Nach oben ist das Leben offen: Erzählungen
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About this ebook
'Nach oben ist das Leben offen' erzählt von Gipfelstürmen und Abstürzen, vom Streben nach oben und von der Suche in der Tiefe. Eine Bergsteigertruppe, ein redseliger Tiefseetaucher, Besucher einer Shopping Mall oder Zugreisende - Schönthaler zeigt mit unverhohlenem Blick den heutigen Mensch in seiner Lebenswelt, der er zugleich ausgesetzt und entfremdet ist. Er erzeugt hyperrealistische Portraits, in denen er seine Protagonisten bis in den letzten Winkel durchleuchtet. In seiner präzisen und dichten Art zu erzählen, mit formaler Kühnheit und originellen Perspektiven durchleuchtet Schönthaler die moderne Gesellschaft. Anspielungsreich und scharf sezierend findet er in seinem ungewöhnlichen Prosadebut einen unerhört reifen, eigenen Ton, der in Atem hält, verführt - und listig mit Brüchen und Irritationen den Leser herausfordert.
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Nach oben ist das Leben offen - Philipp Schönthaler
Philipp Schönthaler
Nach oben ist das Leben offen
Erzählungen
Matthes & Seitz Berlin
Impressum
»reisegesellschaft, unterwegs« erschien erstmals in: Unterwegs. Literaturpreis des Bezirks Schwaben 2009, hrsg. v. Peter Fassl, Augsburg 2009; »shopping mall« in: BELLAtriste Nr. 28, Herbst 2010; »theperfect mystery cannot be written« in: Sprache im Technischen Zeitalter Nr. 197, März 2011. Eine alternative Version von »das schiff das singend zieht auf seiner bahn« erschien unter dem Titel »von der gefahr, allein zu gehen« in: polar
Nr. 11, Herbst 2011.
© 2012 MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft
Göhrener Str. 7 | 10437 Berlin
info@matthes-seitz-berlin.de
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Falk Nordmann, Berlin
ebook-ISBN 978-3-88221-166-5
www.matthes-seitz-berlin.de
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Nach oben ist das Leben offen
das schiff das singend zieht auf seiner bahn
Shopping Mall
Reisegesellschaft, unterwegs
Wenn das Herz im eigenen Blut ertrinkt
Der Anruf
Der Stein der Weisen
Mondrian
Für Liebende riecht Stroh anders als für Pferde
The perfect mystery cannot be written
Cerro Torre
Literatur
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Nach oben ist das Leben offen
Das Wetter war den ganzen Tag unbeständig. Nach dem Mittagessen haben dicke, schwarze Wolken das Blau des Himmels bedeckt. Ein Höllengewitter hat dann bis zum Abend angehalten. – Wir standen in unsere mit Daunen gefütterten Sportjacken gehüllt, die Hände in den Taschen vergraben. Mit den aufgeschlagenen Kragen unserer Jacken wärmten wir unsere Hälse. Zum Schutz hatten wir um Hals und Kinn zusätzlich dünne Schals geschlungen. Vom Tal herauf wehte der von der Nässe schwere Wind, griff in unsere kurzgeschorenen Haare, wir mussten unsere Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen. Hätten wir unsere verspiegelten Brillen zur Hand gehabt, wir hätten sie aufgesetzt. So kehrten wir den Windböen den Rücken zu, machten auf der überdachten Terrasse, wo man vormals auf hölzernen Liegestühlen in graue Steppdecken gewickelt lag, nun unsere Übungen: Die Fersen gehoben, den Rumpf aus dem Lot und nach vorne gebeugt, das Gewicht auf den Fußballen, trippelten wir, rissen die Knie in Hüfthöhe, hielten sie für zehn Schritte flach über dem Boden, rissen sie erneut für zehn Schritte über die Hüften hinaus, die Arme schnellten im Takt der Schritte versetzt vor und zurück, den Atem gleichmäßig halten, ermahnte der Trainer, er stand abseits im windgeschützten Eingangsbereich, den Kopf zwischen den Schultern vergraben, trat auch er von einem Bein auf das andere, wohl zum Schutz gegen die zunehmende Kälte, während er laut das Tempo vorgab.
