Stimmen der Seele: Die vergessene Wahrheit hinter der Demenz
By Hans Siepel
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Was ist Demenz? Mediziner werden mit der Antwort nicht zögern: Demenz ist eine Erkrankung des Gehirns. Hirnzellen werden angegriffen, wodurch der Denkprozess des Betroffenen beeinträchtigt wird. Er zieht sich aus »unserer Wirklichkeit« zurück. Aber ist das wirklich alles, was man dazu sagen kann? In welche Wirklichkeit tritt der Geist des Betroffenen ein?
Hans Siepel hatte den Mut und die Kraft, seine Mutter während ihres Demenzleidens zu begleiten. Er nahm die Zeichen, die sie ihrer Familie gab, ernst und beschritt mit ihr einen ungewöhnlichen und manchmal harten Weg mit unklarem Ausgang. Gemeinsam fanden sie zu einer neuen Wirklichkeit, und seine Mutter offenbarte ihm in der Demenz ihr größtes Geheimnis.
»Der Geist eines Demenzkranken hört nicht auf zu existieren, wenn Hirnzellen angegriffen werden. Im Gegenteil. Aus den Nebeln der Demenz treten die tieferen Schichten zum Vorschein. Die Seele spricht.«
Huub Buijssen, Autor von Die Magische Welt von Alzheimer: »Demente Menschen übermitteln ihre Botschaften oft indirekt, vor allem bei schmerzhaften Gefühlen und Sehnsüchten. Hans Siepel deckt die Zusammenhänge auf.«
Eine Leserzuschrift: "Das Buch hat mich tief berührt. Es hat mir viel Einblick gewährt in das Ringen der Familien und freiwilligen Helfer. Nun verstehe ich besser, was sie angesichts dieser Ohnmacht, Strapazen und Anspannung fühlen müssen. Dieses wundervolle Buch bringt ihr herzergreifendes Dilemma sehr genau zum Ausdruck. Jeder, der mit dementen Menschen zu tun hat, sollte es lesen!"
Hans Siepel studierte Politikwissenschaft und war viele Jahre im holländischen Innenministerium als Experte für Beziehungen zum Königshaus tätig. Nach dem Erwerb des Masters in Spiritualität an der Katholischen Universität Nijmegen und einer Ausbildung zum Reinkarnationstherapeuten arbeitet er heute als Mediator, Dozent und Berater. Seine Bücher über Demenz wurden in den Niederlanden zu Bestsellern.
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Stimmen der Seele - Hans Siepel
Eins
Ankündigung
Die Mahlzeit ging zu Ende. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass mein Vater aufgestanden war. Ich schaute sofort meinen Bruder an. Wir wechselten einen bedeutungsvollen Blick und dachten offenbar beide das Gleiche: »Wie schön, unser Vater ergreift das Wort.«
Er hatte uns zuvor nichts von seiner Absicht mitgeteilt. Sicher, weil er nicht wusste, ob er die Kraft dafür finden würde. Vielleicht hatte er Angst davor, dass seine Gefühle an diesem Tag ihm das Sprechen unmöglich machen könnten. Aber da stand er nun, etwas vorgebeugt in der charakteristischen Haltung, die mir so vertraut war. Seine schneeweißen Locken glatt nach hinten gekämmt. Da stand kein gebrochener und niedergeschlagener Mensch. Nein, hier stand er, über den Tod seiner Frau hinweg, in seiner ganzen Lebenskraft.
Nur eine Stunde zuvor hatte er sich auf dem Arnheimer Friedhof Moscowa von der Frau verabschieden müssen, mit der er fast fünfzig Jahre verheiratet gewesen war. Zusammen mit seinen zwei Söhnen und den Schwiegertöchtern Moniek und Emma hatte er sie selbst am Morgen aus der Leichenhalle geholt. Die letzten zwei Jahre ihres Lebens waren wir so intensiv mit ihr zusammen gewesen, dass wir sie bis zum letzten Moment selbst begleiten wollten. Bevor wir den Sargdeckel zuschraubten, hatte ich einen letzten Blick auf meine Mutter geworfen. Selbst jetzt noch traf mich die Ruhe, die ihr Gesicht ausstrahlte. Ihre Lippen hatten sich zu einem Lächeln voller Zufriedenheit geformt, und der beinahe jugendliche Ausdruck, der in ihren Zügen lag, bezeugte eindrucksvoll ihre erstaunliche Geschichte.
