Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Wege, die man nicht vergißt: Entdeckungen und Erinnerungen
Wege, die man nicht vergißt: Entdeckungen und Erinnerungen
Wege, die man nicht vergißt: Entdeckungen und Erinnerungen
Ebook329 pages3 hours

Wege, die man nicht vergißt: Entdeckungen und Erinnerungen

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Der neue Grieser: eine spannende Spurensuche

Hier die 4,5 km lange Prater-Hauptallee, dort die nur zwei Hausnummern zählende Fahnengasse, die Österreich um ein Haar in einen Krieg gestürzt hätte: Dietmar Grieser, der "Meister der Miniatur" (NZZ), lädt in seinem neuen Buch zu einer spannenden Spurensuche ein.
Er führt uns auf berühmte ebenso wie auf zahlreiche erst von ihm entdeckte Verkehrswege: von den Tummelplätzen seiner eigenen Kindheit und Jugend über die "Via Sacra" der Mariazell-Pilger bis zum legendären "F-Weg", der 1942 Franz Werfel und vielen weiteren politisch verfolgten Künstlern das Leben gerettet hat.

Die Kontroversen um spektakuläre Straßenumbenennungen fehlen ebensowenig wie Exkurse in die Welt der Briefträger, Straßenhändler, Schnorrer und Hausierer. Fernziele sind Tennessee Williams' "Endstation Sehnsucht" und Fellinis "La Strada" ebenso wie die Catfish Row aus der Oper "Porgy and Bess" und die Wüstenroute von El Alamein.

Alles in allem: ein Erlebnisbericht der Sonderklasse.
LanguageDeutsch
Release dateAug 11, 2015
ISBN9783902998897
Wege, die man nicht vergißt: Entdeckungen und Erinnerungen

Read more from Dietmar Grieser

Related to Wege, die man nicht vergißt

Related ebooks

Historical Fiction For You

View More

Related articles

Related categories

Reviews for Wege, die man nicht vergißt

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Wege, die man nicht vergißt - Dietmar Grieser

    Dietmar Grieser

    Wege, die man nicht vergißt

    Dietmar Grieser

    Wege, die man nicht vergißt

    Entdeckungen und Erinnerungen

    Mit 36 Abbildungen

    AMALTHEA

    Für Axel und Jana

    Besuchen Sie uns im Internet unter:www.amalthea.at

    © 2015 by Amalthea Signum Verlag, Wien

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker, OFFBEAT Umschlagmotiv: Auguste Renoir, Chemin montant dans les hautes herbes (1876/77): © Musée d’Orsay, Paris, France/Bridgeman Images Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten Gesetzt aus der 11,15/14,91 pt New Caledonia

    ISBN 978-3-99050-001-9

    eISBN 978-3-902998-89-7

    Es gibt keine Orte,

    es gibt nur Menschen.

    Alfred Polgar

    Wege entstehen dadurch,

    daß man sie geht.

    Franz Kafka

    Wenn du unterwegs etwas ansehen willst,

    geh nicht zu gierig darauf los.

    Sonst entzieht es sich dir.

    Laß ihm Zeit, auch dich anzusehen.

    Es gibt ein Aug in Aug auch mit den sogenannten Dingen.

