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Menschen, die Geschichte schrieben: Das 19. Jahrhundert
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Ebook394 pages14 hours

Menschen, die Geschichte schrieben: Das 19. Jahrhundert

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Zu kaum einer anderen Zeit war die Welt so vielen Weiterentwicklungen und Umschwüngen unterworfen wie im 19. Jahrhundert. Die Künste, die Technik, die Wissenschaften und nicht zuletzt die gesellschaftlichen und politischen Strukturen waren einem anhaltenden Wandel ausgesetzt. Während die Freiheitsbewegungen dem Biedermeier gegenüberstanden und der Historismus gegen erstarkende Tendenzen hin zur Moderne ankämpfte, bildeten sich in der Kunst, in den Mythen und in der Realität des 19. Jahrhunderts nachhaltig wirkende Charaktere aus, die die Epochen und das Denken jener Zeit nachhaltig beeinflussten. Dieser Band macht in einer ausführlichen Textsammlung zu Mythen, Helden und Figuren des 19. Jahrhunderts dessen Lebenswelt und Schlüsselbegriffe erfahrbar.
LanguageDeutsch
Publishermarixverlag
Release dateSep 20, 2014
ISBN9783843804554
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    Menschen, die Geschichte schrieben - marixverlag

    9–11.

    DER NAPOLEON-MYTHOS IN DER LITERATUR DES 19. JAHRHUNDERTS

    Erinnerte Größe in kleinen Zeiten

    von Barbara Beßlich

    Heinrich Heine nannte ihn den „weltlichen Heiland, Goethe pries ihn als „Kompendium der Welt. Friedrich Hebbel begegnete ihm oft im Traum als sein Kammerdiener, Friedrich Nietzsche sah in ihm die „Synthesis von Unmensch und Übermensch. Und Victor Hugo stöhnte entnervt auf: „Immer nur er! Er überall!¹

    Dass Napoleon für die politische und gesellschaftliche Realität in Deutschland im 19. Jahrhundert von nicht zu überschätzender Bedeutung war, ist beinahe müßig festzustellen. Und dies wird vielleicht besonders sinnfällig in dem Satz, mit dem der Historiker Thomas Nipperdey seine Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts beginnen ließ: „Am Anfang war Napoleon."² Dass diese Wirkung Napoleons sich aber nicht in der staatlichen Modernisierung Deutschlands und dem Nationalismus der Befreiungskriege erschöpfte, sondern sich im kollektiven Gedächtnis der Deutschen weit über 1848 hinaus festschrieb, ist in Deutschland nach 1945 nur noch selten betont worden. Napoleon ist aber für das gesamte 19. Jahrhundert in Europa eine der Schlüsselfiguren der Imagination. Ich werde mich auf die Wirkung Napoleons in der deutschen Literatur konzentrieren. Diese literarischen Napoleon-Texte reflektieren dabei niemals nur die napoleonische Vergangenheit, sondern immer auch die deutsche Gegenwart ihrer Entstehungszeit und wirken als Teil der kulturellen Sinnproduktion der Gesellschaft auf diese Gesellschaft zurück. Literatur ist hier nicht nur das Medium der Reflexion, sondern beweist ihre produktive Potenz, diese Gesellschaft deutend zu bestimmen.

    Napoleon im Zentrum eines Strahlenkranzes; Gemälde von Laurent Dabos nach Anne-Louis Giradet-Trioson, Paris 1804/06

    NAPOLEON UND DIE DEUTSCHEN

    Wenn unmittelbar nach 1945 Deutsche auf den deutschen Napoleon-Mythos zu sprechen kamen, so beschränkten sie sich zumeist entweder auf die liberale Napoleon-Legende des Vormärz oder sie deuteten vage an, dass hier etwas nicht ganz Geheures thematisiert werde. Golo Mann erinnerte 1955 nur noch allgemein daran, „der Napoleon-Mythos habe nachmals in Deutschland kräftiger geblüht und wirksamere Folgen [gehabt] als in Frankreich selber."³ Friedrich Sieburg verglich 1956 das englische und französische Napoleon-Bild mit dem der Deutschen und wurde etwas deutlicher:

    Von ganz anderen Kräften ist das deutsche Napoleon-Bild bestimmt. Es ist für unser eigenes Wesen bezeichnender als für das des Eroberers. Nirgendwo hat er eine so unausgeglichene und hitzige Bewunderung gefunden wie in unserer Literatur. […] Aber wer auch die Feder führen, wer auch die Stimme erheben mag, ein gelassenes Verhältnis zu Napoleon bringt kein Deutscher auf. Die besondere Art seiner Größe rührt in uns Saiten an, deren Schwingungen keine Harmonie ergibt.

