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Margarete: Roman
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Margarete: Roman

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About this ebook

In einem kleinen Dorf nicht weit vom Neckar kämpft eine junge Bäuerin um das Überleben ihres Hofes. Sie und ihre Familie müssen sich im »Dritten Reich« gegen die Feindschaft ihres Nachbarn, eines mächtigen Parteigenossen, behaupten. Sie heiratet den Mann, den sie liebt, aber er muss gleich an die Front und kommt nicht zurück. Die Entbehrungen des Krieges, die Aufnahme eines polnischen Zwangsarbeiters und die Verlogenheit der Nazi-Propaganda machen sie zu einer selbstbewussten, kritischen jungen Frau.
In der schweren Nachkriegszeit gelingt es ihr mit Klugheit, Standhaftigkeit und List, den Betrieb zu retten, ihn dem radikalen Wandel in der Landwirtschaft anzupassen und am Ende zu neuer Blüte zu führen. Ihrem vermissten Mann hält sie dabei die Treue, mit Beharrlichkeit geht sie seinem Schicksal nach und stößt dabei auf seltsame Ungereimtheiten.
Der Roman zeichnet das Porträt einer starken Frau, ihrer Familie und ihrer dörflichen Nachbarn. So entfaltet sich eine üppige Familien- und spannende Kriminalgeschichte und zugleich ein vielfarbiges Gemälde der dramatischen Jahrzehnte des »Dritten Reiches« bis zu den Gründerjahren der Bundesrepublik.
LanguageDeutsch
Release dateMar 1, 2014
ISBN9783842516182
Margarete: Roman

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    Margarete - Wolfgang Stahnke

    Personenliste

    ERSTES BUCH

    Da formte Gott den Menschen

    aus Erde vom Acker

    und blies ihm seinen Lebensatem in die Nase.

    So wurde der Mensch ein lebendes Wesen.

    (Bibel, Buch Genesis, Kap. 2,7)

    September 1938

    1

    Was für ein schöner, milder Septemberabend! Aus dem ›Gasthaus zur Sonne‹ tönte gedämpfte Musik bis heraus auf die grob gepflasterte Dorfstraße. Drinnen wurde eifrig getanzt. Im Saal spielten die Musikanten unermüdlich Walzer, Foxtrott und Rheinländer, viele der Tanzenden sangen ergriffen die Texte mit, und die Wellen der Stimmung schlugen hoch. Kirmes war nur einmal Jahr, und da durfte die Jugend sich austoben, allerdings alles in Maßen und so, wie es sich gehörte. Denn die Bauern von Kerchwies waren traditionsbewusst protestantisch, und man achtete auf Anstand.

    An der Giebelwand über dem Podium, auf dem die Musiker platziert waren, prangte die Hakenkreuzfahne. Deutschland hatte aller Welt vor Augen geführt, dass es wieder Gewicht hatte unter den Völkern. Die Reichsregierung war dabei, nach Österreich auch das Sudetenland ins Reich zurückzuholen. Da gehörte die populäre Melodie der Böhmischen Polka ganz selbstverständlich zum Programm der Kirmes, und alle sangen mit: »Rosamunde, schenk mir dein Herz und dein Ja, Rosamunde, frag doch nicht lang die Mama …« Die schwungvolle Melodie musste im Laufe des Abends mehrmals wiederholt werden.

    In der Saalmitte drehten sich die meist jungen Paare. Sie wussten, dass sie unter Aufsicht standen, denn an den Tischen rund um die Tanzfläche saßen die aufmerksamen Mütter und wachsamen Väter, die das Geschehen unter der Jugend teils wohlwollend, teils streng beobachteten. Zwar sollten die jungen Leute der benachbarten Dörfer einander besser kennenlernen, aber für mehr sollten sie keine Gelegenheit bekommen.

    Denn ›Gelegenheit macht Liebe‹, das wussten vor allem die Väter, die solche Erfahrungen längst hinter sich hatten und nun fürchteten, die jungen Burschen von heute könnten mit ihren Töchtern dasselbe anstellen, was sie selber vor dreißig Jahren mit deren Müttern getan hatten.

    Oder wie der alte Bauer vom Buchsbaumhof in seiner bedächtig trockenen Art zu sagen pflegte: »Es soll wohl etwas geschehen, aber es darf nichts passieren.«

    Karl-Friedrich Buchsbaum durfte nur von seiner Ehefrau Wilhelmine und daneben vielleicht noch von seinen allerengsten Freunden »Fritz« gerufen werden, sonst bestand er eisern auf seinem vollen Vornamen Karl-Friedrich. Er hatte im Saal des ›Gasthauses zur Sonne‹ für sich, Wilhelmine und seine zwei Töchter einen Tisch ausgewählt, welcher der Fensterwand gegenüberlag. Sorgfältig hatte er darauf geachtet, dass er dabei nicht in die Nähe von Adolf Kalkbrenner und der nicht in sein, Karl-Friedrichs, Blickfeld geriet, denn vor allem die Männer der Familien Buchsbaum und Kalkbrenner mieden einander seit Generationen, wenn sie nicht dann und wann einander gar noch Schlimmeres antaten. Adolf Kalkbrenner war der Ortsgruppenleiter der Partei, ›Ortsbauernführer‹ sagten sie im Dorf, ein rechthaberischer, fanatischer Finsterling, jedenfalls in Karl-Friedrichs Augen. Dem ging er aus dem Wege, wo das nur irgend möglich war. Wenn eine Begegnung sich nicht vermeiden ließ, grüßte er ihn, weil die Erwachsenen im Dorf einander üblicherweise von Kind auf kannten und mit dem Vornamen anredeten, mit »Hei’tler, PeGe Adolf«, wobei PeGe für ›Parteigenosse‹ stand. Dabei konnte Kalkbrenner die Ironie heraushören, die Buchsbaum diesen Worten mit auf den Weg gab. Karl-Friedrich Buchsbaum war bekanntermaßen eigensinnig und schon von seinem Wesen her niemandes Parteigenosse, weder dieses noch irgendeines anderen Adolf.