Mit zitternder Hand zog mein Vater einen Zettel aus der Innentasche seines Jacketts und entfaltete ihn. Für einen kurzen Moment ließ er seinen Blick über die Tische schweifen. Er sah flüchtig zu dem Tisch, an dem die Schwestern meiner Mutter saßen. Meine Schwägerin Aaltje schaute er ein wenig länger an. Ich wusste, was er dachte. Sein Blick schweifte weiter und nahm seine Familie, Freunde und Bekannten in sich auf. In der Stille dieses Moments fragte er sich ohne Zweifel, ob irgendjemand an den Tischen sich vorstellen und begreifen konnte, was er in den letzten Jahren mit seiner dementen Frau hatte durchmachen müssen. Würden sie jemals seinen Kampf gegen die zerstörerische Kraft der Krankheit seiner Frau verstehen können? Würde jemand fassen können, wie ihre Demenz ihn existenziell erschüttert und seine Überzeugungen und Sicherheiten ins Wanken gebracht hatte? Gab es jemanden an diesen Tischen, der verstehen konnte, wie er mit sich gerungen hatte, um der Wahrheit ins Auge sehen und die Krankheit seiner Frau akzeptieren zu können? Wahrscheinlich nicht.
Letzten Endes war es ihm wohl gelungen. Nach einem langen, mühsamen emotionalen und ergreifenden Kampf, der ihn verändert hatte. Aber nicht nur ihn, sondern uns alle. Ich dachte an die Sätze zurück, die ich während der Trauerfeier gesprochen hatte: »Mit deiner Krankheit hast du ein neues, starkes und außergewöhnliches Kapitel unserer Familie geschrieben. Wir setzen unser Leben ohne dich nun anders, aber gestärkt fort.«
Als lebendes Symbol für dieses neue Kapitel stand mein Vater vor uns mit seinem Notizzettel in der Hand.
Wie hatte es begonnen? Die ersten Seiten dieser Geschichte waren schon vor vielen Jahren beschrieben worden – im Jahr 1954. Damals verliebten sich meine Eltern ineinander. Mein Vater stammte aus Groningen und war wegen seiner Arbeit nach Den Haag umgezogen. Es war der Beginn seiner amtlichen Karriere. Meine Mutter war »von Scheveningen«, wie die Scheveninger sagen. Sie begegneten sich zum ersten Mal in der Kirche in Den Haag, wo eine Tasse Kaffee den Anfang ihrer gemeinsamen Lebensgeschichte bildete. Meine Mutter war die Jüngste aus einer großen Scheveninger Familie gewesen. Sie war mit vier Schwestern und drei Brüdern aufgewachsen. Doch uns Kindern hatte sie nie Näheres von ihrer Jugend und der Familie, in der sie aufgewachsen war, erzählt.
Das Einzige, wovon sie oft sprach, war der Hungerwinter, den sie miterlebt hatte. Beinahe hätte sie diesen Winter nicht überlebt. Eine Episode aus dieser Zeit der Not hatte bei mir als Kind einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, vielleicht auch, weil die Geschichte so anschaulich ist. Bilder, die ich oft im Fernsehen gesehen hatte. Ich erinnerte mich wieder an diese Szene – meine Mutter mit einem Löffel in der Hand, mit dem sie als Mädchen die Mülltonnen auf der Straße abgekratzt hatte auf der Suche nach Essen.
Doch viel mehr haben wir über ihre Kinderzeit aus ihrem Mund nicht erfahren. Ich wuchs mit der Selbstverständlichkeit auf, dass die Beziehung zwischen meiner Mutter und ihren Geschwistern einfach nicht gut war. Das war nun mal so, dazu stellte man keine Fragen. Zwei ihrer Brüder habe ich nie kennen gelernt, lediglich ihren ältesten Bruder besuchten wir ab und zu. Doch als sich die Krankheit meiner Mutter ankündigte, waren alle drei bereits gestorben. Die vier Schwestern lebten zwar noch, aber außer zu ihrer Schwester Aaltje, die sie regelmäßig besuchte, waren die Kontakte nicht fest und beständig. Die Gründe hierfür oder irgendwelche Hinweise darauf, was sich alles in dieser Familie zugetragen hatte, erfuhren wir von unserer Mutter nicht. Dieses Kapitel schien für sie abgeschlossen zu sein. Das Schweigen darüber gehörte zu unserem Leben. Für meinen Bruder und mich waren die gestörten Familienverhältnisse eine selbstverständliche Gegebenheit. Ohne viel Bedeutung. Erst viel später sollte uns klar werden, welche tiefe Bedeutung die Zeit ihrer Kindheit und Jugend für ihr Leben gehabt hatte.