    Diese Zitate deuten an, dass Napoleon in der historischen Mythologie der Deutschen bis 1945 eine erhebliche Rolle gespielt hat. Friedrich Stählin fühlte sich 1952 bemüßigt, Napoleons Glanz und Fall mit der unmittelbaren deutschen Vergangenheit in Verbindung zu bringen und sprach blümerant über ein „geschichtliches Gleichnis", das die Deutschen für ihre eigene Situation 1945 in der Betrachtung von Napoleons Schicksal finden könnten.

    In diesen Zitaten klingt ein zugleich identifikatorisches und problematisches Verhältnis ‚der Deutschen‘ zu Napoleon an, das freilich nie ganz exakt bestimmt, sondern lediglich raunend als prekär verklärt wird. Was die deutsche Literatur zwischen 1800 und 1945 immer wieder und in unterschiedlicher, aber eben doch auffallend „unausgeglichener" Weise dazu veranlasste, sich mit Napoleons kometenhaftem Aufstieg aus dem Nichts zum Herrscher über Europa, mit seinem widerspruchsvollen Verhältnis zur Revolution und seinem schroffen Untergang auseinanderzusetzen, ist lange Zeit kaum analysiert worden. Dieser Aufsatz möchte einen kleinen Einblick in diese Napoleon-Literatur vermitteln.

    Es geht in diesen Texten nicht nur um das Verhältnis zur Französischen Revolution und napoleonischen Diktatur, sondern immer auch um ein nationales und kulturelles Selbstporträt, um das spannungsreiche Verhältnis zur historischen Größe, um messianische Hoffnungen, um den Bezug zu veränderten Begriffen von Politik, Staat, Macht, Charisma, Krieg und Erfolg, um den Mythos vom starken Mann und um das Genie, das sich selbst erschafft, um die Sehnsucht nach Außeralltäglichkeit, kinetischer Kraft und Heroismus. Begriffe wie ‚Schicksal‘ und ‚Dämonie‘ durchziehen die deutsche Napoleon-Literatur leitmotivisch. Dabei wird Napoleon immer mehr zum Argument in der zivilisationskritischen Beweisführung, dass es in einer entzauberten Welt und technisierten Massengesellschaft doch noch auf das Individuum ankommt.

    Man kann in der deutschen Literatur eine Entwicklung kultureller Deutungsmuster über die Epochenschwelle von 1848 hinaus nachzeichnen, die Napoleon nicht mehr als Nationalfeind der Befreiungskriege darstellen, sondern sukzessive identifikatorisch auf Deutschland beziehen. Diese nationale Identifikation wird durch einen Dichter-Mythos vorbereitet. Die Dichter begreifen Napoleon bereits nach 1821 als schöpferisches Genie und vergleichen seine Tätigkeit mit der eines Künstlers, der alte Regeln zerbricht und sich neue autonom nach Bedarf setzt. Damit ist Napoleon nicht mehr der feindliche Eroberer und die fremde unbegriffene Macht, sondern er wird metaphorisch Teil der eigenen Welt. Gleichermaßen bedeutet dies eine (frühe) Politisierung des Genie-Gedankens und eine Ästhetisierung Napoleons. Als Genie der Dichter lebt Napoleon, vermittelt über die Literatur, im kulturellen Gedächtnis der Deutschen zwischen 1848 und 1870 fort, in einer Zeit, in der die deutsche Geschichtswissenschaft und die Politik eher napoleonkritisch eingestellt sind.

    Nach 1890 hingegen wird der Napoleon-Mythos schließlich über die Literatur hinaus mehr und mehr national identifikatorisch auf Deutschland bezogen. Die historische Person Napoleons wird mit der deutschen Nation rhetorisch verglichen, indem Deutschland als personifiziertes Subjekt der Geschichte verstanden wird, dem ein napoleonischer Charakter und Willen zugesprochen wird. Die antienglische Stimmung im wilhelminischen Deutschland trägt zu solchen Vergleichen bei. Bei den 100-Jahr-Feiern der Befreiungskriege wird Napoleon auffällig als symbolischer Gegner ausgespart und gleichzeitig in eine nationale Mythologie der Deutschen eingebunden, so dass sich ein wackerer Bismarck-Verehrer und Napoleon-Gegner empört:

    Diese Verherrlichung Napoleons ist […] ein seit Jahren immer mehr sich verbreitender Unfug. In den Schaufenstern trifft man ständig Büsten, Bilder und Bücher, die für Napoleon begeistern, und so mancher Deutscher hat über seinem Schreibtisch statt eines Bildes des Schmiedes der deutschen Einheit oder des Kaisers ein Napoleonbildnis hängen und ist stolz darauf.