Das Sportheim lag etwa fünfzig Meter oberhalb des Orts, im Prospekt steht hundert, aber es war höchstens halb so weit, wir liefen die Strecke fast täglich ab, unsere Schritte hatten wir oft gezählt. Im Ort gab es eine Gemischtwarenhandlung, eine Bäckerei, die ein oder andere Gaststätte mit Wochenendbetrieb; man benötigte drei Minuten, um die Hauptstraße abzulaufen. Nur vereinzelt zweigten Schotterstraßen ab, die zu einem Wohn- oder Ferienhaus führten. Hangabwärts lag ein Bauernhof. Abends konnte man die Anwohner in den erleuchteten Fenstern ihrer Wohnungen sehen, hier und dort flackerte das Bild eines Fernsehers. Wollten wir in eine Kneipe, Unterhaltung, mussten wir 300 Meter absteigen. Unser Heim lag 1900 Meter über dem Meeresspiegel. Die Reaktionsschwelle des menschlichen Organismus auf die Veränderungen in der Höhenluft liegt bei 2000 Metern. Die Störungswelle bei 3000. Wir alle waren hier oben an die Luftzusammensetzung gewöhnt, sie konnte unserer körperlichen und geistigen Verfassung nichts anhaben. Meist suchten wir die Höhen von 2500 Meter und darüber hinaus auf, living high – training high, um nur ab und zu ins Flachland hinunterzustoßen. –
Erst gestern waren wir von einem Wettkampf im Norden zurückgekehrt. Wir waren noch am selben Nachmittag des Wettkampftags aufgebrochen, um auf dem schnellstmöglichen Weg das Land zu durchqueren und zurück in die Berge zu gelangen. Der Fahrer trieb den Kleinbus durch den einsetzenden Regen. Wir versuchten unsere pulsierenden Beine mehr schlecht als recht auf die zwischen den Sitzreihen gelagerten Sporttaschen zu legen und unsere Körper auf den Rückbänken in eine entspannte Schräglage zu bringen. Kaum saßen wir im Wagen, wich die letzte Anspannung aus unseren Leibern. Wir spürten eine unendliche Erschöpfung; den Schaumstoff der Sitze in unseren Nacken, ergriff uns eine unüberwindbare Müdigkeit. Nur hin und wieder schoben wir unsere Arme durch den Gummibund unserer Trainingshosen und rieben uns eine große Portion Sportgel, die wir aus der Tube in unsere schalenförmige Handfläche drückten, auf unsere nackten, verhärteten Oberschenkel, die Waden. Anschließend warteten wir auf den Hitzeschwall, der über unsere Epidermis flutete, die Haut kurzzeitig in ein Flammenmeer verwandelte. Es war ein wohltuendes Gefühl, das uns unsere Schmerzen zeitweise vergessen ließ; das Menthol stach in unsere Nasen, wir mussten niesen, wir lachten. Im Anschluss an den Wettkampf waren wir nicht mehr in der Lage gewesen, feste Nahrung aufzunehmen, und so ließen wir nur die Wasserflaschen kreisen, nippten an dem zernagten Plastiktropf, um unseren Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Auch eine auf der Anfahrt geschmolzene Tafel Schokolade machte die Runde. Wir schabten jedoch nur mit den Spitzen unserer Zähne an der Zuckermasse, ließen sie geschmacklos auf unseren spröden Zungen zergehen. Während der Fahrt wechselten wir kaum Worte, nur der Motor war zu hören, der Regen, hin und wieder ein heftiger Windstoß, der mit einer unerwarteten Wucht von der Seite gegen die Karosserie schlug, den Wagen aus seiner Fluchtbahn stieß; der Fahrer fluchte. Mit der Klinge eines Taschenmessers stachen wir in die blutgefüllten Blasen an unseren Fußsohlen, ließen die Flüssigkeit in aufgefaltete Papiertaschentücher tropfen, sahen zu, wie sich unförmige Blüten