Meine Eltern heirateten am 11. April 1956 und bekamen zwei Söhne. Mein Bruder Wim wurde 1957 geboren und ich im November 1958. Es war eine typisch kleinbürgerliche Familie während der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Krieg. Man musste hart arbeiten, war zwar nicht arm, aber im Überfluss lebte man sicherlich nicht. Wir waren eine unauffällige Familie von der Art, wie es so viele gab in jener Zeit, deren Atmosphäre der Schriftsteller Gerard Reve in der Wintergeschichte Die Abende so meisterlich in Worte gefasst hat. Der Glaube an Gott spielte in der Familie eine beherrschende Rolle. Insbesondere für meine Mutter war er eine Stütze in ihrem Leben. Treu gingen wir jeden Sonntag in die Kirche, und den Mahlzeiten folgte stets eine Bibellesung.
Durch den Beruf meines Vaters bedingt, zogen wir 1968 von Den Haag nach Arnheim. Dort plätscherte das unauffällige, normale Familienleben weiter so vor sich hin. Meine Mutter ging ganz in ihrem Haushalt auf, wobei die Fürsorge für die Familie von ihr großgeschrieben wurde. Aber trotz dieser Sorge und Liebe fehlte es ihr an Tiefgang und emotionaler Vitalität. Sie gehörte zu jener Generation, die den Krieg als Kind miterlebt hatte, aber darüber hinaus auch noch in einem Klima der Gefühlskälte erzogen worden war, bei dem Emotionen und Gefühle verdrängt wurden und aus Furcht vor einem »strafenden Gott« unausgesprochen blieben. Dieser Generation fehlten schlicht die Worte, um darüber zu sprechen, was geschehen war, zu fest waren Emotionen und Gefühle verschlossen.
Als mein Bruder und ich das Haus verließen, begannen wir, uns als Familie auseinanderzuleben. Es waren die Pflichttelefonate und Besuche des elterlichen Heims an Geburts- und Feiertagen, während derer jedes Mal die Spannung des Unausgesprochenen spürbar wurde. Wir lebten uns auseinander, weil Gefühle und Emotionen als Bindemittel in unserer familiären Beziehung fehlten. Unsere Familie war ein Bauwerk aus losen Steinen ohne Mörtel. So zu leben war wie ein selbstverständliches Erbe. Es war schon immer so in der Familie gewesen, und nichts deutete darauf hin, dass es sich jemals ändern würde.
Doch das Leben wählte unerwartet und ohne Ankündigung ein ganz anderes Drehbuch. Es sollte uns alle aus der Bahn werfen, aber davon ahnten wir als Familie nicht das Geringste, als die ersten Zeilen dieses Drehbuchs bereits geschrieben wurden.
Die Geschichte kam in Gang, als mein Vater im Frühjahr 1999 Herzbeschwerden bekam und für eine schwere Operation ins Krankenhaus musste. Zum ersten Mal seit ihrem Hochzeitstag war meine Mutter für längere Zeit ohne meinen Vater im Haus. Damit nicht genug, musste sie sich nun auch um all die Dinge kümmern, die bisher mein Vater ganz allein geregelt hatte. Die Finanzen zum Beispiel.
Im Nachhinein wird mir bewusst, wie sich bei meiner Mutter damals die ersten Anzeichen einer neuen Wirklichkeit entwickelten, mit der wir bald darauf konfrontiert wurden. Sie kam nicht mit der neuen Situation zurecht, allein zu Hause für alles verantwortlich zu sein. Sie wirkte verloren und war sehr unsicher. Sie geriet schnell in Panik, weinte auffällig viel und hatte jeden zweiten Tag irgendetwas verloren. Wir haben damals vermutlich, ohne es zu wissen, die ersten Anzeichen ihrer Demenz erlebt.
Ich fand ihre Reaktion und ihr Benehmen aber eigentlich auch verständlich. Sie machte sich Sorgen um ihren Mann, sie war zum ersten Mal längere Zeit allein im Haus; in meinen Augen legitime Gründe für ihre Nervosität und ihr ungewohntes Benehmen. Und nachdem mein Vater nach der erfolgreich verlaufenen Operation wieder daheim war, hatte es den Anschein einer unbedeutenden Episode. Eine verständliche Krisenzeit, die nun vorüber war. Es kehrte wieder Ruhe in ihr Leben ein, und alles schien wieder beim Alten zu sein.
