Armut hier und heute: Ein Deutschlandreport
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About this ebook
Die Armut in Deutschland wächst. Betroffen sind Arbeitslose, aber auch für Erwerbstätige steigt das Armutsrisiko. Die Journalistin Adelheid Wedel zeigt in ihrem neuen Buch, was dies für den Einzelnen bedeutet - theoretisch und ganz konkret.
Sie führte Interviews mit Menschen, die in unterschiedlicher Weise betroffen sind: Neben der 1-Euro-Jobberin kommt eine freischaffende Künstlerin zu Wort, eine alleinerziehende Mutter kennt andere Facetten von Armut als ein Student, der es schwer hat, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Dem Eintritt ins Rentenalters folgen häufig finanzielle Sorgen.
Mut machen jene Betroffene, die aufzeigen, wie es trotz prekärer finanzieller Verhältnisse gelingen kann, Zuversicht und Perspektive zu wahren, und damit sozialer Ausgrenzung und Resignation zu entgehen. Gleichzeitig werden jedoch auch die Grenzen im Kampf gegen Armut - als Schatten, der sich schlimmstenfalls auf alle Lebensbereiche legt - deutlich.
Das Besondere am Buch: es findet ein Perspektivenwechsel statt. Ein Kulturwissenschaftler, eine Lehrerin, eine Psychologin, ein Rechtsanwalt, ein Künstler und ein Arzt denken darüber nach: Ist jemand, der alles, auch seine Informationsquellen reduzieren muss, noch in der Lage, am demokratischen Diskurs einer Gesellschaft mitzuwirken? Immer wieder geht es um das Wechselverhältnis zwischen Geld, Arbeit und persönlicher Zufriedenheit. Vorschläge für eine Politik, die eine freiere Entfaltung ermöglichen könnte, kommen u. a. vom Unternehmer Götz Werner, der auf sein vieldiskutiertes Modell des bedingungslosen Grundeinkommens verweist. Gedanken von Philosophen und Literaten aus Vergangenheit und Gegenwart erweitern den Blick auf ein (leider) aktuelles Thema.
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Book preview
Armut hier und heute - Adelheid Wedel
Anhang
Das Recht des Stärkeren ist das stärkste Unrecht.
von Ebner-Eschenbach
Geleitwort
Heute gehen in Deutschland die einen daran kaputt, dass sie zu viel arbeiten müssen, die anderen daran, dass sie keine Arbeit mehr finden. Die einen haben Reichtumssorgen, die anderen Armutssorgen. Diese Zweiteilung der Gesellschaft kann längerfristig wieder Klassenkämpferisches wachrufen. Wie soll es also weitergehen? Aus Empörung kann Destruktion werden – oder aber politischer Mut zum Widerstand und »Umgestalten«.
Wir müssen grundlegend überdenken, was Arbeit für uns bedeutet, wenn es stimmt, dass wir tatsächlich am Ende der Arbeitsgesellschaft angelangt sind, wie es viele Wissenschaftler angesichts der seit Jahren ansteigenden Arbeitslosenzahlen prophezeien.
Arbeit als sinnstiftendes Tätigwerden des Menschen in einer gewissen Kontinuität und Arbeitsplatzsicherheit befindet sich in einem dramatischen Wandlungsprozess, wenn es für die jüngeren Generationen immer weniger »feste Jobs« gibt und sie neue »Gelegenheitsarbeiter« mit beliebiger räumlicher Verfügbarkeit werden.
Arbeit bietet uns Menschen die Möglichkeit der Selbstfindung, Selbstbestätigung und Sinnerfüllung, sichert Anerkennung, selbst wenn wir durch die nur an Profit orientierten Arbeitsprozesse längst von unserem Arbeitsprodukt entfremdet sind. Der Mensch möchte etwas schaffen, das bleibt, während er selbst älter wird. Arbeit ist auch immer Flucht vor den Depressionen unserer Vergänglichkeit. Wird ein Mensch arbeitslos, empfindet er sich nunmehr selbst als überflüssig, verliert die Selbstachtung und Kontrolle über sich. Er wurde aus einem Sinngefüge herauskatapultiert, der Verlust von Arbeit wird von ihm als Lebensverlust bewertet.
