Johanna: oder die Erfindung der Nation
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Im Jahre 2001 kommt Johanna wieder. Erneut ist das Vaterland zu retten, die Nation. Vor wem, wovor? Was sagt der 'König', was sagt das Volk? Erkennt man die Retterin, und vor allem: wer erkennt sie? Wer steht ihr zur Seite, wer folgt ihr nach? Wem folgt sie nach? Siegt sie erneut? Wird sie erneut getäuscht? Muß sie wieder sterben? Auf diese aktuellen Fragen sucht Felix Mitterer in seinem neuen Stück, das am 12. Jänner 2002 am Salzburger Landestheater uraufgeführt wird, eine Antwort.
In der Buchausgabe wird der Text des Stücks ergänzt durch eine knappe Abhandlung über die Figur der Jeanne d'Arc und den mit ihr verbundenen Mythos in der Literatur.
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Book preview
Johanna - Felix Mitterer
Werkverzeichnis
JOHANNA
ODER
DIE ERFINDUNG DER NATION
Schon immer hat mich dieses Mädchen fasziniert, das mit 17 aufbrach, Frankreich von der englischen Herrschaft zu befreien, und mit 19 als Hexe verbrannt wurde. Die Geschichte Jeannes klingt wie eine Legende, ganz unwirklich, ganz unwahrscheinlich, und doch gibt es die Akten, die ihre Existenz, ihr Wirken beweisen.
In den Jahren zuvor hatte Michael Worsch am Salzburger Landestheater zwei meiner Stücke („Abraham, „Tödliche Sünden
) auf ganz ungewöhnliche und eindrucksvolle Weise inszeniert. Als mich nun Intendant Lutz Hochstraate fragte, ob ich ein Auftragswerk für Salzburg schreiben wolle, mit Worsch als Regisseur, stimmte ich gerne zu und schlug Jeanne d’Arc als Thema vor, was sofortige Zustimmung fand.
Da Jeanne eine der meistbeschriebenen historischen Persönlichkeiten ist und bereits zahlreiche Theaterstücke sowie Filme über sie existieren, wollte ich nicht neuerlich ein historisches Stück schreiben, sondern einen Bezug zu unserer Gegenwart herstellen. Das Bindeglied dazu schien mir der Nationalismus. Lange bevor es im eigentlichen Sinne Nationen gab, hat Jeanne sozusagen den Begriff Nation begründet, hat mit der Waffe in der Hand für die französische Nation gekämpft, wurde dadurch zur ersten Nationalheldin, zur Nationalheiligen sogar.
So lebt meine Jeanne heute, und sie lebt gleichzeitig zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Ein Mädchen, dem Gewalt angetan wurde, ein Mädchen, das Stimmen hört, die ihm befehlen, die „Fremden" zu vertreiben. So macht sie sich auf die Irrwege ihrer Überzeugung, um jenen Populisten an die Macht zu helfen, die aus der individuellen Katastrophe Profit zu schlagen wissen. Und die Jeanne an die Inquisition ausliefern, als sie unbequem wird, als sie ihren Irrweg zu begreifen beginnt. Was seinerzeit mit Feuer bereinigt wurde, erfüllt nun heutzutage die Psychiatrie. Die Parallelität der Handlungen kulminiert in der Einsamkeit und im Tod dieses sagenumwobenen Mädchens, das am Ende doppelt geschändet als Opfer seiner selbst und der Politik zurückbleibt.
„Johanna oder Die Erfindung der Nation ist nach „Tödliche Sünden
mein merkwürdigstes Stück. Beide schlagen sozusagen vollkommen aus der Art, sie scheinen nichts mit den „üblichen Mitterer-Stücken gemein zu haben. Sie sind wie im Traum entstanden, haben sich praktisch von selbst geschrieben, das passiert. Und manchmal geht das sehr gut aus, manchmal weniger. „Johanna
erreichte nach der Salzburger Uraufführung eine einzige weitere Inszenierung in Graz, dann war Schluss. Dass „Johanna" auch ein satirischer Kommentar zur damaligen politischen Situation in Österreich war, wurde nicht bemerkt.
