sofort.

    – Weihnachtslandschaft

    – Frohes Fest

    Zeit: zum Beispiel 1923–1933

    Plätze: Hamburg, Holstein, Berlin

    Leute, wie sie im Verlauf der Geschichte nach und nach auftreten:

    Schlosser, geb. 1894, Parteiarbeiter

    Leo Kantfisch, geb. 1911, Schüler, Polizist

    Pudel, geb. 1912, Straßenmädchen

    Herr Alex, geb. 1893, Gutsherr

    Karo, geb. 1912, Knechtetochter, Büchsenmacherlehrling, Zeichenbürohilfskraft

    Jonny (Großvater von Karo), geb. 1850, Fischerknecht

    Baronin (Mutter von Herrn Alex), geb. 1870, Gutsherrin

    Wächter, geb. 1880, Pastor

    Rigo, geb. 1907, Bäckerlehrling, Hilfsarbeiter

    Hanneken (Mutter von Karo), geb. 1896, Küchenhilfe im Schloss von Herrn A.

    Krischan Pietsch, geb. 1900, Lehrer

    Theophil Schmüser, geb. 1890, Büchsenschmied, später Kirchen­diener

    Leutnant Ratjen, geb. 1895, Bandenchef

    Opa Friedrich (Vater von Leo), geb. 1870, Arbeiter in einer Buchbinderei

    Willi Kantfisch ­(»Meuterwilli«), geb. 1890, toter Bruder von Leo

    Ella Kantfisch (Witwe von Willi), geb. 1893, Hausmeisterin in Weiden­allee, ­später Jutearbeiterin

    Ilona Witt, geb. 1920, Nachbarskind von Leo K.

    [Markward Benthin , geb. ?, Buchhändler]

    Schwarzen Hamburger (Roten Hamburger, Jesus), geb. 1907, arbeits­loser See­mann

    Kuddel Mäuser, geb. 1897, Krankenpfleger

    Jimmy, geb. 1904, Ire, Bankassistent

    Krosanke (Vater von Schwarzen Hamburger), geb. 1870, Kleinbauer

    Fiete Krohn, geb. 1902, Dreher

    Adelheit Witt (Mutter von Ilona), geb. 1902, Plättmädchen

    Emmi, geb. 1904, Arbeiterin

    Ole Olsen, geb. 1901, Polizeikollege von Leo K.

    Balthasar, geb. 1910, Polizeikollege von Leo K.

    Meier, geb. 1890, Polizeiausbilder

    Schwalm-Böhnisch, geb. 1890, Lehrer auf der Polizeischule

    Atsche, geb. 1910, Polizeikollege von Leo K.

    Klinsch, geb. 1900, Zuhälter

    Sophie Kasten (Mutter von Rigo), geb. 1877, Hilfsarbeiterin und Bedienung

    Alma, geb. 1900, Wirtin in Altona

    Alfons, geb. 1910, Arbeitsloser

    Jupp, geb. 1910, Arbeitsloser

    Evchen Rühmel (Frau von Krischan Pietsch), geb. 1910, Sekretärin im Unter­suchungs­gefängnis

    Max, geb. 1900, Taxifahrer

    Inge, geb. 1915, Buchladenangestellte

    [Herr Moritz, geb. 1874?, Polizist]

    [Frau Moritz, geb. 1878?, Frau von Herrn Moritz]

    Maja, geb. 1913, Straßenmädchen

    Pia Maria, geb. 1900, Straßenmädchen

    Gerd, geb. 1900, Journalist

    Richter, geb. 1900, Bandenchef

    Gustav, geb. 1870, Arzt

    Liesbeth (Frau von Schlosser), geb. 1897, Arbeiterin

    Lottchen (Mutter von Schlosser), geb. 1868, Grünhökerfrau

    Wachtel, geb. 1910, Schließerin im Untersuchungs­gefängnis

    Blondi, geb. 1900, Psychiater in den Altersdorfer ­Anstalten

    Emo Krüger, geb. 1913, Koch

    Ausgangspunkt:

    In einer Veröffentlichung der VAN (Vereinigung der Antifaschisten und Verfolgten des Naziregimes) aus dem Jahr 1971 gibt es den Hinweis auf einen Hamburger Polizisten, der, 1933/34 eingesetzt als Wachmann für das Untersuchungsgefängnis, versucht hat, politische Gefangene zu befreien. Ich fand diesen Hinweis so wichtig, die Vorstellung von einem Schließer, der es lernt aufzuschließen, so beispielhaft, dass ich hier weiterarbeiten wollte.

