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Der Untergang von Heidelberg: Roman
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Der Untergang von Heidelberg: Roman

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Die Neuauflage des 1981 erstmals im Suhrkamp Verlag erschienenen Romans Michael Buselmeiers »Der Untergang von Heidelberg« erfolgt anlässlich des 75. Geburtstags des Heidelberger Schriftstellers.

Ulrich Greiner sprach in seiner Rede zur Verleihung des Ben Witter Preises an Michael Buselmeier 2010 hinsichtlich dieses Romans von einem »grandiosen, wütenden Klagegesang.« Es ist ein zentrales Thema auch im späteren Werk des Schriftstellers, der Zorn über die Zerstörung dessen, was er unter Heimat versteht. Hier arbeitet er es erstmals literarisch aus. Wir folgen dem Ich-Erzähler einen Tag lang durch Heidelberg und verlassen die Stadt am Ende gen Frankfurt am Main. Doch zuvor erleben wir die alltägliche Routine- das Frühstück mit dem Kind, das Verkaufen der Stadtzeitung in der Fußgängerzone. Der Protagonist nimmt die Stadt mit allen Sinnen war, definiert den Heimatbegriff über Gerüche, Bilder und Geräusche. Es ist ein stark assoziatives Erzählen, das den Roman prägt. Der Tagesablauf wird immer wieder unterbrochen durch die Gedanken an die Kindheit, den Tod der Mutter, die Studentenrevolte. Buselmeier lässt uns am Verfall teilhaben, am Verfall der Stadt, der Ideale, die ihn umtrieben. Klage wird dabei zu Anklage, Hass zu Selbsthass. Der Zerstörung der Stadt wird die Utopie der Erinnerung gegenüber gestellt. Seit 1988 hat Buselmeier literarische Führungen durch Heidelberg veranstaltet und seinen Willen, die Heimat vor jeglicher Zerstörung zu bewahren, intensiviert. Kaum ein Schriftsteller ist ähnlich untrennbar mit der Stadt, in der und über die er schreibt, verbunden. Oder, wie es Greiner ausdrückt: »Buselmeier ist ja der Heidelberg-Forscher schlechthin.«
LanguageDeutsch
Release dateNov 6, 2013
ISBN9783884234617
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    Der Untergang von Heidelberg - Michael Buselmeier

    Stifter

    I

    Hand in Hand mit einer Frau gehe ich in der Morgensonne einen weichen Waldweg entlang, an glänzenden Wiesen vorbei, sehr lautes Bachrauschen. In einer leichten Rechtskurve, vor einem hellen Holzgatter stolpert die Frau, ich fange sie auf. Ihr Körper hängt sekundenlang mit eingeknickten Beinen schlaff und schwer an mir herunter, dann bäumt er sich auf, und ein gelbgraues, zahnloses Gesicht, das Gesicht meiner Mutter, bleckt mich an, es schnappt nach mir. Ich will ihren Kopf zur Erde drücken, wie bei einem bissigen Hund. Warum hast du mein Gebiß in den Müllschlucker geworfen? Ihre Stirn ist wie Metall.

    Ich erwache mit kaltem Schweiß auf der Haut, der Schwanz steht störend herauf, Nierenschmerz, gürtelförmig. Liege einige Minuten lang starr auf dem Rücken, höre meinen Atem, meinen rasenden Herzschlag. Langsam löst sich mein Bewußtsein von meinem Körper, es fällt aus ihm heraus. Das Licht unterm Türspalt erscheint mir ungleichmäßig, als stünde jemand dahinter. Es knackt in der Zimmerecke, wie wenn ein Gelenk sich streckt. Der Gedanke: mein Kind ist tot, ich hab es totgemacht. Dann höre ich von draußen seine Stimme: putz mir den Popo! Ich komme nicht auf die Beine. Was ist der Faschismus gegen meine Schmerzen. Lines helle Stimme: ich hab gar nicht gekackt, nur gefurzt; ich begrüß jetzt mal den alten Hund. Und ich möchte sie mit einem Schlag stumm machen, wälze mich stöhnend hin und her. Gegen halb fünf, die Helligkeit täuscht. Erste Autos; eine Straßenbahn quietscht in den Schienen. Bald werden die Mülltonnen durch die Toreinfahrt rollen, sie werden an den Müllwagen gehängt, gekippt, die Sauganlage wird eingeschaltet werden, erneutes Kippen und Schmatzen, die leere Tonne wird auf das Pflaster knallen und durch die Einfahrt des Nachbarn an ihren Platz zurückrollen, im Schlitz des Rolladens werden für einen Augenblick die dicken orangenen Handschuhe des Müllarbeiters aufleuchten.

