Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Hotel Excelsior
Hotel Excelsior
Hotel Excelsior
Ebook313 pages3 hours

Hotel Excelsior

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

1934, wenige Monate vor der Abstimmung, die darüber entscheidet, ob das Saargebiet den Status Quo behält oder an Hitlerdeutschland fällt.
Im Hinterhof des Saarbrücker Hotels Excelsior geschieht ein Mord. Heiner Lawall, Oberkellner des mondänen und berühmten Hauses, wird erschlagen. Der Mordfall wird nicht aufgeklärt. In den Wirren der Geschichte gerät er in Vergessenheit.
73 Jahre später, 2007, erhält der Sohn Lawalls einen mysteriösen Brief. Er scheint endlich Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen. Kommissar Sebastian Keller, der erst vor wenigen Monaten von Stuttgart nach Saarbrücken gezogen ist, und die Privatdetektive Laura und Udo Cappel versuchen gemeinsam, der Geschichte auf die Spur zu kommen. Doch die Suche nach der Wahrheit fordert neue Opfer …
LanguageDeutsch
PublisherConte Verlag
Release dateJun 24, 2015
ISBN9783956020681
Hotel Excelsior

Related to Hotel Excelsior

Related ebooks

Historical Mystery For You

View More

Related articles

Related categories

Reviews for Hotel Excelsior

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Hotel Excelsior - Kerstin Rech

    Inhaltsverzeichnis

    Cover

    Kerstin Rech - Hotel Excelsior

    Motto

    18. November 1934, 3.00 Uhr

    1

    2

    3

    18. November 1934, 4.30 Uhr

    4

    18. November 1934, 8.00 Uhr

    5

    18. November 1934, 13.00 Uhr

    6

    11. Juli 2007, 9.00 Uhr

    7

    8

    9

    11. Juli 2007, 11.30 Uhr

    10

    11

    12

    13

    11. Juli 2007, 14.00 Uhr

    14

    11. Juli 2007, 19.00 Uhr

    15

    16

    11. Juli 2007, 21.00 Uhr

    17

    12. Juli 2007, 4.00 Uhr

    18

    12. Juli 2007, 7.00 Uhr

    19

    12. September 1934, 18.00 Uhr

    20

    20. September 1934, 14.00 Uhr

    21

    22. September 1934, 14.00 Uhr

    22

    12. Juli 2007, 9.00 Uhr

    23

    12. Juli 2007, 9.00 Uhr

    24

    12. Juli 2007, 9.20 Uhr

    25

    14. Juli 2007, 12.30 Uhr

    26

    27

    14. Juli 2007, 16.00 Uhr

    28

    29

    15. Juli 2007, 10.30 Uhr

    30

    8. Mai 1940, 15.30 Uhr

    31

    18. April 2008, 10.00 Uhr

    32

    Danksagung

    Impressum

    Lesetipps

    So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom – und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu.

    F. Scott Fitzgerald, Der große Gatsby

    18. November 1934, 3.00 Uhr

    1

    Die Musiker hörten auf zu spielen und packten ihre Instrumente ein. Für einen Moment herrschte vollkommene Stille, und den anwesenden Gästen in den beiden Speisesälen wurde auf einmal bewusst, dass eine Kapelle, bestehend aus sieben jungen Musikern, den ganzen Abend und die halbe Nacht gegen ihr aufreizendes Gelächter und prahlerisches Reden angespielt hatte. Aber so unvermittelt die Stille eingesetzt hatte, so unvermittelt knüpften die lauten Unterhaltungen just an den Punkten wieder an, wo sie aufgehört hatten.

    »Hier in Saarbrücken, davon konnte ich mich persönlich überzeugen, werden die Geschäfte der Juden nicht boykottiert«, war der erste Satz, der nach der allgemeinen Stille zu vernehmen war. Gesprochen vom Erbsweiler Bürgermeister Schmidt und unterstrichen von einer eleganten Handbewegung (er fuhr mit der Stoffserviette über die Tischplatte), ganz wie er es vor ein paar Monaten bei Willy Fritsch im Gloriapalast gesehen hatte. Seine Begründung »Das ist nämlich verboten …« ging bereits im neu entstandenen allgemeinen Geräuschpegel unter und sein an den Schluss gestelltes und als lakonischer, aber dennoch grandioser Schlusseffekt gedachtes Wörtchen »… noch!« war selbst seinen Tischnachbarn nicht mehr vernehmlich.

    Die Augen der vier Anwesenden am Tisch des Bürgermeisters wanderten wie zufällig zu den Landesflaggen des Völkerbundes, die hinter der provisorischen Bühne aufgehängt und als zuvorkommende Geste des Hotels gegenüber seinen ausländischen Gästen gedacht waren, und von dort weiter zu zwei schwedischen Offizieren, die am Nachbartisch saßen und mehr an ihrem Whisky und ihrem Gegenüber als an der scheinbar vorbildlichen ethischen Gesinnung des Bürgermeisters interessiert waren.

