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Vergiftete Zeit: Der Fall des Dr. Danesch
Vergiftete Zeit: Der Fall des Dr. Danesch
Vergiftete Zeit: Der Fall des Dr. Danesch
Ebook392 pages5 hours

Vergiftete Zeit: Der Fall des Dr. Danesch

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About this ebook

Dieser Roman der aus dem Iran stammenden Autorin ist ein Polit-Thriller. Er basiert auf einem authentischen Fall, der in den 1980-er Jahren bekannt wurde. Geschildert werden Hintergründe der Hinrichtung des in der Bundesrepublik Deutschland ausgebildeten Arztes Dr. Danesch in den Kerkern der Islamischen Republik Iran.
Fahimeh Farsaie entfaltet ein Panorama der politischen Verhältnisse im Iran nach der Islamischen Revolution und erzählt von der Doppelexistenz von Vater und Tochter Danesch im Exil in Deutschland. Gleichzeitig verschafft sie den Leserinnen und Lesern Einblicke in das psychlogische Innenleben der Pasdaran, der Protagonisten des Unterdrückungsapparates der Islamischen Republik Iran.
LanguageDeutsch
Release dateApr 20, 2014
ISBN9783943941449
Vergiftete Zeit: Der Fall des Dr. Danesch

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    Vergiftete Zeit - Fahimeh Farsaie

    Farsaie

    Im Grunde wussten alle, dass Dr. Danesch getötet würde. Die einzige, die von der bevorstehenden Katastrophe nichts ahnte, war seine Tochter Maral. Und dies nicht, weil sie sich nicht sonderlich für ihren Vater und sein Schicksal interessierte, sondern weil die anderen sich viel zu viele Gedanken um sie und ihre Zukunft machten. Sie hielten sie deshalb mit allerlei Lügen in absoluter Ahnungslosigkeit und ließen sie sich den Kopf mit den Längs- und Quermaßen des Dick- und Dünndarms, der Form des Hammerknochens im Mittelohr oder der Anzahl der Membranzonen einer Nervenfaser vollstopfen und sich auf ihr Physikum vorbereiten. Maral war so sehr in »Magengeschwülste« vertieft, dass sie das Flüstern in ihrer Umgebung, das sich bei ihrem Auftauchen sofort in flüchtiges und vorgetäuschtes Lächeln verwandelte, nicht wahrnahm. Selbst das bange Gefühl und die Sorge, die sich wie ein vergrößertes Bild in den schwarzen Augen ihrer Tante Jasmin spiegelten, sah sie nicht. Vielleicht auch deswegen, weil Jasmin neuerdings ihre Frisur verändert hatte. Sie kämmte ihre schwarzen, glatten Haare nicht mehr mit Hilfe von Widdern, Haargel oder Sprays hoch, sondern ließ sie sanft und frei in ihr Gesicht fallen. So konnte sie die Trauer und den Kummer, die ihrem Gesicht einen verwirrten Ausdruck verliehen, besser verheimlichen. Als Maral eines Tages über das verzweigte Netz des Nervensystems der Haarwurzel nachdachte, fiel ihr plötzlich der weinrote Glanz auf, der über die dichten, weichen Haare ihrer Tante fiel. Jasmin hatte sich unter dem gelben Licht des Flurs gebückt, um die Schnürsenkel ihres Sohnes zu binden. Der Sohn hielt keine Sekunde still und suchte beständig nach einer Gelegenheit, seiner Mutter zu entwischen. Maral hatte sich an den Türrahmen gelehnt und in einem arglosen Ton gefragt: »Liebe Tante, färbst du deine Haare?«

    Während Jasmin an den Schnürsenkeln hantierte und murmelnd auf ihren Sohn schimpfte, sagte sie mit dumpfer Stimme: »Nein Liebes, ich habe Henna darauf getan …«

    Als sie ihren Kopf hob, kam sie Maral in ihrem schwarzen, an den Schultern mit Schaumstoff gepolsterten Mantel noch kleiner vor. Maral sah sogar den Glanz einer Träne, die ihre schwarzen Augen trübte, fragte sie aber nicht nach dem Grund, um zu verhindern, dass ihre Tante völlig die Fassung verlor. Als sie später erfuhr, dass Jasmin sich an jenem Tag nach einem zweiwöchigen inneren Kampf darauf vorbereitet hatte, sie über den bevorstehenden Mord an ihrem Vater in Kenntnis zu setzen, verfluchte sie sich tausendmal, dass sie in jenem Augenblick nicht vom kristallklaren Glanz der Träne im Gesicht ihrer Tante, sondern vom weinroten Schimmer ihrer hennagefärbten Haare verzaubert worden war. Jasmin flehte zu Gott, Maral möge ihr die Verwirrung und den Gram nicht anmerken, denn sie hatte mit einem Schlag ihren ganzen Mut verloren, Maral die Wahrheit zu erzählen.