    Wilhelmine schaute sich interessiert im Saal um. Sie saß Karl-Friedrich am Tisch gegenüber, eine kleine, rundliche und lebhafte, geradezu quirlige Person in schwarzem Kleid und mit grauem Haar, das glatt nach hinten gekämmt, dort zu einem eher dünnen Zopf geflochten und zu einem einfachen Knoten zusammengesteckt war. Ihre grauen Augen blickten klar und scharfsinnig, aber zugleich auch gutmütig umher. An ihrer Haut fiel eine ungesunde, gelblich angehauchte Blässe auf, man sah Wilhelmine an, dass sie kränkelte. Die Leber, so hatte Dr. Hamburger in der benachbarten Stadt Lennertshausen nach einer ausführlichen und aufwändigen Untersuchung im vergangenen Jahr gesagt, und ein recht bedenkliches Gesicht hatte er dabei gemacht. Dort wachse anscheinend etwas, das nicht dorthin gehöre, da könne man leider nicht viel mehr tun als strenge Diät einzuhalten.

    Neben ihnen, ebenfalls am Tisch einander gegenüber, hatten ihre beiden Töchter ihre Plätze gefunden. Margarete, die Jüngste, saß neben ihrem Vater, und jedem, der Vater und Tochter betrachtete, fiel auf, wie ähnlich sie einander sahen. Auch in der Statur waren sie miteinander vergleichbar, beide waren sie groß und schlank, aber kräftig. Margarete, die vom Vater immer nur ›Grete‹ genannt wurde, war, wenn man bedachte, dass es sich bei ihr um ein Mädchen von siebzehn Jahren handelte, auffallend hoch gewachsen. Sie war genauso groß wie ihr Vater, und durch die Schlankheit der Jugend hatte es gar den Anschein, als wäre sie die Größte in der Familie. Wilhelmine hatte bei der Vorbereitung auf das Fest ihrer Jüngsten deren langes, dunkles, fast schwarzes Haar zu einer Art Zopfkrone geflochten. Margarete hatte sich für die obligatorische ›Landmädeltracht‹ entschieden. Sie trug die weiße Bluse mit Puffärmeln, die sie in der Landwirtschaftsschule im vergangenen Winter selbst genäht hatte, dazu einen schwarzen Rock, halb weit, um die Taille kunstvoll gesmokt, was ihre schlanke Gestalt betonte, und darüber ein Mieder aus schwarzem Samt. Wilhelmines Augen leuchteten vor Stolz auf ihre Tochter. Dieser Aufzug, der ihre herbe, kraftvolle Weiblichkeit hervorhob, stand ihrer Grete blendend, und zusammen mit ihrer bei der Feldarbeit unter der Sonne gebräunten Haut und den goldbraunen Augen gab es ihrem schmalen, ein wenig kantigen Gesicht etwas Apartes. Jeder, der Margarete anschaute, sah, dass dieses Mädchen neben einem ausgeprägten Temperament zugleich über einen starken Willen verfügte. Wenn sie von einer Sache überzeugt war, dann gab sie nicht nach, bis sie sie durchgesetzt hatte.

    Margarete gegenüber war der Platz für deren ältere Schwester Elisabeth freigehalten. Die hatte sich aber nur am Anfang des Abends dort aufgehalten, um ihr Rippchen mit Sauerkraut zu verzehren, das Karl-Friedrich ausnahmsweise beim Sonnenwirt bestellt und seiner Familie zum Nachtessen spendiert hatte. Auch Wilhelmine hatte es ohne Weiteres als Diät für ihre kranke Leber akzeptiert. Elisabeth war mittelblond und mittelgroß, vierundzwanzig Jahre alt und damit über das heiratsfähige Alter fast schon hinaus. Beide, Karl-Friedrich und noch mehr Wilhelmine, hätten sie gerne längst unter der Haube gesehen. ›Unter die Haube kommen‹, so sagte man immer noch, wenn man meinte, dass ein Mädchen heiratete, weil früher die verheirateten Frauen solche weißen Hauben getragen hatten. Inzwischen war man von dieser Tradition längst abgekommen, übrig geblieben waren nur die Redensart und ein Stapel alter, weißer Hauben. Sie lagen alle sauber gefaltet als Teil einer vielfältigen Aussteuer aus leinenen Tisch-, Hand- und Betttüchern in dem schönen, bald zweihundert Jahre alten Eichenschrank, der in der Stube über der Hofeinfahrt stand. Elisabeth hatte sich für einen anderen als den traditionellen Lebensstil entschieden. Sie rauchte manchmal öffentlich Zigaretten, weigerte sich, einen Bauern zu heiraten und saß im Dorfgasthaus mit fremden Personen zusammen. Am liebsten, so hatte sie zu verstehen gegeben, hätte sie das dörfliche Leben ganz hinter sich gelassen und wäre in die Stadt gezogen. Sie wusste nur nicht, wie sie den Absprung schaffen sollte.

    Nun ja, so seufzte Karl-Friedrich, die Zeiten drohten, unruhig zu werden. Er verspürte bei all dem, was sich in den letzten Jahren in seinen Augen viel zu schnell ereignet hatte, ein ungutes Gefühl in der Nackengegend. Zugegeben, die neue Reichsregierung hatte den festgefahrenen Karren mit geradezu brachialer Gewalt wieder in Bewegung gebracht, aber er, Karl-Friedrich, hatte von Anfang an befürchtet, die Sache könne eigentlich nicht gut ausgehen, und sein Argwohn hatte von Jahr zu Jahr zugenommen. Die Bewegung verlief nicht, sondern sie marschierte. Und sie marschierte in eine Richtung, die ihm gar nicht passte.

