Die Kinder gehen in die Oper: Roman
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Zweiter Weltkrieg in Wien: Verdunkelung, Feind im Anflug, Verschüttete, "Kraft durch Freude", die Hakenkreuzfahne am Rathaus, das Fallbeil im Landesgericht. Und nie gekannt, längst verstorben, eine Großmutter namens Esther. Die Spur führt mitten durchs Leben der beiden Enkelinnen. Sie gehen in die Oper. Die Oper bietet Asyl. Musik und Unwirklichkeit helfen, die Wirklichkeit zu ertragen.
Lida Winiewicz schildert packend die lebensgeschichtlichen und historischen Ereignisse einer Jugend im Kriegs-Wien und parallel das Leben der Familienmitglieder im Exil.
"Eine hochkarätige und beliebte Autorin, die sehr vielen Menschen Nachdenken und Vergnügen bereitet." Bücherschau
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Die Kinder gehen in die Oper - Lida Winiewicz
Die Stunde vor Publikumseinlass. Das ist die schönste, weiß Lili. Nur wir und die Billeteure.
Wir kennen sie, sie kennen uns, die Kinder vom Stehparterre, die stundenlang angestellt waren im Eisengestänge des »Köh« (wie schreibt sich das Ding eigentlich?), die Türen sind zu, Sitzplatzleute dürfen noch nicht herein, aber wir sind schon da, vollzählig, die ganze Bande, der Bruno, der Charly, die Friedl mit ihrer Mutter (die Friedl kommt nie ohne Mutter), die Gusti, der Xaver, der Heinz, die Molly, der Eberhard, die Oper gehört jetzt uns, mit allem Rot, allem Gold, der Venus in ihrer Muschel, der Stille vor dem Sturm.
Ein einzelner Musiker übt eine Passage.
»Fagott?«
»Oboe«, sagt Marion, die Große. »Die Stelle aus der Ouvertüre.«
»Ich weiß.«
Lili ist gekränkt.
»Ich hab die Stelle erkannt. Nur die Instrumente verwechselt.«
Marion nimmt Lilis Hand. Lili hat kleine Hände. Marion sieht es nie ohne Rührung, fühlt sich an ihre Pflichten als große Schwester erinnert, an ihre Verantwortung.
Lili lächelt.
Die Welt ist in Ordnung, trotz Krieg, trotz Hakenkreuzfahne am Rathaus, trotz Furcht und Verlassenheit.
Die Kinder, Magie des Orts, sind vor allem Übel gefeit, unantastbar unter dem Glassturz. Bald wird es Musik schneien. Und Glück.
Der Vater der Kinder sitzt im Café, unter Platanen, irgendwo in Südfrankreich.
Hätte Henryk, sein eigener Vater, vor nahezu hundert Jahren nicht die Jüdin Esther Levy geheiratet, wäre er selbst nach dem Tod Maries, seiner katholischen Frau, der Mutter der beiden Kinder, keine zweite Ehe eingegangen, mit der Jüdin Miriam Blum –, er säße unbehelligt an seinem Schreibtisch in Wien, im Büro der DDSG, der Ersten Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft.
So aber gerät er ins Mahlwerk deutscher Rassengesetz-Arithmetik: »Halbjude« plus Jüdin ist gleich »Volljude«, Nachrechnen zwecklos, die DDSG wirft ihn hinaus, nach fünfundzwanzig Dienstjahren, Heil Hitler, er emigriert nach Frankreich mit Miriam, ohne die Kinder. Die bleiben bei Tante Frieda.
»Wir lassen euch nachkommen.«
»Wann?«
»Sobald euer Visum da ist.«
»Wann wird das sein?«
»Ihr müsst warten. Ihr werdet verständigt werden. Vom französischen Konsulat.«
Und die Kinder warten, warten, von Tag zu Tag, Woche zu Woche, Monat zu Monat. Kein Visum.
Der Krieg bricht aus. Frankreich, besiegt, wird in zwei Zonen geteilt, der Norden deutsch besetzt, der Süden Marschall Pétain überlassen.
Ein Kriegsende ist nicht in Sicht.
Der Vater, unter den Platanen, schreibt seinen Kindern Briefe. Die Briefe kommen nie an.
Der Heimweg durchs Dunkel dauert eine knappe Viertelstunde: Kärntnerstraße, Stephansplatz, der Dom ein schwarzes Gebirge, Rotenturmstraße, Hafnersteig. Kein Lichtschimmer. Kriegsfinsternis. Trotzdem ist die Nacht belebt.
Unsichtbare gehen zielstrebig ihres Wegs, schwebende, grünliche Punkte dank phosphoreszierenden Knöpfen an Mantel- und Jackenkragen.
Niemand hat Angst. Wer Nacht für Nacht möglicherweise von Bomben erschlagen wird, den schreckt kein Handtaschenräuber. Letzterer wäre sogar der tröstliche Beweis, es gibt tatsächlich Wiener, die glauben an ein Morgen.