    Ihre Abschiedszeremonie dauerte an jenem Tag im Gegensatz zu sonst nicht sehr lange. Denn sobald Jasmin fühlte, dass Maral sie nun nach dem Iran und der Situation dort fragen würde, hob sie ihre Hand und schlug ihren Sohn, der nun ausnahmsweise still stand und mit seinen Jackenknöpfen spielte, hart ins Gesicht und schrie: »Halt doch still, Kind! Musst du mich immer ärgern?« Dann nahm sie ihn unter den Arm und verschwand in der Dunkelheit des Flurs. Danach wollte sie kein Wort mehr davon hören, dass sie verpflichtet sei, Maral von diesem unheilvollen Ereignis in Kenntnis zu setzen. Verzweifelt starrte sie auf die rosafarbenen Ohrläppchen ihres Sohnes, die von Flaum bedeckt waren, und sagte sich: »Nein! … Das kann ich nicht mehr über mich bringen.«

    Die anderen meinten, es sei sehr ungerecht, dass alle über die Hinrichtung von Dr. Danesch Bescheid wussten außer seiner Tochter. Selbst der dreizehnjährige Sohn Jasmins, Siamak, war dieser Meinung, obwohl niemand ihn danach fragte. Auch wenn er nur an sein Aussehen dachte und jeden Tag drei Hemden verschiedener Größen und Modelle so anzog, dass jedes etwa zehn Zentimeter unter dem anderen hervor sah, lief er eines Tages direkt nach dem Aufstehen in die Küche, wo seine Mutter über den kochenden Milchtopf gebeugt stand. Er erzählte ihr, dass er gerade von Maral geträumt hatte, wie sie in einer endlosen roten Sandwüste hinter einem überproportional großen braunen, hässlichen Holztor, das niemand aufzumachen wagte, stand und mit ganzer Kraft unaufhörlich an es klopfte …

    Außer an den weitentfernten Lärm und das beständige Klopfen, die roten Sandkörner jener endlosen Wüste und jenes hässliche braune Tor, das ohne Kabinen und Riegel mitten in jener roten Einöde stand, konnte er sich an nichts anderes erinnern.

    Obwohl Siamak im Traum gar nicht anwesend war, hatte er geschrien: »Maral! Maral! Klopf doch nicht dauernd an das Tor! Komm einen Schritt weiter rüber, und schon gibt es kein Tor mehr!«

    Obwohl Siamak sicher war, dass er im Schlaf keinen einzigen Ton herausgebracht hatte, hatte er sich mehr als Maral vor dem schrecklichen Widerhall seines Schreies erschreckt, war plötzlich aufgewacht und hatte festgestellt, dass sein Hemd ganz von Schweiß durchnässt war.

    Um das Zittern ihrer Hände zu verheimlichen, fing Jasmin an, ohne Grund die Milch zu rühren. Während sie allmählich im eintönigen und kreisenden Geräusch des Rührens im Milchtopf sowie im dünnen Dunst und Geruch der Milch versank, fuhr sie ihren Sohn an, der noch wartete: »Geh schon! Geh schon! Wahrscheinlich hast du gestern Abend wieder zu viel gegessen. Zieh dich an, sonst kommst du zu spät in die Schule! Außerdem brauchst du den Unsinn nicht Maral zu erzählen.«

    Als Jasmin eine halbe Stunde später die abgekühlten Milchgläser auf den Tisch stellte, war sie von Gewissensbissen völlig niedergedrückt. Obwohl es an jenem Tag kalt war und regnete, glaubte sie vor lauter Hitze zugrundezugehen. Sie schwitzte so sehr und der Atem stockte ihr so oft, als ob ein Ofen in ihrer Brust glühte. Als Maral sie später fragte, warum die Tante sie nicht früher vom Tod ihres Vaters informiert habe, antwortete sie: »Die ganze Zeit habe ich in jener dürren, glühenden Wüste nach einem guten Omen gesucht!«

    Nach jenem Morgen rief sie aber trotzdem mehrmals am Tag zu unterschiedlichen Uhrzeiten Maral an, zerrte sie aus tiefem Schlaf oder holte sie aus ihrem Schwanken zwischen »Lethargie« und »Hyperaktivität« heraus, fragte sie nach ihrem Wohlbefinden und ihren Prüfungen und flehte sie an, weniger Kaffee zu trinken und ab und zu spazieren oder ins Kino zu gehen. Wenn sie nichts mehr zu erzählen oder zu fragen hatte, musste sie ungewollt husten, räusperte sich oder stöhnte laut auf. Vor dem Abschied lastete immer eine schwere Stille auf ihren sinnlosen, sich wiederholenden Gesprächen, die keine der beiden so leicht zu durchbrechen vermochte. Es war einmal mitten in solch einer quälenden Stille, als die Vorahnung einer Katastrophe Marals Herz wie Funken durchzuckte. Anfangs wurde sie von solch ungeheuren Vorstellungen überwältigt, dass sie ihre Fassung völlig verlor. Der Schrecken verschlug ihr die Sprache. Obwohl ihr Kopf von einer Flut von Fragen erfüllt war, blieb sie weiter stumm. Als Jasmin nach ihrem letzten Husten sagte: »Also dann bis später, tschüs«, versuchte sie noch zu antworten. Die unverständlichen Laute, die aus ihrem Rachen herausquollen, versetzten sie selbst in tiefe Verzweiflung. Im gleichen Moment entschloss sie sich, umfassende Studien über die Auswirkung seelischer Eindrücke auf die physiologischen Funktionen des menschlichen Körpers anzustellen. Sie fand aber keine Gelegenheit, diesen Entschluss in die Tat umzusetzen. Als Jasmin wieder anrief, fragte sie in anklagendem Ton, bevor ihr Gespräch wieder im Teufelskreis der ewigen, langweiligen Fragen und Antworten endete: »Liebe Tante, warum verheimlicht ihr mir etwas? Ich fühle, dass irgendetwas passiert sein muss …«