bildeten, ausgebleicht, zu den Rändern hin bildeten sich dunkel gekrakelte Linien. Draußen schloss sich der Regen wie eine schwarze Filzmatte um den Wagen. Der Fahrer hatte das Radio aufgedreht, suchte nach einem Sender. Wir lagen regungslos, unsere Sweatshirts bis über die Brust hoch gezogen, unsere Bäuche entblößt, lüfteten unsere Körper, noch immer sickerte uns der Schweiß aus den Poren. Wir waren zu müde, um zu schlafen, und zu müde, um wach zu sein. Wenn wir unsere Füße bewegten, schmerzten die Fußballen und Fersen. Gegenseitig nahmen wir unsere nackten Füße in die Hände, kneteten sie zwischen den Handflächen, ohne auf den Schmerz zu achten, der unsere Beine bis zu den Kniekehlen durchzuckte. Einzelne Beinhaare, die wir unter unseren Fingern ertasteten, griffen wir mit den Fingernägeln, um sie mit der Wurzel herauszureißen. Durch die getönten Scheiben des Kleinbusses war kaum etwas zu sehen, nur die Wassertropfen, die in sich verzweigenden Bahnen zögernd über die Fenster krochen, hin und wieder ein Wagen, auf der Gegenspur grelle Scheinwerfer, die auf uns zu rasten.
Wir waren erst im Morgendämmern zum Sportheim zurückgekehrt. Der Kleinbus keuchte, aus dem Kühler stiegen milchige Dunstschleier auf; der Fahrer blieb am Steuer sitzen, die Stirn auf das Lenkrad gestützt, stöhnte, als hätte er soeben den Bus, in ein Geschirr gespannt, eigenhändig die Serpentinen heraufgezogen. Selbst den Aufstieg hatten wir verschlafen, die Straße, die sich in endlosen Kurven den Berg hinaufwindet, am Eingang ins Dorf ist sie nur noch eine Spur breit, die Leitplanken enden bereits am Ausgang des Orts unterhalb unseres Sportheims. Sogleich stürzten wir in die Küche, schnitten dicke Scheiben von einem Graubrot ab, nur aus dem offenen Kühlschrank drang ein fahler Lichtkegel, ansonsten war es finster. Die Brotscheiben belegten wir großzügig mit Käse und Wurst, wir machten uns nicht die Mühe, die klebrige Teigmasse zu kauen, schluckten die Nahrung mit gierigen Bissen hinunter. Auf unsere Zimmer zurückgekehrt, spülten wir unsere Rachen mit Mundwasser, ließen die bittere, grüne Flüssigkeit durch unsere gespitzten Lippen ins weiße Porzellan der Waschbecken spritzen. Dann gingen wir noch immer benommen, nur mit einem Handtuch um unsere Hüften geschlungen, in unsere Betten.
Wir teilten unsere Zimmer jeweils zu zweit. Die Zimmer lagen im neuen Anbau des ehemaligen Sanatoriums, allesamt im ersten Stock. Der Korridor war mit Kokosläufern ausgelegt. Die Wände schimmerten weiß und hart, mit einer lackartigen Ölfarbe überzogen. In südwestlicher Richtung öffneten sich die Zimmer ins Tal, rückwärtig stieg eine Wiese an, die nur einige hundert Meter weiter in eine senkrechte Felswand überging, die im Gipfel unseres sogenannten Hausbergs mündete. Wir alle wussten um die Theorie des Höhentrainings: Der wesentliche Faktor des Höhentrainings ist die Hypoxie. Die Hypoxie bezeichnet den Sauerstoffmangel durch den mit ansteigender Höhe absinkenden Sauerstoffpartialdruck (pO2). Der Ausgleich der Hypoxie geschieht über eine gesteigerte Produktion von roten Blutkörperchen und einen erhöhten Laktatanfall. Wir wussten, dass wir durch das klimatisch hervorgerufene Gefälle der Trainings- und Lebenssituation gegenüber den Normalbedingungen gezielt Einfluss auf unsere Organismen nehmen konnten, auf unser aerobes Leistungsniveau.
