Mami 1776 – Familienroman: Dita, das Findelkind
By Gitta Holm
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Charly Elsner blickte wie gebannt an der Fassade des Instituts für Biophysik empor. Er fühlte sich irgendwie an eine Hochzeitstorte erinnert. Wahrscheinlich hatte dem Baumeister des früheren Sommerschlosses vorgeschwebt, einen steinernen Zuckerguß zu schaffen, sonst hätte er die Fassade nicht mit so vielen Türmchen, Erkern und Stuckrosetten verziert. Er zupfte seinen gelben Rollkragenpullover unter der schwarzen Lederjacke zurecht und zog an dem altmodischen Klingelzug. Es dauerte eine Weile, bis ein alter Mann in einer Art Livree mit verblichenen Silberknöpfen erschien. "Sie wünschen bitte?" fragte der Mann mit einem Organ, das wie eine verstimmte Blechtrompete klang. "Mein Name ist Karl Friedrich Elsner", stellte sich der Angeredete vor. Er wurde nur von seiner Braut Jessica und befreundeten Kollegen "Charly" genannt. "Ich komme vom ›Wochenkurier‹ und bin bei Herrn Professor Sievering angemeldet." "Bitte, folgen Sie mir." Der Pförtner führte ihn in eine Art Warteraum für Besucher, der in schummerigem Halbdunkel lag. In diesem ehemaligen Sommerschloß schien alles vornehm, alt und im Sterben begriffen zu sein. Die dunklen schwachbeinigen Möbel, die Tapeten und die uralten Zeitschriften, die auf einem Tischchen lagen, ja, sogar die Luft hatte etwas von einen Mausoleum an sich.
Ich würde ersticken, wenn ich hier Tag für Tag drin leben müßte, ging es Charly Elsner kurz durch den Kopf. Etwa fünf Minuten mochten vergangen sein, als sich die Tür öffnete. Charly hätte sich nicht gewundert, ein Gespenst in einem weißen Schlottergewand hereinwallen zu sehen. Aber der Mann, der den Raum betrat, hatte absolut nichts Geisterhaftes an sich.
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Mami 1776 – Familienroman - Gitta Holm
Mami -1776-
Dita, das Findelkind
Gita Holm
Charly Elsner blickte wie gebannt an der Fassade des Instituts für Biophysik empor. Er fühlte sich irgendwie an eine Hochzeitstorte erinnert. Wahrscheinlich hatte dem Baumeister des früheren Sommerschlosses vorgeschwebt, einen steinernen Zuckerguß zu schaffen, sonst hätte er die Fassade nicht mit so vielen Türmchen, Erkern und Stuckrosetten verziert.
Er zupfte seinen gelben Rollkragenpullover unter der schwarzen Lederjacke zurecht und zog an dem altmodischen Klingelzug. Es dauerte eine Weile, bis ein alter Mann in einer Art Livree mit verblichenen Silberknöpfen erschien.
»Sie wünschen bitte?« fragte der Mann mit einem Organ, das wie eine verstimmte Blechtrompete klang.
»Mein Name ist Karl Friedrich Elsner«, stellte sich der Angeredete vor. Er wurde nur von seiner Braut Jessica und befreundeten Kollegen »Charly« genannt. »Ich komme vom ›Wochenkurier‹ und bin bei Herrn Professor Sievering angemeldet.«
»Bitte, folgen Sie mir.«
Der Pförtner führte ihn in eine Art Warteraum für Besucher, der in schummerigem Halbdunkel lag. In diesem ehemaligen Sommerschloß schien alles vornehm, alt und im Sterben begriffen zu sein. Die dunklen schwachbeinigen Möbel, die Tapeten und die uralten Zeitschriften, die auf einem Tischchen lagen, ja, sogar die Luft hatte etwas von einen Mausoleum an sich.
Ich würde ersticken, wenn ich hier Tag für Tag drin leben müßte, ging es Charly Elsner kurz durch den Kopf.
Etwa fünf Minuten mochten vergangen sein, als sich die Tür öffnete. Charly hätte sich nicht gewundert, ein Gespenst in einem weißen Schlottergewand hereinwallen zu sehen. Aber der Mann, der den Raum betrat, hatte absolut nichts Geisterhaftes an sich. Er wirkte trotz seines vorgeschrittenen Alters quicklebendig.
Er trug einen weißen Kittel. Auf seiner Nase thronte ein altmodischer Zwicker, und er rieb sich fortgesetzt die Hände.
»Sievering«, stellte er sich formlos vor. »Sie sind der Mann von der Zeitung, der Quellenmaterial für eine wissenschaftliche Artikelserie sucht, nicht wahr? Über tierische Reaktionsfähigkeit, vornehmlich bei Atomversuchen, wie? Dann kommen Sie am besten mit mir in die Bibliothek.«
Er hatte alle diese Sätze mit einer Behendigkeit heruntergespult, die Charly in Erstaunen versetzte. Jetzt eilte er mit wehenden weißen Kittelschößen voraus, unaufhörlich redend. Vorbei an schwarzen Spitzbogentüren, grünverglasten Oberlichtern, die kaum Licht hereinließen, über hallende Mamorfliesen, die den Eindruck eines Mausoleums verstärkten.
»Hier.« Professor Sievering wies auf die neunte oder zehnte Spitzbogentür, die sie passierten. »Unsere Bibliothek.« Sie traten ein.
Alle vier Wände des großen Raums hatten Regale bis zur Decke. Der Geruch von altem Papier, von Staub und Tabak hing in der Luft.