    In jenen Tagen litt Mehri, die Ehefrau Dr. Daneschs, in der unerbittlichen Glut der Sommersonne Teherans unter einer anderen Art von Ungewissheit: sie wusste nicht, wo sich ihr Mann befand. Sie war vor kurzem von Deutschland nach Iran zurückgekehrt und hatte vom ersten Augenblick ihrer Ankunft an bei jedem, der die geringste Nachricht von ihrem Mann haben konnte, nach ihm gefragt. Das war kein leichtes Unterfangen. Stundenlang wartete sie in den kahlen, ausgetrockneten Straßen Teherans auf ein Verkehrsmittel, das sie an ihr Ziel bringen konnte. Wenn sie dann erschöpft, verzweifelt und verschwitzt den Flur eines Hauses betrat und Dr. Daneschs Namen erwähnte, stieß sie auf eine so undurchdringliche Front von Kälte und Gleichgültigkeit, dass sie sofort kehrtmachte und neben Kopfschmerzen und einem gebrochenen Herzen eine große Last an Leid und Schmerz mit sich zurückschleppte. Einige, die etwas freundlicher waren, ließen Mehri bis zum Gästezimmer vortreten und wimmelten sie dort gesenkten Kopfes mit einem im Teppichmuster herumirrenden Blick ab. Die Abschiedsszenen an der Tür waren dann völlig anders. Sie verabschiedeten sich so laut und in einem so groben Ton von ihr, dass jeder, der ihren Eintritt bemerkt hatte, nun auch ihre Abweisung sehen konnte. Bevor sie die Tür hinter ihr zuknallten, hielten einige kurz inne und flüsterten ihr ins Ohr: »Entschuldigen Sie, Frau Doktor. Aber wir müssen auch irgendwie leben.« Aber auch dort, wo sie mit Freudentränen und Lächeln empfangen wurde, bekam sie nichts als einige Erfahrungen und vertröstende Worte zu hören. Sie saßen zusammen und trauerten den freudigen Erinnerungen und dem kurzlebigen Glück nach, das sie nicht zu schätzen gewusst hatten. Der zitternde, gelbe Kerzenschein ließ diese Szene noch trauriger erscheinen. Wenn sie dann nichts mehr zu erzählen hatten, blickten sie mit ausgetrocknetem Mund stumm und unruhig in Erwartung der baldigen Wiedereinschaltung des elektrischen Stromes, der täglich sechs bis neun Stunden abgestellt wurde, auf den monotonen, traurigen Tanz der Kerzenflamme und wischten unentwegt die dicken Schweißperlen von Mund, Hals und Gesicht. Sie lächelten sich zu, um in ihren Herzen das Licht der Ausdauer und Geduld aufleuchten zu lassen. Während der ganzen Zeit hatten sie weder etwas gegessen noch getrunken. Obwohl Mehri vor Hunger manchmal ein Schwächeanfall überkam und vor Durst ihre Speiseröhre zusammenklebte, rührte sie weder das verwelkte Obst an, das in einem schiefen Korb auf dem Tisch lag, noch nahm sie das Angebot der Gastgeberin zu einer Tasse Tee oder einem Glas Sirup an. Sie sagte: »Nein, danke! Ich kann weder etwas essen noch trinken.« Die Gastgeberin wusste, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Mehris Stimme klang ihr mehr nach Höflichkeit als nach Ehrlichkeit. Sie beharrte aber nicht weiter darauf. Man vollzog jene schlichte und bescheidene Zeremonie so aufrichtig, dass weder der Gast noch die Gastgeberin auch nur für eine Sekunde daran dachten, dass sie gegen die tausendjährigen Bräuche der Gastfreundschaft ihres Volkes handelten.