    Auf den Knien langsam zum Telefon kriechen. Umsonst. Befreundete Ärzte, die um diese Zeit mit einer Spritze zu mir kämen, sind alle im Urlaub. Ich stehe mit krummem Rücken im Flur, lasse das Telefon lange tuten. Mir ist übel. Über die Kloschüssel gebeugt, die Hände an der kühlen, gekachelten Wand, speie ich etwas bittere Flüssigkeit, Schleim in das Becken. Ich versuche zu pissen, ein paar Tropfen rollen über den braunen, schrumpeligen Sack und trielen die Beine hinunter. Stumm, ohne es zu anzusehen, weise ich das Kind in sein Zimmer, ringle mich in die Bettdecke, tief durchatmen, ich stöhne im Rhythmus des Schmerzes, ganz tief, ich schlage mit den Beinen aus, Schweiß läuft mir hinter den Ohren runter, ein heftiges Stechen im Schwanz, die Fingerspitzen kribbeln. Bis ich im Zimmer des Kindes, das mault, weil ich das Licht anknipse, in der Arzneischublade eine Schachtel mit Dragées gegen krampfartige Menstruationsschmerzen finde. Ich schlucke vier Tabletten. Schlafe sofort ein.

    Ich sehe mich durchs Lederhosenbein an einen Holzzaun pissen, ich spritze ihn ausdauernd ab, bis in die Ritzen hinein, mein Wasser fließt in kleinen, schaumigen Bächen über das heiße Trottoir, es ist die Straße, in der ich aufgewachsen bin, weicher Asphalt, in dem sich das Wellenprofil meiner Turnschuhe abzeichnet, Duft von Jasmin, ein alter Mann öffnet ein Parterrefenster, er schüttelt die Faust, ich verstehe die Wörter nicht, ich lache. Da ist der Schmerz wieder. Line läßt die Türklinke nach oben knallen, sie hockt sich auf die Bettkante, den Kopf auf meine Brust gelegt. Mir solln aufstehn, Pappel. Grunzend krieche ich tiefer unter mein Tuch. Sie tapst in die Küche, händeklatschend weckt sie den Dackel auf, der piensend angekrochen kommt, wedelt, sich streckt und windet, der in mein Bett springt, sich auf die Seite fallen läßt, sich quiekend auf den Rücken strampelt. Alter Dacksschniefer, die Hinterbeine knicken dir ein. Aufstehn, aufstehn! – Ruhe!, ich will noch schlafen. Line schleppt als Gegenargument den Wecker herbei, halb acht, knipst dann eine Zeitlang die Nachttischlampe an und aus, verschwindet schließlich im Klo. Nach einer Pause: Popo putzen!, aber mit dem weichen Papier. Jean Paul hat seinen Pudel gekämmt; ob er seinen Kindern den Arsch gewischt hat? Ich nehme das harte Papier; Geschrei. Wir haben früher Zeitungspapier benutzt. Oder Blätter. Ich ziehe den Rolladen im Klo hoch.

    Ich drücke den steifen Schwanz mühsam nach unten, beuge mich vor, endlich kommt was. Die Pisse schießt am Klosett vorbei auf den Boden, ich dirigiere den Strahl in die Schüssel. Wie ertappt. Meine Füße sind naß. Penicillinbrühe. Ich hole die Lupe: kleine Blutfetzen schwimmen drin rum. Im verspritzten Spiegel mein graues Gesicht. Line pfetzt mich in den Arsch: warum haste keine Hose an? Zieh dich erst mal selber an. Frühstück gibts jetzt noch nicht. Ich lasse mich wieder aufs Bett fallen, tauche ins Dunkel zurück.

