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Wirtschaft zum Glück: Solidarisch arbeiten, heute, weltweit
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Wirtschaft zum Glück: Solidarisch arbeiten, heute, weltweit

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Der Kapitalismus stolpert von einer Krise zur nächsten - immer mehr Menschen zweifeln an einem Wirtschaftssystem, in dem nur der Profit zählt. Doch eine andere Wirtschaft ist möglich: Sie stellt die Bedürfnisse der Menschen und die ökologische Tragfähigkeit ins Zentrum. Wirtschaft zum Glück zeigt Beispiele aus mehreren Kontinenten. Da sind etwa die Frauen des indischen Kooperativenverbands Sewa, die sogar eine eigene Akademie aufgebaut haben. Da ist die italienische Provinz Reggio Emilia, wo Genossenschaften ein Drittel der regionalen Wertschöpfung erwirtschaften. Im österreichischen Waldviertel trotzt eine Schuhfabrik mit neuen Ideen der Desindustrialisierung. In Genf arbeiten immer mehr Bauern und Gemüsegärtnerinnen direkt mit den Konsumenten zusammen und verändern so die ganze Lebensmittelversorgung. Alternative Banken zeigen, dass auch Finanzplätze jenseits der Abzockerei möglich sind. Und in China erprobt ein Dorf den solidarischen Tourismus - gegen alle Behinderungen von oben. Texte von Susan Boos, Bettina Dyttrich, Stefan Howald, Wolf Kantelhardt, Joseph Keve, Pit Wuhrer und anderen.
LanguageDeutsch
Release dateOct 22, 2012
ISBN9783858694997
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    Wirtschaft zum Glück - Bettina Dyttrich

    www.woz.ch/d/wirtschaft-zum-glueck

    SELBSTVERWALTUNG

    UND GENOSSENSCHAFTEN

    IN DER SCHWEIZ UND

    IN DEUTSCHLAND

    Genossenschaften in der Schweiz

    Stumpen für die Massen

    Genossenschaften haben in der Schweiz eine lange Tradition. Heute reicht die Palette von selbstverwalteten Genossenschaftsbetrieben über traditionelle Alpgenossenschaften bis zu den Detailhandelsriesen. Dennoch gibt es Verbindendes.

    Von Stefan Howald

    Vom selbstverwalteten alternativen Kleinbetrieb bis zum Großverteiler: Genossenschaften prägen die Wirtschaft mit. In einem Land mit großer genossenschaftlicher Tradition lohnt sich in Zeiten der Krise ein Blick zurück in die Geschichte dieser Rechtsform. Denn wer weiß, vielleicht werden daraus bald wieder »Inseln der Zukunft«, die aufzuschütten an Popularität gewinnt. Oder entlassene ArbeiterInnen erinnern sich dieser Methode der Selbsthilfe.

    Die Genossenschaft ist eine Rechtsform, eine Körperschaft, die »die Förderung oder Sicherung bestimmter wirtschaftlicher Interessen ihrer Mitglieder in gemeinsamer Selbsthilfe bezweckt«, wie es im Schweizerischen Obligationenrecht heißt. Jeden Gewinn, den die Genossenschaft erarbeitet, muss sie an ihre Mitglieder verteilen. Keine Aufhebung, aber eine Einschränkung des Profitprinzips.

    Konsumvereine für Unfreie

    In der Eidgenossenschaft steckte von Beginn weg die Genossenschaft. Das war zuerst einmal ein politisches Bündnis, aber dann auch eine soziale Institution: Alpkorporationen, Allmenden, Sennereigenossenschaften. Die freie Vereinigung der Freien. Die Unfreien hatten freilich das Nachsehen.

    Die Zahl der Unfreien wuchs mit der industriellen Revolution. Am 18. Oktober 1851 zeichnete der Sozialreformer Karl Bürkli den ersten Aktienschein des Konsum-Vereins Zürich. Vorangegangen waren Versuche in Genf, Glarus und Basel, die sich ihrerseits auf die englischen Pioniere von Rochdale beriefen. 1844 hatten 28 Weber aus Rochdale bei Manchester auf Anregung des englischen Frühsozialisten Robert Owen eine Konsum- und Spargenossenschaft gegründet, um ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit gegenüber den Fabrikbesitzern zu stärken. Ein paar Jahre später ging es auch in der Schweiz darum, den verarmten Massen verbilligtes Brot und gelegentlich auch verbilligte Stumpen anzubieten.