    Die meisten Menschen, die Mehri aufsuchte, wussten, dass man Dr. Danesch töten wollte. Einige wussten sogar über die geplante Art des Mordes Bescheid. Als Mehri nach fast drei Monaten nach Deutschland zurückkehrte, ohne irgendetwas über ihren Mann herausgefunden zu haben, hörte sie von der Ermordung Dr. Samis und fiel plötzlich in einen Abgrund von Verzweiflung. Die Freundschaft der beiden Ärzte ließ in Mehri die Angst entstehen, dass ihr Mann auch das schreckliche Schicksal seines Freundes teilen könnte. Während sie diese Möglichkeit mit Zweifel und Skepsis zu betrachten suchte, um nicht gänzlich in Verzweiflung zu versinken, versuchte sie, etwas über den mysteriösen und rätselhaften Fall der Ermordung Dr. Samis herauszufinden. Das einzige, was sie nach einer Woche herausbekam, war die Tatsache, dass der Mörder sein Opfer mit einer solchen Bestialität abgeschlachtet hatte, wie sie nur von einem Berufskiller zu erwarten war. Die offizielle Presse stellte den Täter als einen einfachen, aber unbequemen Angestellten der Telefonvermittlung des Gesundheitsministeriums in Dobai vor, der in der kurzen Zeit der Übernahme des Ministerpostens durch Dr. Sami in der provisorischen Regierung des Ministerpräsidenten Basargan entlassen worden war. Obwohl alle Massenmedien versuchten, als Motiv des Täters persönliche Rache in den Vordergrund zu stellen, schenkte niemand dieser Version Glauben. Deshalb vermischten sich Wahrheit und Phantasie. Jeder schuf sich eine zuverlässige Quelle, aufgrund derer er die Einzelheiten der Katastrophe »haargenau, so wie sie sich ereignet hatte«, wiedererzählen konnte. Einige Leute konnten sogar ruhigen Gewissens behaupten, dass sie mit, »eigenen Ohren« von anderen, die mit »eigenen Augen« den Vorfall gesehen hatten, davon gehört hatten. Das war nicht möglich, aber sie nahmen es als eine unbestreitbare Tatsache hin. Die einzige, die den Mörder gesehen und mit ihm nach diesem blutigen Mord gesprochen hatte, war die Frau des Doktors, die sich ihm gegenüber als Dr. Samis Sekretärin vorgestellt hatte. Auch einige Patienten, die an jenem unheilvollen Tag einen Termin hatten, konnten den Mörder im Wartezimmer gesehen und eventuell ein paar Worte mit ihm gewechselt haben, aber zweifellos vor diesem brutalen Mord.

    Nach Aussagen von Dr. Samis Frau, die ein paar Tage in der Woche als Sprechstundenhilfe in der Praxis ihres Mannes arbeitete, hatte der Mann schon vor acht Uhr vor der Tür gewartet. Obwohl seit jenem erschütternden Verbrechen nicht so viel Zeit vergangen war, konnte sie sich nicht daran erinnern, ob es an jenem Tag geschneit oder geregnet hatte. Sie wusste nur, dass es kalt und der Himmel bedeckt war, denn als sie an jenem Morgen ihr Auto starten wollte, sprang es nicht an. Und weil sie es so eilig hatte, gab sie so viel Gas, dass der Motor völlig absoff. Sie stieg zornig aus dem Wagen und trat so fest gegen die Tür, dass ihr Zeh Stunden später noch schmerzte. Als sie dann mit einem Taxi zur Praxis fuhr, brannten noch die Straßenlaternen, denn der Himmel war dunkel und verhangen.

    Abgesehen von einer flüchtigen Begrüßung beim Aufschließen der Praxis wechselte sie erst gegen neun Uhr die ersten Worte mit dem Mörder. Ohne ihn anzuschauen, fragte sie ihn nach seinem Vor- und Familiennamen und danach, ob er schon einmal dagewesen war.

    Der Mann antwortete ruhig und normal: »Nein, es ist das erste Mal.« Dann hatte sie ihren Kopf gehoben, um ihn sich zum ersten Mal anzusehen. Es war nichts Auffälliges in seinem Gesicht zu erkennen. Als sie einige Stunden später den Revolutionswächtern sein Aussehen schildern wollte, erklärte sie: »Es war eines dieser normalen Gesichter, die man hundertmal am Tag auf der Straße sieht.«

    Kurze schwarze Haare, niedrige Stirn, dunkle glanzlose Augen, platte, fleischige Nase, dichter schwarzer Schnäuzer und ein Dreitagebart, der hier und da weiß schimmerte … Sie konnte sich an keine Details mehr erinnern. Sie betonte sein unauffälliges Aussehen so sehr, dass die Revolutionswächter die meisten Leute in ihrer Umgebung verdächtigten. Einige wurden sogar ohne jeglichen Beweis nur aufgrund ihrer Unauffälligkeit festgenommen und monatelang, das heißt bis zur sogenannten Identifizierung des eigentlichen Mörders, eingesperrt. Als Frau Sami diese Geschichte vertrauenswürdigen Freunden erzählte, fügte sie leise hinzu: »Als ich ihm eine Akte anlegte, tat mir der Typ irgendwie leid. Ich dachte mir, wieder so ein armer Schlucker, der vor der Last des Lebens Schutz bei Tabletten gesucht hat …«