    Nur leichtes Stechen im Schwanz, brennende Schweinsaugen, steife Gelenke. Bilder einsamer Häuser ziehen vorbei, regennasse Wege drumrum. Lehrer Emmlein greift mir im Kartenzimmer an den Sack. Die Gummiwärmeflasche stinkt, mein ganzer Körper juckt, die Hände: kribbelig, halbtaub. Zweige des erfrorenen Pfirsichbaums scharren am Fensterladen. Durch den Spalt tanzen Sonnenflecken herein, spielen über die Wand: die frühesten Bilder. Wäre ich nie aufgetaucht aus meinen ersten Träumen. Hätten mich die Krankenschwestern im Badewasser ersäuft. In der Wanne treiben Luftblasen auf. Traumsplitter fliehen zurück im Zoom, ich kann sie nicht festhalten, aufschreiben, die ANGST AUFSCHREIBEN, wenn ich es schaffte, jetzt rüber zum Schreibtisch zu kriechen. Ein Wagen mit gelb leuchtendem Schild parkt vor der Tür. Neinnein, ich will keinen Notarzt sehen. Er würde verletzend in meine Nacktheit eindringen, mein staubiges Zimmer, beugen Sie sich ganz weit nach vorn, und schon bohrt mir sein Zeigefinger im After herum. Ich müßte mich waschen, frische Wäsche anziehen, mich kämmen, Zähne putzen, die verstreuten Kleidungsstücke, Bücher, Zeitungen und Flugblätter vom Boden aufsammeln. Der Opa von nebenan schiebt etwas Helles, Spiegelndes durch die Einfahrt, wahrscheinlich sein neues Fahrrad, er pfeift, falsch und grölend wie jeden Morgen, »Teure Heimat, wann seh ich dich wieder«, knallt die Tür zu, weg ist er. Meine Hände sind schwer wie Kartoffelsäcke. Die Wärmeflasche drückt mich im Kreuz. Ich will in Zukunft alle Menschen mit ihren Titeln und Amtsbezeichnungen anreden. Zugeschnürt wehre ich mich mit kleinen Stöhnern gegen das Ersticken.

    Vor ein paar Tagen die erste Nierenkolik. Ich lag in der Mittagshitze bei geschlossenen Läden auf einem kühlen Leintuch und las in einer Literaturzeitschrift eine Erzählung von Herbert Achternbusch. Sie handelte von Kuschwarda, dem Indianer, der beim Spazierengehen einen Schoßhund einfängt, absticht und roh verzehrt, sich dann den Mund an einem Felsen abwischt und zufrieden im Schein der Abendsonne auf zwei Skalpierte blickt: ein Polizist, ein Fichteforscher. Und während ich weiterlas, nahm ich plötzlich diese Schmerzen wahr. Kein Zweifel, daß Achternbuschs Sprache sie in mir freigesetzt hat. Ein Schmerz, der mich summen und singen läßt, ich werfe den Kopf hin und her, mache Hasenpfoten, reibe die Eisfüße aneinander. Ich stinke. Fichtes »Wissenschaftslehre«!, skandiere ich laut; ich werde dein Buch lesen, Fichte, nur hilf mir gegen diese Schweinerei, die mich so närrisch macht, daß ich meinen ungeborenen Sohn im Traum gleich dreimal verkauft habe per Zeitungsannonce. Der Schmerz muß abgeschafft werden!