    Dieses Echauffement verdeutlicht, wie die Erinnerung an Napoleon zusehends einen Platz einnimmt, der traditionellerweise in einer historischen Mythologie des zweiten deutschen Reichs eigentlich preußisch-deutschen Figuren zugedacht ist. Auch der Erste Weltkrieg ändert nichts an der napoleonischen Konjunktur, im Gegenteil: Die Deutschen vergleichen sich explizit mit Napoleon im Kampf gegen England und den Rest der Welt, und analogisieren nach 1918 das postrevolutionäre Deutschland mit Frankreich 1799, das auf einen Retter aus der demokratischen Krise wartet. Der identifikatorische Napoleon-Mythos grassiert in den 1920er Jahren derart intensiv in Deutschland, dass 1926 die – heute erstaunlich anmutende – Aussage von der „Wesensgleiche zwischen Napoleon und den Deutschen gemacht werden konnte und die Satire sich bereits mit „Napoleon I. als Nationalhelden der Deutschen auseinandersetzte.

    PROMETHEUS ODER HÖLLENSOHN?

    Nur eine kurze Spanne über galt Napoleon den Deutschen in der Zeit der Befreiungskriege als Nationalfeind. Aber schon bevor die Publizistik der Befreiungskriege Napoleon zum Antichristen dämonisierte, hatten die deutschen Schriftsteller den General der Italienfeldzüge zum Halbgott verklärt. Die Verteufelungen Napoleons zum „Höllensohn" reagierten bereits auf deutsche Divinisierungen Napoleons seit 1797. Die deutsche Literatur über Napoleon zu dessen Lebzeiten versucht, Napoleon zu vergleichen, in mythischen oder historischen Rollen zu stilisieren. Die von Napoleon begeisterten Schriftsteller schwärmten etwa von dem neuen Prometheus. Sie stellten Napoleon in eine militärische Reihe mit Alexander dem Großen, Hannibal, Caesar und Karl dem Großen. Solche affirmativen Mythisierungen wurden von Napoleon selbst lanciert. Vergleiche mit Hannibal oder Karl dem Großen förderte Napoleon in einer systematischen Öffentlichkeitsarbeit und Kunstpolitik. Während er politisch konsequent europäische Traditionen aushebelte, stellte er sich gleichzeitig ikonographisch in abendländische Zusammenhänge.

    Die Gegner Napoleons suchten ebenfalls nach Vergleichsgrößen, die sie entweder in historischen, außereuropäischen, nicht-christlichen Gewaltherrschern fanden wie Attila, Tamerlan, Dschingis Khan oder Süleiman II., oder sie dichteten Napoleon in religiösen Mustern zum Gegner Gottes, sei es zum alttestamentarischen Pharao, der das auserwählte Volk knechtet, sei es zum apokalyptischen Drachen. In diesen Mythisierungen lassen sich antagonistische Reflexe beobachten. Dem orientalischen Despoten steht der europäische Friedensherrscher gegenüber, dem alttestamentarischen Brudermörder Kain der antike Halbgott Prometheus. Zur Zeit der Befreiungskriege reichte die Spanne der christlichen Mythisierungen für Napoleon in Deutschland vom Heiland bis zum „Höllensohn". Chateaubriand beschrieb dieses mythologische Kaleidoskop, das sich zu Lebzeiten Napoleons zusammengesetzt und 1848 verfestigt hatte, folgendermaßen:

    Bonaparte ist nicht mehr der wahre Bonaparte, er ist eine legendäre Gestalt, zusammengesetzt aus den Phantasien der Dichter, den Erinnerungen der Soldaten, und den Erzählungen des Volkes. Wie wir ihn heute sehen, ist er der Karl der Große und der Alexander der mittelalterlichen Epen. Dieser phantastische Held wird die reale Person bleiben, die anderen Porträts werden verschwinden.