    Gegen zehn Uhr hatte sie wieder einen flüchtigen Blick auf den Mann geworfen und in trockenem, offiziellem Ton gesagt: »Ins Zimmer eins bitte! Sie sind dran.«

    Der Mann hatte sich aber nicht von der Stelle gerührt. Während er sich umschaute, sagte er in einem um Entschuldigung bittenden Ton: »Wenn Sie erlauben, möchte ich als Letzter zum Doktor. Ich habe auch ein privates Anliegen und möchte nicht die Zeit der anderen Damen und Herren in Anspruch nehmen …«

    Alle Patienten sagten ohne Ausnahme bei der Vernehmung zu den Revolutionswächtern: »Nach diesen Worten habe ich ihn mir genauer angesehen. Er sah redlich, scheu und etwas verrückt aus … Jedenfalls dachte ich, dass er für unsere Gesellschaft nicht geeignet sei.«

    Als die Untersuchungsrichter nach dem Grund dieser Einschätzung fragten, argumentierten alle: »Wer verzichtet heutzutage schon auf sein Recht zugunsten anderer?«

    Als sich gegen zwölf Uhr kein Patient mehr im Wartezimmer befand und sie ihre Teetassen und die ihres Mannes gespült, die Küche und ihren Arbeitstisch aufgeräumt und sich selbst etwas zurechtgemacht hatte, stand sie auf der Schwelle des Untersuchungszimmers, von wo sie sowohl ihren Mann als auch seinen Mörder sehen konnte, und sagte: »Ich gehe die Kinder abholen.«

    Im gleichen Augenblick machte der Mann eine merkwürdige Bewegung, die sie nicht genau sehen konnte, da sie ihn nur aus den Augenwinkeln beobachtete. Es kam ihr so vor, als würde er einen langen, festen Gegenstand im Futter seiner Jacke zurechtlegen. In Gedanken daran, dass die privaten Angelegenheiten der Patienten sie nichts angingen, achtete sie jedoch nicht weiter darauf. Der Mann, der anscheinend in Verlegenheit geriet, bückte sich sofort und fing an zu husten. Während sie zum Tisch ging, um ihre Handtasche zu nehmen, fiel ihr sein vorgetäuschter Husten auf. Sie sagte nichts, blickte sich aber um, um nachzusehen, ob irgendetwas in der Praxis fehlte. Der einzige Verdacht, der plötzlich in ihr aufgekommen war, war der, dass der Mann etwas gestohlen haben könnte. Als sie das Briefmesser mit dem Elfenbeingriff; das sie mit Gewissheit unter seiner Jacke wiederzufinden glaubte, sowie andere wertvolle Gegenstände auf ihren Plätzen vorfand, bat sie Gott um Vergebung, dass sie ihn zu Unrecht verdächtigt hatte. Dann schloss sie alle Schubladen und sagte zu dem Mann, dass er im Untersuchungszimmer auf den Doktor warten könne.

    Sie sah ihn nicht aufstehen, denn sie ging schon in entgegengesetzter Richtung zur Tür. Sie glaubte zunächst, das Echo ihrer eigenen Schritte auf dem Mosaikboden des Wartezimmers zu hören. Als sie aber stehenblieb, um ihre Haare unter dem Kopftuch zu ordnen, stellte sie fest, dass noch immer das Geräusch hastiger, überstürzter Schritte in ihren Ohren widerhallte.

    Als sie später an diese schicksalhaften Augenblicke mit all ihren scheinbar banalen Details dachte, machte sie sich Vorwürfe wegen ihrer schrecklichen Naivität und Unachtsamkeit, die jenes beispiellose Verbrechen ermöglicht hatten. Sie erzählte einer ihrer besten Freundinnen – die zuerst schwören musste, ihr Geheimnis nicht zu verraten – von ihren quälenden Gewissensbissen und Schuldgefühlen. Sie sagte zu ihr: »Ach, wenn mir doch nur aufgefallen wäre, warum einer, der den ganzen Tag sang- und klanglos rumgesessen und sogar auf seinen Platz in der Reihenfolge verzichtet hat, es zum Schluss plötzlich so eilig hat, als würden seine Kinder in klirrender Kälte auf der Straße stehen!«

    Wenn sie mit einem Bruchteil jenes Verdachts, der den Mann plötzlich in ihren Augen in einen Dieb verwandelt habe, an diese einfache Möglichkeit oder Annahme gedacht hätte, wäre sie bestimmt zurückgekehrt und hätte in Wirklichkeit den Mann gesehen, der über die Schwelle des Untersuchungszimmer lief und dabei einen langen, scharfen, glänzenden Dolch wie einen Degen aus dem Futter seiner Jacke herauszog.