    Bürkli initiierte zudem die Zürcher Kantonalbank (ZKB) – gegen Alfred Eschers Schweizerische Kreditanstalt und unter dem Slogan »Volksbank statt Herrenbank«. Die Reform des Banken- beziehungsweise Kreditwesens ging mit dem Genossenschaftsprinzip parallel, angeregt durch frühsozialistische Theorien, im Falle der ZKB aber eher kleingewerblich orientiert. Auf Vorschlag von Bürkli schafften es die Genossenschaften in die 1869 angenommene Zürcher Kantonalverfassung: »Der Staat fördert und erleichtert die Entwicklung des auf Selbsthülfe beruhenden Genossenschaftswesens.« Von solcher Progressivität lässt sich heute nur noch träumen.

    Eine wacklige dritte Säule

    Dabei hatten die Genossenschaften zur Strategie des Kampfs um die Gegenmacht gehört. Sogar Karl Marx beurteilte die frühe Kooperativbewegung als Sieg der Arbeit über das Kapital. »Der Wert dieser großen Experimente [der Kooperativfabriken] kann nicht überschätzt werden«, erklärte er 1864 in der Gründungsadresse der Internationalen Arbeiterassoziation, wobei er allerdings beifügte, sie bedürften der Entwicklung auf nationaler Stufenleiter. 1870 gab es in der Schweiz rund vierzig Arbeiter-Produktivgenossenschaften.

    Doch mit der Entwicklung der kapitalistischen Fabrikindustrie und den enttäuschenden Erfahrungen der ersten Genossenschaften setzte sich die marxistische Strategie durch, die radikale Umwälzung der Wirtschaft anzustreben. Die Arbeiterselbsthilfe wurde durch die Kampfmittel der Gewerkschaften und der unabhängigen Arbeiterpartei abgelöst. 1895 scheiterte ein Antrag, die Selbstorganisation als Hauptstrategie im Programm der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz zu verankern. Stattdessen wurde auf die Machteroberung im Staat gesetzt. Zwar wurden Genossenschaften neben Partei und Gewerkschaften als dritte Säule beschworen, aber praktisch war diese Säule ziemlich wacklig. Höchstens Druckereien hielten sich die GenossInnen als Genossenschaften. Das galt auch für die reformistisch werdende Arbeiterbewegung.

    Die Genossenschaft als Ziel und Weg wurde in der religiös-sozialen Bewegung aufrechterhalten, insbesondere durch Dora Staudinger (1886–1964). In Deutschland geboren, seit 1912 in Zürich lebend, wurde sie zu einer führenden Theoretikerin und Praktikerin des Genossenschaftswesens in der Schweiz. In der vom religiössozialen Theologen Leonhard Ragaz geprägten Schrift Ein sozialistisches Programm (1919) meinte sie, dass die sozialistische Wirtschaft eine genossenschaftliche sein werde. Deren Basis sollten die Konsumgenossenschaften bilden, ergänzt durch Produktivgenossenschaften. Gerade für die Frauen würden durch die Konsumgenossenschaft Haushalt und Arbeitswelt verknüpft. In Genossenschaften existiere ein anderes Verhältnis zur Arbeit, und die Entfremdung werde gewissermaßen aufgehoben. Anfang der 1920er-Jahre wurde Staudinger als erste Frau in den Vorstand der größten Baugenossenschaft der Schweiz, der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ), gewählt. Die SP nahm genossenschaftliche Anregungen in ihre 1942 vorgestellte Programmergänzung »Neue Schweiz« auf, die aber, nach der Einführung der Sozialversicherungen und der einsetzenden Nachkriegskonjunktur, zu Makulatur wurde.

