Kinder im Tyrannenmodus: Kann Erziehung noch Spaß machen?
Von Gerhard Spitzer
Beschreibung
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Buchvorschau
Kinder im Tyrannenmodus - Gerhard Spitzer
Rinnhofer
TEIL 1
GESICHTER DER TYRANNEI
In diesem ebenso spannenden wie stellenweise sicherlich unbequemen Teil des Buches werden wir unserem Ärger über einige der bei unserem Nachwuchs »beliebtesten« Spielarten häuslicher Tyrannei so richtig Luft machen.
Doch auch der schlimmste Haustyrann darf irgendwann einmal seine eigene Sichtweise darlegen, egal ob nun laut und vernehmlich oder bloß in Gedanken. Genau das wird während des gesamten Abschnitts, welcher zur besseren Übersicht noch in kleinere Einheiten, sogenannte »Tyrannenmuster-Blöcke«, unterteilt ist, auch ständig passieren. Deshalb bleibt uns gar nichts anderes übrig, als mutig zu hinterfragen, ob nicht die allermeisten der schlimmen Verhaltensmuster, über die wir uns ständig ärgern müssen, vielleicht sogar »hausgemacht« sind …
Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.
Paul Watzlawick
Tyrannenmuster: Wenn sie verweigern …
Zum Inhalt dieses ersten von drei »Tyrannenmuster-Blöcken« braucht es wohl nicht allzu viel Erklärungen. In ihm sind fünf der häufigsten, nervigsten und am meisten kräfteraubenden Facetten kindlicher Verweigerungshaltung zusammengefasst.
Wahrscheinlich können es alle Eltern und Bezugspersonen nur allzu gut nachvollziehen: Wenn ein Kind sich weigert, das zu tun, was man sich als Erwachsener gerade vorgestellt hat, gehen je nach Intensität der Verweigerung wie durch Zauberhand bereits die ersten Knöpfe des vielleicht ohnehin schon strapazierten Nervenkostüms auf.
Doch unsere Herausforderung besteht mitnichten darin, gemeinsam über offene Knöpfe zu klagen. Klar beobachten wir zwar all die tyrannischen Verweigerer, Trotzköpfe und sogar Provokateure sehr genau, aber wir fragen uns vor allem nach dem Warum!
Man beseitigt das Böse nicht, indem man es bekämpft, sondern indem man das Gute fördert.
Indisches Sprichwort
»Nein, ich mag nicht!« – Tyrannenmodus: Trotzkopf
Die meisten Eltern genießen die frühesten Jahre mit ihrem Kind. Klar doch! Ist ja auch eine schöne Zeit! Wenn’s nur immer so wäre und es da nicht auch noch zuweilen diesen professionell-tyrannischen Trotzmodus gäbe …
Fall 2: Trotzköpfchen
Der erste Elternteil, den wir kennenlernen dürfen, ist eine in letzter Zeit ziemlich ratlos gewordene junge Frau namens Felicitas, deren dreijähriger Sohnemann Michi gerade so etwas wie eine permanente Jetzt-mag-ich-erst-recht-nicht-Phase zu haben scheint. Zum Glück für uns neugierige Zaungäste, die wir ja förmlich nach allerlei Tyranneisituationen gieren, um diese zu beobachten und besser verstehen zu lernen, haben wir wohl heute einen »guten« Tag erwischt. Für Mama Felicitas läuft der Tag allerdings schon etwas weniger hitverdächtig. Michi ist gerade so richtig gut drauf. Als die beiden bei Tisch sitzen und Mami die Speisen auf dem Teller ihres Lieblings mundgerecht herrichtet, bekommt der Möchtegern-Tyrann ohne Vorwarnung plötzlich ein hochrotes Gesichtchen und stellt ein für alle Mal fest: »Mag nicht essen!« Schon ist der Kleine von seinem Kinderstuhl herunter und sucht das Weite, während Felicitas noch einige Kartoffeln zerteilt. »Bitte nicht schon wieder diese Trotzerei!«, meldet sich in ihrem Hirn die klassische Alarmfunktion, die allen Müttern zu eigen ist, wenn ein Mom-Kind-Konflikt ansteht. Aber auch die wunderbare mütterliche Bleib-ganz-ruhig-Warnung schaltet sich dazu … und gewinnt die Oberhand: »Setz dich bitte wieder hin!«, interveniert Felicitas, zwar ein wenig gepresst, aber beherrscht, während sie ihren Sohnemann einholt. Die Wirkung ist genau so, wie wir es wahrscheinlich erwartet haben. Die gute Mama hingegen trifft es unerwartet und sie hätte auf den soeben folgenden Trotzphasen-Steigerungsanfall wohl lieber verzichtet: »Neein! Wääh! Mag nicht essen!«
Jemand mit genügend Distanz zu der Sache hätte jetzt wahrscheinlich gesagt: »Na gut! Dann hat der Winzling eben heute keinen Hunger.« Keine große Sache. Doch so eine Ich-mag-jetzt-nichts-essen-Aussage ist im Akzeptanzprogramm einer liebenden Mami nicht wirklich enthalten. Deshalb interveniert sie munter weiter, als hätte sie die Ablehnung gar nicht gehört.
