Die Wahrheit über den Fall Antônio Martins: Roman
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Von Sérgio Sant'Anna außerdem in der Edition diá:
Amazone
Roman
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Frank Heibert
ISBN 978-3-86034-531-3
Das kosmische Ei
Drei Erzählungen
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Frank Heibert
ISBN 978-3-86034-533-7
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Die Wahrheit über den Fall Antônio Martins - Sérgio Sant'Anna
Über dieses Buch
Der bekannte Theaterkritiker Antônio Martins, Junggeselle mit festen Liebschaften, gerät eines Tages in den Bann einer jungen Frau. Er verliebt sich leidenschaftlich in das Aktmodell Inês, jung, von zarter Schönheit und mit einem körperlichen Makel behaftet, der sie für Martins nur noch anziehender macht. Doch wird ihn diese Passion seinen guten Ruf kosten. Denn nach einer geheimnisvollen Liebesbegegnung mit Inês sieht er sich mit einer Anklage wegen Vergewaltigung konfrontiert. Martins bestreitet diesen Tatverdacht und gerät damit immer tiefer in die trügerische Zone, die Wirklichkeit und Selbstwahrnehmung, Kunst als inszenierte Realität und Realität als geschickte Inszenierung trennt. Ein hochintelligenter Kriminalroman, der den Leser in eine Großstadtwelt entführt, in der nichts mehr gewiss ist.
»Sein kompromissloses Werk macht Sant’Anna zu einer wesentlichen Quelle der Inspiration und zu einem bedeutenden Vertreter der überschäumenden aktuellen literarischen Szene in Brasilien.« (Le Monde)
Der Autor
Sérgio Sant’Anna, geboren 1941 in Rio de Janeiro, ist Autor von mehreren Romanen, Erzählbänden, Theaterstücken und Geschichten. Seine Schriftstellerkarriere begann in den sechziger Jahren mit der Gründung einer (später von der Militärdiktatur verbotenen) Zeitschrift für experimentelle Literatur; in den siebziger Jahren zählte er zur literarischen Avantgarde Brasiliens, die das Formexperiment mit dem revolutionären Engagement zu verbinden suchte. Sant’Anna war lange Dozent für Kommunikationswissenschaft an der Universität von Rio de Janeiro. Für seine Werke erhielt er mehrere brasilianische Literaturpreise, darunter 1986 den Prêmio Jabuti für »Amazone«.
Der Übersetzer
Enno Petermann, geboren 1964 in Berlin, studierte Lateinamerikanistik und Germanistik. Aus dem Spanischen und Portugiesischen übersetzte er unter anderem Romane von Sylvia Iparraguirre, Eduardo Belgrano Rawson und Adriana Lisboa. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam.
Sérgio Sant’Anna
Die Wahrheit über den Fall Antônio Martins
Roman
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Enno Petermann
Edition diá
Inhalt
1
2
3
Impressum
1
Zunächst sollte ich klarstellen, dass sie, als ich sie zum ersten Mal sah, in dem Café an einem Tisch saß und ich sie nicht von Kopf bis Fuß betrachten konnte. Doch ich folgerte aus ihren feinen und zarten Gesichtszügen – und aus ihren kleinen, sich unter einer eleganten Bluse auf den ersten Blick nur undeutlich abzeichnenden Brüsten –, dass sie eine schlanke Frau mit einem wohlgeformten Körper war. Mich zogen vor allem das Gesicht und die hellen, gelockten Haare an, und ich musste unwillkürlich, vielleicht von zwei Gläsern Kognak animiert, an eine russische Fürstin denken.
Demnach wäre es übertrieben zu sagen, dass ich mich von Anfang an durch jene Sache angezogen gefühlt hätte, wie die späteren Ereignisse nahelegen könnten. Es sei denn, man hängt der Überzeugung an, dass der erste Blickwechsel zwischen zwei Menschen bereits alles enthält: das gegenseitige Erkennen, das der eine im anderen dann nur noch bestätigt findet, und das Schicksal, welches sie miteinander teilen werden. Und ich muss eingestehen, dass mich ihr melancholischer Blick und ihre keusche Einsamkeit in einem für seine lärmende Hektik bekannten, zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht voll besetzten Café regelrecht gefangen nahmen. Sie brachten mich auf Einfälle wie den mit der russischen Fürstin, nicht zuletzt deshalb, weil ich allein zu Abend aß und allein trank. Vielleicht bildete auch jene Sache den eigentlichen Grund für ihre Melancholie, allerdings konnte ich das noch keinesfalls wissen.