    C. G.

    hohenholz dez 1974

    I

    Vorläufige Erinnerung

    Als sie an jenem Ostermontag aus dem Schatten der Höfe, aus der Deckung all dieser Gesichter bewaffnet über ihn herfielen, war er nicht überrascht, hatte gegen sie aber nichts in der Hand. Er war ein Mann aus der Leitung, fast vierzig Jahre alt, zwanzig Arbeitsjahre als Schlosser im Dock, Arbeiterkampfjahre bis jetzt hierher, leere Hände, nach hinten gedreht, ins Eisen, für Arbeit und Brot*.

    Er war nicht überrascht. Er kannte die Straßen. Sie fuhren zum Stadthaus. Er lief ihnen an der Kette die Stadthaustreppe hinauf, an der Kette durch kleine Büros, an der Kette bis an den Stuhl. Dort solle er, sagten sie, nachdenken »bis du tot bist«, und verließen die Zelle, in Eile, polternd.

    Er horchte ihnen nach. Er war überrascht von ihrer Angst. Er hatte jetzt plötzlich Durst.

    *

    Schlosser war der aus der Weihnachtsgeschichte* am wassergekühlten Maschinengewehr, hinter Zeitungsballen und Pissbudeneck, mit pflaumigem Homburger auf, nur dass Berlin seine Stadt nicht war, sondern Hamburg, Türme und Masten, Arbeit und Kinder und Stehbier und Kampf: vom Arbeiterrathaus bewaffnet gegen den Bullenförster aus Daressalam*, paar Jahre später aus Hungerdachluken* gegen die Ordnungspanzer von Obertier Danner*, nicht unser Ober, nicht unser Panzer, nicht unsere Ordnung, bloß unser Hunger, und klar auch erst mal den Knast aufreißen, los komm, ja, du auch, aller Anfang ist Knast, also weg damit, lachen, endlich mal rot und nicht tot, in all diesem Krieg von Holstenglacis* bis Billstedter Jute*, rede, Genosse Mauser*.

    Er richtete sich streng auf. Er wusste aus seiner Kindheit, dass er nicht hatte einschlafen können, solange das Trinkgefäß im Kanarienbauer nicht regelrecht eingehängt saß, sondern achtlos, in Eile, verklemmt. Achtung, Richtung, Ordnung. Regel und Recht. Auch hatte er nur mit Widerwillen an seiner Schulaufgabe weitergearbeitet, sobald ein Fehler, auch nur ein Verschreiber passiert war. Auf einer neuen Seite sofort, am liebsten kariertes Papier, aber woher für Arbeiterschulkinder all das Geld, pass besser auf, »pass bloß auf!«: Ordnung als Drohung und als Beschämung noch überall hinter der Ordnung. Und irgendwann willst du das selbst. Wasser verschluckt dich, treibt weg, lockt dich runter in offene Arme, in alles verhextes Glück, fließt also nützlich nur zwischen Mauern nach Maß, aber nach wessen Maß.

    Er war bemüht, für dieses letzte Stück Weg alles Fragliche abschließend klarzustellen, richtigzustellen, sicherzustellen, möglichst kühl festzustellen. Aber der brennende Durst, die leeren Hände im Rücken, die Beine im Gittermuster all dieser Fenster. Draußen waren Sonne, die Stadt, das Wasser. Die Stadt aber glatt und matt.

    In der Hitze unter der Zellendecke glitten unhörbar Fliegen im Schwarm, wehten zart zueinander hin, stießen weg voneinander in rasendem Zickzack, wozu, und wie viele sind das, er suchte die richtige Zahl, er würde dann sicherer schweigen, nachdenken, bis du tot bist.

    Wann fängt dein Sterben denn an?

    *

    »Unsern Tod bestimmen wir selbst.«

    Das hatte ihm Schupofips* Leo gesagt. Der hatte die letzten Jahre, auf Zeit, mal Wachdienst im Stadtteil St. Georg gehabt, den mochten sie gern, trotz Schlagstock und Blaurock, den fanden sie alle so lieb und fein, und auch fuchsig gelernter Mann, der Rekrut, mit beinah schon mal Abitur gemacht, und selbergebauten Negertrommeln, »und kannst dich trotzdem auf ihn verlassen«, »mach klar, Leo, dass sie den Schlosser nicht fangen!«, und war ihm auch meistens geglückt.