Klar ablehnende Aussagen von Kindern zu ignorieren und unbeeindruckt mit dem erzieherischen Programm fortzufahren, ist geradezu eine »Einladung« zum Umschalten auf Tyrannenmodus.
Immer noch daheim bei Trotzköpfchen
Noch bleibt Mama Felicitas einigermaßen ruhig: »Aber mein Spatz, du hast doch heute noch gar nichts Ordentliches gegessen! Komm jetzt endlich wieder zum Tisch!« Erneut gibt es eine klare Reaktion. Der Hosenmatz kontert mit einer klassischen Mini-Tyrannen-Geste: Er zieht einen Flunsch. Wir Österreicher nennen das übrigens »Schnoferl«.
»Na super! Da haben wir’s!«, heult der rationale Denksektor im Mamahirn auf. Doch bevor sie alarmiert aufspringt und erste Zwangsmaßnahmen einleitet, holt Felicitas noch einen argumentativen Nachschlag aus ihrer Ich-kann-noch-immer-rational-denken-Kiste: »Aber Michi, du musst doch groß und …!« Da reicht es dem Knaben endgültig. So einen Unsinn lässt sich ein Kind, das erstens schon so groß ist und zweitens mitten im fortgeschrittenen Tyrannenmodus steckt, sicher nicht sagen. Nachdem der Flunsch ganz offensichtlich nicht ausgereicht hat, greift man zu härteren Mitteln. Wütend stampft der kleine Wicht mit dem Fuß auf und brüllt los: »Nääh! Ich mag überhaupt nicht groß und stark werden!« Mama Felicitas verliert Geduld und Appetit gleich im Doppelpack. Mir ist schon klar, dass Sie, liebe Leser, so eine surreale Situation noch nie erlebt haben und wahrscheinlich niemals erleben werden. Oder etwa doch? Den Rest können Sie sich wahrscheinlich gut vorstellen. Das mit dem »groß und stark werden« war wohl wieder einmal das berühmte Wort zu viel. Michi scheint deswegen einen Wutanfall durchaus für angebracht zu halten. Wie oft in letzter Zeit. »Wieso lässt mein Kind sich gar nicht mehr auf mich ein?«, denkt Felicitas tief verletzt.
»Stimmt es denn wirklich«, fragt die junge Mutter mich im späteren Gespräch verzweifelt, »was mir viele Leute im Kindergarten so erzählen? Machen wirklich alle Kleinen so eine heftige Trotzphase durch?« – »Nein!«, antworte ich spontan, aber gelassen, »tun sie nicht!« – »Ach so?«, fragt Felicitas nachdenklich, »wenn das so ist, kann ich dann überhaupt noch etwas Sinnvolles unternehmen?«
Das ist für mich eine geradezu handverlesene Frage: »Aber klar, liebe Mama! Man kann immer etwas unternehmen!« Dazu aber später … Jetzt muss ich hier erst mal eine ratlose Mutter mental aufbauen, indem ich die ganze Situation entspanne: »Eine Trotzphase? Meiner Erfahrung nach gibt es so etwas gar nicht. Diesen Begriff verwenden nur wir Eltern als Entschuldigung für eine Da-kann-man-halt-nichts-machen-Situation.« Felicitas’ Gesichtsausdruck in diesem Moment als »erstaunt« zu bezeichnen, wäre glatte Untertreibung