Ich bin niemals ein Mann gewesen, der aufdringliche Blicke auf jemanden richtet, und noch viel weniger einer, der unmissverständliche Angebote macht, weil ich das für geschmacklos halte und für eine Beleidigung sensibler Frauen, zu denen ich sie ohne Zögern zählte. Aber die Wände und Säulen des Cafés sind mit Spiegeln verkleidet. Und mithilfe dieser sich gegenseitig vervielfachenden Spiegel konnte ich meine Beobachtungen durchführen, ziemlich diskret und indirekt. Ja, tatsächlich hätte ich zwei- oder dreimal, als ich die Augen schnell von meinem Glas hob, schwören können, dass ich es war, der – auf dieselbe indirekte Weise – von jenen schwarzen Augen beobachtet wurde, die sich sofort wieder auf den Rotwein hefteten, den sie in winzigen Schlucken trank. Der Wein färbte ihre für ein so schmales Gesicht etwas zu fleischigen Lippen dunkel und verlieh ihren Wangen einen Hauch von jugendlicher Röte, die in einem interessanten Kontrast zu ihrem sonst überaus blassen Antlitz stand.
Bald darauf verließ ich das Café, das sich für meinen Geschmack zu sehr zu füllen begann. Außerdem wollte ich mich nicht betrinken, was den Strom meines Bewusstseins unverhältnismäßig beschleunigt hätte, ein entfesseltes Auf und Ab, das mich von einer Stunde zur nächsten und vor allem am folgenden Tag aus einer beinahe glücklichen Erregung in eine Niedergeschlagenheit voller schmerzlicher Vorstellungen und Gedanken stürzen lassen konnte. Die Wahrheit ist, dass ich einen Hang zum Alkoholismus habe, den ich zu kontrollieren versuche.
Oder vielleicht war das auch nur eine Ausrede, denn ein Mann hatte sich ohne Umstände an ihren Tisch gesetzt und begonnen, sich vertraulich mit ihr zu unterhalten, obwohl sie ihn anscheinend zu nicht mehr ermutigte als zu jener Bewegung, mit der er seine Hand für einige Sekunden auf die ihre legte.
Ich stellte fest, dass es ein Mann mittleren Alters mit wirrem grauen Haar war, der aber mit der Ungeniertheit eines jungen Burschen, dem Modefragen gleichgültig sind, eine abgewetzte Jeansjacke über einem weißen T-Shirt trug. Als ob er gemerkt hätte, dass ich sie beide beobachtete, warf er einen selbstbewussten Blick in meine Richtung, eher neugierig als feindselig. Ich zahlte und ging, ohne mich umzusehen.
Ich vergaß sie und kehrte an die Arbeit zurück, zu meinem Leben als alleinstehender Mann, der ein paar Freundinnen hat, die sich bei Gelegenheit in Geliebte verwandeln können – für einen Abend, eine Nacht, ein Wochenende –, ohne irgendein Band außer dem der Zuneigung, die umso ehrlicher ist, je freier sie sein darf. Und vielleicht sollte ich hinzufügen, dass ich auch den einen oder anderen männlichen Freund habe, Freunde, die ich jedoch wesentlich seltener treffe und von denen ich ein angenehmes Gespräch und Intelligenz erwarte. Bevor man mich des Machismus anklagt, was eine ungerechte und im Zusammenhang mit dieser Geschichte sogar falsche Beschuldigung wäre, versichere ich, die genannten Qualitäten beim weiblichen Geschlecht genauso zu schätzen.
Doch über alles liebe ich die Freiheit, auch wenn das nicht viel mehr bedeuten mag, als ein Ehebett zu meiner alleinigen Verfügung zu haben, wo ich stundenlang lesen oder einfach die Gedanken schweifen lassen kann. Darüber hinaus sorgt bereits meine Arbeit dafür, dass sich meine Kontakte zur übrigen Welt auf ein Mindestmaß beschränken.
Viele sehen in mir einen Exzentriker, ein finsteres Gemüt, und berücksichtigen dabei nicht, dass sich jemand in seiner eigenen Gesellschaft wohlfühlen kann, in der seiner Träume, Vorstellungen, Fantasien, obgleich diese – oder die sich im Geist widerspiegelnde Wirklichkeit – oft dazu führen, dass man schreckliche Landschaften durchqueren muss, die aber andererseits in bestimmten privilegierten Momenten die Vorstufe zum inneren Frieden, zur Erleuchtung und zu einem einsamen Glück darstellen, ohne dass man irgendeiner künstlichen Anregung wie der des Alkohols bedarf. Es kommt also nur darauf an, dem Bewusstsein freien Lauf zu lassen, und möglicherweise ist dieses Strömen das eigentliche Leben. Denn selbst wenn wir in große Abenteuer verwickelt werden, wie kann man sie erleben ohne die subjektive Wahrnehmung desjenigen, der sie durchlebt?
Jedoch gelingt es selbst dann, wenn man seinen Beruf während der meisten Zeit zu Hause ausübt, nicht vollständig, die Außenwelt, die Straße, zu vermeiden. Damit meine ich nicht den begrenzten Bereich der Bars und Restaurants mit ihren künstlichen Reizmitteln oder die verzauberte Wirklichkeit der Nacht, ihre Szenerien und Schauspiele. Nein, wenn ich von der Straße spreche, meine ich die Schlachten des Tages, die alltäglichen Mühen, Sehnsüchte und Kämpfe.