    Soweit Chateaubriand. Hinter der Vielfalt der Deutungsangebote („Karl der Große und Alexander) verschwand „die reale Person immer mehr. Chateaubriands Aussage illustriert die Inflation der Napoleon-Mythisierungen. In einer mythischen Bastelarbeit wurden Napoleon verschiedene Rollen angepasst, die nicht immer stimmig waren, aber als Bruchstücke der Geschichte eines Individuums Eingang fanden und aktualisiert wurden. Die „Phantasien der Dichter" zielten darauf, die außergewöhnliche Gestalt Napoleons verständlicher zu machen. Dabei hatten diese vergleichenden Mythisierungen immer auch kompensatorischen und prophetischen Charakter. Das Überangebot an mythischen und historischen Vergleichsfiguren für Napoleon war ein Zeichen für die qualitative Unzulänglichkeit der einzelnen Analogien. Wenn beim einzelnen Vergleich die Unterschiede größer als die Ähnlichkeiten waren, wurde dies oft durch ganze Vergleichskataloge quantitativ ausgeglichen. Sie sollten den Zeitgenossen Unerklärliches erklären.

    Die Mythisierungen boten Deutungen an und verbanden Unbekanntes mit Bekanntem. Dieses Dichten in Mustern bot die Möglichkeit, eine Geschichte in der Vergangenheit oder im Mythos zu Ende erzählen zu können, von der man vor 1821 nicht wusste, wie sie sich in der Gegenwart weiter entwickeln würde. Die Mythisierungen fungierten als kompensatorische Prophetien. Im mythologischen Vergleich sollte entschlüsselt werden, was in der Realität verschlossen blieb. Dass solche Muster aber nie ganz der historischen Realität entsprachen, wird in einigen Texten besonders deutlich, welche die Unzulänglichkeit dieser Muster selbst reflektieren, etwa in einem Gedichtentwurf von Hölderlin.

    Friedrich Hölderlin betrachtete 1797/98 in seinem Entwurf Buonaparte nicht so sehr den Revolutionsgeneral selbst, sondern seine historische Person als poetisches Problem. Das Verhältnis von Dichtung und Geschichte wird am Beispiel Bonapartes reflektiert:

    Buonaparte

    Heilige Gefäße sind die Dichter,

    Worin des Lebens Wein, der Geist

    Der Helden, sich aufbewahrt,

    Aber der Geist dieses Jünglings,

    5

    Der schnelle, müßt er es nicht zersprengen,

    Wo es ihn fassen wollte, das Gefäß?

    Der Dichter laß ihn unberührt wie den Geist der Natur,

    An solchem Stoffe wird zum Knaben der Meister.

    Er kann im Gedichte nicht leben und bleiben,

    10

    Er lebt und bleibt in der Welt.

    Bonaparte wird im gesamten Gedicht nicht beim Namen genannt. Allein der Titel gibt Aufschluss über die Identität des als „Jüngling bezeichneten Helden des Gedichts. Das Lebensalter wird zum Charakteristikum des bedichteten Bonaparte. Aufgabe der Dichtung sei es, Heldentaten („des Lebens Wein, den Geist Der Helden) ästhetisch festzuhalten, das Leben lyrisch auf Dauer zu stellen und der Nachwelt zu überliefern. Diese Kompetenz der Dichter sakralisiert sie zu „heilige[n] Gefäße[n] (V. 1). Ganz im antiken Sinn wird den Dichtern die Aufgabe des Rühmens zugedacht. Damit beschreibt die erste Strophe eine allgemeine Zuständigkeit der Poesie. Aber die zweite Strophe, die vom Allgemeinen zum Besonderen und vom Plural in den bestimmten Singular wechselt, macht deutlich, dass für den konkreten Fall „dieses Jünglings (V. 4), nämlich Bonaparte, die allgemeinen Regeln nicht gelten. Die doppelte Metapher der ersten Strophe von den Dichtern als „Gefäßen für den „Wein heroischen Geistes wird fragend fortgeführt. Nachgestellt wird Bonapartes Geist als „Der schnelle (V. 5) charakterisiert, der das poetische „Gefäß „zersprengen würde: Bonapartes Lebensintensität übersteigt somit poetisches Fassungsvermögen. Die Charakterisierung Bonapartes als „schnell mag ihren historischen Rückhalt in dem so rapide geführten Italienfeldzug haben. Aus dieser Geschwindigkeit resultiert eine Kraft, die sich poetisch nicht mehr fassen lässt.