Arbeit, Brot und Sinn bilden einen unauflöslichen Zusammenhang. Martin Luther schrieb: »Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen.«
Heute aber, angesichts der Massenarbeitslosigkeit, ist Arbeit als dominierender Sinngeber, Selbstwertbeschaffer und Gemeinschaftsproduzent überfordert. Wenn wir trotzdem daran festhalten, bewegen wir uns mit dem enormen Schwinden vergegenständlichter und Gegenstände produzierender Arbeit geradewegs in eine soziale, politische und psychologische Krise.
Anzeichen dafür gibt es bereits. Schicksale in diesem Buch belegen das. Wir können uns damit nicht abfinden. Zahlreiche Projekte hierzulande stemmen sich gegen diese Entwicklung, mildern sie mit ihren Aktivitäten. Das hilft gewiss dem einen oder anderen. Damit kommen wir aber gesamtgesellschaftlich aus dieser Notlage nicht heraus.
Zum einen ist die Politik gefragt, weiterhin »großzügig« Lösungen zu finden. (Den Banken hat man ja auch großzügig geholfen.) Regine Hildebrandt forderte als Sozialministerin Brandenburgs wieder und wieder: »Lasst uns Arbeit finanzieren und nicht die Arbeitslosigkeit.« Angesichts der noch immer enormen Wichtigkeit von Arbeit für die Menschen sollten weiterhin Arbeitsplätze organisiert und bezahlt werden – viele Tätigkeiten liegen gewissermaßen auf der Straße.
Zum anderen muss der Gedanke an ein sinnerfülltes Leben auch ohne Arbeit Raum bekommen.
In Ermangelung anderer Sinnstiftungen ist Arbeit längst zum Selbstbegründungs-Mythos unserer modernen Gesellschaft geworden. Sie dient den Meisten als alleiniger Identitätsstifter und als der Sinnanker schlechthin. So sind wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur durch den Verlust der Arbeit bedroht, sondern vielleicht mehr noch durch das (kollektive) Vakuum, das dieser in den Betroffenen hinterlässt. In den zu Wachstum gezwungenen Wirtschaftsprozessen wird Viel-Wind-Machen als Leben und Stillstehen als Tod erfahren. Wir stehen also vor einer Organisations-, Rechts-, Ökonomie-, Bildungs- und Mentalitätsfrage von epochalem Ausmaß.
Wir brauchen alternative Konzepte der Sinnstiftung. Die Arbeit an uns selbst wird in diesem Zusammenhang zur entscheidenden ersten Arbeit der Zukunft werden. Warum ist es nicht möglich, in der Pflege des Gartens, im Verreisen oder im Da-Sein für die Familie eine ähnliche Bestätigung zu finden wie im (gut bezahlten) Job? Warum können wir unser Dasein nicht auf einen neuen Grund stellen?
Noch einmal Luther, der den Beruf jedes Menschen und jeden Beruf adelte: »Von Arbeit stirbet kein Mensch. Aber von ledig und müßig gehen kommen die Leute um Leib und Leben; denn der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen.«
Wir leben in Umbruchszeiten. Wir können einem Arbeitslosen, der Familie hat, die er ernähren will, nicht unbezahlte Arbeit im städtischen Park als Alternative anbieten. Aber wir sollten gleichzeitig im Blick behalten, dass es eine Gesellschaft, in der jeder voll beschäftigt ist, nicht mehr geben wird und dass diese auch nicht als gesellschaftliches Ziel dient. Das wäre unrealistisch.
Es mag zynisch klingen, aber insofern kommt dem Grundgesetz der Bundesrepublik geradezu prophetische Bedeutung zu. Im Gegensatz zur Verfassung der DDR ist in ihm ein »Recht auf Arbeit« nicht verankert.
Appellieren wir an die staatlichen Stellen, Arbeitsplätze so geschickt und so viele wie möglich zu kreieren und um den Erhalt vorhandener Arbeitsplätze zu ringen. Aber respektieren wir auch jene, die keine Arbeit finden, weil keine vorhanden ist. Lasst uns den Gedanken pflegen und Entmutigte darin bestärken, dass wir uns mit unserer Lebenszeit in vielfältiger Weise in die Gesellschaft einbringen können. Kreativität, Stärke und Ideenreichtum, die ungenützt bleiben, bedeuten Verlust für uns alle. Die reichen Armen in diesem Buch belegen das nachdrücklich.
Ich wünsche dem Buch Verbreitung, uns allen Empathie mit den vom Schicksal niederdrückend Betroffenen und jenen ganz persönlichen täglichen Mut, Wege aus ihrer Situation heraus zu finden.