PERSONEN:
2 Damen und 7 Herren spielen 24 Rollen.
Jeanne d’Arc (17)
Gilles de Rais, junger Baron
Charles, Dauphin, dann König Charles VII. von Frankreich
Erzbischof von Reims, Kanzler von Charles
George de La Trémouille, Minister von Charles, später Marschall von Frankreich
Herzog von Burgund, Philipp III. der Gute
2. junger Fremder
Jacques d’Arc, Vater von Jeanne, Bauer
La Rousse, Bordellwirtin (Ausländerin)
Dargestellt von Gilles de Rais:
1. junger Fremder
Heiliger Michael im TV
Dorfjüngling
Graf Luxembourg
Arzt in der Psychiatrie
Dargestellt vom 2. jungen Fremden:
Robert de Baudricourt, Burghauptmann von Vaucouleurs
William Glasdale, englischer Feldhauptmann
Polizist
Graf Warwick, Engländer
Dargestellt von Jacques d’Arc:
Ein Freier
La Hire, Feldhauptmann von Charles, ein „Kampfross"
Bogenschütze
Dargestellt von La Rousse:
Hebamme
Schwester in der Psychiatrie
Dargestellt vom Erzbischof von Reims:
Inquisitor (erscheint nur auf dem Bildschirm)
Weiters:
Drei Prostituierte (eine Schwarze, eine Weiße, eine Asiatin)
Einer, der über das Bollwerk geworfen wird (Puppe)
Getötete Ausländer in der U-Bahn (Puppen)
Ein Schwarzafrikaner in der U-Bahn (auch Rettungsmann in der Psychiatrie)
Getötete Knaben im Schloss Tiffauges (Puppen)
Eine Dame von der Maske
Alle Männer (dann auch Jeanne) tragen die damals übliche „Puddingschüsselfrisur" (auch in Szenen, die heute und morgen spielen).
Das Stück spielt 1429–1431, heute und morgen.
1. BILD
Zeit: Heute
Fernsehstudio
Charles trifft auf den Herzog von Burgund
Der Dauphin Charles (schick gekleidet, keine Krawatte) und der Herzog von Burgund (in etwas altmodischem Anzug). Charles lächelt immer wieder etwas süffisant, der Herzog lächelt nie, ist immer von großem Ernst (auch wenn er etwas Komisches sagt). Die Diskussion der beiden ist auch auf einem großen Bildschirm zu sehen, der weit oben hängt (wie in einem Aufenthaltsraum).
CHARLES: Das habe ich nie gesagt.
HERZOG VON BURGUND: Sie haben das sehr wohl gesagt, Charles. Und Ihr Herr La Trémouille, der Ihr Sprachrohr ist, faselt ständig etwas von der drohenden Umvolkung der Franzosen. Sie sollten über jeden Fremden froh sein, der bei uns die Drecksarbeit erledigt.
CHARLES: Sie halten ja nicht einmal die hygienischen Regeln ein, und ständig diese laute Dudelsackmusik, grauenhaft! Was ist das für eine Kultur?
HERZOG VON BURGUND: Sie behaupten, die Fremden stinken und hätten einen schlechten Musikgeschmack?
CHARLES: Natürlich stinken sie, und Geschmack haben sie überhaupt keinen! Und sie haben überhaupt keine Absicht, sich zu assimilieren. Sie wollen, dass auch wir stinken, sie wollen, dass auch wir unablässig den Dudelsack spielen!
HERZOG VON BURGUND: Das ist lächerlich, Charles. Genauso lächerlich wie die Behauptung Ihres La Tremouille, dass wir jedem Engländer, der an der Küste landet, sofort einen Kräutersud verabreichen, der seine Fruchtbarkeit fördert.
CHARLES: Das hat La Tremouille nie gesagt, Herzog. Sie wollen immer nur davon ablenken, dass Sie und Ihresgleichen Ihr eigenes Volk nicht leiden können. Sie sind ein Inländerfeind, Herzog!
HERZOG VON BURGUND: Ich bin selbst ein Inländer! Da müsste ich ja mein eigener Feind sein.
CHARLES: Wer weiß schon, was sich in Ihrem Blut so alles vermengt, Herzog. Auf jeden Fall sind Sie von Selbsthass zerfressen. Sonst würden Sie unser Land nicht den Fremden ausliefern wollen. Sonst würden Sie dieser Verelendung und Verdrängung der Franzosen nicht Vorschub leisten.
HERZOG VON BURGUND: Ich weise das mit allem Nachdruck zurück. Den Franzosen ist es noch nie so gut gegangen!
CHARLES: Aber nicht mehr lange, Herzog. Es handelt sich hier um eine massenhafte Landnahme im Kernterritorium Frankreichs. Und ihr Burgunder unterstützt das. Ihr unterstützt diese Überflutung, diese Überschwemmung durch die Ausländerhorden. Sie werden als Hochverräter des Vaterlandes in die Geschichte eingehen, Herzog, Sie und Ihre ganze