Nach der Rückkehr aus dem Flachland am frühen Morgen hatten wir den Tag über geruht. Wir saßen in unseren Zimmern auf Sesseln und in unseren Betten, blätterten gedankenverloren in unseren Büchern, in Leitzordnern, während draußen der Wind die Regenwolken über die Gipfel jagte. Die Umgebung war wie ausgestorben, nur hin und wieder trieb der Wind eine Hand voll schwarzer, krächzender Dohlen vom Tal herauf und über das flache Dach des Sportheims hinweg gegen die Felswand. Zu Mittag hatten wir uns im Speisesaal eingefunden. Es gab Spargelsuppe, gefüllte Tomaten, als Hauptgang Braten mit Bandnudeln in dunkler Jägersoße. Das Essen war gut, auch wenn wir uns einig waren, dass wir die Küche satt hatten, schon gewohnheitsgemäß schimpften wir auf die Mahlzeit, leerten unsere Teller mit hastigen Gesten. Zur Nachspeise gab es gesüßten Pudding mit zerhackten Dosenfrüchten. Wie meist nach einem Wettkampf war die Stimmung an den Tischen ausgelassen. Wir ließen unsere errungenen Medaillen kreisen, redeten mit vollen Mündern, fielen uns gegenseitig ins Wort, lärmten, lachten. Erst am Abend hatten wir uns wieder zusammengefunden; wir rekapitulierten den Verlauf des Wettkampfs, führten Analysen durch, besprachen unsere Ziele, Taktiken. Der Trainer schärfte uns ein, alles in unseren Vorteil zu verwandeln; Fehler waren dazu da, dass man sie einmal beging, danach nicht wieder. Wir vertrauten unserem Trainer. Er sprach zu uns allen, und alle hatten wir das Gefühl, dass er zu jedem Einzelnen von uns sprach. Im Anschluss an das Treffen gingen wir auf die Terrasse, um unsere Glieder in Bewegung zu halten. Gerade nach einem Wettkampf war es wichtig, dass die Muskeln sich nicht verhärteten. Wir dehnten uns, unsere Sehnen, Fasern, absolvierten unsere Übungen: Die Fersen gehoben, der Rumpf aus dem Lot und nach vorne gebeugt, das Gewicht auf den Fußballen, trippelten wir, rissen die Knie in Hüfthöhe, hielten sie für zehn Schritte flach über dem Boden, rissen sie erneut für zehn Schritte über die Hüften hinaus, die Arme schnellten im Takt der Schritte versetzt vor und zurück, unsere Atmung ging gleichmäßig.
Für den Abend waren wir nun entlassen, wir kehrten ins Heim zurück, verteilten uns im Gebäude, gingen hinunter in den Trainingskeller zu den Geräten, wir trafen uns im Fernsehzimmer, im Pool, zogen uns zurück, nahmen die Bücher und Hefte aus unseren Regalen, um zu pauken.
Früh am Morgen versammelten wir uns draußen auf dem Parkplatz, es dämmerte, wir standen in unsere mit Daunen gefütterten Sportjacken gehüllt, die Hände in den Taschen. Mit den aufgeschlagenen Kragen unserer Jacken wärmten wir unsere Hälse. Zum Schutz hatten wir um Hals und Kinn zusätzlich dünne Schals geschlungen. Bevor wir losliefen,