    Da war zum Beispiel diese Sache mit dem Josef Kleinhans aus der Unteren Brunnengasse, die Karl-Friedrich sehr nachdenklich gemacht hatte. Josef war ein Müllergeselle und Sozi, mit dem er, Karl-Friedrich, kaum etwas zu tun hatte und der beim Sonnenblum zu sehr das Maul aufgerissen und große Töne gespuckt hatte. Dieser Josef Kleinhans war eines Tages nicht mehr da gewesen. Plötzlich verschwunden, frühmorgens abgeholt, so hatten die Nachbarn berichtet. Auf Karl-Friedrichs Nachfrage hatte Adolf Kalkbrenner nur schnarrend das Wort ›Umerziehungslager‹ zwischen seinen Zähnen hervorgezischt. Aber aus den Augen von Josefs Frau hatte die nackte Angst herausgeschaut, und man munkelte, ihr Mann sei, als sie ihn ins Auto geschleppt hätten, grün und blau und blutig geschlagen gewesen. Doch dann, nach etwas mehr als einem Jahr, war Josef Kleinhans wieder aufgetaucht, und das genauso plötzlich, wie er zuvor verschwunden war. Man hatte ihn kaum erkannt. Er war jetzt ein gebrochener, ein zusammengefallener Mann, der von da an alle Menschen gemieden hatte und bis heute über seine Zeit im Lager nie auch nur ein einziges Wort redete. Solche Dinge zeigten, dass sich hinter den Kulissen etwas abspielte, das sich, davon war Karl-Friedrich überzeugt, irgendwann rächen würde.

    Man musste also mit unruhigen Zeiten rechnen. Er suchte nach Aufmunterung in dem Gedanken, dass sich in bewegten Zeiten manchmal ja auch positive Entwicklungen ergaben, die man nicht hatte vorhersehen können, gestand sich jedoch gleich ein, dass sich daraus nicht viel Trost schöpfen ließ. Er schaute quer durch den Saal hinüber zu Elisabeth, die er heimlich als sein Sorgenkind ansah. Elisabeth saß, wieder einmal in aller Öffentlichkeit eine Zigarette rauchend, an einem Tisch neben dem Eingang in einer Gruppe junger Leute bei einem Freund, der sie oder den sie nicht heiraten wollte oder konnte, der auch aus Karl-Friedrichs Sicht dafür keinesfalls in Frage kam, den sie aber schon seit bald zwei Jahren kannte. Der kam wohl von unten aus dem Tal, aus Steinbach, und hieß mit Vornamen Hans-Jürgen. Ein Arbeiter. Ein Arbeiter passte nicht in eine Bauernfamilie, möglicherweise war er gar ein heimlicher Sozi. Spengler hieß er wohl mit Familiennamen und war Maurer, oder auch umgekehrt, er hieß Maurer und war von Beruf Spengler, Karl-Friedrich wusste es nicht mehr, wollte es auch so genau gar nicht wissen. Man würde eben sehen.

    Das Dorffest hatte bis vor ein paar Jahren noch im in der Gegend üblichen Dialekt ›Kerwe‹ geheißen, was im Hochdeutschen ›Kirchweih‹ bedeutete, war also ursprünglich ein Dankgottesdienst zur Erinnerung an die Einweihung der kleinen Kirche vor etwa zweihundert Jahren gewesen, dem sich das fröhliche Dorffest angeschlossen hatte. Doch seit vor ein paar Jahren unten in Steinbach Pfarrer Beetz eingezogen war, der auch Kerchwies zu versorgen hatte und der sich zu einer Gruppierung hielt, die sich ›Deutsche Christen‹ nannte, war der Festgottesdienst weggefallen. Aus der Kirchweih war ein ländliches, ein ›völkisches‹ Fest geworden. Dieses Fest hatte heute am Nachmittag damit begonnen, dass die Vereinigten Chöre des heimischen Gesangvereins ›Harmonie Kerchwies‹ im Sonnensaal gesungen hatten: »Ach, du klarblauer Himmel, und wie schön bist du heut.« Das hatte zu dem herrlich sonnigen Sonntagnachmittag im September und zur Stimmung im Dorf hervorragend gepasst. ›Vereinigt‹ waren vor wenigen Jahren der Männer- und der Frauenchor des Männergesangvereins worden. Jawohl, es hatte bis zur Vereinigung auch einen Frauenchor des Männergesangvereins gegeben, doch dessen Stimmmaterial, wie der ältliche Lehrer und Dirigent Schmid das nannte, war so dünn geworden, dass man beide zusammengelegt hatte zu einem gemischten Chor. Auch dessen Darbietungen klangen nicht sehr erhebend; die Tenöre knödelten, die Bässe knurrten und worgelten und die Soprane quiekten zu viel, als dass es ein wirklicher Hörgenuss hätte werden können. So ging es, wie es ja auch der Name ›Harmonie Kerchwies‹ erkennen ließ, mehr um das dörfliche Gemeinschaftserlebnis als um kunstvolle Chormusik, wenn man zu den wöchentlichen Proben zusammenkam. Dann, am Sonntagnachmittag, nachdem man sich eine Tasse echten Bohnenkaffees und ein Stück vom frischen Zwetschgenkuchen gegönnt hatte, war der Musikverein ›Eintracht‹ mit seinem Konzert an der Reihe gewesen. Für einen Musikverein für sich allein, dafür war Kerchwies mit seinen einhundertvierzig Einwohnern nicht stark genug. Der kleine Ort teilte ihn sich mit dem eine knappe Wegstunde entfernten und unten im Steinbachtal gelegenen Dorf Danstedt, und das war nicht immer einfach, denn die beiden Nachbardörfer waren, wie man das ja anderweitig auch kannte, einander nicht recht grün. So war der Name ›Eintracht‹ ein Versuch, voraussehbare Zwistigkeiten im Keim zu ersticken und gar nicht erst aufkommen zu lassen.

    Mit dem Konzert des Musikvereins Eintracht war das Nachmittagsprogramm vorüber gewesen. Der Saal hatte sich bis auf ein paar Kinder und alte Leute geleert. Es war Melkzeit, da wurde jedermann, der auch nur ein bisschen zupacken konnte, im Stall gebraucht, am Abend wie am Morgen jeweils pünktlich um sechs Uhr. Daran konnte nicht gerüttelt werden.

    Gleich nach dem Melken hatte man sich wieder in der ›Sonne‹ zum Nachtessen getroffen, und jetzt hatten sich die Steinbachmusikanten, eine kleine Tanzkapelle, bereit gemacht, zum Tanz aufzuspielen. Weil in den Bauerndörfern jeder am andern Morgen wieder sehr früh aufstehen musste, begannen solche Tanzveranstaltungen meist schon in den noch frühen Abendstunden, damit die Nacht nicht allzu kurz wurde.