    Soziales Kapital

    Die genossenschaftliche Selbsthilfe blieb pragmatisch: verbilligte Konsumgüter, Versicherungen gegen Krankheit und Tod, später Hilfe beim Wohnungsbau. Konsumgenossenschaften begannen zu florieren. Der Allgemeine Consum-Verein Basel, 1865 gegründet, erwies sich als erfolgreicher als die Zürcher Konkurrenz und dominierte den 1890 entstandenen Verband Schweizerischer Konsumvereine, der 1970 zu Coop umbenannt wurde – heute die zweitgrößte Detailhandelskette der Schweiz. Noch weiter, auf die 1825 gegründete Murtener Mobiliar-Assekuranz-Kasse, geht die Schweizerische Mobiliar zurück.

    Die Landwirtschaft, einst Vorreiterin, hatte organisatorisch erst mit der Agrarkrise in den 1880er-Jahren nachgezogen, als der Zerfall der Agrarpreise und die Zunahme der Hypothekarverschuldung sowie ausbleibende Bankkredite eine verstärkte Selbsthilfe erzwangen. Die meisten landwirtschaftlichen Genossenschaften sind mittlerweile bei der Fenaco mit den Detailhandelsketten Volg und Landi gelandet. Unterstützung erhielten sie durch die Raiffeisenbanken, die um 1900 von Deutschland aus in der Schweiz Fuß fassten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden zudem Wohnbaugenossenschaften, deren Blüte allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann.

    Personell waren die Konsum- und Wohnbaugenossenschaften stark mit der Arbeiterbewegung verbunden, ideell immer weniger. 1941 wandelte Gottlieb Duttweiler seine 1925 gegründete Migros AG in eine Genossenschaft um. Nach anfänglichem Misstrauen liebäugelten die Linke und Duttweiler kurz miteinander, was dieser mit dem Begriff des »sozialen Kapitals« ausdrückte. Mittlerweile ist die Migros mit einem Umsatz von 25 Milliarden Franken (21 Milliarden Euro) die größte Handelskette der Schweiz und hat im Lebensmittelsegment einen Anteil von rund 25 Prozent, knapp mehr als Coop. Sie ist immer noch als Genossenschaft organisiert, wird faktisch aber als hierarchisches Unternehmen geführt. Die Fenaco ihrerseits liegt mit einem Umsatz von 5,5 Milliarden Franken (4,6 Milliarden Euro) hinter Migros und Coop an dritter Stelle, gerät aber wegen ihrer Dumpingpreise für ProduzentInnen und ihrer Arbeitsbedingungen immer wieder in die Kritik.

    Ganzheitlich, alternativ

    Harziger lief es im Produktionsbereich. Schon in den Anfängen war die Selbsthilfe zumeist Nothilfe gewesen. Arbeitslose taten sich zusammen, Angestellte, deren Betrieb geschlossen werden sollte, führten ihn als Genossenschaft weiter. Das war als eine Art Arbeitslosenversicherung politisch umstritten, weil Unternehmer und Staat aus der Pflicht entlassen wurden.

    1932 half der Gewerkschaftsbund, den Schweizerischen Verband sozialer Baubetriebe, bestehend aus siebzehn Genossenschaften, zu gründen. Deren Schwergewicht lag in der weniger kapitalintensiven Baubranche. 1956 umfasste der Verband 46 Mitgliederbetriebe, danach ging es langsam bergab. Heute hat er als Verband genossenschaftlicher Bau- und Industrieunternehmungen fünfzehn Mitglieder: Maler- und Schreinerbetriebe, Metall- und Gartenbau.