    Und Pudel lacht ihn sich an und legt ihn sich griffig zurecht, kostenlos, sonst steht sie Hansaplatz, für meistens nur Bessergestellte. Und kommt bei ihm zärtlich ins Hemd. Und stolziert danach wippend um Schlosser. Aber Schlosser fasst Nutten nicht an.

    Vielleicht auch nur wegen Bürobeschluss. Denn das Lachen von Pudel, der Schönsten vom Kiez, war der Leitung verdächtig gewesen, »unser Kampf ist kein Witz und bestimmt keine Zote«. Aber doch auch kein Schulstundentag mit Gradesitzen und Eckestehen, wenn du am liebsten mal lachst. Sie hatten sie in die Ecke gestellt. Und Pudel hatte zu ihnen gesagt, dass Genossen was mit Genießen zu tun hat, »sonst alles bald bloß nur noch Krampf. Klar kann man dem Kantfisch trauen«. Sie trauten ihr nun erst recht nicht mehr. Leo Kantfisch war Polizist. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – als gar nichts. Also fast nur noch Kontrolle. Wo sind wir selbst? Da fängt dein Sterben schon an.

    Schlosser hatte mit Leo unlängst noch nachts über Frauen gesprochen, im Hausflur Danziger Straße. Geruch aus den Abfalleimern, das Abstellen und das Spielen von Kindern der Eigentümer, die schwache Bewegung der Tabakglut. Draußen die Razzia nach Maß, nach wessen Maß, Waffenträger schlägt Zettelkleber, schlägt diesmal haarscharf daneben. Pudel hat lachend aufgepasst, trotz Verbot noch lange nicht tot, hat den Schlägertrupp rechtzeitig durchgepfiffen an alle, »sowas macht die aus Spielerei«, »lach du doch auch«, »das ist keine Frau«, »und wir hier bei Nagel und Blohm und Danner, ihr verkauft euch doch jeden Tag auch«, »aber nicht so«, »nur jeden Tag euer Leben«, »unser Leben ist die Partei«.

    Schlosser hatte sich paar Stufen höher gesetzt als der Schupo, besseren Überblick durch die Flurfensterklappe, »bei der Frau muss man Angst haben, dass du dich ansteckst«, Leo drehte sich nach ihm um, »mitten im Dreck dein Stück saubere Ordnung. Hast Angst vor den Menschen, Schlosser«.

    Da fängt dein Sterben dann an.

    Er saß nun leer für sich selbst, aber wer, aber ich, aber was, aber nichts in der Hand, aber wir, aber wann, aber jetzt, aber alles entrissen, trocken und taub. Nicht mal mehr endlich noch Blut in deinen hängenden Fäusten. Was haben wir falsch gemacht?

    *

    »Mitten im Krieg dein Kampf ohne Waffen. Das darfst du nie machen.«

    Das war vor sechs Jahren das Knechtemädchen im Gutswald derer von Zachun*, der Herr Alexander nannte sie Karo, zärtlich mit seiner Peitsche gegen den Hass dieses Kindes.

    »Wir könnten ihn fangen. Die sagen, ich bin seine Tochter. Er soll uns alles bezahlen. Und dann paar Steine am Hals. Das Wasser dort draußen ist tief.«

    »Wir sind keine Mörder.«

    »Jonny sagt, ich bin ein Indianer. Wir sagen, im Schloss sind die Weißen.«

    »Wer ist Jonny?«

    »Der Vater von meiner Mutter. Die hilft in der Küche. Die könnte auch Feuer legen, wenn wir das wollen.«

    »Wir dürfen nichts provozieren.«

    »Rede nicht wie die Weißen. Dann versteh ich dich nicht.«

    Das Mädchen hielt gegen ihn starr seinen Kopf gesenkt, aber die Hände als Fäuste.

    Auf so einfachen Hass, auf die Schönheit einer so selbstständigen Gewalt war er nicht mehr gefasst, erst recht nicht hier oben in Herrschaftswäldern über all diesen Seen. Er war mit dem Fahrrad im Auftrag der Leitung für Tage und Nächte dort draußen in Scheunen und Hütten, trotz Regen im Hemd und Dreck an den Beinen und Hunger, die Augen scharf auf, den Kopf klipp und klar gegen Waffen gerichtet, die hier im Gelände der Eigentümer als Übungswaffen im Einsatz waren für deren Innere Sicherheit, für heimliche Truppen gegen die Stadt, Häuserkampf um Schafstallmauern, Vorhaltegrad zwischen Raps und Lupinen, die Ziegelei als rote Fabrik, die Baronin als Krankenschwester.