    Karl-Friedrich Buchsbaums jüngste Tochter Margarete stürzte sich sofort ins Getümmel. Sie »tanzte sich durch die Kerle«, wie sie das lachend nannte, und sie meinte damit, sie wollte am Ende des Abends mit jedem der jungen Burschen wenigstens einen Tanz probiert haben.

    Einer fiel ihr dabei ins Auge, den sie bisher nur flüchtig und ausschließlich vom Sehen kannte. Nur, dass er aus Danstedt kam, wusste sie. An den allerdings kam sie nicht heran, denn er saß bei den Musikern in der Kapelle und spielte dort die Ziehharmonika, aber nicht so ein billiges, klapperndes und fauchendes Ding wie ihr Nachbar Johann Urban eines besaß, sondern ein großes, eindrucksvolles Instrument mit einer langen Reihe weißer und schwarzer Tasten wie bei einem Klavier. Sie hatte bisher so etwas erst ein einziges Mal gesehen, auf einem der großen Lastkähne unten auf dem Neckar hatte einer auf so einem Instrument gespielt. Ein Schifferklavier also. An dem Jungen mit dem Schifferklavier schienen ihre Blicke sich geradezu festzusaugen. Ein kräftiger Bursche war der mit breiten, offensichtlich starken Schultern, die manches zu tragen vermochten, und dabei doch mit flinken, sicheren Händen und einer hellen, ungekünstelten, hübschen Stimme, wie sie feststellen konnte, als er wieder einmal »Rosamunde« anstimmte, dieses Mal jedoch mit dem abgewandelten Text: »Rosamunde, schenk mir dein Sparkassenbuch, Rosamunde, zehntausend Mark sind genug …« Auch dieses Mal sangen alle mit.

    Seine Haut war hell, sein kurz geschnittenes Haar rötlich blond und seine Augen, mit denen er immer häufiger zu Margarete herübersah, waren von einem tiefgründigen Grau. Er heizte die Stimmung im Saal an, lachte viel ins ausgelassen tanzende Publikum hinein und zeigte dabei ebenmäßige Zähne.

    Ein hübscher, ein sympathischer Junge, so dachte Margarete. Sie hatte das Gefühl, ihre Schultern, ihr Kopf und ihr ganzer Körper würden von ihm magnetisch angezogen. Sie konnte es nicht verhindern, dass sie immer wieder zu ihm hinüberschaute. Unauffällig schielte sie zum Podium, wo die Kapelle saß, hoffend, der Vater werde es schon nicht bemerken. Doch darin irrte sie sich gründlich, denn Karl-Friedrich erspürte durchaus mit väterlicher Eifersucht, dass sich da etwas anbahnte, ja, dass es zwischen den beiden über den halben Saal hinweg vor Spannung nur so knisterte.

    »Grete!«, sagte er plötzlich mit warnender Stimme.

    »Ja, Vadder?«

    »Achtung, der Kurt!«

    Der Sohn des Nachbarn »iwwer d’ Stroß« und Ortsgruppenleiters PeGe Kalkbrenner hatte nur noch drei oder vier Schritte bis zu ihrem Tisch. Er griff sich Margaretes Hand und sagte herrisch: »Komm, tanzen!«

    »Na, Kurt«, flötete Wilhelmine so überbetont freundlich, dass der Angesprochene die Ironie sicher nicht überhören konnte, »hast schon fest getanzt heut?«

    »Ja, Frau Buchsbaum«, antwortete der, »aber no lang net genung!«

    Er ließ Margaretes Hand los, trat einen halben Schritt zurück und verbeugte sich übertrieben tief.

    »Erlauben Sie, dass ich mit Ihrem Fräulein Tochter tanze, Herr Buchsbaum?«

    Karl-Friedrich nickte stumm, ohne den Fragenden anzusehen, und Margarete stand auf, um mit Kurt Kalkbrenner den Walzer zu tanzen, dessen rhythmischen Schwung sie übrigens nicht sehr gut beherrschte.

    Auch Kurt war alles andere als ein begabter Tänzer. Er schaukelte hin und her, schob sie und zog an ihr und wollte es offensichtlich besonders gut machen, doch Margarete versteifte sich und hielt ihn freundlich lächelnd auf Abstand.

    Kurt hatte die ganze Zeit über das Gesicht zu einem eingefrorenen Lachen verzogen und starrte sie mit seinen auffallend blauen Augen an. Seit ihrer gemeinsamen Schulzeit war sie vor ihm auf der Hut. In der einklassigen Dorfschule hatten damals, am Ende der zwanziger und zu Anfang der dreißiger Jahre, nur zwölf oder dreizehn Schüler gesessen. Lehrer Schmid hatte streng auf Ordnung in allen Dingen geachtet, auch in der Sitzordnung war er streng gewesen: In den vorderen Bänken saßen die Schuljahre eins bis vier, dahinter die Jahrgänge fünf bis acht, rechts, also auf der Fensterseite, die Mädchen, auf der anderen Seite die Buben. Kurt, der anderthalb Jahre älter war als Margarete, war so über den Mittelgang hinweg ihr Nachbar gewesen, und sie hatte häufig genug mit ansehen müssen, wie er Furcht und Schrecken vor allem unter den jüngeren Schülern verbreitet hatte, um sich in seiner Anwesenheit vorzusehen. Er war launisch und unberechenbar gewesen, und er war es bis heute. Angst hatte sie nicht vor ihm gehabt, aber auf der Hut gewesen war sie schon, und sie war es immer noch, denn …

    »Was denkst du?«, fragte Kurt in ihre Überlegungen hinein.

    »Wie?«, antwortete sie erschrocken, »entschuldige, ich war mit meinen Gedanken grad woannerst. Bei uns macht nämlich die Sau wahrscheint’s heut Nacht noch Junge.«

    Das war eine Ausrede, die ihr gerade noch eingefallen und die dabei doch nicht wirklich gelogen war, denn den Nachwuchs bei ihrer einzigen Muttersau erwarteten sie tatsächlich an einem der nächsten Tage. Es hätte, so tröstete sie sich, folglich auch in einer der nächsten Stunden sein können, so genau konnte man das ja nicht wissen.