    Als gesellschaftspolitisches Konzept erhielt die Genossenschaftsbewegung mit der 68er-Bewegung neue Impulse. Unter dem Stichwort Wirtschaftsdemokratie wurden die beiden Strategien Mitbestimmung und Selbstverwaltung verfochten. Genossenschaft wurde nun zumeist als selbstverwalteter Betrieb übersetzt. Als 1979 eine Bestandsaufnahme der Bewegung erschien, war sie mit einem Fragezeichen versehen: »Inseln der Zukunft?« Neue Betriebe hatten sich vor allem in Nischen gebildet, im expandierenden Dienstleistungssektor, im Gastrobereich, in den Medien. Diese Nischenbetriebe waren nicht mit der traditionellen Arbeiterbewegung verbunden, ihr Anspruch zielte zuweilen über die Realpolitik hinaus auf einen ganzheitlichen alternativen Lebensentwurf: die Aufhebung der Entfremdung, wie es schon Dora Staudinger formuliert hatte.

    1980/81 nahm die SP den abgerissenen Faden auf und rückte die Selbstverwaltung ins Zentrum einer programmatischen Debatte. Das SP-Programm von 1982 nennt sie immer noch: »Selbstverwaltung ist ein grundlegendes Prinzip, mit dem wir die Demokratie erweitern und vertiefen wollen.« Dazu heißt es schlicht und ergreifend: »Wir setzen uns für selbstverwaltete und genossenschaftliche Betriebe ein.« Praktische Auswirkungen dieser Sätze lassen sich kaum feststellen.

    Genossenschaftliches Vermögen

    In der Schweiz gibt es gegenwärtig gut 12 000 Genossenschaften, das entspricht zweieinhalb Prozent der eingetragenen Firmen. Davon sind 5300 landwirtschaftliche und 1700 Wohnbaugenossenschaften. Dem industriellen Sektor lassen sich 430 Genossenschaften zuordnen, dem Dienstleistungssektor 1900, inklusive 600 Raiffeisenbanken. Von der Wirtschaftskraft her sind vor allem Coop und Migros bedeutsam, und sie weisen mit 2,5 beziehungsweise 2 Millionen auch die größten Mitgliederzahlen auf. Die Wohnbaugenossenschaften verwalten gut fünf Prozent des Wohnungsbestandes in der Schweiz, in den Städten Biel und Zürich rund zwanzig Prozent.

    Die Großgenossenschaften erlauben eine bescheidene Mitsprache und bewirken eine gelinde Zähmung des Kapitals. Die Schweizerische Mobiliar zum Beispiel fährt eine vorsichtige Geschäftsund Anlagestrategie. Das Gegenbeispiel bildet die Schweizerische Rentenanstalt, 1997 aus einer Genossenschaft in eine AG und zur Swiss Life umgewandelt, seither im Börsenkasino aufgestiegen und abgestürzt.

    Wer mehr erwartet: Der »Migros-Frühling«, der sich nach 1980 für eine Demokratisierung der Migros-Strukturen sowie die stärkere Berücksichtigung ökologischer Kriterien einsetzte, ist längst verblüht, und die 2003 entstandene Nachfolgeorganisation Sorgim kommt nicht richtig in Fahrt. Die Migros engagiert sich mittlerweile »für eine umweltgerechte Produktion und faire Arbeitsbedingungen«, anerkennt aber nicht einmal die Gewerkschaften. Und Coop, auf »marktwirtschaftliche, ökologische und ethische Grundsätze« verpflichtet, hat Verdienste im Ökobereich, drückt das soziale Gewissen aber vor allem beim Sponsoring aus.

    95 000 »Kunden«

    Bleibt das Salz im Brot: die alternativen Kollektive. Das Branchenverzeichnis der WOZ, das jedes Jahr vor dem 1. Mai erscheint, listet rund 180 alternative Betriebe mit genossenschaftlichen Formen auf, im Handwerk, in den Medien, in der Kultur. Als größtes alternatives Unternehmen gilt mittlerweile Mobility, die Carsharing-Genossenschaft, mit rund 95 000 »Kunden«. Natürlich, miteinander fahren ist besser als alleine, doch radikal und alternativ mag man das nicht wirklich nennen.

    Zum Trost: Selbstverwaltung ist ein ständiger Prozess. Sie kann nur in der Praxis geübt werden. Was die Gefahr des Scheiterns einschließt. »Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern« (Samuel Beckett).