    »Wohl wahr, aber ein deutsches Geschäft erkennt man an den Fähnchen, Herr Bürgermeister. Mein Lebensmittelhändler steckt niedliche kleine Hakenkreuzfähnchen in die Erbsenwürste.«

    »Das sind eben die Menschen von der Saar, meine liebe Frau Kaiser«, entgegnete der Bürgermeister so hochdeutsch wie nie und sah sich mit stolzer Miene nach dem Ober um, der sehr beschäftigt wirkte.

    »Gaff nohher net so rom wie e Bauer, wenn mir do drin in dem feine Saal sinn«, hatte ihn seine Frau am frühen Abend ermahnt, als sie im Foyer des Hotels standen und nicht wussten, wohin sie ihre Mäntel hängen sollten, und keiner der Laffen ihnen zu Diensten war. So behandelte man doch keinen Bürgermeister! Er hatte in diesem Moment inbrünstig gehofft, dass Louise, die Tochter seines Nachbarn Winterbach, ihn nicht so verlegen und unbeholfen zu sehen bekam. Denn das dumme Mädchen, das hier eine Anstellung gefunden hatte, würde es bestimmt seinem Vater erzählen und dann ging die Geschichte vom dummen Dorfbürgermeister, der sich nicht zu helfen wusste und die schweißnassen Hände an seinem Mantel abtrocknete, im ganzen Dorf herum. Als wäre je ein Erbsweiler so weit gekommen wie er, außer Memmersch Wirtschaft hatten die doch nichts gesehen in ihrem Leben. Wie würden die Erbsweiler Mannsbilder und Weibsleut staunen, wenn sie die mit Stoff bespannten Säulen hier drinnen sehen könnten, oder das Clubzimmer, in dem sogar bis an die Decke Ölgemälde hingen. Nein, nein. Er brauchte sich nicht zu schämen, für gar nichts.

    Jetzt nutzte er die Gelegenheit, um sich ein wenig in dem festlichen Saal des Hotel Excelsior umzusehen. Das Weiß der Tischtücher erinnerte ihn an gestärkte Bettlaken und an seine Kindheit in Erbsweiler, als der Montag der Waschtag war – jede Woche die kleine Wäsche und einmal im Monat die große. Schon am Vorabend hatte seine Mutter die Wäsche in heißem Seifenwasser eingeweicht. Dann wurde die Weißwäsche gekocht und gestampft, mit Kernseife gerieben und gewalkt, in klarem Wasser gespült und ausgewrungen. Und das Feuer in dem Wasserkessel ging nicht aus, das Wasser brodelte und die Haare hingen ihr ins Gesicht, das rot und aufgedunsen war von der Hitze und der Feuchtigkeit.

    Und ein anderes Bild schob sich vor das Gesicht seiner Mutter, das Bild einer hochgewachsenen schönen Dame, mit einem großen Hut auf dem Kopf. Sie war die Frau des Saarbrücker Bankiers Siegmund. Sie war mit Freunden in einem Vierspänner unterwegs auf einer Landpartie. Ausgerechnet in Erbsweiler brach die Mittelachse der Kutsche. Es war einmal mehr ein Montag. In seinen Erinnerungen waren die Jahre seiner Kinder- und Jugendzeit angefüllt mit Montagen. Und die hochgewachsene schöne Dame klopfte an die Tür und seine Mutter öffnete. Die Haare hingen ihr ins Gesicht, das rot und aufgedunsen war. Und die Frau des Bankiers Siegmund schaute auf diese kleine Frau herunter, die seine Mutter war, und er hatte sich geschämt, er hatte sich so unglaublich geschämt.

    Und eines schwor er sich, als er älter wurde: Nie mehr würde ihn jemand dazu bringen, sich zu schämen. Er war jemand geworden, immerhin Bürgermeister von Erbsweiler. Und er würde noch mehr werden, er war in der richtigen Partei. Er war in der Partei, der die Zukunft gehörte.

    Und bald schon würde es keine Siegmunds mehr im Saargebiet geben. Der Gedanke versetzte ihm einen Stich ins Herz, der sich anfühlte wie Trauer, was er sehr merkwürdig fand. Wie lange war es schon her, dass er nicht mehr an Frau Siegmund gedacht hatte. An diese wunderschöne Frau, die er einmal in seinem Leben gesehen und in die er sich damals unsterblich verliebt hatte. Und jetzt saß er hier im Hotel Excelsior, zum ersten Mal in seinem Leben, und die Sehnsucht nach dieser schönen Frau überwältigte ihn beinahe.

    Hier mit ihr zu sitzen, ihre Hand zu halten und mit ihr Champagner zu trinken. Ihre Hand zu seinem Mund zu führen und sie zu küssen.

    Er nahm sein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich über die Stirn.

    »Heiß hier drin«, sagte er, bevor ihn jemand fragen konnte, was ihm denn fehle.