»Sie werden eine Unmenge Material vorfinden«, sagte Professor Sievering. »Gewiß alles, was Sie für Ihre Wissenschaftserie benötigen. Bitte, nehmen Sie doch Platz. Sie dürfen auch gern rauchen. Mich müssen Sie leider entschuldigen. Ich habe noch eine Unmenge zu tun. Ich schicke Ihnen jemand, der Ihnen beim Suchen Ihrer Unterlagen hilft. Guten Tag.«
Fort war er.
Kopfschüttelnd sah Charly ihm nach. Eigentlich hatte er sich Biologen ganz anders vorgestellt. Auch seine Vorstellung von einem Institut für Biophysik wich sehr von diesem Gebäude ab. Er hatte sich alles heller, hygienischer, laborartiger gedacht. Nun, ihm war es gleich. Hauptsache, er bekam ausreichendes Material für seine Artikelserie.
Im nächsten Moment ging die Tür um einen Spaltbreit auf, und ein Mädchenkopf wurde sichtbar. Mit allem hatte Charly gerechnet, nur damit nicht, daß sich in dieser ehemaligen Fürstenresidenz ein Kind befand.
Die Kleine, sie mochte noch im Vorschulalter sein, war hereingekommen und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Charly musterte erstaunt den altmodischen Aufzug, mit dem sie hier erschien. Er erinnerte ihn an die Kinderbilder seiner Großmutter auf vergilbten Fotografien: ein hochgeschlossenes dunkelblaues Kleid, darüber eine gestärkte weiße Schürze, graue Kniestrümpfe und schwarze Stiefelletten, die bis zur Wade reichten.
Ihr blondes Haar war in zwei dünne, winzig kleine Zöpfe geflochten.
Sie kam auf ihn zu, sah ihn mit ihren großen blauen Augen an und sagte artig:
»Guten Tag.« Dabei lächelte sie nicht, und der Blick, mit dem sie dem fremden Mann vor sich studierte, war so kritisch, daß Charly zu seiner eigenen Bestürzung verlegen wurde.
»Na, wer bist du denn?« fragte er, um überhaupt etwas zu sagen.
»Prendita«, antwortete das Kind und nahm ihm gegenüber auf einem der hochlehnigen schwarzen Stühle Platz.
»Ist das dein Vorname?«
»Ja«, erwiderte das Kind und setzte schweigend seine Musterung fort. Langsam hellte sich das kleine Gesicht auf. Anscheinend fiel die Prüfung zu Charlys Gunsten aus.
»Das ist aber ein seltsamer Name«, fuhr er fort.
»Ja«, antwortete sie wieder. Und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Ich wollte nur nachschauen, ob Professor Wiedemann wohl in der Bibliothek ist.«
»Nein, dein Professor Wiedemann ist nicht hier. Ist das dein Vater?« fragte er.
Das Kind lachte. Es sah jetzt plötzlich sehr hübsch und sehr kindlich aus. »Professor Wiedemann ist eine Frau.«
»Ach so.« Charly lächelte ihr zu. »Und du gehörst hier ins Haus, oder bist du auch nur zu Besuch?«
»Nein, ich wohne hier.«
»Dann ist dein Vater sicher ein Mitarbeiter des Instituts?«
Prendita sah ihn aus ihren großen ernsthaften Augen an. »Nein.« Das war die einzige Auskunft.
»Wer sind deine Eltern? Haben sie sonst was mit dem Institut zu tun?«
»Ich habe keine Eltern.« Wieder dieser bestürzende Blick aus den blauen, viel zu ernsten Kinderaugen. »Ich bin ein Findelkind. Professor Wiedemann hat mir oft erzählt, wie ich hergekommen bin. Eines Morgens lag ich vor der Eingangstür, ich war noch ganz klein. Erst ein paar Tage alt, glaube ich. Und weil meine Eltern nicht gefunden wurden, haben mich Professor Wiedemann und die anderen Herren hierbehalten. Sie haben mich Prendita genannt. Prendita heißt ›Die Aufgenommene‹. Und seitdem bin ich hier.«
Mein Gott, dachte Charly, mein Gott, wie barbarisch! Ein Baby anderen Leuten vor sie Tür zu legen und dann wegzulaufen! Armes kleines Ding! Was gibt es bloß für Menschen auf der Welt!
Das Herz quoll ihm vor Mitleid über. Am liebsten hätte er die Kleine in die Arme genommen und an sich gedrückt. Er liebte Kinder über alles.
Er und Jessica waren fest entschlossen, eine richtige Familie zu gründen und dazu gehörten nun mal Kinder. Darüber waren sie sich von Anfang an einig gewesen.
»Und du bist gern hier?« wollte er von Prendita wissen.
»Oh, ja, sehr. Ich kann hier viel lernen. Ich will auch einmal eine berühmte Wissenschaftlerin werden. Professor Wiedemann sagt, ich schaffe es bestimmt. Und Professor Sievering will mir bald Physik beibringen.«
Charly unterdrückte ein Lachen. »So so, du bekommst also demnächst Physikunterricht. Aber du bist doch höchstens erst sieben, wie? Gehst du denn überhaupt schon zur Schule?«
»Ich bin erst sechs, und Professor Wiedemann ist meine Schule. Ich kann schon rechnen, lesen, schreiben und etwas Latein!«
»Donnerwetter, das ist ja allerhand!« rief Charly ehrlich überrascht. Sollte er es mit einem Wunderkind zu tun haben? Das wäre ja eine echte Entdeckung.
»Und Sie?« fragte die Kleine plötzlich. »Ich meine, wollen Sie hier arbeiten?«
»Nein. Ich bin Journalist. Das ist jemand, der…«
»Ich weiß, was das ist.