Die Kinder sind angelangt. Sie sperren auf, treten ein, lassen das Haustor zuschnappen und machen sich an den Aufstieg. Die beiden bewohnen, mit Tante, ein unwirtliches Atelier, sechster Stock, hundertachtzig Stufen, Liftfahren kostet zehn Pfennig, zehn mal zehn Pfennig bedeutet ein Mal Oper, Stehparterre. Die Wohnung ist nicht beheizbar. Nur in der winzigen Küche gibt’s einen Kohleofen, außerdem Gasherd, Tisch, vier Sessel, eine Kredenz und Tante Friedas Bett.
Die Betten der Kinder stehen im riesigen Atelierraum. Über dem Glasdach der Mond.
Die Kinder lieben den Mond.
Vielleicht schaut der Vater hinauf, zufällig, in diesem Moment, und die Blicke treffen einander, irgendwo zwischen den Sternen.
»Sie ist keine Erste Dame!«, schimpft Lili, bis zum Kinn unter der Daunendecke, einem der letzten Stücke aus einem früheren Leben.
Marion weiß, wen sie meint. Anny Konetzni, stimmgewaltig, malträtiert die Partie.
»Soll die Brünnhilde singen!«, sagt Lili. »Keinen Mozart! Da muss eine lyrische her. Zum Beispiel die Reining!«
»Du spinnst! Wer singt dann die Pamina?«
»Warum nicht die Rethy?«
»Die Rethy?« Marion setzt sich auf. »Die Rethy tremoliert! Außerdem hat deine Reining neulich das ›B‹ geschmissen!«
»Als Arabella«, sagt Lili. »Aber als Erste Dame braucht sie kein ›B‹!«
Lili, selbst hoher Sopran, will Opernsängerin werden.
Marion unterstützt den Plan, steht aber nichtsdestotrotz zur eigenen Meinung:
»Die Rethy –«
Lili unterbricht: »Marion, ein geschmissenes ›B‹ von der Reining ist mir lieber als ein tremoliertes von der Rethy!«
»Auf einmal? Ich hab gedacht, die Rethy tremoliert nicht!«
»Na ja, hin und wieder –«
»Schluss jetzt. Morgen ist Schule.«
»Marion –«
»Gute Nacht!«
»Marion, ich kann nicht schlafen!«
»Zähl bis hundert!«
»Sag das den Wanzen!«
Marion springt aus dem Bett. »Schon wieder?«
»In deinem Bett nicht?«
Marion macht Licht, überprüft Bettzeug, Matratze, Gestell.
»Ich hab mein Bett desinfiziert!«
»Mit Salmiak?«
»Natürlich mit Salmiak.«
Marion steigt wieder ins Bett, deckt sich zu.
»Darf ich bei dir schlafen?«
Keine Antwort.
»Marion! Bitte! Bitte!«
Marion seufzt. »Meinetwegen.«
Lili steht auf, läuft barfuß durchs Niemandsland und schlüpft zu der Schwester ins Bett.
»Danke!«
»Schon gut.«
»Danke! Danke!«
»Wetz nicht!«
»Gute Nacht, Marion.«
»Gute Nacht, Lili.«
Der Vater, unter den Platanen, schreibt keine Briefe mehr. Er ahnt, sie kommen nicht an.
Anfangs, in der ersten Kriegszeit, gab’s Briefwechsel via Schweiz, Zürcher Freunde haben die Briefe neu adressiert, frankiert und auf den Weg gebracht.
Sind sie des Aufwands müde? Oder gibt’s keinen Postweg mehr, zwischen dem Großdeutschen Reich und der neutralen Schweiz? Der Vater kauft ein Schulheft, schlägt es auf und beginnt:
Meine lieben Kinder, damit Ihr wisst, was geschehen ist, falls wir uns nicht wiedersehen – daran will ich gar nicht denken –, schreibe ich in dieses Heft, was ich Euch erzählen würde, säßen wir endlich beisammen.
Und stocke schon.
Wollt Ihr es wissen?
Interessiert Euch ein Vater, der seine Kinder verließ?
Ich werde eines Tages versuchen, mich zu rechtfertigen. Nicht heute.
Jetzt will ich berichten, wie es kam, dass wir hier gestrandet sind, in Südfrankreich, in Montauban, nach Gastspielen meinerseits in diversen Internierungslagern.
Kurz nach Kriegsausbruch, in Paris, wurde ich zur Polizei bestellt. Es handle sich um Auskünfte und werde nicht lange dauern. Ich solle, für alle Fälle, eine Decke mitbringen.
Am Kommissariat nahm man meine Personalien auf, befühlte in peinlicher Weise meine Taschen und schickte mich in ein wenig anheimelndes Arrestlokal, wo es heftig stank.