    Er hatte alles notiert.

    In der letzten Nacht saß er heimlich im Häuslerwinkel bei Karos Mutter und Jonny, »die drüben damals, die Roten gegen die States, die konnten nicht schreiben, die hatten nichts für Notizen und Zeitung, die haben niedergestochen und ausgebrannt und vernichtet«.

    »Warst du selber dabei?«

    »Nicht bei den Weißen. Und auch schon bald sechzig Jahre vorbei, inzwischen.«

    »Und die Roten drüben sind jetzt an der Macht?«

    »Alles vernichtet. Alles nie einig gewesen. Alles dann doch noch geglaubt, und Briefe geschrieben von weißen Agenten, und Verträge gemacht mit dem weißen Vater. So dumm bist du auch schon bald, sieht man.«

    Der Alte stieß seine Tochter an, die junge krumme Mutter des Mädchens, »sag ihm mal, was er hier aufschreiben soll«.

    »Dass wir sie in die Scheune treiben, und Steine vors Tor bis an den Hals, und dann lebendig verbrennen.« Sie kam um den Tisch an Schlosser ran, packte ihn mit ihren grauen Fäusten an beiden Ohren wie einen Sohn, sie war im Stehen vor ihm noch kleiner als er im Sitzen, »komm, Karo, bring ihm mal Schnaps, dann schreibt er nichts mehr und bleibt er bei uns, und morgen machen wir Feuerchen an, morgen ist Sonntag, den Wächter gleich mit, den Pastor, den kleinen, geputzten!«

    Er fuhr noch nachts, mitten im Regen, dort weg. Das Mädchen, das besser die Wege kannte als er, kam am Dorfausgang stumm auf ihn zu. Es war so dunkel, dass man glauben konnte, er hätte sie nicht gesehen, so laut der Sturmregen in den Buchen gegen die elende Wut ihrer noch kindlichen Stimme.

    *

    Schlosser ließ den Kopf weit nach hinten sinken über die niedrige Lehne, über die leeren Hände, hing da mit offenem Mund, als könne er jetzt noch von irgendwoher Regenwasser auffangen. Aber saß schon viel früher gefangen. Neulich zuletzt doch schon auch, noch mitten unter Genossen.

    Die andern hockten am Boden, den Rücken zur Wand, er selbst, als Leitungsmann, mittendrin auf dem einzigen Stuhl, den es gab, erst ein halbes Jahr war das her, in der Nacht nach dem zwölften Oktober, im Versteck am Kanal, Wasser fließt nützlich nur zwischen Mauern, wer hat was von Waffen gesagt, wir, wer seid ihr, so einer wie du, dann gelten für euch die Beschlüsse doch auch, wo macht ihr Beschlüsse, wer ihr, wer wir, wer wen, diese Frage als Riss durch all unsern Kampf, pass bloß auf.

    Nämlich gleichzeitig in der Billstedter Jute Streik: gegen Spitzel und Waffen der Eigentümer im Firmengelände, gegen den Rausschmiss von Arbeiterposten, die diesen Dreck aufgedeckt hatten. Und die Posten, die sollen bleiben. Und sollen nicht wehrlos bleiben.

    Die Leitung, vom Stadtkern her, hatte zur Unterstützung der streikenden Stadträndler aufgerufen. Ein Treffpunkt, halb nachts, war die Eilbektalhütte gewesen, drei Jungarbeiter im schwarzen Frühdunst der Wandseböschung*. Das Gebimmel von drüben Versöhnungskirche nützt aber niemandem mehr. Ein Polizist, der uns angreift, bleibt tot in der Nässe der Hecken. Die drei flüchten weg vor dem eigenen Schreck in den Schutz von Genossen. Aber »wo habt ihr das her, das ist Provokation, das stützt die Interessen des Gegners«.

    Am schlimmsten für ihn, nach Schreck und Hecken und Dreck, war die Freude in ihren Gesichtern, dieser Schatten von Glück, »ihr seid doch nicht, was die oben gegen uns sagen und schreiben«.

    »Doch, noch besser vielleicht, noch viel schlimmer am besten, sonst kommt unser Kampf ja nie durch!« Rigo hatte das langsam und finster runter zwischen die Knie gebrummt. Vom Stuhl her sah man nicht sein Gesicht.