    Selbstverwaltung in Deutschland

    Jenseits von Rendite

    und Umweltzerstörung

    In Deutschland beschäftigten sich viele Linke lange Zeit lieber mit theoretischen Analysen als mit konkreten Alternativen. Doch inzwischen engagieren sich immer mehr BürgerInnen für eine solidarische Ökonomie.

    Von Wolfgang Kessler

    Eigentlich hat der herrschende Kapitalismus bei den Deutschen schlechte Karten: Nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahre 2010 wünschen sich 88 Prozent der Bevölkerung eine »andere Wirtschaftsordnung«. Praktische Veränderungen dauern jedoch ihre Zeit. Traditionell diskutieren linke KapitalismuskritikerInnen lieber über Theorien, als sich auf die Praxis einzulassen. Viele MittelständlerInnen und große Teile der Arbeiterbewegung ziehen die Sicherheit des Systems dem Risiko grundlegender Veränderungen vor. BürgerInnen, die ihre wirtschaftliche Zukunft in die eigenen Hände nehmen, haben es deshalb nicht immer leicht. Aber ihre Zahl wächst. Und nicht nur dies: Mit den Krisen der Finanzindustrie und der Atomwirtschaft wächst auch ihr Einfluss.

    Der Streit zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis tobt in Deutschland seit 150 Jahren. Schon Ende des 19. Jahrhunderts formierte sich eine genossenschaftliche Bewegung mit zwei großen Flügeln: Der bürgerliche Teil der Bewegung zielte auf unternehmerische Selbsthilfe. Aus ihm gingen schließlich die Volks- und Raiffeisenbanken hervor.

    Auf der anderen Seite feierten die Konsumvereine der Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts große Erfolge. Über vereinsmäßige Zusammenschlüsse kauften sie en gros billig ein, um den Preisvorteil an ihre Mitglieder weiterzugeben. In einigen Fällen führten die Konsumvereine auch angeschlagene Betriebe in Eigenregie weiter. Führende Mitglieder der Konsumvereine wie der Gewerkschafter Adolph von Elm sahen in diesen aber mehr als Selbsthilfeorganisationen: »Die Unterstützung der genossenschaftlichen Eigenproduktion bedeutet den Beginn der Umbildung des kapitalistischen Wirtschaftssystems«, sagte er 1910. Doch kaum hatte er dies ausgesprochen, verdächtigten ihn bereits führende Gewerkschafter, aus Arbeitern gute Kapitalisten machen zu wollen.

    Dieser Verdacht ist auch heute der wichtigste Vorbehalt vieler GewerkschafterInnen gegenüber Genossenschaften und Alternativbetrieben. Er sorgte auch dafür, dass die Konsumvereine nach ihrem Verbot durch die Nationalsozialisten in der Bundesrepublik keine Rolle mehr spielten. Zwar entstanden nach dem Krieg neue Formen sogenannter Gemeinwirtschaft. Mit der Anpassung der Gewerkschaften an das Wohlstandsmodell Deutschland in den 60er- und 70er-Jahren verloren sie jedoch an Bedeutung. Der Versicherungskonzern Volksfürsorge und die Wohnungsbaugesellschaft Neue Heimat wurden zu ganz normalen Unternehmen. Die Neue Heimat entwickelte sich sogar so normal, dass sie als Folge eines Korruptionsskandals abgewickelt werden musste.

    Ideale und Anpassung

    Die Gewerkschaften entwerfen längst keine alternativen Wirtschaftsmodelle mehr. Sie setzen alles daran, den Anteil der Beschäftigten am Ertrag der Wirtschaft zu vergrößern: höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, kürzere Arbeitszeiten, Ausbau des Sozialstaates. Betrachtet man die zunehmenden Verbesserungen für die Lohnabhängigen und die wachsende Ausgestaltung des Sozialstaates vor der Jahrtausendwende, so war diese Strategie lange Zeit durchaus erfolgreich.