Friedrich Schorlemmer
Gedanken zur Einstimmung
Dieses Buch entstand im vergangenen Jahr. Es deutet auf einen aktuellen Prozess, den wir alle erleben. Armut draußen in der Welt aber auch um uns herum bedrückt uns, ruft uns zu Hilfe auf. Und macht uns Angst, denn der Gedanke, wann das uns selbst betreffen könnte, liegt nicht so fern, wie wir es uns wünschen. Welcher Besitz ist heute noch sicher?
Die Frage, die sich daran anschließt: Brauchen wir Besitz? Wie viel davon ist erstrebenswert? Wo beginnt der Egoismus, mit dem wir anderen etwas wegnehmen? Wie könnte Chancengleichheit im Weltmaßstab erreicht werden? Diese Aufgabe scheint riesig, ihre Erfüllung illusorisch. Und doch, wenn wir nie damit anfangen, wenn wir nicht wenigstens beginnen, uns das Problem bewusst zu machen, ja, vielleicht sogar mit unseren eigenen, manchmal auch kleinen Möglichkeiten, dagegen anzukämpfen, ist diese Welt verloren.
So große Worte müssen sein, wie klein auch jeder einzelne Beitrag sich dagegen ausnimmt. Und so will dieses Buch keineswegs das Problem lösen, aber es will anregen, sich die Problematik aus verschiedenen Gesichtswinkeln anzuschauen. Die Auswahl der Gesprächspartner folgte dem Zufall, wenngleich wir darauf achteten, dass unterschiedliche Ansichten reflektiert werden. Interessant ist dabei der Seitenwechsel: Betroffene berichten über ihre Haltung zum Thema, ihre Versuche, trotz knapper Kasse in Würde zu leben, sich nicht ausgliedern zu lassen. Einschränkend muss ich anmerken, dass ich nicht versuchte, die extrem Armen in diesem Land, Obdachlose, Hilflose, jene, die sich selbst aufgegeben haben, zu interviewen. Bei ihnen, so dachte ich, ist das Problem offenkundig, in Reportagen wird es gelegentlich geschildert. Mir ging es eher darum, auf die schleichende Entwicklung um uns herum aufmerksam zu machen.
Dabei hilft auch der Blick von Menschen, die sich von Berufs wegen mit dem Thema Armut auseinandersetzen. Das eben meinen wir mit Blickwechsel: das Thema wird von innen und außen betrachtet. Längst nicht umfassend und vollständig, aber was eine Psychologin, eine Lehrerin, ein Journalist und Kulturwissenschaftler, ein Künstler, ein Unternehmer, ein Arzt zum Thema beitragen, geht oft und auf sehr interessante Weise über die eng gestellte Frage hinaus: »Was stellt Armut mit einem Menschen an?«
Das Buch will anregen, die Gedanken, das Nachdenken zu »Armut hier und heute« fortzusetzen, damit wir uns nicht zufrieden geben mit dem Reichtum einiger. Das ganz große Wort hieße: Eine gerechte Gesellschaft zu fördern, diesen Traum seit Jahrhunderten nicht nur weiter zu träumen, sondern ihn Stück für Stück wahr werden zu lassen.
Adelheid Wedel
Man muss sein Leben aus dem Holz schnitzen, das man hat, und wenn es krumm und knorrig wäre.
Fontane
Knapp bei Kasse, aber steinreich
Interview mit Gabi, 67 Jahre, Rentnerin, ehemalige Bibliothekarin und Buchhändlerin, Potsdam
Wir treffen uns in einem Café im schönen Holländerviertel in Potsdam. Sie wohne nicht weit von hier, hatte sie mir am Telefon gesagt. Und sie gehe auch gern dorthin, manchmal nur so zum Streunen. Mein Weg ist weiter, aber vom nahe gelegenen Berlin wiederum nicht zu weit. Ich hatte keinerlei Vorstellung von Gabi; eine Bekannte hatte sie mir zum Interview empfohlen. Sie meinte: »Ihr seid euch irgendwie ähnlich, ihr werdet euch gut verstehen.« Aber sie hatte mich auch gewarnt: »Da kannst du dich frisch machen. Sie ist voller Wut.« Meine journalistische Neugier war angestachelt. Auf meine telefonische Anfrage, ob ein Interview zu ihrer gegenwärtige Lebenssituation möglich wäre, kommt als erste Antwort ein helles, leicht aggressives Lachen. »Wen interessiert das schon?« Es war deutlich Abwehr in der Stimme. »Mich interessiert es«, sagte ich tapfer, »und später vielleicht auch noch ein paar mehr Leute. Es gibt viele, die heute in einer Situation sind wie Sie. Auch das will ich mit meinen Interviews deutlich machen«. »Also gut«, sie willigte ein. Mich hatte sie verunsichert. Würde sie meine Fragen beantworten? Oder wütend abbrechen?