    Sie tat es aber nicht. Sie ging durch den Haupteingang hinaus und zog die Tür sanft hinter sich zu, ohne sich dabei umzudrehen. Dann stieg sie die paar Treppen hinunter, die sie ein Leben lang hinauf- und hinuntergegangen war und die sie aus Gewohnheit immer unbekümmert gezählt hatte. Und sie fing an, sie wieder zu zählen. Das Treppenhaus war kalt und dunkel und wurde nur von dem dämmerigen Lichtschein, der vom bedeckten Himmel herabfiel, etwas aufgehellt. Der duftende, angenehme Geruch von angebratener Pfefferminze stieg die Treppen hoch. Nun konnte sie mit Gewissheit sagen, dass es an jenem Tag nicht geschneit, sondern geregnet hatte. Denn sie erinnerte sich noch recht gut daran, dass am Rande des frischen flachen Fladenbrotes, das noch dampfte und das ein Nachbar in der gegenüberliegenden Bäckerei gekauft hatte, einige Regentropfen zu sehen waren. Der Nachbar war den ganzen Weg gerannt, damit das Brot nicht nass wurde. Nun zog er sich atemlos auf der Treppe zur Seite, um sie durchzulassen. Als er seine Wohnungstür hinter sich schloss, stellte sie fest, dass der Pfefferminzgeruch aus seiner Wohnung kam. Sie schloss ihre Augen und atmete tief ein. Doch bevor sie sich gewohnheitsgemäß sagte: »Wie wunderbar schmeckt Suppe bei dieser Kälte«, hörte sie die herzzerreißenden Schreie Dr. Samis. Sie wusste nicht mehr, wie viele Treppenstufen sie hinabgestiegen und wie gehetzt sie nach den schmerzerfüllten Schreien wieder hinaufgerannt war.

    Den Rest dieses blutigen Geschehens wissen nun schon alle. Obwohl am Tatort des Verbrechens außer dem brutalen Mörder und seinem unschuldigen Opfer, die nun beide – der eine gewaltsam und der andere freiwillig – das Reich der Toten erreicht haben, sonst niemand anwesend war, erklärten die Verantwortlichen des Regimes einen Monat später, nach dem ersten schweren Winterschnee, plötzlich, dass der Mörder identifiziert worden sei, sich aber vor der Verhaftung im Brillant-Bad in Ahwas das Leben genommen habe. Die Lüge war so offensichtlich und grotesk, dass niemand sie glaubte. Deshalb versuchten die offiziellen Blätter in ihren späteren Berichten, die sie angeblich aufgrund umfangreicher Recherchen zuverlässiger Quellen verfasst hatten, den Mörder als einen Psychopathen hinzustellen, der seit Jahren an chronischen Wahnanfällen leide. Dr. Samis Frau wagte es als einzige Person, die den Mörder nach jenem brutalen, schrecklichen Mord gesehen hatte, nicht, dieser Version offiziell zu widersprechen.

    Sofort nach den herzzerreißenden Schreien ihres Mannes, die sich allmählich in dumpfes Gestöhn verwandelten, war sie hastig in die Praxis gerannt und dem Mörder begegnet, der mit der Lässigkeit eines Metzgers die Ärmel hochgekrempelt hatte und im Waschbecken seine blutbefleckten Hände und seinen Dolch wusch. Vor Grauen verschlug es ihr die Sprache. Ihr Herz pochte in wahnsinnigem Tempo. Auch mit größter Mühe gelang es ihr nicht, die Luft auszuatmen, die ihr auf halbem Wege im Hals steckengeblieben war. Sie hatte aber das Gefühl, als ob ihre Eingeweide in einer spiralförmigen Bewegung aus ihrem Rachen herausrutschten. Sie hörte das herzzerreißende Gestöhn ihres Mannes, schaute auf das verdünnte Blut, das von der glänzenden Dolchspitze des Mannes heruntertropfte, atmete den Geruch des Schweißes ein, der nach der wilden Anstrengung noch auf der engen Stirn des Mannes klebte, und fühlte sich trotzdem in der gelähmten, tauben, stummen Welt der Toten. Als sie nach größter Überwindung versuchte, in das Untersuchungszimmer zu gehen, herrschte der Mann sie an: »Bleib stehen! Rühr dich nicht vom Fleck! Was suchst du hier überhaupt? Woher kennst du den Doktor?«

    Sie antwortete aus Angst, Berechnung oder Gewohnheit, jedenfalls mühselig: »Ich bin seine Sekretärin …«

    In jenem Augenblick wusste sie selbst nicht, dass sie mit der Preisgabe der halben Wahrheit und der Verheimlichung ihrer anderen Hälfte ihr Leben gerettet hatte. Ihr fielen nun aber plötzlich der kräftige Körperbau und die in den Muskelpaketen verborgene animalische Kraft des Mörders auf, und sie wunderte sich darüber, dass sie ihn für einen normalen Menschen gehalten hatte. Sie dachte, dass er an die neunzig Kilo wiegen konnte. Als die Regierung später erklärte, dass der flüchtige Mörder sich an einer Aluminiumdusche im Brillant-Bad in Ahwas aufgehängt und Selbstmord begangen habe, wunderte sie sich noch mehr. Ihre Verwunderung galt nicht der Frage, wie solch ein brutaler, hartherziger Mensch, der in der kurzen Zeitspanne, in der sie sieben oder acht Treppen hinuntergestiegen war, dem Schädel Dr. Samis hasserfüllt achtzehn Dolchstiche zufügen konnte, sich das Leben genommen haben sollte. Nein, ihre Verwunderung galt vielmehr dem Umstand, wie eine so leichtgebaute Dusche seinem neunzig Kilo schweren Körper standhalten konnte.