    Franz Hessel

    Inhalt

    Vorwort

    Wien

    Servus

    Erste Schritte in Wien

    Die Wundertüte

    Von Durchhäusern, Abkürzungen und Schleichwegen

    »Nieder mit der Trikolore!«

    Die Fahnengasse

    Not, Gemeinheit, Mord

    Hugo Bettauer und »Die freudlose Gasse«

    Eine gute Marke

    Die Phorusgasse

    Der erste Sprayer

    Joseph Kyselak und die Schwarzenbergallee

    Am besten sonntags

    Die Prater-Hauptallee

    Die gelbe Straße

    Veza Canetti zwischen Mazzes-Insel und Himmel

    Stirb und werde

    Straßenumbenennungen in Wien

    Ladies first

    Von der Bertha-von-Suttner-Gasse bis zum Josefine-Hawelka-Weg

    Straßenhändler, Schnorrer und Hausierer

    Ein Exkurs

    Kindheit und Jugend

    Der Nabel der Welt

    König-Ottokar-Straße

    Kein leichter Weg

    Kriegsende am Starnbergersee

    Freunde, Schüler, Lehrer

    »Traumatische« Straßen

    Balduins Niederlage

    Wenn ich durchs Kuhviertel von Münster streife …

    Draußen im Land

    Via Sacra, Jakobsweg und Penny Lane

    Mariazell und das alte Österreich-Ungarn

    Da capo

    Auf Mozarts und Goethes Spuren

    Folgenschwere Panne

    Die »Kaiserstraße« Wien–Olmütz

    Trinkgeld für Ihre Durchlaucht

    Die Kaiserpromenade von Gastein

    Holpriger Zitatenschatz

    Der Wittgensteinpfad

    Draußen in der Welt

    Von der Via Appia zur Via Mala

    Berühmte alte Verkehrswege

    Die elegante Welt

    Prunk zwischen St. Petersburg und Wien

    Todeskandidaten, Attentäter, Helden

    Albert Speers »Ankunft« auf dem Kahlenberg

    Der F-Weg

    Franz Werfel und die Fluchthelfer von Banyuls

    Am Ort der Handlung

    Von St. Petersburg nach Triest

    Wilde Klage

    Am Schauplatz von Georg Trakls Gedicht »Grodek«

    Die Desire Street

    Auf den Spuren von Tennessee Williams’ »Endstation Sehnsucht«

    Zugunsten der Briefträger

    Die Heldendenkmäler von Tarajalejo und Hauterives

    »Straßen machen mir Angst …«

    Ödön von Horváths Tod auf den Champs-Elysées

    Die Catfish Row

    Auf den Spuren von Porgy und Bess

    Lindenstraße ohne Linden

    Von Chaplin bis Fellini, von San Francisco bis Wien

    Von Marathon bis Red Bull

    Alte und neue Rennstrecken

    Dein Name sei Roml

    Die Wüstenroute von El Alamein

    Wo der Weihnachtsstern ein Baum ist

    Kreuz und quer durch Taiwan

    Bild- und Textnachweis

    Personenregister

    Vorwort

    Es führt kein Weg zurück« lautet der (deutsche) Titel eines seiner letzten Romane. Thomas Wolfe selbst hat dessen Veröffentlichung nicht mehr erlebt: Mit kaum vierzig war der im Millenniumsjahr 1900 geborene US-amerikanische Erzähler aus der Generation der Faulkner-Steinbeck-Hemingway von der Bühne abgetreten. Hatte er in den elf Jahren nach Erscheinen seines Hauptwerks »Schau heimwärts, Engel«, das ihn 1929 über Nacht berühmt gemacht hatte, seinen Sinn geändert?

    In den 1970er Jahren, da der Name Thomas Wolfe noch in aller Munde war, habe ich mich intensiv mit diesem Autor beschäftigt, bin ihm sogar (für mein Buch »Schauplätze der Weltliteratur«) in seinen Geburtsort Asheville (North Carolina) nachgereist, um an Ort und Stelle Wolfes Romanfiguren nachzuspüren. Welche der beiden Botschaften, die er uns Lesern hinterlassen hat, mag die letztgültige sein? »Schau heimwärts, Engel« oder »Es führt kein Weg zurück«?

    Ich denke, es gelten beide. Und so ist auch der mit dem vorliegenden Buch unternommene Versuch, jener vielen Wege zu gedenken, die ich in meinem Leben als Schriftsteller wie als Privatperson beschritten, erforscht oder auch nur im Gedächtnis bewahrt habe, ein ambivalentes Unternehmen: Es wird ebenso von Straßen, Gassen, Pfaden und anderen Verkehrswegen die Rede sein, an die ich wohl nie zurückkehren werde, wie auch von solchen, zu denen es mich beständig »heimwärts« zieht, und sei es nur in der Erinnerung.

    Da sind zum einen diejenigen, die uns allen zufolge ihrer Berühmtheit vertraut sind: Champs-Elysées und Downing Street, Via Dolorosa und Newski-Prospekt.