* * *
Hallo Gabi, ich hoffe, wir können uns ein wenig über deine Situation unterhalten?
Kommt drauf an, was du wissen willst.
Ich will dich nicht aushorchen oder bloßstellen. Mich interessiert, wie du heute lebst. Ich möchte wissen, ob es Unterschiede gibt zu deinem Leben früher. Und wenn ja, wüsste ich gern, wie du damit klarkommst. Aber erst mal der Reihe nach: Wie ist deine materielle Situation derzeit?
Wenn ich es dir ganz ehrlich sagen soll: beschissen. Ich habe mein Leben lang gearbeitet und kann nicht behaupten, jemals faul gewesen zu sein, aber die Rente, die mir rechtlich zusteht, reicht vorn und hinten nicht; genauer gesagt, sie deckt haargenau die Miete und die Krankenversicherung ab. Für alles andere bleibt nichts. Ich habe mir mit großer Mühe eine Nebenarbeit verschafft, aber die ist natürlich nicht sicher. Wenn sie mir wegbricht, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll. Das sage ich mit aller Tragik, die darin steckt. Ich habe kaum Reserven, lebe schon so bescheiden, wie es nur geht. Das allerdings fällt mir nicht schwer, das habe ich mein Leben lang so gehandhabt. Aber wenn du fürchten musst, die grundlegenden Dinge nicht mehr bezahlen zu können, wird es bitter.
Woran denkst du, wenn du »grundlegende Dinge« sagst?
Damit meine ich die notwendigsten Sachen, also die Miete muss bezahlbar bleiben, die Krankenversicherung, ich will drei Mal am Tag essen – dabei habe ich mich auf ein Minimum an Ausgaben eingestellt. Ich esse vormittags beispielsweise Haferflocken, weil die gesund sein sollen, angerührt mit Wasser. Da spare ich schon mal den Gang zum Bäcker und die Ausgabe dort – ich finde Brötchen mit einem Preis von 50 Cent enorm teuer. Kaffee? Ja, Kaffee trinke ich, aber eben nur eine Tasse. Und dann denke ich oft daran, wie es früher immer hieß: »Am Sonntag trinken wir aber mal eine gute Tasse Kaffee.« Da geht es mir doch gut, ich trinke jeden Tag Bohnenkaffee. Zum Mittagessen würde ich gern ab und zu in ein Restaurant gehen, aber das klemme ich mir – das ist einfach zu teuer und muss ja auch nicht sein. Ich koche mir oft Möhren-, Kartoffel- oder sonstige Gemüsesuppe. Ich bin ein Fan von Suppen, die würze ich sehr verschieden, und dann schmeckt es mir immer gut. Ich habe auch Freude am Kochen. Nachmittags habe ich manchmal einen Butterkeks da, dazu trinke ich eine Tasse Milch oder Tee. Und abends wird dann auch nicht mehr so viel angestellt. Oft gibt es in meinem Supermarkt – ich sage immer noch gern Kaufhalle – verbilligte Waren, mit 30 Prozent Rabatt. Die kaufe ich bevorzugt, die Wurst ist dann kurz vor dem Verfallsdatum, aber noch in Ordnung. Aufheben kann man das dann natürlich nicht. Wenn ich mir Obst kaufe, muss ich überlegen, was ich nehme und muss das Preiswerteste aussuchen. Um Heidelbeeren oder Himbeeren, die manchmal frisch angeboten werden, oder gar um Kirschen, muss ich einen Bogen machen. Da sage ich mir dann auch, dass ich das ja nun nicht so dringend brauche. Äpfel aber habe ich meistens auf Vorrat, die esse ich nach wie vor gern. Ich wundere mich nur, warum sie sich alle zum Verwechseln ähneln müssen, in meiner Kindheit haben wir sie vom Baum gepflückt, sie waren klein oder größer, bucklig und krumm, aber schmeckten herrlich. Jetzt habe ich den Eindruck, mit ihrer Eigenart wurde ihnen auch der intensive Geschmack geklaut. Aber kann sein, ich bilde mir das ein.