    »Du hast, scheint’s, bloß den Willi im Kopf«, brummte er.

    »Was denn für ’n Willi?«, fragte sie, ehrlich erstaunt.

    »Der Musiker da drüben mit der Quetschkommod.«

    »Den kenn ich überhaupt nicht«, beteuerte sie und trat ihm absichtlich fest auf den Fuß.

    So, dachte sie, Willi heißt der also. Sie musste lachen.

    »Lachst mich jetzt an oder aus?«, fragte Kurt.

    »Rat mal«, kicherte sie, machte ihm ein ironisches Kussmündchen und rümpfte zugleich die Nase. Das, so dachte sie, müsste eigentlich reichen, ihn auf Abstand zu bringen.

    Nach dem Tanz brachte Kurt sie an ihren Platz zurück, verbeugte sich kurz, wie sie beide es im Tanzkurs des vergangenen Winters gelernt hatten, und sie drehte sich halb zu ihm hin und deutete dazu einen Knicks an. Er ging mit düsterer Miene seiner Wege.

    Margarete tanzte sich weiter durch die Kerle, einmal mit Helmut Baltzer, der beim Foxtrott hampelte wie ein Zappelphilipp, dann den gefährlichsten aller Tänze, nämlich den langsamen Walzer, mit dem langen Haldenbauer Schorsch, bei dem sie ihre liebe Not hatte, seinen körperlichen Anschmiegungen und Anbohrungen auszuweichen, und einmal tanzte sie sogar mit dem Sohn des Kiesgrubenbesitzers Eggert aus Steinbach. Als sie an ihren Platz zurückkam, war sie ganz außer Atem.

    Der rotblonde Schifferklavierspieler, von dem sie jetzt wusste, dass er Willi hieß, schaute wieder zu ihr herüber. Er sagte etwas zu dem älteren Musiker, der hinter ihm am leicht verstimmten Gasthausklavier saß. Obgleich es dafür im Saal viel zu laut und die Entfernung viel zu groß war, bildete sie sich ein zu hören, was die beiden sprachen. Willi sagte: »Da drüben wartet eine auf mich.« Und der Ältere antwortete: »Dann beeil dich, sonst ist sie weg.« Willi setzte sein Akkordeon auf den Dielen des Podiums ab und stand auf. Eilig wandte sie sich, um nur irgendetwas zu tun, womit sie der Tanzfläche und den Menschen den Rücken zudrehen konnte, an Karl-Friedrich und sagte, ohne zu überlegen, das Erste, was ihr einfiel: »Bekomm ich ein Glas Wein, Vadder?«

    Karl-Friedrich sah seine Jüngste erstaunt an und zog die dichten Augenbrauen in die Höhe, was ihm ein ungemein spöttisches Aussehen verlieh. Wein tranken die Bauern in den Dörfern nicht oder doch nur selten, er war einfach zu teuer. Höchstens am Sonntag nach der Kirche, wenn er sich mit seinen Jahrgangskollegen zum Frühschoppen in der ›Sonne‹ traf, pflegte Karl-Friedrich ein Glas Wein zu trinken und dazu eine Zigarre zu rauchen, die einzige in der ganzen Woche.

    »Schon gut.« Margarete zog, erschrocken über ihre eigene Kühnheit, ihre Bitte zurück. »’s muss net sei.«

    »Ausnahmsweise«, sagte Karl-Friedrich. »Ich trinke auch eins. Du auch, Wilhelmine?«

    »Nein, Fritz«, antwortete seine Frau, sie danke, aber es sei ihr jetzt nicht nach Wein, aber sie werde vielleicht später aus seinem Glas einen Schluck mittrinken.

    Die Musik begann wieder und spielte Foxtrott.

    »Fräulein Buchsbaum, darf ich bitten?«, sagte eine klare Stimme in ihrem Rücken.

    Margarete stellte sich überrascht, stand auf und tanzte mit dem rotblonden Akkordeonspieler davon.

    »Ich heiße Willi«, sagte er, während er sie tanzend in die Mitte des Saales führte, wo es mehr Platz gab.

    »Ich weiß«, antwortete sie schnippisch. »Und ich bin die Margarete.«

    »Ich weiß«, ahmte er ihre schnippische Art nach und zog die Nase kraus.

    Schöne Zähne hat er, dachte sie. Ihr war, als würden sie sich seit Jahren kennen. Ein bisschen kam er ihr vor wie ein Bruder, wie sie ihn sich heimlich immer gewünscht hatte, ein älterer Bruder, zu dem sie aufsehen konnte, obgleich er kaum größer war als sie.

    »Woher denn?«, fragte sie. »Du kennst mich doch gar nicht.« Es fiel ihr nicht auf, dass sie ihn wie selbstverständlich duzte.

    »Vom Kurt«, antwortete er. »Den hab ich gefragt.«

    »Ich auch«, lachte sie und machte, wie so oft, beim Tanzen zu große Schritte. Aha, dachte sie, daher also Kurts Eifersucht.

    »Wir kennen uns von der Feuerwehr unten in Steinbach, der Kurt und ich. Ich bin von Danstedt«, erklärte er. »Mach ein bisschen kleinere Schritte! Hörst du? Du machst zu große Schritte! Und du führst anscheinend gerne selber. Bleib locker, lass dich tragen.«

    »Du – und mich tragen!«, lachte sie.

    Als Antwort legte er den Arm fest um sie und hob sie damit, scheinbar mühelos, hoch.

    »Bist verrückt?! Lass mich sofort wieder runter! Was sollen denn die Leut denken!« Sie trommelte mit ihren Fäusten auf seine Schultern.

    »Also gut. Aber ich meinte auch: Lass dich von der Musik tragen, dann geht es von allein. Versuch es!«

    Sie versuchte es, schloss die Augen, konzentrierte sich auf die Musik statt auf ihre Schritte und stellte sich vor, Willi würde sie tragen. Und siehe da, es ging. Sie schwebte. Margarete Buchsbaum hatte mit ihren siebzehn Jahren noch nie geschwebt, und sie genoss diesen Zustand mit ungläubigem Staunen.