    Frau Sami, die vor Angst und Schrecken noch am ganzen Leib zitterte, wollte den Mörder fragen: »Ich beschwöre Sie bei Gott, was haben Sie dem Doktor angetan?« Sie bekam aber keinen einzigen Ton heraus.

    Eigentlich verzichtete sie Sekunden später auf diese sinnlose, blöde Frage. Aber der Mörder, der anscheinend solche Szenen in Wirklichkeit oder in der Welt der Phantasie öfter erlebt hatte oder jedenfalls wusste, dass er auf diese erste Frage eine Antwort geben musste, sagte: »Ich habe ihn getötet … Ich habe ihn endlich getötet!«

    In seinem Ton schwebte mehr das Gefühl der Erleichterung nach Erledigung einer unangenehmen Aufgabe mit als Böswilligkeit. Dann trocknete er ganz gelassen seine Hände, schlug die Ärmel herunter und knöpfte geduldig und konzentriert zuerst seinen rechten und dann seinen linken Ärmel zu. Im weißen Licht des Waschbeckens schienen seine von dichten schwarzen Haaren bedeckten Hände aufgedunsen und erschöpft. Er sagte noch einmal: »Ich habe ihn getötet …« und hob die Schultern. Anstatt an das Waschbecken zu gehen und das Wasser, das noch weiter über die saubere, glänzende Dolchklinge floss, abzudrehen, lief er zu ihr. In der Aufregung, die in ihrem Inneren entflammte, dachte sie sich, dass sie nun an der Reihe sei. Bevor der Mann sie erreichte, bereitete sie sich schon auf den Tod vor. Sie sprach ihr Todesgebet, segnete den Propheten Mohammed und seine Anhängerschaft und bat Gott um Vergebung ihrer bewussten und unbewussten Sünden. Sie wünschte sich inbrünstig, dem Doktor – und sei es auch nur für ein einziges Mal – in der anderen Welt zu begegnen und sich bei ihm für ihre Schwäche und Hilflosigkeit seinem Mörder gegenüber zu entschuldigen. In diesem Augenblick wusste sie selbst, dass sie schreien und die Nachbarn alarmieren musste. Sie hätte den Mörder angreifen und mit Zähnen und Klauen gegen ihn ankämpfen müssen. Sie hätte mit ihrem Schuhabsatz auf seinen Schädel einschlagen, mit den Fingernägeln sein Gesicht zerkratzen und mit den Zähnen ein Stück von seinem Fleisch abbeißen müssen. Wenn sie ihn in die Hoden treten könnte, hätte sie die Gelegenheit, zu ihrem Arbeitstisch zu laufen, den Stiftebehälter aus Marmor zu nehmen und gegen seinen Kopf zu werfen. Vielleicht würde sie seinen Schädel treffen! Wenn der Mann sich vor Schmerz noch auf dem Boden wälzte, hätte sie das Briefmesser aus der Schublade holen und, bevor der Mann zu sich käme, schnell zu ihm laufen und das Messer immer wieder in seine Halsschlagader stechen und herausziehen können … hineinstechen und herausziehen … hineinstechen und …

    Aber in jenem Augenblick tat sie nichts von alledem. Als sie später ihren Freunden jenes ungeheure, blutige Ereignis erzählte, hatte sie schon aufgehört, sich selbst Vorwürfe zu machen. Sie hatte oft von dem Racheakt geträumt, dessen Heldin sie selbst war, und war dann immer mehr von der Sinnlosigkeit dieser rachsüchtigen Anstrengung überzeugt. Sie sagte: »Alles wäre sinnlos gewesen. Der Doktor wäre ja doch nicht wieder lebendig geworden!«

    Während sie dumpf, benommen und aufgeschreckt betete, sah sie den Mörder plötzlich auf halbem Weg kehrtmachen und zum Waschbecken laufen. Sie versuchte, ihren Speichel, der wie ein dünnes Rinnsal an ihren Lippen hinunterlief, hinunterzuschlucken. Ihre Augen sahen alles verschwommen, und ihre Lider waren so schwer, dass sie sie nur mit großer Mühe aufschlagen konnte. Sie fühlte die mächtige Brandung eines aufgewühlten Meeres an ihre Schläfen schlagen. Das Gestöhn Dr. Samis hörte sie nicht mehr. Als sie allmählich alles vergaß, sah sie den Mörder, der den Wasserhahn zudrehte und mit der linken Hand die glänzende Klinge des Dolches an seinem Hosenbein abtrocknete. Hierüber erzählte sie später einer Freundin: »Ich habe mich eigentlich gefreut. Ich dachte, dass ich nun zumindest erfahren würde, wie der Doktor ermordet wurde.«