    Die beiden abschließenden Strophen ziehen die Konsequenz aus dem Problem und erlassen die poetologische Direktive, Bonaparte als Thema zu meiden. Bonaparte wird aus dem Bereich der Geschichte katapultiert und in den der Naturgewalt transformiert. Er ist nicht mit historischen Kategorien zu messen, sondern er gleicht dem „Geist der Natur" (V. 7). Für ihn gelten nicht die Regeln historischer Dichtung. Hölderlin enthistorisiert die Gestalt Bonapartes und entrückt ihn in den Bereich der Natur über menschliche Sphären hinaus beinahe ins Göttliche hinein; Bonaparte wird so zum Numinosum. Die letzte Strophe stellt noch einmal in einer Quintessenz Leben und Poesie gegeneinander. Das Gedicht trennt chiastisch die Welt und die Kunst als gegensätzliche Sphären, von denen nur die Welt für Bonaparte gedacht ist. Hölderlin schrieb so ein Gedicht über das Problem, dass man auf Bonaparte keine Gedichte schreiben kann. Damit widerlegte er sich performativ einerseits selbst und gab andererseits schon in der verknappten Entwurfs-Form Hinweise darauf, dass er diesen Unsagbarkeitstopos durchaus ernst nahm. Hölderlins Gedicht-Entwurf demonstriert nicht nur die Unzulänglichkeit bestimmter literarischer Muster für Bonaparte, sondern steigert das Problem ins Generelle: Schlechterdings kein literarisches Muster mag Hölderlin für Bonaparte hinreichend erscheinen.

    DER KAISER

    Begeisterte man sich in Deutschland für den Revolutionsgeneral Bonaparte, so stand man dem Konsul auf Lebenszeit schon sehr viel skeptischer gegenüber. Die Kaiserkrönung 1804 schließlich löste europaweit intellektuelle Wutausbrüche aus. Beethoven, nachdem er von der Kaiserkrönung erfahren hatte, soll zornig das Titelblatt der Partitur seiner Eroica zerrissen und damit die ursprüngliche Widmung an Napoleon getilgt haben. Mit der Gründung des Rheinbundes gewann die Gegenwärtigkeit napoleonischen Machtstrebens für die Deutschen eine neue Dimension. Napoleon wurde nun nicht mehr nur unter politischen, sondern mehr und mehr auch unter nationalen Parametern wahrgenommen. Aus dem kritisch beäugten Revolutionsbändiger wurde allmählich ein Nationalfeind konzipiert. Das lässt sich gut in den Schriften von Ernst Moritz Arndt und Joseph Görres nachvollziehen, die keineswegs von Anfang an napoleonfeindlich gesonnen waren.

    In den Befreiungskriegen schließlich fühlten sich Johann Gottlieb Fichte und Heinrich von Kleist bemüßigt, schriftstellerisch gegen Napoleon tätig zu werden. Auch E. T. A. Hoffmann schrieb eine antinapoleonische Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden. In der zahlreichen Lyrik der Befreiungskriege wird vor allem eine religiöse Bildsprache gewählt. Nationalismus und religiöses Sprechen vermischen sich hier. Nicht nur die Apokalypse war ein wichtiger Bildspender für die antinapoleonische Literatur der Befreiungskriege, auch das Alte Testament wurde metaphorisch beliehen. Der strafende und rächende Kriegsgott des Alten Testaments sollte einen wirksamen Rückhalt im Kampf gegen Napoleon bieten. Als Herr der Heerscharen sollte Gott im Befreiungskrieg wie im Alten Testament dem Heer als Führer voranziehen, in die Schlacht eingreifen, sein Volk schützen, schließlich siegen und Napoleon bestrafen. Die religiöse Bildsprache der Befreiungskriegslyrik wurde Mittel zum nationalen Zweck. Wie sehr dabei der Pietismus die patriotisch-politische Sprache beeinflusste, hat die Forschung hinlänglich untersucht. Der Kampf gegen Napoleon wurde rhetorisch zum nationalen Erweckungserlebnis überformt mit Gelöbnisformeln und appellativ-pathetischem Ausdruck. Die Poesie der Befreiungskriege bemühte sich, aus den Trümmern des Heiligen Römischen Reiches eine Nation zu erdichten, in der jenseits politisch realer Grenzen Des Deutschen Vaterland kulturnational dort ausgemacht wurde, wo „die Deutsche Zunge klingt. Dass das eine Projektion einer bildungsbürgerlichen Minderheit war und es mithin falsch ist, von einer allgemeinen „nationalen Erhebung 1813 zu sprechen, hat die neuere Nationalismus-Forschung betont. Es scheint vielmehr sinnvoll, von einer poetischen Antizipation der Nation in der Befreiungskriegslyrik auszugehen, die sich vor allem in der Ausrichtung gegen Napoleon als Feind profilierte. Das konnte dann zu regelrechten Schimpfkanonaden führen wie die von Johann Friedrich Schink. Dessen Dem Korsen gewidmete Schand- und Schimpfode erschöpfte sich in einer wilden Rüpelei.