    Allerdings passten sich die Gewerkschaften – ihre Führung ebenso wie die meisten Mitglieder – dabei der Denklogik des Kapitalismus an: Mehr produzieren, mehr arbeiten, das Geld gerechter verteilen – und alles wird gut. Diese Logik haben sie so verinnerlicht, dass sie allen Versuchen, eine wirtschaftliche Gegenwelt von unten aufzubauen, kritisch gegenüberstehen. Das galt zunächst für die studentische 68er-Bewegung, die mit ihrer grundsätzlichen Kritik am US-Imperialismus und am deutschen Wirtschaftssystem die Republik erschütterte. Auch wenn manche Studierende eine Zeit lang in Fabriken arbeiteten, blieb der Schulterschluss zwischen ihnen und den ArbeiterInnen aus.

    So hinterließen die Gedanken der 68er in den Gewerkschaften nur wenige Spuren, wohl aber in der beginnenden Alternativbewegung. Während die StudentInnen »den Marsch durch die Institutionen« predigten, wollten die Alternativen antikapitalistische Prinzipien in einer ökonomischen Gegenwelt umsetzen: kein Privateigentum in der Hand von wenigen, Beteiligung aller an den Gewinnen, gleiche Löhne für alle, keine Hierarchien, Aufhebung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, ja der Arbeitsteilung überhaupt – das waren die Ideale vieler selbstverwalteter Betriebe, die Mitte der 1970er-Jahre entstanden. Dazu gehören die Berliner tageszeitung taz ebenso wie die Schäfereigenossenschaft Finkhof, die noch heute im Allgäu mit zehn Mitgliedern sowie zahlreichen Auszubildenden eine produktive Kommune bildet. Bis zu 12 000 selbstverwaltete Betriebe zählten ExpertInnen in den 80er-Jahren. Darunter fanden sich in erster Linie Dienstleistungsbetriebe wie Buchläden, Teestuben, Kneipen, Verlage, Druckereien, Umzugskollektive oder auch Autowerkstätten. Nur in die industrielle Produktion drangen die Ideale der Alternativbewegung kaum vor.

    Dennoch blieb die Gegenwelt eine Nische. Von den Gewerkschaften wurden die selbstverwalteten Betriebe als »Selbstausbeuter« und »Saboteure sozialer Normen« abgelehnt – nicht immer zu Unrecht, denn um Tarifverträge kümmerten sich die meisten Alternativbetriebe wenig. Frank Heider von der Universität Frankfurt ermittelte für die Alternativbetriebe in den 80er-Jahren einen monatlichen Durchschnittslohn von 1250 DM netto, umgerechnet etwa 1000 Franken. Entsprechend unattraktiv waren sie denn auch für viele bürgerlich orientierte Beschäftigte, die die Sicherheit etablierter Betriebe dem »Chaos« der Alternativen vorzogen. Dennoch bewies die Alternativbewegung, dass ein Wirtschaften jenseits von Rendite, Hierarchien und Privateigentum möglich ist.

    10 000 selbstverwaltete Betriebe

    Diese Erfahrungen konnte auch der Neoliberalismus in den 90er-Jahren nicht auslöschen. Er reduzierte das Wirtschaften auf eine reine Kosten-Nutzen-Rechnung im Dienste einer möglichst hohen Rendite oft anonymer KapitaleignerInnen – und entfachte einen brutalen Konkurrenzkampf. Viele Buchläden oder etwa Druckereien hielten dem Druck in ihren Branchen nicht stand. Andererseits kommt Frank Heider für Hessen zu dem Ergebnis, dass Ende der 90er-Jahre nur sechzehn Prozent der selbstverwalteten Betriebe aus dem Markt ausgeschieden waren. Auf Deutschland übertragen, konnten sich mithin 10 000 selbstverwaltete Betriebe halten. Viele jedoch relativierten die Ideale der ersten Stunde – zum Beispiel die Berliner taz: Nach einer Krise 1992 wurde die tageszeitung Verlagsgenossenschaft gegründet, um die Zeitung auf eine breite finanzielle Grundlage zu stellen. Jetzt bestimmen nicht mehr allein die 250 Beschäftigten über die Geschicke des Unternehmens, sondern auch rund 11 000 GenossInnen. Redaktion und Verlag führten eine klare Arbeitsteilung ein, samt Chefredaktion – und zahlen unterschiedliche Löhne, die aber weiterhin unter dem Branchentarif liegen. Doch die Zeitung behauptet sich am Markt.