    »Na?«, lachte er und zwinkerte ihr mit einem Auge zu.

    Sie fühlte sich ertappt und kehrte prompt die Kratzbürste heraus: »Ist was mit deinem Auge?«

    »Ja«, antwortete er. »Schaust du mal nach?«

    Sie unterbrachen den Tanz und blieben stehen.

    »Komm näher«, sagte er. »Noch näher!«

    Sie stand dicht vor ihm und reckte ihren schlanken Hals, bis sie in seiner Pupille ihr eigenes, verkleinertes Spiegelbild erkannte.

    »Ich glaub, ich hab was im Auge«, sagte er.

    »Ja«, antwortete sie. »Ich seh’s. Mich. Mich hast du im Auge.« Sie bemühte sich dabei um eine strenge Miene, doch ihr Herz schlug bis herauf zum Hals.

    Kalkbrenner, der alte Kalkbrenner, so stellte Margarete im Vorübertanzen aus den Augenwinkeln fest, also Adolf Kalkbrenner, der Ortsgruppenleiter, hatte heute Abend darauf verzichtet, seine SA-Uniform zu tragen. Am Nachmittag war er noch in Braunhemd und Breeches unterwegs gewesen, so, wie er das gerne auch bei anderen als offiziellen Anlässen tat, um zu unterstreichen, mit wem es die Leute bei ihm zu tun hatten. Er war erst wenig über vierzig Jahre alt, der alte Kalkbrenner hieß Adolf vor allem bei den jungen Leuten wie Margarete, einmal, um ihn vom jungen Kalkbrenner, nämlich seinem Sohn Kurt, zu unterscheiden, und zum anderen, um zu zeigen, wie wenig man mit ihm gemein hatte.

    Kalkbrenner trug, als wäre er hier auf einer parteiinternen Beerdigung, einen schwarzen Gehrock zum steifen Kragen, an seiner schwarzen Brust prangte wie ein großer, rot-weißer Knopf das Parteiabzeichen. Zusammen mit seinem schwarzen, rechts schnurgerade gescheitelten und an den Seiten kurz geschorenen Haar und dem Bärtchen auf der Oberlippe, das Margarete immer an eine kleine, quadratische Schuhbürste erinnerte, sollte die Aufmachung an das strenge Aussehen seines Vorbildes, des ›Führers‹, erinnern. Doch die gefurchte Stirn und der gewollt strenge Blick gaben ihm eher das finstere Aussehen, das seinem Wesen entsprach.

    Frau Kalkbrenner hatte ihren Platz neben ihrem Ehemann. So pflegte er es zu sagen: »Meine Gattin hat ihren Platz neben mir«, und möglicherweise meinte er es auch so. Auch heute Abend saß sie am Tisch neben ihm. Aber sonst, im Dorf, im Leben oder wo auch immer, war ihr Platz eindeutig nicht neben, sondern hinter ihm. Er bestimmte, und niemand sonst.

    Lene Kalkbrenner war die leiseste Frau, die Margarete kannte. Still und in sich gekehrt lebte sie dahin, redete wenig, und wenn sie sprach, dann meist nur mit piepsig schwacher Stimme, so, als würde sie andauernd unter etwas leiden. Und so war es ja auch, das war offensichtlich. Jeder im Dorf wusste, worunter sie litt, nämlich unter ihrem Mann, Adolf Kalkbrenner, der nicht nur finster aussah, sondern auch ein autoritärer Finsterling war. Lene dagegen hatte, auch das wussten alle, ein im Grunde gutes Herz, das freilich auch ein bisschen furchtsam war und deshalb meist seine Güte nicht zu zeigen wagte.

    Die Stimmung war auf dem Höhepunkt. Der Trompeter der Kapelle führte sein Paradestück vor. Einen Blechtrichter, den er sich bei seiner Frau in der Küche ausgeliehen hatte, steckte er in ein anderthalb Meter langes Stück Schlauch. In das andere Ende steckte er das Mundstück seiner Trompete und blies auf dem Gartenschlauch den Fanfarenmarsch. Er stand vorn an der Rampe, ließ den Schlauch mit dem Trichter über seinem Kopf kreisen, und die Tanzenden sangen mit: »Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhab’n …«

    Gerade als Margarete bei einem ihrer nächsten Tänze mit dem jungen Nachbarsohn Heinz Urban vorüberkam, stand Lene auf, um mit ihrer jüngsten, ein bisschen pummeligen Tochter, der vierzehnjährigen Sigrun, den Heimweg anzutreten.

    Es ging auf zehn Uhr, und Bürgermeister und Parteigenosse Franz Funk, der ebenfalls öffentlich den rot-weißen Parteiknopf trug, stand mit warnendem Blick in der Saaltür. Er hatte im Dorf so gut wie keinen Einfluss, schon gar keine Macht, war vielmehr ein überzeugter, um nicht zu sagen serviler Anhänger der Partei, ein fast schon absonderlicher Junggeselle, der nichts dabei fand, von Adolf Kalkbrenner Anweisungen entgegenzunehmen und für ihn den Büttel zu spielen. Einfache Verwaltungsarbeit zu verrichten und bei Tanzveranstaltungen wie heute zu schauen, dass alles seine Ordnung hatte, Aufgaben dieser Art lagen und genügten ihm. Es hätte diese warnende Geste gar nicht gebraucht, denn der Sonnenwirt war bekannt dafür, dass er es mit Ordnungsregeln durchaus genau nahm.

    Auch an den anderen Tischen brachen die ersten Gäste auf, ältere Leute vor allem, denen die Musik zu laut war, oder solche, für welche die Zeit in ihrem Leben, in der Tanzen ihnen noch Vergnügen bereitet hatte, vorüber war. Und solche wie Lene Kalkbrenner, die Kinder im jugendlichen Alter hatten, denn wer nach zehn Uhr abends auf einer öffentlichen Tanzveranstaltung angetroffen wurde, musste mindestens sechzehn Jahre alt sein. Wer jünger war, durfte sich bis dahin in Begleitung der Eltern dort aufhalten. Übertritte dieser Verordnung wurden streng geahndet.