Ja, so viel zum Essen. Das Nächste ist die Kleidung. Klar, da kriegt man preiswerte Sachen, Tatsache ist aber auch, dass die billigsten Teile am wenigsten halten. Nach der ersten Wäsche hast du plötzlich etwas ganz anderes vor dir, entweder ist es eingegangen oder hat sich ins Unendliche ausgedehnt, es zipfelt an allen Ecken und die Farbe verschwindet auch. Ich bin mir also nicht ganz sicher, ob es sinnvoll ist, immer das Billigste zu kaufen. Für teure Ware fehlt mir der Mut, denn wenn ich da einen Fehlkauf hinlege, spüre ich das eine ganze Weile im Portemonnaie. Ich habe mich allerdings schon oft ermahnt, mich nicht nur in der untersten Preisklasse umzuschauen. Das bleibt also eine spannende Frage. Man sagt ja: »Kaufe wenig aber gut, dann sparst du am meisten.« Da muss ich mich selbst noch ein wenig erziehen.
Wie erklärst du dir deine Geldknappheit derzeit?
Das ist schnell erklärt: Es hat mit den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu tun – um es mal wertfrei auszudrücken. Genauer betrachtet ist es eben mein Pech, dass ich in der sozialistischen Gesellschaft oder einer, die sich so nannte, aufgewachsen bin. Dort habe ich mein Abitur gemacht, habe studiert, habe mich in meinen Beruf reingefuchst und war dann mit dem Leben, wie man so sagt, einigermaßen zufrieden. Ich hatte meine kleine Familie, war darauf bedacht, dass die Kinder in der Schule klarkommen, habe die beruflichen Aufgaben ernst genommen, die Arbeit gern gemacht, obwohl ich mich manchmal mit all den Notwendigkeiten des Alltags überfordert fühlte: drei Kinder, der Fulltime-Job, die eigenen Interessen – da war nicht immer leicht die Balance zu finden. Aber diese Schwierigkeiten kann ich nicht der Gesellschaft in die Schuhe schieben, alles in allem war es in Ordnung so. Du musst wissen, ich war nicht in der Partei, damit meine ich, nicht in der SED. Damit war ich nicht die Einzige in meinem Betriebskollektiv, aber es war deutlich, dass wir, wenn es um Entscheidungen ging, nicht gefragt wurden. Die Genossen hatten das Sagen.
Ich hatte mich damit abgefunden, es hat mich nicht existentiell berührt. Ich hätte ja auch, wenn ich es gewollt hätte, einen Antrag auf Aufnahme in die Partei stellen können. Aber der Preis dafür war mir zu hoch: einerseits dazuzugehören, aber andererseits die Enge der Weltanschauung noch stärker zu spüren, bis ins Private hinein – nein, das wollte ich nicht. Also blieb es bei einer mittleren Karriere, aber dafür mit einer gewissen Freiheit, die ich mir so bewahrt hatte.
Alles in allem sah ich die Schuld für die Teilung Deutschlands, die ich als schmerzlich empfand, übrigens nicht bei den »bösen Kommunisten«. Die Teilung Deutschlands war meiner Meinung nach eine Folge, man kann es auch Strafe nennen, der verbrecherischen Politik Hitlers und seiner Helfershelfer, ja der Hörigkeit eines ganzen Volkes. Es gab auch ein gewisses Interesse der Großmächte, einen Teil vom Siegerkuchen abhaben und behalten zu wollen. Ost und West waren zu Satellitenstaaten der damaligen Siegermächte geworden. Nun mussten wir dafür zahlen, dass Hitler den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen hatte, und das würde noch lange dauern. Aber – und davon war ich fest überzeugt – das sollte kein Zustand für die Ewigkeit bleiben. Deutschland musste wiedervereinigt werden, wenn es auch Jahrzehnte dauern würde, das war fest in mir verankert. Ich wusste, die deutschen einigen Wurzeln waren tiefer als eine vorübergehende politische Zweckspaltung. Dazu war ich zu sehr in der Klassik zu Hause, und die deutsche Literaturgeschichte kannte kein Ost und West. Da war Goethe vom Westen in den Osten gekommen, und gehörte allen Deutschen; Thomas Mann, in Lübeck geboren, wurde in Ost und West verehrt und der Augsburger Brecht war in den Jahren nach 1949 von den Kulturgewaltigen in Ost wie West argwöhnisch beäugt worden. Kein Wunder bei seinem unbestechlich klaren Blick auf die politische Nachkriegsentwicklung und seinem Bemühen, Klarheit in die gesellschaftlichen Vorgänge zu bringen.