    Dass der Geist des Wirtschaftens jenseits von Profit und Privateigentum lebt, zeigte sich in der Krise des Finanzkapitalismus des vergangenen Jahrzehnts. Mit ihr begann die Renaissance der Genossenschaften. Kaum hatte der US-Finanzinvestor Fortress in Dresden knapp 47 000 Wohnungen von der Stadt erworben, gingen andernorts die fast tot geglaubten Wohnungsbaugenossenschaften in die Offensive und machten deutlich: Wir wollen Wohnungen für Menschen, nicht für SpekulantInnen.

    Mit der Finanzkrise rückte auch die älteste deutsche Alternativbank in den Blickpunkt des Geschehens: die GLS Gemeinschaftsbank mit Sitz in Bochum. Getragen von 22 000 Genossenschaftsmitgliedern, lehnt die 1975 gegründete Alternativbank Spekulationsgeschäfte ab und setzt auf einen anderen Umgang mit Geld (siehe auch »Banken, die anders ticken«, Seite 153). Bei ihr können SparerInnen entscheiden, ob sie ihr Geld in erneuerbare Energien, in Kindergärten und Schulen, in Wohnprojekte für ältere Menschen oder in andere Projekte investiert sehen wollen.

    Für die GLS-Bank ist Geld kein Mittel zur Vermehrung von Geld, sondern ein Medium für die Beziehung zwischen Menschen. Deshalb organisiert die Bank auch Zusammenschlüsse von Leuten, die gemeinsam Projekte finanzieren wollen. Zahlreiche Schulen, Wohnanlagen für ältere Menschen oder Energieprojekte sind auf diese Weise entstanden. Nicht zuletzt dieser andere Umgang mit Geld ermutigte Attac, Occupy und andere soziale Bewegungen zu der Aktion »Krötenwanderung – Bank wechseln, Politik verändern«. Die Umsätze der vier Alternativbanken GLS, Umweltbank, Ethikbank und Triodos haben sich in wenigen Jahren auf deutlich mehr als fünf Milliarden Euro verdoppelt.

    Jedes Jahr 200 neue Kooperativen

    Noch stärker ist der Aufbruch in der Energiepolitik. Ermutigt durch die feste Einspeisevergütung für sauberen Strom und unterstützt von der Antiatombewegung, ließen sich die BefürworterInnen der Energiewende auch von dem jahrelangen Atomkraftkurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht frustrieren. Im Gegenteil. Zwei der vier bundesweiten Ökostromanbieter mit der höchsten Glaubwürdigkeit sind Genossenschaften: Greenpeace Energy und die Elektrizitätswerke Schönau (siehe »Da knirschte es im Gebälk«, Seite 177). In der Folge kam es zu einem Gründungsboom von Energieproduktionsgenossenschaften – ihre Zahl hat sich von 2001 bis 2011 auf 586 fast verzehnfacht.

    Während die nach der Katastrophe von Fukushima angekündigte Energiewende auf den Widerstand der großen Energiekonzerne stößt, wird sie unten bereits praktiziert: Stadtwerke, Bürgerwindparks oder Energiegenossenschaften gewinnen immer mehr Investoren und Kundinnen, mehr als eine Million Menschen erzeugen mit eigenen Anlagen Strom. In Berlin wollen BürgerInnen ihr Stromnetz zurückkaufen. Siebzig Landkreise mit insgesamt acht Millionen Einwohnern haben sich zu »100 Prozent Erneuerbare-Energie-Regionen« erklärt. Ihr Ziel: Eine vollständige Selbstversorgung mit erneuerbaren Energien aus der Region. Wovon die AtomkraftgegnerInnen vor fünf Jahren noch nicht einmal zu träumen wagten, ist nun Fakt: Die Macht der großen Energiekonzerne Eon, RWE, EnBW und Vattenfall schrumpft.

    Damit ist Deutschland zwar immer

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