Mami 1768 – Familienroman: Lebe wohl, kleiner Jannis
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Wo der Junge nur blieb! Jetzt müßte er doch längst da sein. Er hatte ihr versprochen, den Vorortzug um halb sieben zu nehmen. Sie wollte nicht, daß er noch später allein unterwegs war, überhaupt bei dieser Dunkelheit und Kälte. Aber sooft Margot auch zum Fenster hinausspähte, keine kräftige Knabengestalt mit Anorak und rotwollener Pudelmütze auf dem Kopf kam forschen Schrittes die Straße entlang. Schließlich gab sie es auf. Der nächste Zug aus München fuhr, soviel sie wußte, erst nach acht. Na warte, Bürschchen, dachte sie, dir werd' ich die Ohren langziehen. Erst beim "Omilein" - so hieß es immer, wenn er etwas von ihr wollte - durchsetzen, daß er allein zu seinem Freund Jan fahren durfte, und dann nicht gehorchen.
Margot setzte sich in den Sessel im gemütlichen Wohnzimmer und nahm eine Strickarbeit zur Hand. Alle Pullover für Rolfi machte sie selbst, mit phantasievollen Mustern und in leuchtenden Farben. Ihm gefiel das, denn so schöne hatten die anderen nicht, behauptete er immer. Deren Mütter waren teilweise berufstätig und hatten keine Zeit oder keinen Sinn mehr für Handarbeiten. Es war ja auch viel einfacher, fertig zu kaufen. Aber sie, Margot, mochte es, man konnte dabei die Gedanken so schön schweifen lassen. Der 6. Dezember war heute, Nikolaustag.
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Mami 1768 – Familienroman - Gisela Reutling
Mami -1768-
Lebe wohl, kleiner Jannis!
Gisela Reutling
Wo der Junge nur blieb! Jetzt müßte er doch längst da sein. Er hatte ihr versprochen, den Vorortzug um halb sieben zu nehmen. Sie wollte nicht, daß er noch später allein unterwegs war, überhaupt bei dieser Dunkelheit und Kälte.
Aber sooft Margot auch zum Fenster hinausspähte, keine kräftige Knabengestalt mit Anorak und rotwollener Pudelmütze auf dem Kopf kam forschen Schrittes die Straße entlang.
Schließlich gab sie es auf.
Der nächste Zug aus München fuhr, soviel sie wußte, erst nach acht.
Na warte, Bürschchen, dachte sie, dir werd’ ich die Ohren langziehen. Erst beim »Omilein« – so hieß es immer, wenn er etwas von ihr wollte – durchsetzen, daß er allein zu seinem Freund Jan fahren durfte, und dann nicht gehorchen.
Margot setzte sich in den Sessel im gemütlichen Wohnzimmer und nahm eine Strickarbeit zur Hand. Alle Pullover für Rolfi machte sie selbst, mit phantasievollen Mustern und in leuchtenden Farben. Ihm gefiel das, denn so schöne hatten die anderen nicht, behauptete er immer. Deren Mütter waren teilweise berufstätig und hatten keine Zeit oder keinen Sinn mehr für Handarbeiten. Es war ja auch viel einfacher, fertig zu kaufen.
Aber sie, Margot, mochte es, man konnte dabei die Gedanken so schön schweifen lassen.
Der 6. Dezember war heute, Nikolaustag.
Hatte nicht Jürgen an einem 6. Dezember Geburtstag gehabt? Daß ihr das jetzt einfiel! Er mußte nun auch um die sechzig sein. Er war wenige Jahre älter als sie gewesen. Es erschien Margot unmöglich, sich den blonden jungen Mann von damals als älteren Herrn vorzustellen, weißhaarig und mit ausgeprägten Falten im Gesicht.
Ein Gesicht, das sie einmal sehr geliebt hatte, als sie zwanzig war. Und er hatte sie auch geliebt. Zumindest hatte er es sie glauben lassen. Sonst hätte sie, Tochter aus behütetem Haus, seinem Werben wohl nicht nachgegeben. Damals war man noch nicht so freizügig wie heute.
Aber wie entsetzt war er dann gewesen, als sie ihm sagte, daß sie schwanger war. Da stellte es sich heraus, daß Jürgen Martens an eine feste Bindung nicht gedacht hatte, zumindest vorläufig nicht.
Er wollte nach China. Für drei Jahre sollte der Vertrag gelten. Seine Firma, ein deutsches Großunternehmen für Motoren, schickte eine Gruppe von Spezialisten dorthin. Er, gut ausgebildet, jung und dynamisch wie er war, sollte dazugehören.
Drei Jahre, und ausgerechnet China!
»Muß das denn sein?« hatte sie ihn gefragt.
»So ein Angebot kann man doch nicht ausschlagen«, war seine Antwort gewesen. Nein, das konnte man wohl nicht, wenn man vierundzwanzig, erlebnishungrig und neugierig auf die Welt war.
Aber nun das. Es schmetterte ihn geradezu nieder.
Nein, sie hatte ihn nicht unter Druck setzen wollen, wenn er es denn gar so fürchterlich fand.
Nach langen, schwerwiegenden Überlegungen erklärte sie ihm, daß es ein Irrtum gewesen sei. Alles wäre wieder in Ordnung.
Gott, wie froh und erleichtert war er da gewesen! Und mit den Gedanken schon weit fort.
»Wir bekommen dreimal im Jahr Heimaturlaub«, hatte er gesagt, »den ersten nach sechs Monaten. Dann sehe ich dich wieder.«
Sie hatte ihm geschrieben, daß er nicht mehr zu kommen brauche. Sie hätte eine neue Liebe gefunden.