    Dann die Örtlichkeiten, die wir aus der Geschichte, aus Literatur, Malerei und Film zu kennen glauben: Don Quijotes Windmühlenroute, Federico Fellinis »La Strada« oder Greta Garbos »Freudlose Gasse«. Wo wurden die Fernsehserien »Lindenstraße« und »Die Straßen von San Francisco« gedreht?

    Und schließlich die Verkehrswege, die unser eigenes Alltagsleben mitgeprägt haben: der Schulweg von anno dazumal, die Route, die unsere Hochzeitskutsche genommen hat, die sagenumwobenen Wiener »Durchhäuser« mit ihren Schleichwegen und Abkürzungen, die »Via Sacra« der Jahr für Jahr aufgeschobenen Mariazell-Wallfahrt, die gerade eben jubilierende Wiener Ringstraße oder die 4,5 Kilometer lange Prater-Hauptallee.

    Bleiben wir im Lande, im alten wie im neuen Österreich: Wie verlief die Kaiserstraße nach Olmütz, wo 1848 der 18jährige Franz Joseph den Thron bestiegen hat? Welchen Weg hat Mozarts Postkutsche auf der vom Dichter Eduard Mörike nachempfundenen Reise nach Prag genommen? Was hat es mit der ominösen Fahnengasse im Zentrum Wiens auf sich, die es nur zu zwei Hausnummern gebracht, aber um ein Haar einen Krieg ausgelöst hat? Wem begegnen wir auf der Kaiserpromenade von Gastein? Was steckt hinter der »Gelben Straße«, die Veza Canetti in ihrem gleichnamigen Roman porträtiert hat? Wem verdanken Franz Werfel und zahlreiche weitere NS-verfolgte Künstler den legendären »F-Weg«, der ihnen 1942 das Leben gerettet hat? War Ödön von Horváths Diktum »Straßen machen mir Angst« Aberglaube oder Prophetie?

    Auf vier Kontinenten war ich unterwegs, um Topoi wie Tennessee Williams’ »Endstation Sehnsucht«, die Catfish Row aus der Oper »Porgy and Bess«, den Schauplatz von Georg Trakls Gedicht »Grodek« und die Wüstenpiste von El Alamein aufzufinden. Ihnen allen und vielen mehr wollen wir in diesem Buch nachspüren – in Österreich, in den Nachbarländern und im Rest der Welt. Ihren Namen, ihrer Geschichte, ihrer Aura, ihren Schicksalen, ihren Geheimnissen.

    Wien

    Servus

    Erste Schritte in Wien

    Wien, Herbst 1957. Vor zweieinhalb Jahren hat Österreich seine Unabhängigkeit wiedererlangt, fünf Monate darauf haben die letzten Besatzungssoldaten das Land verlassen. Auch sonst stehen alle Zeichen auf Normalität: Staatsoper und Burgtheater spielen wieder in ihren Häusern, erstere unter der Direktion von Herbert von Karajan. In den Straßen hört man viel Ungarisch: Von den 115 000 Flüchtlingen, die Österreich nach dem Volksaufstand vom vergangenen Jahr über die Grenze gelassen hat, ist rund ein Zehntel im Transitland geblieben.

    Unter den Toten des Jahres sind Bundespräsident Theodor Körner (den sein Parteifreund Adolf Schärf abgelöst hat), der aus Wien stammende Schauspieler und Regisseur Erich von Stroheim oder der Operettenkomponist Ralph Benatzky. In den Nachrufen auf Käthe Dorsch ist auch in den deutschen Zeitungen die alte »Watschengeschichte« aufgewärmt worden: Die aus Nürnberg stammende Burgtheater-Lady hatte den gefürchteten Starkritiker Hans Weigel auf offener Straße zur Rede gestellt und geohrfeigt.

    1957 ist auch das Jahr der Wiederentdeckung eines lange vergessenen Doppelgenies: »Der Gaulschreck im Rosennetz«, eines der Hauptwerke des Maler-Dichters Fritz von Herzmanovsky-Orlando, erobert den Buchmarkt; das Kabarettensemble Qualtinger/Bronner/Kreisler/Martini eilt von Erfolg zu Erfolg.