    Ich kotze etwas gelben Schleim, mit Haferflocken durchsetzt, in die Schüssel neben dem Bett. Das Kind hockt mitten im Zimmer, es malt, ganz auf sich konzentriert. Wie es mein Anderssein übersieht. Vor dem Fenster plappern zwei Frauen. Die Zungen abschneiden. Nichts mehr hören und sehen. Die roten Plüschmöbel in unserem alten Wohnzimmer, Böcklins »Insel der Seligen« über der Couch, Bürgerträume. Mich einkuscheln. Die knarrenden Stufen zum Speicher, wo es nach Äpfeln und Knoblauch roch. Studenten tragen meine Bücher weg, schmeißen sie über das Brückengeländer in den Fluß. Die Ärztin lauert mit einer riesigen Spritze am Hinterausgang auf mich. Es gelingt mir noch, eine kleine, blau-rote Fahne unter der Jacke hervorzuziehen und sie heftig zu schwenken. Dann jagt mir die Ärztin die Spritze ins Gesäß und trifft den Ischiasnerv. Elektromagnetische Kunstobjekte beginnen zu klirren, zu surren, zu singen, während wir an ihnen vorbei über dicke Teppiche gehen. Um dir zu helfen, habe ich Medizin studiert, sagt sie streng. Noch siehst du einem Menschen ähnlich, aber du hast ein poröses Skelett, mit fünfundvierzig wirst du im Rollstuhl sitzen. Ich male mir aus, wie ich, den Hund auf meinem Schoß, in einem verkratzten hölzernen Rollstuhl herumfahren werde, mit Baskenmütze und dunkler Brille, auf Parkwegen im Nieselregen über knirschenden Kies, endlich allein, zwei Kinder bleiben stehen und schauen mir nach. Dann liege ich gelbhäutig, leicht grinsend im Kasten mit hochgebundenem Kinn, meine nackten Füße ragen zwischen Blumensträußen hervor. Ich atme nicht mehr, meine Haut stirbt ab, während draußen vor dem mit Fliegendraht gesicherten Fenster der Leichenhalle die Birkenblätter im Wind flirren. Line, schon reisefertig, steht lange dicht neben mir in der Enge des Kühlraums, sie möchte mir noch einmal über die Stirn, die der ihren so ähnlich ist, streichen, aber die Hand zuckt immer wieder zurück. Das bin gar nicht ich, das ist eine Puppe, ja, ein Stück Eisen. Totmann!, Totmann!, riefen die Mädchen und hopsten auf meinem Körper herum. Papst Gregor IX. drehte sich wortlos zur Wand und starb. Grub sich ein, die Welt im Rücken. Ist da ein Weg? Bevor jemand stirbt, rauscht es im Laub; hast du den schrillen Vogelschrei nicht gehört, das Flüstern von Stimmen um drei Uhr nachts heute? Hilfe!, es kommt keiner, die Ärzte haben die Klingeln abgestellt. Du stehst mit wild klopfendem Herzen neben dem Toten, du siehst dir seine Fotos an, Postkarten (einige hast du ihm selber geschrieben), geheime Briefe, und erschrickst von Zeit zu Zeit über die dort unter der Lampe am Kopfteil des Bettes sich verhärtenden Züge.

    Ich spiele mit Line im Bett, wir kitzeln uns gegenseitig. Glücklischsoin!, lallt der Opa vor sich hin, der mit frischen Brötchen wieder zurück ist und pfeifend, türenknallend die Treppe hochstapft. Krebsrotes Gesicht. Sein Tod wäre ein Lichtblick heute. Im gleichförmigen Rauschen des Verkehrs kreischen hier und da Rolläden hoch. Immer mehr Sonnenflecken auf meinem Bett. Du siehst blöd aus beim Schlafen. Ich mal jetzt eine Sonne mit schwarzen Strahlen. Vorhin beim Aufwachen das Gefühl, als würde mein Gesicht vom Strahl einer Taschenlampe abgetastet. Alles Licht sammelte sich in den Augenhöhlen. Zwei Wachskerzen, flackernd im Muff einer Krypta. Totenleuchten auf Gräbern im Winter. Halbschlafbilder, sie ziehen mich an und stoßen mich ab. Ein Fremder setzt sich an meinen Tisch unter die Lampe, wirft Gläser, Teller, Besteck in die Ecke, ohne mich anzusehen. Auch eine Frau sitzt da, den Rücken mir zugewandt. Panische Angst. Einmal in ihr dickes Haar fassen, ihr den Schwanz reinrammen! Jetzt bin ich unter Wasser. Abgetrieben. Halt die Luft an! Ein sich langsam abrollendes weißes Tau. Blut tropft aus meinen Ohren. Ein Riß. Kleine Würmer schlüpfen, bevor ich sie zerquetschen kann, zwischen meinen Fingern hindurch, unter die Kopfhaut des Kindes. Ich renne aus dem Traum heraus. Stemme mich vorsichtig am Bettrand hoch und schwanke auf die Tür zu. Line malt, auf dem Boden kauernd, Katzen. Die sieht wie ein Ochs aus, Pappel, die kannst du haben.