    »Rück die Walther raus, die muss weg aus der Stadt, mit Kurier, noch heute Nacht.«

    »Die bleibt hier. Die ist gut. Die brauchen wir noch. Halt die Pfoten weg, Stuhlmann!«

    Karl Ludwig Kasten nannten sie Rigo, zwei Zentner knochig groß, schon fünfundzwanzig in diesem Herbst, schon über drei Jahre arbeitslos, wer arbeiten will, der findet auch was, »ich hab was gefunden, das geb ich nicht her«, seine Boxcalfjacke hatte Gewicht, nicht nur vom Regen, mattschwarz innen links runter, die Waffe nah an der Haut. Sonst redete er nicht viel. Nur das Lachen vom Bullenbeißer, endgültig herrenlos.

    Schlosser richtete sich streng auf, sagte, er sei jetzt bemüht, alles Fragliche möglichst klar richtigzustellen, sicherzustellen, kühl festzustellen. Die Jungen lachten ihn aus, »hier wird jetzt was locker gemacht, und fest steht bald nicht mal dein Küchensofa, lauf mal schnell hin, Mutti will ficken«, sie hörten ihm gar nicht mehr zu.

    Aber eng, denn seine Trauer ließ er nicht zu, entschlossen, denn seine Fragen würden jetzt nur den Verfolgern nützen, und als ein Mann aus der Leitung, denn wer bist du selbst, sagte er ihnen ­dennoch all das, was sie als seine Genossen längst hätten nachlesen können: dass die Erschießung von Polizisten* nur freches Abenteurertum sei, nichts Verbindendes gäbe es da zur Gesamtpolitik der Partei, die vielmehr, in Einschätzung aller Faktoren, aufrufe zur proletarischen Einheit, Zusammenfassung der Kräfte von unten, im Kampf gegen Bourgeoisie, Agenten und Provokation, letztendlich also zu fordern sei Stärkstinitiative, Millionenfront, vorrangig Abwehrkampf Lohnraub, nach außen sie also zwar unauffällig, tatsächlich aber ganz klar nur Kämpfer zu sein hätten voll Selbstbeherrschung und Mut, eiserner Disziplin und Bescheidenheit, mühevoll in den Betrieben und Straßen die Kleinarbeit klug verrichtend, denn die Lage erfordere, schöpferisch neu, Taktik und Strategie, das Kräfteverhältnis im Auge, und in gleichzeitig unversöhnlicher Abrechnung mit den Sektierern das Bündnis der Fortschrittskräfte gewinnend, das Rundschreiben des Parteivorstandes, die Verhandlungen der Bezirksformation, die angeordneten Maßregeln, die Kongresskonferenzen von Delegierten der Einheitsausschüsse, die aktivsten Komiteemitglieder der antifaschistischen Front, die Delegierten und Delegationen des Reichseinheitsausschusses, deutlich mit Vorrang, den Auftaktakt für die antifaschistische Kampfwoche Rettet die Demokratie über Sichtbereich Arbeiterklasse hinaus, sich einzureihen, unablässig, mit Anträgen und Protesten. »Angesichts solcher Aufgabenfülle, Genossen, ist das Vorhandensein linker Strömungen gegen die Massenarbeit der Partei eine ernste Gefahr, das Entstehen von terroristischen Gruppen, die Praxis von Einzelterror, die Durchführung sinnloser Einzelaktionen unerträglich und falsch und überaus schädlich. Jede Duldung und etwa Verfechtung ist vollkommen unzulässig. Wer sich vom Feind das Verhalten diktieren, von seiner Verzweiflungsstimmung sich mitreißen lässt, ist des Namens eines Genossen unwürdig.« Er konnte die Schrift auf dem Handzettel kaum noch erkennen.

    *

    Er konnte im Rücken die festgeketteten Hände kaum noch bewegen. Es war dunkel. Er fand sich mit Rigo allein. Die anderen hatten das Zimmer verlassen.

    »Komm, Schlosser, trink was, hast Durst.«

    Er suchte noch immer die richtige Zahl.

    »Das sind mehr, als du denkst.« Rigo bückte sich vorsichtig über den Stuhl, »willst das für alle fertig machen und leiten, aber wer sind die, was wollen wir selbst?«, rieb ihm die Haut an Gesicht und Hals, schlug mit den riesigen Händen den hängenden Kopf sanft hin und her, »was habt ihr vor denen Angst? Vielleicht sogar du vor dir selbst«.

    Sie sahen sich an.

    »Steh mal auf!«

    Der Stuhl hing nun frei. Rigo versuchte, ihn zu zertreten. Aber »das hängt alles an dir dran. Mach das selbst!«. Das Holz brach über die Kanten, brach ihm beinah die Hand. Aber »das muss, weil bloß aus Leitung kriegst du nie richtigen Kampf. Aber aus richtigem Kampf kannst du jedes Mal auch mal die Leitung kriegen«.