    Wien entdeckt die Rolltreppe: Eröffnung der Opernpassage (1955)

    Ein Problem, das ich auch von Deutschland her kenne, bilden die vor allem große Städte verunsichernden »Halbstarken«; der Wiener Polizeipräsident kündigt erstmals »Maßnahmen« gegen den sich ausbreitenden Furor an. Auch auf dem Bausektor hat sich einiges getan: Die Ringstraße erhält ihre ersten Fußgängerpassagen, die Wiener lernen mit Rolltreppen umzugehen.

    In dieser Zeit – exakt: am 23. Oktober 1957 – treffe ich in der österreichischen Hauptstadt ein (ohne im geringsten zu ahnen, daß dies für immer sein wird). Ich komme mit dem Nachtzug an, sehe mich auf dem Westbahnhof nach der Gepäckaufbewahrung um: Es ist ein Schalter, noch kein Schließfach. Weg mit dem Koffer, in keinem Hotel fände ich zu so früher Stunde Einlaß. In der Wechselstube tausche ich mein bißchen Geld um; die Umgewöhnung von D-Mark auf Schilling habe ich schon während der Zugfahrt geübt.

    Den Weg vom Bahnhof zu meiner provisorischen Bleibe, dem mir empfohlenen Billighotel zwischen Fleischmarkt und Schwedenplatz, habe ich noch daheim auf meinem Stadtplan markiert; ich lege die halbstündige Strecke – quasi zur Probe – zu Fuß zurück, versuche eine erste grobe Annäherung an die mir fremde Stadt. Ich lasse mir dabei Zeit, nehme bewußt auch Umwege in Kauf, schaue genau hin, höre genau zu.

    Im Vergleich zu den deutschen Metropolen, die ich kenne, fällt mir hier die geringe Zahl noch sichtbarer Kriegsschäden auf; vor allem in der Mariahilferstraße, die ich in ihrer vollen Länge durchschreite, sind die Reihen dicht geschlossen. Stafa, Gerngroß, Herzmansky heißen die prall gefüllten Kaufhäuser. Ist »Kummer«, so denke ich, eine glückliche Wahl für einen Hotelnamen? Und wäre in Frankfurt oder Berlin eine Apotheke »Zur Maria vom Siege« denkbar?

    Im Matador-Haus nahe der Neubaugasse (von dem ich nicht ahnen kann, daß ein Untermietzimmer im Hintertrakt demnächst mein erstes festes Quartier sein wird) dreht sich ein hölzernes Miniaturmodell des Riesenrades: Licht und Mechanik im Schaufenster des renommierten Spielwarengeschäfts bleiben auch nachtsüber eingeschaltet. Auf einer der Plakatsäulen ist für »Jänner« eine große Konzertveranstaltung angekündigt: Werde ich von nun an den »Januar« aus meinem Wortschatz tilgen müssen?

    Im Café »Servus« neben dem Haydn-Denkmal nehme ich das Frühstück ein; daß die landestypische Grußformel mit scharfem »s« artikuliert wird, muß ich erst noch lernen. Das Hörnchen, das ich in Deutschland verzehrt habe, heißt in Österreich Kipferl, und der Einspänner, den ich auf der Getränkekarte finde, ist keine Kutsche (deren es zwar viele im Wiener Stadtbild gibt, doch wieder unter einem eigenen Namen: Fiaker).