    Das da im Spiegel soll mein Gesicht sein, fremd vor Angst? Tränende Augen, verklebt, mit Fliegen drumrum, blinzeln mich an. Die Schmerzen sind weg. Uralter Fußpilz, juckender Käs zwischen den Zehen. Schuppige Haut. Platanenrinde. Wie abgeschält. Mit befeuchteten Fingern die Augen ausreiben. Tiefe Abneigung gegen Wasser. Der Badezwang in der Kinderklinik, wo ich darmkrank mein erstes Lebensjahr zubrachte, wo ich auch später noch häufig eingeliefert wurde, weil sich zu Hause niemand um mich kümmern konnte. Morgens um halb sechs wurden wir wachgerüttelt. Ich blieb noch etwas liegen mit geschlossenen Augen, hörte Anweisungen der Schwestern, Geräusche von Gläsern, Schläuchen, Scheren. Das rohe, schmerzhafte Eindringen des Fieberthermometers in den After. Schrie auf. Stolperte, noch warm vom Schlaf, ohne Frühstück durch verwinkelte Gänge in den Baderaum, wo lauwarmes Wasser schon in die rostigen Wannen klatschte. Halbdunkel. Überall Chlor, ein Geruch, der mir noch in der Erinnerung eine Gänsehaut macht. Ich wasche mich selten, liebe meine Ausdünstungen, gierig schnüffelnd, graue Unterwäsche, das fröhliche Plätschern der Pisse, ein klebriger Beckenrand, Rotz und Haare im Abguß.

    Wie ich dastehe, an die Wand gelehnt. Körperloses Wesen? Diese Kälte, die manchmal von mir ausgeht, meine verletzende Distanz. Die Eigenschaft, abwesend zu sein, wenn Frauen mit spitzen toten Gesichtern mich anreden oder wie dicke Kinder einfach dahocken. Wegsehen, weghören, mich ganz in mich zurückziehen und den andern nur noch böse beobachten. Kopfschmerz vortäuschen und dabei wirklich Kopfweh bekommen. Kindhaft unzuständig sein. Braucht das eine Erklärung? Muß ich mich entschuldigen? Ich wollte es lange nicht wahrhaben, erst jetzt, schreibend, wird es mir hell: meine Mutter, in ihrer bürgerlichen Bequemlichkeit von mir gestört, wußte mit dem kranken Säugling nichts anzufangen, schob den unehelichen Sohn in ein Kinderheim ab, dann in die Klinik, lieferte ihn während der ersten Lebensmonate der Routine von Krankenschwestern aus, später wechselnden Kindermädchen, die ihn quälten. Damals wie heute: ein Gefühl absoluter Verlassenheit, Hilflosigkeit, Leere. Die Liebe meiner Mutter zu mir, in krankhaft egoistischer, mich fast zerstörender Ausschließlichkeit, setzte erst ein, als ihre eigene Mutter tot im Klo lag. Sie drückte mich heftig an sich und weinte. Jetzt hab ich nur noch dich.

    Acht Uhr. Ich ziehe sämtliche Rolläden hoch und blicke auf die Straße. Die Angestellten eilen aus ihren Haustüren mit vom heißen Kaffee verbrühten Hälsen, jeder in sein Auto rein und ab ins Gefängnis. Gestern habe ich nach Jahren Alfger wiedergetroffen, vor seinem Haus über den Kofferraum eines roten Ford gebeugt, eine breite, bunte Krawatte um den sehr langen Hals gebunden, flottes Jackett, unmögliche rotbraune Hose. Ein Gesicht wie lange Zeit hinter Gittern. Er könne nicht länger zwei Haushalte finanzieren, darum sei er jetzt von seiner Freundin weggezogen und wohne wieder bei seiner Frau. In stilisiertem Pfälzisch: heute ist Feiertag, ich gehe mit meiner Freundin in die »Meistersinger« nach Mannheim. Während wir sprachen, sah ich durch den Vorhang zwischen den Kinderzeichnungen hindurch, die an den Fensterscheiben klebten, seine Alte. Sie blickte mich böse an, während Alfger, Walther von Stolzings Preislied pfeifend, in seinen Ford stieg und sehr langsam, wie um sie zu quälen, davonfuhr.