    Unten lag finster die Stadt, glatt und matt, aber auch Schweigen und Schrei. Er war nicht mehr überrascht von der Angst seiner Mörder, war aufgestanden, den Stuhl im Rücken an leeren Händen, das Gitter noch im Gesicht. Konnte aufstehen und Genossen erwarten, die er nicht kannte.

    II

    Pferdehaarschlingen und Stadtparkmond

    »Mich fangen die nie!«

    Aber wer war denn hinter ihr her?

    Schon als sie acht war, der Ganter, der weiße.

    Sie hatte fürs Gut die Gänse über die Stoppeln zu treiben, und seit sie nur immer sah, wie der Ganter die Gans plattdrückt und nie umgekehrt, schlug sie ihn heimlich mit Dornenstöcken, »das könnte doch auch mal andersrum, spritzt er nach oben, für Liebe geht alles«, ging aber alles nur platt ins Genick, von der Zuchtsau bis hin zur weißen Baronin, ächzend und schmatzend unter den Stößen der Herrschaft oder nur fein im Gebet, ihr war das schon damals der ganz gleiche Dreck, »bei mir wird gesungen, oder hau ab!« Die Dorfjungen lachten sie aus, fanden sich aber von ihr beschämt, wagten es nicht mit so einer, bloß »so war das doch gar nicht gemeint«. Karo fand alles verkehrt rum, macht aber nichts, »ich krieg euch schon noch«.

    Schön runde Gegend rings um Zachun, Kiefern und Buchen mit Hallimasch und Milan, dicke Wolken im See mit Insel und Hecht und Boot, und im Boot ihr Großvater Jonny Wolf.

    Als der achtzehn alt war und noch Hanne hieß, war sein Vater, Johann, schon Knecht beim Baron, aber kein Knecht, dem man trauen kann, wir alle schon, aber die nicht. Die hatten hier Baum und Fisch, Mädchen und Flinten und Recht, von jedem, eingekauft, Arm und Bein, deine Arbeit von nachts bis nachts, bis du endgültig kalt bist. Aber die beiden, Vater und Sohn, waren hier außerdem auch noch zu Haus, liebten nicht nur den runden Schwung unter Wolken und Feldbaum unten am Hang, sondern auch blankrunden Fisch, die runde Lunte vom Fuchs, das runde Stück Schwarzgeld für Zeug und Schnaps, den runden Mond überm blutigen Schnee, »holl wiss!«.

    Aber Festhalten war dann nicht mehr. Die beiden Hände, die Arbeitshände, die Jagdhände für dein Recht, waren dem Vater abgefetzt worden mit einem einzigen Schuss, Baron Speckstößer hatte Ordnung gemacht. Hand Gottes gegen zwei Arbeiterhände, Unfall beim Unrechttun. Der verstümmelte Mann war noch weggelaufen, dann ausgelaufen, rund krumm gescharrt, im Schnee von Schlag Neun, dann eingeschaufelt vom Sohn, drei Tage danach, in Mustin, die Herrschaft mit Hutab und Spruch gleich dabei, gerechtigkeitshalber, die Würde des Menschen, fehlt bloß noch die Strecke blasen. Und bläst ihn auch richtig noch an, den Sohn, »nu Hanne, du sollst jetzt mein Jagdbursche werden, mit Hundefüttern und Waffenpflege. Du magst doch Waffen. Meine nicht auch?«

    Hanne hat noch den Dreck an den Pfoten, den elenden Dreck vom elenden Grab, und knallt den der Herrschaft ans Fett, hakt hin und tritt nach, geht vorsichtig weg, kotzt hinter die Kirche und fährt in die States, mal sehn, alles Freiheit und Recht. Und offenes Land. Aber Land, das genauso Blut saufen muss wie noch überall hier, überall wessen Blut.

    Selbst tief unten der Boden des Meeres. Es gab Luken nah über dem Wasser, und manche von denen, die für den Ausbruch nach drüben alles eingesetzt, alles verloren gegeben hatten für den Fluchtwinkel unter Deck, verloren dort unten in Pest und Dreck unter Flüchen ihr letztes, ihr liebes Leben, wurden rausgekippt, kalt, bei ruhiger See. Sackten ab in den schwarzen Grund, paar Stück Eisen in den vernähten Händen, Eisen für nichts, da hätten sie früher mal zupacken sollen, der Schiffseigentümer in Pöseldorf* hatte von solchen Eisenhänden nun nichts mehr zu fürchten, ihr todstarres Blut hielt ihm seins golden frisch.