    Auch die Speisekarten, die ich auf den Aushängen der meinen weiteren Weg säumenden Gasthäuser studiere, gehen über von Exotismen: Die Kartoffeln heißen hier Erdäpfel, die Klöße Knödel, die Frikadellen Faschiertes, die Schnittbohnen Fisolen und der Blumenkohl Karfiol. Die Weinstube in der Theobaldgasse verwirrt mich mit Angeboten wie G’spritzter, Ribiselwein und Refosko; beim Metzger, der hier als Fleischhauer firmiert, bekäme ich kein »Kasseler«, sondern G’selchtes, auch mit Blunzen und Klobassen weiß ich vorderhand nichts anzufangen, und am meisten irritiert mich, daß nicht einmal die Wiener Würstchen Wiener heißen, sondern Frankfurter. Beim Gemüsehändler müßte ich statt Rapunzel- einen Vogerlsalat und statt Meerrettich Kren, beim Lebensmittelhändler statt Quark Topfen, statt Pflaumenmus Powidl und statt Hefe Germ verlangen, und das Ganze bekäme ich nicht etwa in eine Tüte, sondern in ein Sackerl eingepackt. Das Bier trinkt man nicht aus Humpen, sondern aus Seideln oder Krügerln und den Kaffee nicht aus Tassen, sondern aus Häferln oder Schalen. Soll ich mich beim Mittagessen auf Risiken wie Einmachsuppe oder Vanille-Rostbraten einlassen?

    Mein erster Weg durch Wien zieht sich – der vielen Abschweifungen wegen – in die Länge, ich hätte gar zu gern etwas zum Naschen in der Manteltasche. Doch Vorsicht: Bonbons sind in Wien etwas anderes als Zuckerln, und schwer auszusprechen ist es auch.

    Das Studium der Gedenktafeln, die an zahlreichen Häusern der Mariahilferstraße angebracht sind, trägt zu meiner Bildung bei: An den Geburtshäusern von Ferdinand Raimund und Josef Strauß kann ich meinen Wissensstand testen, und sollte ich ärztliche Hilfe benötigen, informieren mich die Schilder der »Doktoren der gesamten Heilkunde« nicht, wie ich es von Deutschland gewohnt bin, über ihre Praxis-, sondern über ihre Ordinationszeiten. Der enge kleine Laden, in dem ich mir meine Zigaretten besorge, heißt Trafik (mit Betonung auf der zweiten Silbe), und daß die Putzerei keine Boutique für modischen Schnickschnack, sondern eine chemische Reinigung ist, werde ich spätestens dann kapieren, wenn ich meine, zu dieser Zeit einzige, Jacke (sprich: Sakko) mit Fleischtunke (sprich: Bratensaft) bekleckert (sprich: angepatzt) habe.

    Von den Firmenschildern der Posamentierer und Plissierer lasse ich mich nicht schrecken – in der Hoffnung, auf deren obskure Dienste ebenso verzichten zu können wie auf die Angebote der Galanteriewarenhandlung und der Petit-Point-Stickerei. Der Mantel, den ich an diesem kalten und windigen Oktobermorgen trage, ist schon ein bißchen abgeschabt – ob ich mir vielleicht, meinem Gastland zu Ehren, eine jener Lodenpelerinen zulegen sollte, wie sie hier stark verbreitet sind? Ich präge mir für alle Fälle die österreichische Übersetzung ein: Wetterfleck. Klingt gut.

    Späte Fünfzigerjahre: Noch sind viele der Wohnhäuser, an denen ich vorüberkomme, tagsüber offen, die Mieter nicht durch Gegensprechanlagen abgeschirmt. Ich betrete einige der Häuser, mache mir Notizen. Wenn ich erst einmal ein Dach überm Kopf und die ersten Bekanntschaften geschlossen haben werde, will ich mit deren Hilfe meinen Fragenkatalog abarbeiten: Was, zum Beispiel, ist der Unterschied zwischen Treppe und Stiege, was versteht man unter Mezzanin? Ist es ein Medikament gegen Schlafstörungen?