Einige schäbige Herren saßen schon da, übler Laune. Sie machten auf der Holzbank nur widerwillig Platz.
Auch ein paar Frauen kamen. Sie weinten bzw. schimpften. Eine Saarländerin aus Galizien erzählte unaufgefordert, sie habe ein einziges Hemd mit, daran schloss sich die Beschreibung der Ausstattung, die sie habe zurücklassen müssen – diese war reichlich –, machte jedoch auf die Anwesenden, deren jeder mit sich selbst beschäftigt war, keinen besonderen Eindruck.
In der eklen Atmosphäre von Abortgestank, kaltem Rauch, Nervosität und Egoismus wurde das Warten zur Qual.
Gegen drei Uhr nachmittags wurden die Männer ausgesondert, ein Überfallswagen fuhr vor, wir wurden verladen und dann ging’s kreuz und quer durchs Arrondissement, bei jeder Wachstube wurden Leute eingesammelt und schließlich fuhren wir über die Boulevards Magenta, Strasbourg und Saint-Michel zur Porte d’Orléans und weiter zum Buffalo-Stadion.
Vor dem Eingang drängten sich Menschen.
Der Einlass verzögerte sich. Der Abend kam und wir standen immer noch vor dem Tor. Es gab weder Essen noch eine Schlafgelegenheit. Ich legte mich auf einen Strohhaufen, zum Glück hatte ich meine Decke. Ein Mensch mit schlohweißem Haar und gelbem zerfurchtem Gesicht schmiegte sich schlotternd an mich. Ich ließ ihm die halbe Decke, nicht etwa aus Nächstenliebe wie weiland der heilige Martin, sondern aus Bequemlichkeit. Nachgeben war weniger mühsam als peinlicher Widerstand.
Der Mann hörte auf, zu schlottern. Wir schliefen beide ein.
Am nächsten Tag gegen vier waren wir endlich im Stadion. Surprise, surprise: gutes Essen, richtige Aborte. Um die Arbeit, die im Kehren der Aschenbahn bestand, musste man sich reißen.
Einmal, als ich den Besen ergattert hatte, machten sich ein paar Leute den Spaß, dem Wachsoldaten zu sagen, ich sei ein berühmter Gelehrter.
Er nahm mir den Besen weg.
Meinen Einwand, ich sei kein Gelehrter, ließ er nicht gelten. Er sei zwar nur ein einfacher Eisenbahner, sagte er, aber er wisse sehr wohl, dass die besten Menschen bescheiden seien.
Ein junger bärtiger Bursche – er sah aus wie ein Rabbinatskandidat – bestätigte die Ansicht des Soldaten, fügte jedoch hinzu, seine (des Rabbinatskandidaten) Heimat sei völlig ungewiss, er daher staatenlos und unverzüglich zu entlassen.
Der Soldat führte mangelnde Kompetenz ins Treffen, drückte dem Jüngling den Besen in die Hand und ging.
Der Vater macht das Heft zu.
Tante Frieda legt Patience.
Am Wannsee ist Konferenz.
Die Kinder gehen in die Oper.
»Süß! Er ist süß!«, sagt Friedl, die kleine Rothaarige, die nie ohne Mutter kommt.
Es ist Pause.
Die Bande sitzt auf den Sofas im Vorraum des Stehparterres. Man spielt den »Barbier von Sevilla« und Doktor Alfred Poell singt erstmals den Figaro.
»Ein Mann ist nicht süß!«, rügt Lili. »Ein Mann kann gut aussehen, schön singen, musikalisch sein oder nicht, ganz ordentlich spielen – aber süß?«
»Warum ist sie immer so altklug?«, fragt Friedls Mutter, die aussieht wie ihre Tochter, nur größer. Dasselbe Gesicht, dieselben kupferroten Haare, sogar die Sommersprossen wirken wie abgepaust.
»Lili ist nicht altklug«, sagt Marion. »Lili ist klug. Ganz einfach.«
»Marion geht für dich durch’s Feuer«, sagt Friedls Mutter, anerkennend. »Wie findest du diesen Poell?«
»In Ordnung«, sagt Lili.
»In Ordnung?« Friedl ist aufgebracht. »Der Mann sieht gut aus, singt phantastisch –«
»Phantastisch? Ich muss schon sehr bitten!«, sagt Heinz, Amateurbariton, der die »Figaro«-Cavatine daheim zu brüllen pflegt, bis die Nachbarn die Polizei rufen, »du hast keine Ohren, Friedl! Der Mann verfügt über eine ganz nette Mittellage, aber die Höhe ist glanzlos –«
»Er meint seine eigene«, sagt Gusti, einziger Profi der Bande, Studentin an der Akademie, Schülerin von Anny Konetzni.
Heinz geht auf Gusti los. Friedls Mutter tritt dazwischen. »Kinder! Vergesst nicht, wo wir sind!«
»Außerdem ist er ein Doktor!«, sagt Eberhard, knappe