Ein Jahr später aber stellte sich heraus, dass die Verunsicherung und die Vergesslichkeit meiner Mutter doch kein vorübergehender Vorfall gewesen waren. Es fiel meinem Vater auf, dass sie immer mehr vergaß und Sachen nicht mehr wiederfinden konnte.
Eines Abends rief er uns besorgt an: »Ich mache mir Sorgen, es sieht aus, als ob es immer schlimmer wird«, sagte er leise zu Emma, die er am Telefon hatte. Er flüsterte, denn meine Mutter sollte nichts von seiner Beunruhigung mitbekommen.
»Wieso gehst du nicht zum Hausarzt?«, fragte sie.
Die Angst vor der »einen Diagnose« hielt ihn noch ein paar Wochen vom Hausarztbesuch ab. Aber eines Morgens, als meine Mutter beim Frisör war, ging er doch in die Praxis.
Was mein Vater dem Arzt genau erzählt hat, weiß ich nicht, aber noch am gleichen Abend rief er erleichtert an. »Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen«, sagte er fast begeistert. »Es ist wahrscheinlich nur Vergesslichkeit, das gehört nun mal zum Älterwerden.« Der Hausarzt hatte ihn beruhigt. Auf das Urteil der »Experten«, an deren Autorität er nie zweifelte, legte mein Vater stets viel Wert. Diese Bestätigung vor Augen beteuerte er mir, dass es wirklich keinen Grund zur Sorge gebe.
Er konnte mich, wie auch meinen Bruder, aber nicht richtig überzeugen. Meine Mutter veränderte sich. Vielleicht waren wir eher in der Lage, es wahrzunehmen, weil wir, im Gegensatz zu meinem Vater, nicht jeden Tag mit ihr zusammen waren. Veränderungen fallen einem dadurch leichter auf.
Übrigens erzählte sie, ganz auf ihre Weise, selbst die Geschichte ihrer Veränderung. Sie hatte zunehmend Schwierigkeiten damit, dass ihr bestimmte Wörter und Namen nicht einfielen. Wenn man mit ihr im Gespräch war, konnte sie plötzlich völlig abwesend sein. Sie vergaß Dinge, und mir fiel auf, wie sie obendrein die Kontrolle über sich selbst zu verlieren begann. Sie wurde ängstlicher, aber auch reizbarer. Über Nichtigkeiten konnte sie sich sehr aufregen. Es war die Wut von jemandem, der sich einem Kampf ausgesetzt sieht, bei dem er nicht weiß, wer der Gegner ist.
Ihr Selbstbild passte sich dieser veränderten Lebenssituation an. Nicht unbedingt positiv. Sie war nie eine Frau gewesen, die sehr viel Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen ausgestrahlt hatte, aber sie machte sich nun noch kleiner. Sie konnte jetzt sehr herablassend über sich selbst sprechen. Dies fiel uns vor allem auf, wenn wir Gesellschaftsspiele spielten. Irgendwo in ihrem Geist verlor sie unvermittelt die Übersicht und die Kontrolle. Sie wurde dann gereizt und lief weinend vom Tisch weg, den bedeutungsvollen Satz auf den Lippen: »Das kann ich doch nicht mehr.«
Ein anderer Umstand, der sich später als klares Symptom ihrer beginnenden Demenz erwies, war, dass sie oft fiel. Dann lag sie, ohne ersichtlichen Anlass, plötzlich auf der Straße. Das geschah mehrmals und glücklicherweise, abgesehen von einigen blauen Flecken und Schrammen an den Knien, ohne schlimmere Folgen.
Im September 2001 ging es allerdings weniger glimpflich aus, da sie sich bei ihrem Sturz das Handgelenk brach und einen Gipsverband tragen musste. Dieser Vorfall erschütterte schließlich doch das Vertrauen meines Vaters in die beruhigenden Worte des Hausarztes. Allmählich von ängstlichen Vermutungen geplagt, musste er sich eingestehen, dass die Veränderungen bei meiner Mutter wohl doch mehr zu bedeuten hatten als bloße Alterserscheinungen. Und wieder besuchte er den Hausarzt, aber diesmal zusammen mit ihr.
Nach einigen kleinen Untersuchungen kam auch der Arzt nun zu dem Schluss, dass es sich um mehr als normale Vergesslichkeit handelte. Er überwies sie in die geriatrische Abteilung des Krankenhauses in Arnheim. Dort wurden die entsprechenden Tests und Untersuchungen vorgenommen, und das Ergebnis war eine Bestätigung dessen, was wir alle schon insgeheim befürchtet hatten. Meine Mutter litt an Alzheimer. Was nun? Sehr viel konnten die Ärzte uns nicht anbieten. Medikamente, um den Krankheitsverlauf zu verzögern und den gut gemeinten Ratschlag, ihr »Denkvermögen« so viel wie möglich anzuregen.