    Die erste Hälfte meiner Strecke ist geschafft, ich biege von der Babenbergerstraße in den Ring ein. Ah, da steht eine Telefonzelle! Höchste Zeit, meiner Familie in Deutschland meine Ankunft zu melden. Doch so einfach ist das nicht. Wie tausende und abertausende Touristen vor und nach mir scheitere auch ich an den Tücken des außerhalb Österreichs unüblichen Zahlknopfs. Ich verschiebe mein Ansinnen auf den Nachmittag; im Hotel wird man mir bei dem Versuch, ein »interurbanes« Gespräch zustandezubringen, sicherlich zur Hand gehen. Die Straßenbahnen mit ihren auch während des Fahrens offenen Waggons schleppen sich so langsam dahin, daß beherzte junge Leute zwischen den Stationen auf- und abspringen. Und in der Kärntnerstraße mit ihren eleganten Geschäften und Lokalen muß ich aufpassen, daß ich vor lauter Schauen und Staunen nicht unter die Räder komme: Wiens Nobelmeile ist noch für den Autoverkehr freigegeben.

    An die Glastür eines Ladens ist ein Zettel geheftet: »Tüchtige Bedienerin gesucht!« Ich fühle mich in ferne Zeiten versetzt: Bedienerin? Ja, hat die Putzfrau in diesem Lande höhere Pflichten, von denen ich deutscher Provinzler keine Ahnung habe? Vor meinem geistigen Auge ersteht das aus plüschigen Gesellschaftsromanen des 19. Jahrhunderts vertraute Bild der im Luxus schwelgenden und mit Donnerstimme und Zimmerglocke ihr Personal herumkommandierenden Grande Dame – sollte das in Wien noch immer so sein? Die prachtvollen Feudalbauten der Ringstraße, an deren Architektur ich mich nicht sattsehen kann, aber auch die Entrees der stolzen Bürgerhäuser zwischen Rotenturmstraße und Fleischmarkt sprächen dafür: edle Hölzer, gemusterte Fliesen, blinkendes Messing, altertümliche Aufzugkabinen mit Notsitz und Spiegel.

    Über dieser Frage und vielen anderen, die sich auf meinem Erkundungsgang aufgetürmt haben, nähere ich mich dem Ziel: Hier irgendwo, zwischen einem pittoresken Bierlokal und der mystisch anmutenden Griechenkirche, muß jene versteckte steinerne Treppe zu finden sein, deren Stufen zu »meinem« Hotel hinabführen. Dort werde ich mich allerdings erst gegen Mittag einfinden, den Meldezettel ausfüllen und mein Zimmer beziehen. Nr. 32 hat man mir geraten, es ist das billigste: fensterlos und unterm Dach. Bis dahin habe ich noch volle vier Stunden vor mir – ich werde sie dazu nutzen, auch andere Routen auszuprobieren, meinen Horizont zu erweitern. Erst dann werde ich den Koffer vom Westbahnhof abholen und mich der großen Aufgabe stellen, in Wien seßhaft zu werden. Der erste Schritt dazu ist getan.

    Die Wundertüte

    Von Durchhäusern, Abkürzungen und Schleichwegen

    Als ich 1958, in meinem zweiten Wiener Jahr, von der Mariahilferstraße in den 3. Bezirk umzog (in dem ich nach wie vor lebe), ließ ich nichts unversucht, meine neue Bleibe bis zu den verstecktesten Gassen und verschwiegensten Plätzen zu erkunden. Auf dem Weg von der Landstraße zur parallel verlaufenden Hainburgerstraße, den ich jedesmal durchschritt, um zu meiner Apotheke, zu meinem Elektrohändler oder zu meiner Bücherei zu gelangen, entdeckte ich eines Tages eine Abkürzung, die keine Gasse, sondern nur eine Art Passage war, die auf der Höhe der Nr. 73 durch das betreffende Haus führte. »Freiwillig bis auf Widerruf gestatteter Durchgang« las ich auf den an den beiden Zugängen montierten Schildern – baß erstaunt über die Generosität des Hausbesitzers, der es zuließ, daß wir Fußgänger die knapp hundert Meter auf dessen Privatgrund zurücklegten. Sind sie also doch nicht solche Tyrannen und Blutsauger, als die ich aus den Chroniken, Liedern und Anekdoten vom alten Wien den allseits gefürchteten Stand der Hausherren kennengelernt hatte?