    Napoleon Bonaparte am 20. Mai 1800 „die Alpen überschreitend"; Gemälde von Jacques-Louis David, Versailles, Musée du Château

    Abschaum der Menschheit, der mit Schwert und Feuer

    Die Welt durchzog, verbreitend Ach und Weh!

    Brandmark der Zeiten, Wütrich, Ungeheuer,

    Wie keines war, keins ist, keins sein wird je!

    Blutsauger, Völkergeißel, Weltzertreter,

    Pest, Räuberhauptmann, Henker und Bandit,

    Du menschgewordner Satan, Missetäter,

    Wie selbst der Abgrund keinen sah und sieht!¹⁰

    DER ENTRÜCKTE

    Zwischen 1815 und 1821 rückten die Schriftsteller aber erstaunlich schnell ab von solchen politischen Invektiven und verklärten zusehends den nach St. Helena Verbannten zum Märtyrer. St. Helena wurde zum romantischen Nebelreich ästhetisiert und gegen ein prosaisches Europa abgesetzt. Es muss betont werden, wie auch in Deutschland noch zu Lebzeiten Napoleons nach 1815 aus dem Nationalfeind alsbald wieder eine zu verehrende legendarische Gestalt wurde. Der Verbannung Napoleons folgte eine sukzessive Verklärung. Relativ rasch verschob sich die Haltung in der deutschen Literatur von der ängstlich-zornigen Befreiungskriegs-Abwehr in eine größere Gelassenheit, die Napoleons Schicksal in balladeskem Ton als historisch distanzierbare Geschichte erzählte. Die nationale Perspektive trat zurück, die Aggression verflüchtigte sich. Je weniger bedrohlich Napoleon erschien, desto weniger wurden auch übermenschliche Kräfte zu seiner Deutung und Bekämpfung beschworen.

    Zur Gruppe dieser balladesk verklärenden Gedichte gehören auch Heinrich Heines berühmte Grenadiere, die nicht Napoleon selbst, sondern den volkstümlichen Bonapartismus in den Blick nehmen. Die Größe Napoleons spiegelt sich hier in der Größe der Verehrung, die er hervorruft. Das napoleonlose Europa wird als eine öde und sinnentleerte Welt konfrontiert mit der Vision von dem wiederkehrenden Kaiser. Die Entstehungszeit des Gedichts ist unsicher, Heine selbst erinnerte ex post das Jahr 1816; wahrscheinlicher ist 1819/20 als Entstehungszeit anzunehmen. Populär geworden vor allem auch durch die Vertonungen von Robert Schumann und Richard Wagner, schildert die volkstümliche Ballade die grenzenlose Napoleon-Verehrung zweier französischer Grenadiere, die aus russischer Kriegsgefangenschaft nach 1815 zurückkehren. In Deutschland erfahren sie, dass Napoleon gefangen genommen wurde. Innerhalb des Buchs der Lieder bilden Die Grenadiere ein Gegenstück zu der Romanze Belsatzar, die das Bild eines blasphemisch-tyrannischen Herrschers zeichnet, dem die Gefolgschaft aufgekündigt und der ermordet wird. Die Grenadiere variieren das Thema Herrschaft und Gefolgschaft in einen positiv-heldischen Entwurf – zur Treue der Grenadiere zu Napoleon über den Tod hinaus:

    Die Grenadiere

    Nach Frankreich zogen zwei Grenadier’,

    Die waren in Rußland gefangen.

    Und als sie kamen in’s deutsche Quartier,

    Sie ließen die Köpfe hangen.

    5

    Da hörten sie beide die traurige Mähr:

    Dass Frankreich verloren gegangen,

    Besiegt und zerschlagen das große Heer, –

    Und der Kaiser, der Kaiser gefangen.

    Da weinten zusammen die Grenadier’

    10

    Wohl ob der kläglichen Kunde.

    Der Eine sprach: Wie weh wird mir,

    Wie brennt meine alte Wunde.

    Der Andre sprach: Das Lied ist aus,

    Auch ich möcht’ mit dir sterben,

    15

    Doch hab’ ich Weib und Kind zu Haus,

    Die ohne mich verderben.