    Da wurde auch Wilhelmine unruhig. Sie hätte im Laufe des Abends gerne ein oder zwei Mal getanzt, hatte ihren Mann Karl-Friedrich dazu aber nicht bewegen können. Sie ließ den Sprungdeckel ihrer Uhr aufklappen und schaute nach der Zeit; am nächsten Morgen, so deutete sie damit an, würden sie alle wieder früh aus den Federn müssen. Die kleine Uhr war vergoldet, und Wilhelmine trug sie an einem dünnen Goldkettchen wie ein Medaillon um den Hals gehängt, ein Erbstück von ihrer Großmutter, das sie wie alle in der Familie hoch in Ehren hielt.

    Karl-Friedrich beachtete ihre Zeichen nicht. Er hatte seiner Grete den Abend bis elf Uhr zugestanden, und alleinlassen wollte er sie nicht. Also stellte er sich taub und legte damit wieder einmal ein Verhalten an den Tag, das Wilhelmine nur allzu gut an ihm kannte.

    Margarete hatte die Zeichen der Zeit erkannt und offenbar beschlossen, etwas zu unternehmen, damit die Dinge in ihrem Sinne ins Rollen kamen. Sie schaute immer wieder zu Willi hinüber, machte Zeichen mit den Händen und formte mit dem Mund, freilich stumm, das Wort »Damenwahl«.

    Kaum ertönte der Tusch, da eilte sie schon hinüber zur Kapelle: »Willi, darf ich bitten?«

    Der schaute sich fragend nach dem Mann am Klavier um, der allem Anschein nach der Kapellmeister war, und übergab ihm das Akkordeon.

    »Komm«, sagte er dann. »Tango.«

    Der Kapellmeister entlockte dem Akkordeon ein Feuerwerk aus Fingerakrobatik und Rhythmus, dass es Margarete nur so in die Beine fuhr.

    Das war er also, dieser exotische, berüchtigte Tango, den sie in den Städten tanzten. Willi zeigte ihr, wie man ihn auch mit einfachen Schritten bewältigen konnte, und sie schwebte mit ihm auf den Wellen von ›Olé, Guapa!‹ davon.

    »Was man auf dem Schifferklavier alles machen kann!«, staunte sie.

    »Es heißt Akkordeon«, verbesserte er sie. »Es gehört dem Gerhard, und der ist so etwas wie mein Lehrer. Nicht mit richtigem Unterricht, den könnte ich nicht bezahlen. Am meisten lernt man, wenn man mit jemandem zusammen spielt, der besser ist als man selber. Ich hab daheim nur ein kleineres Instrument, und üben muss ich selber«, lachte er. »Jetzt Achtung! Ausfall nach links!«

    »Der kann aber!«, sagte Wilhelmine zu Karl-Friedrich, die miteinander das Paar beobachteten.

    »Tanzen und Quetschkommode spielen wird hoffentlich nicht das Einzige sein, was er kann«, brummte er und zog seine Stirn in Falten.

    »Er kommt vom Hof«, erklärte sie, und als er sie überrascht ansah, fuhr sie fort: »Ich hab die Traudel vom Wirt gefragt. Von Danstedt ist er, Willi Sperling heißt er.«

    »Vom Erich Sperling ein Sohn?«

    Sie nickte. »Der einzige.«

    Der einzige Sohn, dachte er, das bedeutete, er würde einmal den Hof in Danstedt erben.

    »Man wird sehen«, sagte er. Erich Sperling, dachte er weiter, den kannte er recht gut, von dem hatte er vor ein paar Jahren eine Kuh gekauft. Der war zweifellos ein redlicher Mann, da könnte vielleicht auch der Sohn … Aber Erich Sperlings Hof in Danstedt, so erinnerte er sich, während er nach dem Geldbeutel in seiner Hosentasche tastete, der war nur zwischen dreißig und vierzig Morgen groß, oder, wie man neuerdings rechnete, acht oder neun Hektar, und er besaß kein Pferd, sondern musste die Feldarbeit mit Kühen bewältigen. Damit gehörte Erich zu einer Sorte Bauern, auf die Bauern mit Pferd und mit mehr als zwölf Hektar Besitz wie Karl-Friedrich nicht ohne einen gewissen Hochmut herabschauten. Er legte den Geldbeutel auf den Tisch zum Zeichen, dass er die Absicht hatte, demnächst aufzubrechen.

    Margarete, welche die Geste ihres Vaters von Weitem beobachtet und richtig gedeutet hatte, sagte zu Willi: »Da nüber!«, und lenkte ihn tanzend quer über die ganze Tanzfläche.

    »Bist arrich fidel heut«, bemerkte Wilhelmine, die Augenbrauen leicht hochgezogen, zu ihrer Tochter, als sie dicht an ihnen vorübertanzte.

    »Quietschfidel, Mudder!«, lachte Margarete, lehnte sich in Willis Armen weit zurück und nahm neuen Schwung auf.

    Karl-Friedrich, der aufgestanden war und sich ungeduldig für den Heimweg zu richten begann, zog demonstrativ seine Taschenuhr aus der schwarzen Weste, die er immer trug, ließ den Deckel aufschnappen und hielt seiner Tochter das Zifferblatt hin.

    »Noch eine halbe Stund, Vadder!«, rief sie. Er antwortete nicht und steckte die Uhr wieder ein. Dann nickte er, er sei einverstanden, und brach zusammen mit Wilhelmine auf.

    Der Sonnenwirt stand an der Theke und sah Karl-Friedrich und Wilhelmine kommen. Eigentlich hieß der Wirt Heinrich Blum, aber alle nannten ihn nur den ›Sonnenblum‹. Aus welchem Grunde sie das taten, darüber waren die Männer im Dorf geteilter Ansicht. Die einen behaupteten, das geschehe einfach, um ihn von seinem ebenfalls im Dorfe heimischen Bruder Hermann Blum zu unterscheiden; das jedoch war kein ausreichender Grund, denn dafür hätte der Vorname Heinrich vollkommen ausgereicht. Die Wahrheit war komplizierter, so, wie das fast immer der Fall ist. Einfache Wahrheiten sind selten.

