Höflichkeit heute. Zwischen Manieren, Korrektheit und Respekt
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Höflichkeit heute. Zwischen Manieren, Korrektheit und Respekt - Asfa-Wossen Asserate
Hubert Christian Ehalt
Beziehungen leben und gestalten – zwischen Respekt, Manieren, Höflichkeit, Korrektheit und Solidarität
Die Werte, nach denen ein Mensch sein Leben ausrichtet, die Normen, die er akzeptiert und an die er sich hält, beziehungsweise die er ablehnt, die er nicht anerkennt, gegen die er opponiert, sind Teil einer sozialen Architektur, die grundlegenden Gesetzen (wie beim Bauen zum Beispiel die Statik) folgt, aber für Ausgestaltungen und Details unendlich viele Spielräume lässt.
Mit dem Handeln setzen Menschen ihre Werte, ihren Glauben, ihre (Vor-)Urteile, ihre »Weltanschauungen«, ihre Ziele in Taten um. Durch und in diesen Taten manifestiert sich die soziale Welt, in der wir – das heißt alle Menschen – uns bewegen. Es gibt keinen gesellschaftsfreien Raum. Werte, Normen, Leitbilder und Verhaltensstandards, Verhaltensmuster und -stile wurden und werden ständig weiterentwickelt. Elaboriert, ausdifferenziert und wieder vereinfacht. Individuelle Handlungssituationen folgen den vorgegebenen Mustern, sie haben aber auch Eigenständigkeit und Prägekraft. Traditionen folgen der Wiederholung und der Weiterentwicklung des Bewahrten; sie werden aber auch erfunden (Invention of Tradition, Eric Hobsbawm) – ein berühmtes Beispiel ist das Letzte Abendmahl, ein anderes die erste Schonung und Obhut, die einem Fremden gewährt wurde und aus der sich »Gastfreundschaft« entwickelte.
Gesellschaftliches Handeln folgt Regeln, die Machtverhältnisse in Formen bringen und damit eine gewisse »Außerfragestellung« bewirken. Verhaltensmuster bieten die Sicherheit, dass die handelnden Individuen wissen, was sie in einer bestimmten sozialen Situation zu tun haben. Die Sicherheit, dass man, das heißt Männer und Frauen, eine Sache richtig tut. Handlungssituationen »wollen« gesichert werden; das heißt, die Akteure wollen es. Besitz, aber auch Rechte auf Ansehen, auf Respekt, auf Ehrerbietung wollen von jenen »festgeschrieben« werden – auch in nicht schriftlichen Kulturen –, die diese Ansprüche erworben haben beziehungsweise meinen, sie erworben zu haben. Es wird ritualisiert: Rituale bewirken eine Festlegung, Sicherstellung durch Wiederholung. In schriftlichen Kulturen wird kodifiziert. Dort sind die Festlegungen und Festschreibungen abstrakter und rationaler. In der Neuzeit fanden Entwicklungen statt, die von Festschreibungen durch sinnfällige symbolreiche Handlungen zu abstrakten Verträgen – immer häufiger in schriftlicher Form – führten. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit bedurften Rechte als Ausdruck ihrer Wahrheit und Gültigkeit der Sinnfälligkeit: zum Beispiel wertvolle Materialien (wie Gold und Edelsteine) und bedeutungsvolle, lange überlieferte rituelle Formen, deren Geschichte nicht wissenschaftlich, sondern mythologisch erzählt wurde. Jan Huizinga berichtet in seinem »Herbst des Mittelalters« von einem Prediger, der, wenn er von der Liebe zu Jesus spricht, eine goldene Tafel zeigt, auf der der Name Jesu geschrieben steht.
Verhaltensformen von Respekt, Höflichkeit, Ehrerbietung und »Augenhöhe« entstehen und entwickeln sich im Wechselspiel von gestellten Ansprüchen und der Sicherung von erworbenen, beanspruchten, erkämpften Rechten.
In der Geschichte bildeten Verhaltensformen sehr früh ein eigenständiges »Universum«, eine Welt, die unabhängig von ihren Nutzfunktionen (Macht-, Herrschafts-, Besitzstabilisierung) Gültigkeit beansprucht.
Rituale und Verhaltensformen beanspruchen »a priori« und »per se« Wahrheit, nicht (nur) weil sie nützlich zur Aufrechterhaltung von (Partial)-Interessen waren und sind. Die Erklärung von Verhaltensformen, von Ritualarchitekturen und Symbolwelten als gesellschaftliche Machtfaktoren ist sozial- und kulturkritisch »richtig«. Man denke an Pierre Bourdieus Kulturkritik der Wirksamkeit von Bildungs- und Kulturunterschieden. Er zeigte ja eindrucksvoll, wie wichtig und vor allem wirksam das Kulturelle in der Aufrechterhaltung und Darstellung sozialer Unterschiede ist. Diese Kritik bildet aber nicht die lebensweltliche Dimension der handelnden Personen ab. Das ist eines der Dilemmata der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Diese Wissenschaften vom Menschen müssen differenzieren, analysieren, soziale Wirkungsweisen, die in Macht- und Herrschaftsverhältnissen ihren Ausdruck finden, darstellen. Den Individuen, die handeln, ist der Wirkmechanismus häufig nicht bewusst. Sie handeln in »Lebenswelten«, in denen sich Zweckrationalität, Wertrationalität (Begriffe von Max Weber) und »Affektlogik« (Luc Ciompi) untrennbar mischen. Auch »die beste«, avancierteste wissenschaftliche Methodik kann diese Differenz zwischen sozialen Funktionszusammenhängen und Lebenswelten nicht aufheben, da der Mensch als Freiheitswesen stets die Fähigkeit und die Möglichkeit hat, gegen die Wahrscheinlichkeit zu handeln. Das heißt, dass man sich als Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschafter mit der Tatsache abfinden muss, dass eine unüberbrückbare Differenz zwischen den Lebenswelten der Menschen und den diesen innewohnenden Logiken und den sozial- und kulturwissenschaftlichen Befunden (erstellt mit quantitativen und qualitativen Verfahren) bleiben