Kurz vor Weihnachten begann sie mit der Einnahme von Excalon, dem Demenzmedikament schlechthin.
Zwei
Urkraft
Der Gedanke, meine Mutter könne an Demenz leiden, hatte von unserer Familie schon in den Monaten vor der definitiven Diagnose schleichend Besitz ergriffen. Eine Angstvision, gegen die wir uns lange Zeit gewehrt hatten, waren wir uns doch darüber im Klaren, was eine solche Krankheit bedeuten würde.
Man möchte so gern glauben, dass es nicht so ist. Nicht darüber zu sprechen, hielt diesen Glauben eine Zeit lang lebendig. Aber als die Diagnose dann einmal gestellt war, konnten wir ihr nicht mehr ausweichen. Die »Benennung« öffnete uns den Blick auf eine neue Wirklichkeit, die unsere Existenz dramatisch verändern sollte. Aber über die tatsächlichen Ausmaße konnten wir uns zum Zeitpunkt der Diagnose noch keine Vorstellung machen. Das kam erst viel später.
Jetzt, wo »es« einen Namen hatte, schien auch Mutter eher erleichtert als erschrocken zu sein. Wie oft musste ihr in den vergangenen Jahren dieses Wort – Demenz – durch den Kopf gegangen sein? Nun, da die Fakten auf dem Tisch lagen, schien sie sich damit abzufinden. Ihr »geistiger« Gegner hatte einen Namen. Das gab ihr eine Art Sicherheit. Sie wusste fortan wenigstens, was mit ihr los war.
Vater übernahm allmählich die Arbeiten meiner Mutter. Zum ersten Mal in seinem Leben kochte er, wusch die Wäsche, bügelte und kümmerte sich auch um die übrige Hausarbeit. Mutter freute sich sichtlich über diesen Rollenwechsel. Sie hatte sich während ihrer gesamten Ehe um den Haushalt gekümmert. »Ich bin die kleine Schraube, um die sich alles dreht«, war eines ihrer geflügelten Worte. Jetzt wurde für sie gekocht, gewaschen und gebügelt, und sie genoss es in vollen Zügen.
Wir, ihre Kinder, besuchten sie immer häufiger, und wir telefonierten regelmäßiger mit ihr. Dieses »Bindemittel«, das in den Jahren zuvor in unseren Familienbeziehungen gefehlt hatte, wurde nun nachträglich in einer Art Schnellrenovierung eingebracht. Wir wuchsen zusammen. Wir begriffen es seinerzeit noch nicht, aber später sollte uns klar werden, dass wir gerade dieses Bindemittel brauchten, um dem Sturm standhalten zu können, der durch ihre Demenz entfacht wurde.
Die Zeit verging, und inzwischen waren wir im Frühjahr 2003 angekommen. Rückblickend war die erste Phase der Demenz meiner Mutter eine Art Trainingslager für die Familie gewesen. Das hatten wir überstanden. Wir mussten uns nun auf »die eigentliche Arbeit« einstellen. Auf ihre Art hatte meine Mutter die notwendigen Vorbereitungen getroffen und vervollständigt. Die ersten, groben Züge dessen, was »ihre Geschichte« werden sollte, waren zu Papier gebracht. Sie hatte jetzt Phase zwei erreicht.
Plötzlich verschlechterte sich ihr Zustand. Unsere Sorgen nahmen zu. Mein Bruder und ich beschlossen, noch einmal ein Wochenende mit ihr zusammen zu verreisen, solange dies noch möglich war. Wir mieteten eine Ferienwohnung in ’t Loo, in der Nähe von Apeldoorn. Meine Mutter freute sich sehr darauf. Ich bin mir sicher, sie fühlte, dass dies der letzte Urlaub sein würde, den wir als Familie zusammen verbrachten.
An diesem Wochenende wurde mir erstmals bewusst, dass sie durch ihre Krankheit hindurch etwas zeigte, was ich zuvor nicht bemerkt hatte. Anfangs fiel es mir schwer, dies zu benennen. Es verkörperte eine Art unbenannte Urkraft. Es war »etwas«, das hinter ihrer Krankheit lag, eine Energie, die bedeutend stärker war als jene, die ich von meiner Mutter kannte.
Und an