Eine schwere Zeit war das gewesen. Aber deren hatte es ja mehr in ihrem Leben gegeben…
Ihre Eltern zeigten, wie kaum anders zu erwarten, nur moralische Entrüstung. Ihre Tochter und ein uneheliches Kind! Welche Schande.
Zum Glück war da noch Tante Gerda, deren Liebling sie immer gewesen war. Pensionierte Lehrerin, klug und tolerant. Sie nahm sie bei sich auf, die Nichte und das Baby, ein Bübchen war es, namens Bernd.
Margot hatte ihre Ausbildung als Hotelfachfrau beendet. Mit ihren guten Zeugnissen und den erworbenen Sprachkenntnissen fand sie eine Anstellung in einem renommierten Hotel. Die Arbeit an der Rezeption gefiel ihr, gewandt und liebenswürdig stand sie den Gästen stets zur Verfügung. Ihren Kleinen wußte sie in guter Hut.
Wenn sie vom Dienst nach Hause kam, krähte er ihr entgegen, oder er lag mir runden, rosigen Wangen in seinem Bettchen und schlief. Und Tante Gerda verwöhnte sie, sie hatten gute Stunden miteinander.
Die ersten Schritte des Söhnchens, dieses vorsichtige Tasten in die Welt hinein, sein erstes Mama, wieviel Glück war das. Um all das hatte sich Jürgen nun gebracht. Sie hörte nichts mehr von ihm, und sie wollte es gar nicht.
Die Eltern fanden sich allmählich damit ab, daß die Tochter ihren Weg allein ging. Schließlich konnten sie dem Lächeln, dem Lachen ihres Enkels doch nicht widerstehen, man kam sich wieder näher.
Bernd war vier Jahre alt, als Margot Hansjörg Wieland heiratete. Sie kannten sich ein halbes Jahr. Er war gelegentlich mit einigen Herren zu einem Arbeitsessen ins Hotelrestaurant gekommen, und er zeigte der jungen Dame an der Rezeption deutlich, daß er an ihr interessiert war. Er konnte ihr eine Rose auf das Pult legen, einfach so, aber der Blick, den er dabei in ihre Augen senkte, ließ ihr Herz rascher schlagen. Sie sagte nicht nein, als er sie zu einem Treffen einlud.
Dieser gutaussehende Mann hatte eine Ausstrahlung, der sich eine Frau kaum entziehen konnte. Sein weltmännisches Auftreten kam ihm in seinem Beruf als Immobilienmakler zugute, es trug zu seinem Erfolg bei. Er war zehn Jahre älter als sie. Daß er bereits zweimal geschieden war, hätte sie stutzig machen sollen. Aber da war sie schon für ihn entflammt. So lange war sie allein gewesen. Sie sehnte sich nach der Liebe und Zärltichkeit eines Mannes. Dieses Mannes.
Daß sie ein Kind hatte, war für ihn kein Problem. Probleme schien es überhaupt keine für Hansjörg Wieland zu geben, oder zumindest verstand er es, sie mit leichter Hand beiseite zu schieben. Er hatte keine eigenen Kinder, er hatte keine gewollt. Aber dieses »nette Kerlchen«, wie er es nannte, störte ihn nicht. In seinem Haus war genügend Platz.
Tante Gerda hatte es sich für die Nichte immer gewünscht, daß sie einen guten Mann und für Bernd einen Vater fände. Mit einem Lächeln, in dem sich ein Hauch Wehmut verbarg, ließ sie ihre beiden ziehen. Wehmut, weil es doch für sie persönlich eine erfüllte, ihr Leben unendlich bereichernde Zeit gewesen war.
Aber sie verloren sich ja nicht. Sie lebten in derselben Stadt, eine innige Bindung würde bestehenbleiben.
Für Margot waren die ersten Jahre ihrer Ehe von einem leidenschaftlichen Glück. Sie wurde heiß geliebt, und sie gab sich hin. Sie hatte nicht gewußt, daß Liebe so glühende Farben haben konnte.
Es schien keinen Alltag zu geben in diesem schönen Haus, Glanz und Freude überwogen. Sie war die verwöhnte Frau eines erfolgreichen Mannes. Wenn Hansjörg abends Gäste einlud, verstand sie es, an seiner Seite zu repräsentieren, so, wie es ihm gefiel.
Hatte sie ihr Söhnchen Bernd in jener Zeit vernachlässigt?
Margot fragte sich das jetzt, während ihre Gedanken so in die Vergangenheit wanderten.
Nein! Nein, das konnte sie wohl guten Gewissens von sich behaupten, daß sie ihn nichts an Zuwendung entbehren ließ. Er war ein eher stilles Kind, schmal, dunkelhaarig, mit manchmal unkindlich ernsten Augen und einem nachdenklichen, in sich gekehrten Blick.
»Woran denkst du, Schätzchen?« hatte sie ihn wohl gelegentlich gefragt, wenn er so schaute.
Dann hatte er erst noch sekundenlang geschwiegen, bis ein Lächeln sein Gesichtchen erhellte und seine Augen blank wurden. Das waren Momente, in denen ihr Mutterherz so weit wurde, daß es ihr fast den Atem nahm.
»Wie lieb ich dich hab’, Mami«, antwortete er.
»Ich habe dich auch sehr lieb.« Und sie küßte ihn, nahm dieses Lächeln, diesen Blick ihres Kindes wie ein Geschenk hin.
Hansjörg war gut zu ihm, wenn auch auf eine etwas abwesende, zerstreute Weise. Er hatte ja nie etwas mit Kindern zu tun gehabt, es waren eher fremde Wesen für ihn.
Als