Und eines Nachmittags, als ich über den Largo do Machado ging, befiel mich eine Vorahnung, die ich zu verdrängen suchte, um meinen Weg fortsetzen zu können: Ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis schien sich anzukündigen. Natürlich ist die Stadt so voller Gefahren und Spannungen, dass sich immerzu irgendein Zwischenfall ereignen kann. Und ein empfindsamer – in manchen Angelegenheiten sogar schwacher – Mensch wie ich rechnet pausenlos mit dem Eintreten eines solchen Ereignisses. Außerdem überquerte ich gerade jenen dicht bevölkerten und vom Verkehr umtosten Platz, wo sich mehrere Buslinien kreuzen und auf dem viele Arbeitslose und Leute, die von kleinen Dienstleistungen leben, herumlungern. Ich war zu einer Bank im Stadtzentrum unterwegs, ein Gang, den ich ohnehin hasse und der mich aufregt, aber ich befand mich in einem Alarmzustand, der den gewöhnlichen noch übertraf. Wie eine Wirkung, die ihrer Ursache vorausgeht, spürte ich eine Verstimmung im Magen, das Herz klopfte unregelmäßig. Ich beschleunigte meine Schritte, um im Schlund der Metro zu verschwinden, wie ein Tier, das in seinen Bau flieht. Zu spät. Oder angesichts der Umstände wäre es wohl besser zu sagen ›zu früh‹. Denn als ich die Treppen hinabfuhr, hörte ich in meinem Rücken empörtes Murren und kurze Aufschreie, das Geräusch gegeneinanderprallender Körper, und ich sah, wie die Blicke der Leute auf der anderen Seite der Rolltreppe, die aufwärtsfuhren, sich erschrocken auf etwas hinter mir richteten. Als ich mich instinktiv umdrehte, stürzte eine Frau auf mich. Immer noch instinktiv fing ich sie auf. Die Empfindung, die sich für alle Ewigkeit in meinem Inneren eingrub – ohne dass ich mir dessen in jenem Moment ganz bewusst gewesen wäre –, war, wie wenig ihr Körper wog.
Während einige hilfsbereite Personen von ihr wissen wollten, ob sie sich verletzt habe, klammerte sich die junge Frau mit aller Gewalt an meinen Arm, ein Zeichen, das ich als Bitte deutete, sie zu beschützen und die Treppe hinunterzuführen, was ich auch tat. Doch als wir den Gang zum Bahnsteig erreicht hatten, bohrte sie, statt mich loszulassen, die Fingernägel in mein Handgelenk, bis es schmerzte. Ich schaute mich verlegen um, weil ich befürchtete, an eine Geisteskranke geraten zu sein. Und tatsächlich beobachteten uns die Leute. Sie spürte meine Verwirrung und lockerte den Druck ihrer Hand auf meinem Gelenk.
»Wir wollen erst die Leute vorbeilassen«, sagte sie.
Ich begriff, dass das, was sie wirklich beunruhigte, nicht der Schreck, die Angst oder irgendeine andere Folge des gerade erlittenen Sturzes war, sondern die Neugier, die sie weckte. Und während wir uns mit sehr langsamen, fast unsicheren Schritten in Richtung der Fahrkartenschalter bewegten, um alle diejenigen sich entfernen zu lassen, die die Szene auf der Treppe miterlebt hatten, merkte ich, dass die Frau hinkte.
»Haben Sie sich verletzt?«, erkundigte ich mich und kam mir in Anbetracht einer so naheliegenden Frage vor wie ein Idiot.
»Nein, es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Aber ich würde gern zurück nach Hause gehen.«
Ich hielt das für eine Aufforderung, sie zu begleiten, und reichte ihr demonstrativ den Arm, obwohl ich mir darüber im Klaren war, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wo sie wohnte, und ich mich außerdem erinnerte, dass ich dringend zur Bank musste, die bald schließen würde. Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, beeilte sie sich hinzuzufügen:
»Nein, darum geht es nicht. Nur um die Treppe.«
Wir kehrten um, und vorsichtig half ich ihr, gleichzeitig mit mir den Fuß auf die Rolltreppe zu setzen. Ich nahm eine gewisse Aufgeregtheit an ihr wahr, besonders in dem Moment, als wir auf dem Largo do Machado mit einem kleinen Sprung das Pflaster betraten. Sobald sie in Sicherheit war, lächelte sie, wobei sie schüchtern die Augen senkte, und streckte mir die Hand entgegen, um sich zu verabschieden:
»Vielen Dank für alles.«
Ihre Zähne waren sehr weiß und klein wie die eines Kindes, ein Eindruck, der durch die feuchten Haare von jemandem, der vor Kurzem aus dem Bad gekommen ist, noch verstärkt wurde. Ohne zu reagieren, blieb