    Was scheert mich Weib, was scheert mich Kind,

    Ich trage weit bess’res Verlangen;

    Laß sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind, –

    20

    Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!

    Gewähr’ mir Bruder eine Bitt’:

    Wenn ich jetzt sterben werde,

    So nimm meine Leiche nach Frankreich mit,

    Begrab’ mich in Frankreichs Erde.

    25

    Das Ehrenkreuz am rothen Band

    Sollst du aufs Herz mir legen;

    Die Flinte gieb mir in die Hand,

    Und gürt’ mir um den Degen.

    So will ich liegen und horchen still,

    30

    Wie eine Schildwach, im Grabe,

    Bis einst ich höre Kanonengebrüll,

    Und wiehernder Rosse Getrabe.

    Dann reitet mein Kaiser wohl über mein Grab,

    Viel Schwerter klirren und blitzen;

    35

    Dann steig’ ich gewaffnet hervor aus dem Grab’,

    Den Kaiser, den Kaiser zu schützen.¹¹

    Die neun Strophen à vier Verse mit wechselnd männlichem und weiblichem Kreuzreim inszenieren mit ihrer aufgelockert-einfachen jambisch-daktylischen Form den Stil einer Volksballade. Das Versende fällt zumeist mit dem Abschluss einer syntaktischen Einheit zusammen, Enjambements sind die Ausnahme. Der einfache Satzbau unterstützt den volkstümlich balladesken Eindruck. Direkte Rede, durch einfache Inquit-Formeln („der Eine sprach „Der Andre sprach) eingeleitet, dominiert das Gedicht (Strophen 3–9). Von einem erzählerischen Anfang (Strophe 1–3) ausgehend, wechselt die Ballade in einen Dialog (Strophe 3–4), um in einem Monolog des einen Grenadiers zu münden (Strophe 4–9), der aus der Realität ins Visionäre zielt (Strophe 7–9). Die beiden Grenadiere bleiben anonym, werden zu „der Eine (V. 11) und „der Andre (V. 13) verallgemeinert.

    Inversionen und Archaismen wie „traurige Mähr (V. 5) und „kläglichen Kunde (V. 10) intensivieren den Charakter künstlich rekonstruierter Einfachheit. Altertümliche Verbformen wie „hangen (V. 4) und antiquiert anmutende Konstruktionen wie „wohl ob der kläglichen Kunde (V. 10) erzeugen die Illusion einer früheren Sprachstufe. Dazu trägt ebenfalls die dreifache Wiederholung von „der Kaiser, der Kaiser" (V. 8, 20, 36) bei, die jeweils am Strophenende den Refrain einer Volksballade imitiert. Mit all diesen Mitteln rückt Heine einen für ihn aktuellen politischen Stoff in eine künstlich aufgebaute Ferne. Der moderne Napoleon-Stoff wird archaisiert und in eine vormodern anmutende Form eingepasst. So verdeutlicht Heine auch die Unzeitgemäßheit Napoleons selbst. Dem Anachronismus der Form entspricht der Anachronismus des Inhalts, in dem noch einmal in modernen Zeiten vormoderner Heldenmut und absolute Selbstaufgabe von fast homerischen Ausmaßen bedichtet werden.

    Der zweite Grenadier steigert dabei die Selbstaufgabe zu einer Preisgabe seiner familiären Bindungen: „Was scheert mich Weib, was scheert mich Kind | Ich trage weit bess’res Verlangen; | Laß sie betteln gehen, wenn sie hungrig sind (V. 17–19). Während dem ersten Grenadier „Weib und Kind zu Haus (V. 15) Verpflichtung zum Weiterleben bedeuten, nivelliert die Not Napoleons für den zweiten Grenadier jegliche familiäre soziale Verantwortung, was sich auch syntaktisch darin verdeutlicht, dass „Weib und Kind (V. 15) nicht mehr wie beim ersten Grenadier syndetisch verbunden als familiäre Einheit begriffen, sondern syntaktisch zerrissen werden in zwei unabhängige Elemente: „Was scheert mich Weib, was scheert mich Kind (V. 17). Der intime Zusammenhalt der bürgerlichen Familie, wie er etwa im Bürgerlichen Trauerspiel als Utopie und Gegenwelt zum höfischen Absolutismus beschworen wurde, wird hier unterlaufen und in Frage gestellt. Heines Grenadier suspendiert in seiner grenzenlosen Napoleon-Verehrung die Grundregeln der bürgerlichen Gesellschaft und katapultiert sich in heroischere, vorbürgerliche Zeiten.