    Aber der Mörder hatte gar nicht vor, sie umzubringen. Als er plötzlich blitzschnell zurückkam, weil er irgendetwas vergessen zu haben schien, lief er schnell zu ihr, packte sie an der Hand und zog sie zur Abstellkammer. Er warf seinen Dolch in eine Ecke, denn mit dem Dolch in der Hand konnte er die Tür nicht öffnen. Auch in diesem Moment sagte Frau Sami nichts und leistete keinen Widerstand. Sie wurde nur wie ein schwerer Sack Reis hinter ihm hergezogen. Die Abstellkammer war dunkel, feucht und voller Krimskrams. Der Mörder zerschlug zuerst die Deckenlampe, stieß dann die scharfen Glassplitter vorsichtig zur Seite und sagte zynisch: »Wenn du nicht vor Hunger und Durst sterben willst, bring dich vorher mit diesem Zeug um! Schneid dir die Halsschlagader durch, wenn du auf mich hören willst!« Er fing an zu kichern.

    Aber die Kammer erwies sich als ungeeignet, denn ihr Schloss war kaputt. Der Mörder spuckte auf den Boden, trat gegen die Tür und zog die Frau so brutal hinter sich her, dass ihre rechte Wange gegen den Türrahmen prallte. Ein Schmerz, der ihr senkrecht in die Wangenknochen stach, brachte sie plötzlich wieder zu Bewusstsein. Sie fühlte, dass sich noch ein Rest an schwacher Lebenskraft in ihrem Körper regte, der ihre Hände und Füße bewegte und ihr Blut zum Sieden brachte. Dann fing sie zu toben an. Sie schrie, trat um sich und spuckte dem Mann in den Nacken, der einem alten braunen und dicken Baumstamm glich. Während er sie hinter sich herzog, schrie sie ihn an: »Mörder, du bestialischer Mörder, du grausamer, bestialischer Mörder!« Sie schüttete den ganzen Hass und Zorn aus, der sich unter den Wogen der Angst, Verzagtheit und Fassungslosigkeit in ihrem Herzen aufgestaut hatte. Sie hatte ihrer Freundin gesagt: »Wenn ich das nicht getan hätte, wäre mein Herz zerplatzt!«

    Aber Frau Sami war zu spät zur Besinnung gekommen. Denn sie hatte erst dann zu schreien begonnen, als der Mörder sie in der Toilette eingesperrt hatte und mit seinem blankgeputzten Dolch geflohen war. Die einzige Spur, die er hinterlassen hatte, war der leblose Körper Dr. Samis, der mit aufgeschlitztem Schädel und zerdrücktem Hirn neben dem Untersuchungstisch auf dem Boden lag, Die dichten Schlingen des grünen Teppichbodens hatten wie ein Schwamm das ganze Blut aufgesogen, das aus den aufgeschnittenen Adern seines Hirnes herausgespritzt war. Die Ärzte stellten in ihrem Obduktionsbericht fest, dass der Mörder ihn mit achtzehn Dolchstichen ermordet hatte. Die rechte Hand des Doktors war wie ein Bratenstück regelrecht in Stücke geschnitzelt worden.

    Nach der Rekonstruktion des Falles stellten die Ärzte fest, dass der Doktor nach den ersten Schlägen, die den Schädel zertrümmert und den Zugang zur weichen Hirnhaut erleichtert hatten, seinen rechten Arm gehoben und zu seinem Schutz auf den Schädel gelegt hatte. Der Mörder hatte anscheinend nichts gegen diese Abwehrhaltung unternommen und statt dessen die Wucht seiner Hände noch gesteigert, die aufgrund einer lebenslänglichen Praxis mit der Handhabung von Zangen, Schraubenziehern und -schlüsseln vertraut zu sein schienen. Die nächsten Stiche drangen durch die Bindehaut zwischen dem Zeige- und dem Mittelfinger hindurch, durchbohrten den Schädel und gelangten bis zu zwei Zentimeter tief in die weiche Schicht des Hirns.

    In diesem Augenblick muss Dr. Sami jenes herzzerreißende Geschrei mit der Kraft seines ganzen Leibes herausgestoßen haben, das Frau Sami später zwischen der achten und neunten Treppe gehört haben wollte. Denn genau in diesem Augenblick muss die scharfe Spitze des Dolches die erste Nervenfaser, die sich wie eine Spinnwebe über das ganze Gehirn ausbreitet, zerrissen haben und in die senkrechten Kreise des vegetativen Nervensystems eingedrungen sein. Bis zum achten oder neunten Stich muss der Arm in dieser Haltung auf dem Schädel gelegen haben, und dies nicht, weil der Doktor selbst die Hand

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