    Aber Gold war für Hanne nichts wert, nicht mal eigenes freies Land. Ihm war der Tod im Schnee von Schlag Neun allzu deutlich nahe gewesen. Er wollte nun niemanden töten, nicht dort in den roten Weiden und Wäldern. Er wollte nur in der offenen Sonne sein eigenes Leben haben, sonst nichts.

    Nach einem Jahr Eisenbahnbau und Glück beim Würfeln und Trick hatte er seinen Wagen mit Pferden und Waffen und machte den rollenden Handelsmann für die Roten im Süden und Westen, Mangas, Eskiminzin und Captain Jack*. Ihn nannten sie Jonny, den leisen Freund. Und immer mal wieder konnte er Frieden stiften. Aber auch hier, die Stifte durch Hände und Herz, an Stiften blutest du aus, Frieden, auch hier, der hinstreckt bis nach Mustin. Das hatte er nicht gewollt.

    Er musste das später in vielen Wintern seiner Enkelin Karo immer noch mal erzählen. Was er dort nicht gewollt, was er auch jetzt hier nicht wollte, war ihr die wichtigste Nachricht auch für sich selbst: dass sie für Frieden und Weiden und Lagerplätze die Waffen hingelegt, die Waffen jedes Mal zutraulich hingereicht hatten, sich selbst hingehalten und still gehalten als Friedensgeschenk an Herrschaft: Gib dich her, sonst bist du kein Freund. Die Weißen gaben nie her, manches unter Druck doch hier und da, aber niemals die Waffen, »das darfst du nie machen, mitten im Krieg«, mitten im Krieg von Zachun und Mustin bis an den Mimbres River.

    Sie hatten Mangas, der dort zu Haus war und der, um über den Frieden zu reden, die Waffen hingelegt hatte, gefangen, mit glimmendem Holz gequält, ihn zu dritt erschossen, seinen Kopf gekocht für die Wissenschaft in New York. Und Eskiminzin, um Frieden zu kriegen für Maisbau und Mescal, hatten er und all seine Leute weggelegt, was sie noch hatten, hingereicht alles an Leutnant Whitman. Der tat ihnen nichts. Nur zwei Nächte später taten es andere Weißmänner mit ihrem Recht, ihrem Anspruch auf Land und Waffen. Und auch Captain Jack, der eigentlich Kintpuash hieß, den hängten sie auf in Fort Klamath, verraten von eigenen Leuten, die er in seiner Erschöpfung gebeten hatte, so wie die Weißen zu leben. Sie lebten wie sie, von Verrat, »viele wollen den weißen Frieden, Grund hast du immer, für jeden, dass er lieber nicht kämpft, aber pass auf, das ist schwarzer Grund, die sacken dich ein, da sackst du drin weg, bloß noch Dreckeisen in deine Hände genäht, das darfst du nie machen, Karo!«.

    Und dann der Fischfängerstamm. Da hatte er an sich selbst denken müssen, an all seine Leute im Wald, am See, und wenn er nicht, denkt er entsetzt, alles hier draußen sofort verkauft und hinfährt, zurück, wo die schutzlos krumm unter wütigen Weißen leben, dann sind die bald, wie die Roten hier, in elenden Frieden gefickt, und nie wieder kommt einer hoch gegen Pack, gegen all dies schaumige, stickige Weiß, denn »wenn du nicht kämpfen willst, musst du bald angeln, guck doch mal Hafen und Alster, und ich hier, doch auch schon bald alles egal«, er sah Karo jammervoll an.

    Scheinbar reumütig war er zurückgelaufen an Herrschaften, die er geschlagen hatte, die tückisch nachgiebig nun von ihm meinten, »so krank und missraten wird einer treu sein, der Schelm«. Sie dachten nicht, dass er sie täuscht, dass er noch gar nichts vergessen hat, von hier bis zum Mimbres River.

    Der Stamm dort hatte sich auf seine leeren Hände gelegt, nur noch Messer und Schnaps und die Rente vom weißen Vater. So hatten sie nun viel Zeit für Geschicklichkeitsspiele, »fisch dir mal was mit Pferdehaarschlingen!«. Aber in Schlingen saßen sie selbst, Waffen der Weißen im Kreis von Hügel zu Hügel, Feierabend für Waffenträger, Treibjagd auf Rot, bei drei bist du tot. Männer und Kinder lagen bald stumm, Frauen nur erst mal verhöhnt, putz dich aus, zieh dich an, geh mit in die Stadt, da mach ich mit dir tausend Männer satt.