    Das Ende der kaiserlichen Herrschaft macht ein sinnvolles Leben für den einen Grenadier unmöglich. Im Spiegel des unbedingten Bonapartismus deutet Heine hier bereits die Öde und Epigonalität eines Europas ohne Napoleon an. Für den Grenadier bedeutet Napoleons Ende das Ende des eigenen Lebens, und er trifft Vorrichtungen für seinen Tod. Mit diesem Tod ist aber das Treueverhältnis gegenüber Napoleon nicht beendet, sondern tritt in eine Art Übergangsstadium, in ein Interregnum ein. Die letzten beiden Strophen beschließen das Gedicht mit einer apokalyptischen Vision von der bonapartistischen Treue über den Tod hinaus, die sich in einer Art napoleonischem Jüngsten Gericht beweisen kann. Dekoriert mit dem „Ehrenkreuz am rothen Band (V. 25) (also dem Kreuz der Ehrenlegion) und gerüstet mit „Flinte (V. 27) und „Degen (V. 28) will der Grenadier im Tod eine „Schildwach, im Grabe (V. 30) halten – auf Abruf, bis zur Wiederkunft des Kaisers, der mit „Kanonengebrüll" (V. 31) nach Frankreich zurückkehrt.

    Heine zitiert hier den Barbarossa-Mythos, also die Sage von dem im Kyffhäuser-Berg schlafenden Kaiser, der einst aufwachen und die entschwundene Kaiserherrlichkeit wiederherstellen wird. Heine zitiert aber nicht zu deutsch-nationalen Zwecken, wie dies Friedrich Rückert in seinem Barbarossa-Gedicht unternahm. Heine funktionalisiert den Kyffhäuser-Mythos bonapartistisch um und entnationalisiert ihn. Nicht der deutsche Barbarossa kehrt aus dem Kyffhäuser zurück, um die deutsche Reichseinheit wiederherzustellen, sondern Napoleon kommt von St. Helena zurück, um seine Nationen überspannende Herrschaft fortzusetzen. Damit nutzt Heine die sich im Barbarossa-Mythos ausdrückende deutsche Reichssehnsucht als Formvorlage, um sie letztlich mit demjenigen als mythischen Erlöser zu besetzen, der für das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verantwortlich zeichnete. Diese nationale Enteignung ironisiert indirekt den nationalen Pomp des Barbarossa-Mythos etwa bei Rückert oder später bei Hauff. Besonderheit von Heines Mythos-Variation ist es darüber hinaus, dass die Wiederkehr des Kaisers eingeleitet wird durch die Wiederkehr seines Grenadiers, dessen Wiederauferstehung aus dem Grab der Leser stellvertretend für Napoleons Wiederkehr nachvollziehen kann. Das Außergewöhnliche dieser Außerkraftsetzung des Todes wird betont durch den identischen Reim „Grab (V. 33, 35), der bereits in der Strophe zuvor antizipiert wurde („Grabe [V. 30]). Napoleon wird dabei indirekt göttlicher Status zugeschrieben, denn schließlich erweckt der Ritt des Kaisers den Grenadier wieder zum Leben.

    All dies bleibt die Projektion eines sterbenden Grenadiers. Es handelt sich um Figurenrede in einer Ballade, die sich zum Ende in ein Rollengedicht zu verwandeln scheint. Dennoch bleibt der Eindruck beim Leser vorhanden, dass auch der Erzähler der Ballade den Wunsch nach einer mythischen Wiederkehr Napoleons teilt. Der Erzähler der Ballade wertet die Verbannung Napoleons nach St. Helena als „traurige Mähr (V. 5), und er ist der erste, der die emphatische Wiederholung „der Kaiser, der Kaiser (V. 8), verwendet, die später der Grenadier aufnimmt. Napoleons Soldaten werden in der Übertragung der grande armée ins Deutsche als das „große Heer (V. 7) heroisiert und deren Niederlage mitfühlend begleitet durch die verstärkende Zwillingsformel „besiegt und zerschlagen (V. 7). So öffnet Heines wohl noch zu Lebzeiten Napoleons verfasste Ballade bereits den Raum für Wiedergänger-Legenden und zeichnet im Gedichtverlauf den Weg aus der Realität in die mythische Entrückung eines nach dem Tode zurückkehrenden Kaisers. Immermann wird später nach Napoleons Tod,

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