    In der Wirtsstube des Gasthauses ›Zur Sonne‹ hing im Halbdunkel hinter der Theke ein Bild an der Wand. Es war mit Ölfarbe auf ein Holzbrett, ein wenig ungelenk zwar, aber alles in allem doch gut erkennbar, gemalt. Es zeigte eine große Sonnenblume, die im leuchtend gelben Kranz ihrer Blütenblätter ein Paar dunkelbrauner Augen, einen breiten, lachenden Mund, ein üppiges Doppelkinn, eine fleischige Nase und darunter einen riesigen, schwarzen Schnurrbart aufwies. Alles zusammen bildete, zwar karikaturhaft übertrieben, aber doch unverkennbar das runde Antlitz des ›Sonne‹-Gastwirtes Heinrich Blum.

    Der Sonnenblum behauptete, ein durchreisender Gast habe das Bild vor Jahren angefertigt und ihm gegen ein Mittagessen überlassen, und da habe er es halt aufgehängt, weil er es lustig gefunden habe.

    Die Gäste zuckten darüber lachend ihre Schultern und schüttelten verständnislos ihre Köpfe, aber der Wirt hatte damit seinen Spitznamen weg, und die Leute dachten nicht mehr darüber nach, sondern fügten den Namen in die lange Liste ihrer unabänderlichen Gewohnheiten ein.

    Aber die Wahrheit war noch komplizierter. In Wirklichkeit hatte nicht, wie der Sonnenblum behauptete, ein durchreisender Laienkünstler das Bild gemalt – was für ein Künstler, und wäre er noch so laienhaft, kam schon nach Kerchwies, um zu malen?

    Nein, er, Heinrich Blum, hatte es selber mit Ölfarben auf ein Holzbrett gemalt, vor ein paar Jahren und einfach so zu seinem Vergnügen. Das freilich musste sein und seiner Frau Traudel Geheimnis bleiben, denn alles, was vom Gewohnten abwich, galt gemeinhin als zunächst einmal verdächtig. Dass einer von ihnen zu seinem Vergnügen Bilder malte, dazu noch so seltsame, das würden sie im Dorf kaum verstehen.

    Doch dann hatten eines Tages die neuen Parteiherren begonnen, von entarteter Kunst zu reden, und hatten damit solche Bilder gemeint wie die von August Macke oder von Franz Marc, deren Kunst Heinrich Blum sehr ansprach, wenn er sie nicht gar verehrte, und die Männer vom Schlage Kalkbrenners hatten Bücher, die ihnen nicht gefielen, öffentlich verbrannt und auch noch damit angegeben und mit ihrer Barbarei geprahlt.

    Heinrich Blum hatte, sorgfältig darauf achtend, dass niemand weiter zuhörte, zu seiner Frau Traudel gesagt: »Wer Bücher verbrennt, der verbrennt auch Menschen. Das hat jemand früher mal gesagt, ich weiß nicht mehr, wer. Aber es stimmt. Weißt du, was das bedeutet? Wir gehen harten Zeiten entgegen.« Dann hatte er, Ausdruck heimlichen, aber glühenden Protestes, das Bild aus der Kiste unter dem Dach herausgesucht, hatte es aufgehängt und dazu die Geschichte von dem durchreisenden Künstler erfunden.

    Seither nannten sie ihn den Sonnenblum, und niemand außer ihm und seiner Frau Traudel wusste, dass er selber der eigentliche Urheber dieses Spitznamens war.

    Jetzt sah der Sonnenblum Karl-Friedrich und Wilhelmine an die Theke kommen und griff schnell nach dem Notizblock für die Rechnungen.

    »Heinrich, machst du mir die Rechnung?«, bat Karl-Friedrich.

    »Willst schon gehen, Fritz?«, sagte der.

    Karl-Friedrich nickte, und der Sonnenblum notierte, was der aufzählte: viermal Rippchen mit Kraut und Bubespitz, dazu Bier und Limonade, Kaffee und Kuchen, schließlich zwei Glas Weißwein, Leimener Müller-Thurgau, halbtrocken.

    Heinrich Blum schrieb, ohne nachzufragen. Hätte Karl-Friedrich sich bei seiner Aufzählung geirrt, hätte er es sicher gemerkt. Aber er wusste, Karl-Friedrich Buchsbaum gingen Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit über alles. Wenn man sich im Dorf überhaupt auf einen verlassen konnte, dann auf ihn. Karl-Friedrich war ein Mann von geradezu sturer Geradlinigkeit, fromm, doch alles andere als weltfremd. Er beobachtete genau, was in der Welt geschah, und war der Ansicht, wer nur in den Himmel schaute, der müsse auf der Erde unweigerlich stolpern.

    Die Wahrheit, so hatte Karl-Friedrich einmal zum Sonnenblum gesagt, sei nicht in den Menschen daheim, sie könne von ihnen vielmehr immer nur gesucht und in Annäherungen erfasst werden. Und als der Wirt das nicht verstanden und nachgefragt hatte, hatte Karl-Friedrich es ihm in einem Bild erklärt. Ein Mensch, sagte er, sei wie ein Schiff auf dem Meer. Das richte sich in der Nacht ja auch nach dem Leuchtturm auf dem festen Land; ein Kapitän, welcher nur der Laterne am eigenen Bug nachfahre, der sei ein gefährlicher Narr. Wer behaupte, die Wahrheit in sich selber zu haben, der werde auch bald sich selber für die Wahrheit halten. Solche Menschen, und das hatte er mit einem Blick auf Adolf Kalkbrenner gesagt, solche Menschen seien gefährlich. Das meine er, wenn er sage, die Wahrheit, der man nachstrebe, müsse immer außerhalb seiner selbst liegen.

    Auch Margarete und Willi verließen den Tanzsaal, um draußen in der milden Luft an einem dunklen und stillen Plätzchen den Vorgang ihres Kennenlernens fortzusetzen und zu vertiefen.

    Als er

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