    Zur Schulzeit sind wir, zwei Außenseiter, fast täglich beisammen gesessen und haben uns Stücke von Sartre vorgelesen, kein Lehrer war vor uns sicher. Morgens vor der Schule haben wir Zeitungen ausgetragen. Die farbigen Fliesen der Hauseingänge, der muffige Geruch schlafender Treppenhäuser um Fünf, plötzlich setzt das Ticken des Stromzählers ein. Winters die Finger zwischen die warmen, streng riechenden Zeitungen gesteckt. Die Zeitung mit Schwung unter der Tür durch, ein schleifendes Geräusch. Es schnarcht aus offenen Fenstern, durch geschlossene Wohnungstüren und aus den Verschlägen der Hinterhöfe, wo es nach Abfällen, verfaultem Essen stinkt. Ich eile mit angehaltenem Atem vorbei, in frühlingshaft warme Luftschichten, die Vögel schreien, ich schreie Gedichte, die Sonne geht auf. Im Schutz der Dämmerung allein vor mich hingehend, sah ich eine andere Welt, eine andere Lebensform, nicht die des bürokratisch geordneten Tagewerks der Schulen, Büros und Fabriken. Bevor die lebenden Toten ihre Häuser verließen, gehörte die Weststadt mir. Die Leinentasche mit den letzten Zeitungen leicht über der Schulter, kaufte ich mir frische Brötchen und ging mit ihnen und der Zeitung statt zur Schule ins Bett, wo ich bis in den Nachmittag hinein vor mich hindöste. Wieviel Zeit du zu verlieren hattest, ein ganz unbestimmtes Warten, worauf? Am nächsten Morgen hörte ich Alfger einige Straßen entfernt, lange bevor ich ihn sah, den Radetzky-Marsch pfeifen. Mit surrendem Dynamo und von der Last der Samstagsausgaben fast platten Hinterreifen schlingerten unsere Räder aufeinander zu. Wir schulterten unsere Taschen und gingen in verschiedene Richtungen auseinander, überzeugt, daß bald ein heißes Leben beginne, »voll Seligkeit und Unruhe« (Stifter).

    Meine Jugendfreunde, wie sie, Rücken krumm, an mir vorbeiblicken und das abgeschnittene Gras zusammenrechen, als gäbe es nichts Wichtigeres. Noch vor zehn Jahren: dieser leichte, rhythmische Gang durch die Straßen, voller Begeisterung, zusammen mit vielen anderen, die mir einen Augenblick lang weniger fremd vorkamen. Was ist mit uns geschehen, wie sehen wir aus? Fettansatz, graue Bartstoppel. Eine Familie, ein Auto, ein Beruf, eine Ferienreise. Der Sportteil der Zeitung. Das, was wir abschaffen wollten, das zerstückelte Leben. Damals. Vorbei. Ich suche unterm Bett nach den Pantoffeln, sammle Staubflusen auf. Heulen? Weiterwurschteln. War unser Haß zu schmal? Sei doch vernünftig. Artaud SCHRIE ohne Erbarmen mit sich selbst, als er erkannte, daß das normale Bewußtsein KRANK ist. Er mußte dafür bezahlen mit Elektroschocks; neun Jahre Irrenhaus. Als sie ihn rausholten, war sein Leib voller Geschwüre. Darmkrebs. Die herrschenden Gauner nicht aus dem Blick lassen, sage ich langsam am Fenster.

    Keine Freunde mehr. Viele Leute, die mit mir telefonieren, weil sie mich für ihre Projekte brauchen (ich sie für die meinen). Zweckbündnisse, ohne die es weder die Stadtzeitung noch den Verlag gäbe. Mein Interesse an eigenen Institutionen, seien sie auch noch so klein. Aber wohin, wenn ich sprechen muß? Von wem Geld borgen, ohne mich gedemütigt zu fühlen? Wo unterkriechen im Alter? Mit Klaus etwa (ein Blutstropfen fällt aus meiner Nase aufs Papier, direkt auf deinen Namen) habe ich längst aufgehört zu reden, wir schieben nur noch Phrasen hin und her, unsere Kinder auf dem Schoß, hinter denen wir uns verbergen. Vor ein paar Jahren war er noch unzufrieden mit sich und allem, reizbar, heute erscheint er mir manchmal

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