Mit all diesem Wissen und den Überzeugungen war ich nach der Wende eine Altlast Ost, man setzte mich sehr schnell auf die sogenannte Abschussliste. Auch unsere Bibliothek wurde zügig für überflüssig erklärt, der Bestand fand keine Gnade bei den Siegern, die nun kamen und alles richteten. Kurzum: Ich wurde arbeitslos. Im Schreiben, das ich bekam, hieß es lapidar: »[…] kündigen wir Ihnen aus ökonomischen Gründen […]«. Punkt. Eine Situation, die Jahre vorher nicht vorstellbar gewesen wäre. Arbeitslos – das galt für mich bis dahin für die Faulen, Dummen, Arbeitsunwilligen. Nun hatte ich selbst diesen Stempel aufgedrückt bekommen.
Wie hast du dich da gefühlt?
Erbärmlich und ratlos. Auch überrollt, im ersten Moment war ich geschockt, einfach hilflos.
Hast du dennoch Hilfe bekommen?
Wenig sinnvolle. Die Freunde aus dem Westen beruhigten: »Das wird schon wieder, du gehst doch nicht unter, du doch nicht.« Ich aber hatte genau dieses Gefühl. Die Miete stieg von 130 Mark Ost auf 1.300 Westmark, zu zweit hätten wir das vielleicht aufbringen können, aber mein Partner trennte sich in jener Zeit von mir, in der Zusammenhalt so lebensnotwendig wurde. Es geschah auf ganz gewöhnliche Weise: Er hatte eine wesentlich Jüngere gefunden, die ihn über die Maßen anhimmelte. Für einen gewissen Typ von Mensch ist das vielleicht erstrebenswert, ich wusste nicht, dass auch er so tickt. Zunächst konnte ich das nicht glauben, aber das half mir nichts. Dieser in meinen Augen gleichberechtigte, liebenswerte Partner, mit dem ich noch so viel erleben wollte, machte die Tür unserer gemeinsamen Wohnung hinter sich zu. Und es bedrückte ihn offenbar nicht eine Sekunde, dass ihm ein Sohn von damals zehn Jahren traurig nachschaute.
Tja, da hatte ich einen Sack von Problemen auf meinen Schultern. Ich musste vor allem den Sohn schützen – er wünschte sich ein Kätzchen. Klar, sollte er bekommen, etwas, an das er sich schmiegen konnte. Frag mich nicht, wie schwer mir der Weg zum Tierheim fiel. Wir fanden eine kleine Hauskatze, steckten sie ins mitgebrachte Körbchen und waren nun wieder zu dritt. Die beiden älteren Schwestern waren schon ausgezogen.
Aber wer kümmerte sich um meine Defizite? Der Sohn war zu klein dafür, die Katze dazu auch nicht geeignet. Also: Selbst ist die Frau. Es war nicht leicht in einer Zeit, in der offenkundig wurde, dass man im Alltag die Ellbogen brauchte, wenn man nicht ganz und gar untergehen wollte. Man musste den Kopf hoch tragen, weinerlich aufgeben galt nicht.
Ich hatte im Alter von über 50 Jahren meine erste Kündigung in der Hand, aber es musste weitergehen.
Nachdenken. Was kann ich selbst retten? Ich ging zum Arbeitsamt, das ich heulend verließ. Ich hatte der Mitarbeiterin dort vorgeschlagen, mich umzuorientieren. Bibliothekare gab es offensichtlich damals zu viel. Ich wollte einen Kurs als Stadtführerin besuchen und eine Prüfung ablegen. Ich hatte mich genau erkundigt, wer so einen Kurs anbietet und meinte, es sei nur eine Formsache, das dem Amt mitzuteilen. Stattdessen erntete ich einen bitterbösen Blick vom Schreibtisch her: »Da müssen wir erst mal prüfen, ob Ihnen so ein Kurs zusteht und ob wir die Kosten dafür tragen werden.« Darum hatte ich gar nicht gebeten. Das Wasser stieg mir die Kehle hoch, ich fürchtete, erbrechen zu müssen und rannte raus – raus aus dem Haus, runter vom Gelände, nach Hause.
Klingt ziemlich dramatisch.
War es auch. Du wirst von einen auf den anderen Moment ausgehebelt,