    »Freiwillig bis auf Widerruf gestatteter Durchgang«: eines der 144 Wiener »Durchhäuser«

    Der Durchgang, von dem ich berichte, war alles andere als einladend: Allerlei Gerümpel säumte den Weg, das Kopfsteinpflaster war von jahrzehntelanger Benützung ausgetreten und holprig, und bei Schnee- und Eisbelag war das Terrain überhaupt zu meiden. Außerdem war er, wie ebenfalls den Schildern an den beiden Toren zu entnehmen war, nur montags bis freitags geöffnet – und auch da nur tagsüber. Dann aber war das sogenannte Durchhaus für jeden, der’s eilig hatte, eine willkommene Abkürzung.

    1991, mit der Inbetriebnahme der U-Bahn-Linie 3 und der Eröffnung der Station Rochusgasse, war es damit vorbei. Die Erbauer der neuen Verkehrsverbindung legten parallel zu »meinem« Durchhaus einen eigenen Fußweg an, und es war abzusehen, daß nunmehr jedermann diese hochmoderne, sehr viel breitere und vorzüglich asphaltierte Variante wählen würde. Mit nur wenigen Ausnahmen, und eine dieser Ausnahmen war ich. Obwohl der neue Weg der ungleich benützerfreundlichere war, blieb ich in einer schwer erklärbaren, wohl von Gewohnheit und Sentimentalität bestimmten Anhänglichkeit dem alten treu – jedenfalls solange er weiterhin zugänglich war, immerhin noch einige Monate. Dann aber wurde, von einem Tag auf den anderen, der »freiwillig gestattete Durchgang« geschlossen, die Schilder an den beiden Zugängen wurden abmontiert, und die zwei betreffenden Häuser waren von Stund an Häuser wie alle anderen auch: Privatgrund, der nur noch für die Hauseigentümer, für deren Mieter und deren Gäste offenstand.

    Ich trauere der nun seit 24 Jahren aufgelassenen Wegvariante bis heute nach. Und noch etwas: Ich hatte bei dieser Gelegenheit meine Liebe zu diesem Spezifikum der Wiener Alltagslogistik entdeckt: zu den (auch im Österreichischen Wörterbuch mit einem eigenen Eintrag bedachten) »Durchhäusern«.

    Ich hatte den Begriff schon vorher gekannt – jedoch nur im übertragenen Sinne: »Durchhaus« – so sagte man im Volksmund, um Örtlichkeiten zu bezeichnen, an denen ein ständiges Kommen und Gehen herrscht. »Das ist ja das reinste Durchhaus!« vernahm ich mit einem Unterton aus Klage und Bedauern, wenn ich von Familien hörte, die in einem fort Gäste bewirteten und Besuchern Quartier boten – für mich, den geborenen Solipsisten, der reine Horror.

    Ganz anders die »richtigen« Durchhäuser, deren es nach offizieller Zählung 144 in Wien gibt: die meisten und auch romantischsten in der Inneren Stadt, schon deutlich weniger in den Bezirken 2 bis 9 und nur noch vereinzelt an der Peripherie.

    Doch bleiben wir zunächst noch einen Augenblick in »meinem«, dem 3. Bezirk. Da wäre vor allem der Sünnhof zwischen Landstraßer Hauptstraße und Ungargasse zu nennen: ein 170 Meter langer Biedermeierkomplex, der in puncto Geschlossenheit und Attraktivität jegliche Konkurrenz aussticht. Einst ein »Gewerbehof«, in dessen Erdgeschossen Schuster, Schneider, Korbflechter und Blumenbinder, Glaser, Tischler und Steinmetz ihrem Tagwerk nachgingen, pulsiert hier seit einem in den frühen 1980er Jahren realisierten Hotelneubau frisches Leben. Nur die Glaskuppel, die an der Kreuzung zu Baumannstraße und Pfarrhofgasse das Gassengeflecht hätte überdachen sollen, ist aus den Bauplänen gestrichen worden.

    Auf die Uhr blicken muß ich, wenn ich die Abkürzung zwischen Rochusgasse und Pfarrhofgasse nützen will: Hier schließt der Hausbesorger Punkt 21 Uhr das Tor und öffnet es erst wieder um 6 Uhr früh, wenn die Putzfrauen anrücken, um

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1