    Das war der Vers, der Hohn doch auch von Mustin. Das hatte er nicht nur mal reden gehört. Das hatte Jonny auch nicht gelesen. Das war von ihm alles mit angesehen und erlitten. Da war er dabei, er selbst.

    Aber wie denn erlitten, er war doch nicht rot.

    Doch. Entweder oder. Rot oder Weiß. Da ist kein kluger friedlicher Platz zwischen Mündungsfeuer und Aufschlag.

    *

    Drum gab es für Jonny und seine Leute, seit er zurück war, hier heimlich Indianer und Weiße, für die Weißen das Schloss mit den Flinten, für die Roten Arbeit von nachts bis nachts, in Hitze und Schnee rund krumm gescharrt, friedlich von Schlag zu Schlag. Und schlägt sich oben gesund, die Pest, gegen Knechte und Bank und Handwerkerschulden, das Geld aus Arbeit ist leichter Dreck, aber Kuh und Weizen und Rübenacker hexen viel Gold ins Schloss, tricksen dem Gutsherrn die Schulden vom Hals, wer Sachwerte hat, hat bald immer mehr, und wer keine hat, nur noch sich selbst, dem hängt bald der rote Kopf, dem schlägt bald das Pack ins Genick.

    »Und wer schlägt zurück?«

    Karo war eben erst elf, Hirschschrei vom Bernstorffschen her übers Wasser, »in Hamburg sind sie jetzt gerade dabei, und wenn die Weißen aus Lübeck da Nachschub hinschicken, gehn bei Rahlstedt und Ahrensburg Schienen kaputt«, aber der Hamburger Aufstand war längst von der Leitung zurückgepfiffen.

    *

    »So will ich das gar nicht mal sagen.«

    Rigo, Lehrling, Rumtreiber, wütender Rumtreiber, »ist hier nichts los?«, »hier soll jetzt mal endlich was los sein!«, zwei Billionen für zwei Kilo Brot, dann tausendmal lieber reichlich neun Gramm gegen die, die sich Zucker aus unserer Scheiße zaubern, Rigo hatte die Hamburger Kämpfe selbst mitgemacht, als Kurier zwischen Barmbek und Eppendorf, und so Spruch von Zurückpfeifen, Wut auf die Leitung, fiel ihm im Augenblick gar nicht so ein, »und guck auch mal, überall Orpo* und Panzer und Waffen bis an die Zähne, die Schweine, da kommst du bei Rückzug nie durch ohne Leitung, hat jeder doch Tipps gekriegt, wo er wegtauchen soll«, trotzdem, »da stimmt was nicht«, das fand er auch.

    Er lief müde den Weg über Hinterhöfe, durch Stachelbeerbuden und Kellerküchen nach Winterhude zurück. Am Pfennigsbusch hatten sie ihn nicht gemocht, »musst du hier unbedingt Lieder brüllen?«, »wo hast du den Schirm deiner Mütze gelassen?«. Pfennigsbusch saß die Aufstandszentrale, den Mützenschirm hatte er ab­gerissen, sowieso viel lieber als Jungmaat nach Bali, wo was los ist, da sind auch Matrosen im Bild, »bloß wir spielen hier keine Oper, Genosse, los, ab, die Meldung muss durch!«. Rigo war nie in der Oper gewesen, will er auch gar nicht, was soll das, aber das wär ihm schon recht, alles Lieder und Pauke und Wimmerholz, wenn von Übertier Danner die Panzer ausbrennen und Orpos wegrennen.

    Bloß am Pfennigsbusch kam so was leider nicht an, alles Ausgelernte, wie Vorarbeiter, gar nicht mal schlecht, und muss vielleicht auch, bloß irgendwas stimmte da nicht, »das läuft nämlich nicht auf kariertem Papier«, »für richtigen Kampf hast du nie Formulare«, sieht aber manchmal so aus. Er war mit sich nicht zufrieden. Er wollte es richtig machen, aber nicht grade sitzen. Er wollte sich freuen und war allein.

    *

    Rigo wollte mal Lehrer werden, bloß zu Haus alles immer schon ziemlich am Ende, Ewerführer und Näherin, beide besoffen, drei Kinder. Rigo war nachts oft allein mit den Kleinen,

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