    Mein Gott, dachte er erschrocken, ich bin jetzt fast ein alter Mann und sie war schon eine erwachse Dame, als ich noch ein Kind war. Die Erkenntnis der Vergeblichkeit traf ihn wie ein Schlag und erfüllte sein Herz mit einer Schwermut, die er noch nie gefühlt hatte.

    Wie lächerlich, wie lächerlich ich bin. Als wären wir ein Liebespaar geworden, wenn wir gleichaltrig gewesen wären.

    Sei es drum, wenn Hitler die Saar heim ins Deutsche Reich geführt hatte, würde er sich für das alte Ehepaar Siegmund verwenden. Es würde ihnen kein Leid geschehen. Aber dafür müsste er sicher sein, dass sein Wort Gewicht haben würde in der Partei.

    Er nahm sein Glas, trank es in einem Zug leer und füllte sich sofort wieder nach.

    Seine Tischnachbarin Frau Kaiser und seine Ehefrau beobachteten dies mit hochgezogenen Augenbrauen. Nur Kaiser lachte, sagte: »Guter Tropfen, was?«, und tat es ihm nach.

    Schmidt schaute sich nach bekannten Köpfen um. Doch nur wenige, ihm vom Hörensagen bekannte, Mitglieder der Deutschen Front waren an diesem Abend anwesend. Und vom Führerrat waren weder Hermann Röchling noch Jakob Pirro überhaupt gekommen. Dabei war es doch Samstagabend, und es wurde stets darüber gesprochen, dass jeder, der im Saargebiet Rang und Namen hatte, im Hotel Excelsior zum Tanzvergnügen sein würde. Und er war doch extra hergekommen, um einige, für seine Zukunft wichtige, Kontakte zu knüpfen. Stattdessen musste er nun an diesem Tisch bei den Kaisers (außer Kaiser kannte er niemanden hier und auch ihn nur flüchtig von einer Versammlung der Deutschen Front) sitzen bleiben und auch noch mit ansehen, wie die Gräfin von Roedern, die dem Führer Adolf Hitler so nahe stand wie keine andere hier im Saargebiet, mit einem englischen Offizier flirtete und sogar den Saal mit ihm verließ.

    Mit einem Engländer! Verstehe einer die Frauen.

    Er winkte dem Ober erneut, der ihn aber wieder einmal ignorierte. Bürgermeister Schmidt spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss und er wütend wurde.

    Bedient lieber die Ausländer, dieser Vaterlandsverräter! Aber warte nur ab, Freundchen, in zwei Monaten, wenn wir hier endgültig das Sagen haben, werde ich dich persönlich abholen und dir Benehmen beibringen.

    Seine Wangenknochen mahlten und er wusste, dass er morgen wieder Zahnschmerzen haben würde.

    Verdammter Judenbengel! Verdammter Kommunist! schimpfte er im Geiste und war sich sicher, dass mindestens eine von den beiden Bezeichnungen, wenn nicht sogar beide, auf den anmaßenden Ober zuträfen.

    »Bei welchem Lebensmittelhändler kaufen Sie denn ein, liebe Frau Kaiser?«, fragte die Frau des Bürgermeisters, die schon lange keinen Namen mehr hatte und in Erbsweiler nur Frau Bürgermeisterin genannt wurde, und die extra für den heutigen Abend hochdeutsch und ein paar Benimmregeln eingeübt hatte.

    »Beim Kolonialwarenhändler Kammerer. In der Augustiner Straße. Er führt sogar Südfrüchte«, antwortete Frau Kaiser.

    »Südfrüchte? Tatsächlich? Do sieh hien. Dann ist es ein guter Laden.« Die Bürgermeisterin bekräftigte ihre Worte mit einem wissenden Nicken. Die Cousine von Emsersch Lotte, verheiratete Winterbach, Gott hab sie selig, deren Tochter Louise sich jetzt hier im Excelsior als Zimmermädchen verdingte …, die Bürgermeisterin überlegte, wie hieß die Cousine nur, … ach ja, Emsersch Herta. Die Herta hatte einmal von Südfrüchten gesprochen, als sie letzten Sommer in Erbsweiler zu Besuch war. Und Herta wusste, wovon sie sprach, sie war immerhin bei feinen Leuten in Saarbrücken in Stellung.

    Die Bürgermeisterin schüttelte sich ein wenig bei dem Gedanken an Hertas Besuch im letzten Herbst und den Geruch, der dem Ziegenstall der Winterbachs entströmte, als Herta die Stalltür öffnete und die arme Louise frei ließ. Aber jetzt hatte es das arme Mädchen ja gut. Ach, wenn die Louise sie doch nur hier sitzen sähe und es dann im ganzen Dorf erzählen würde, welch vornehme Frau die Erbsweiler Frau Bürgermeisterin doch war.

    Ihr Blick schweifte in weite Ferne. Weit, weit über Erbsweiler und Saarbrücken hinweg.

    Südfrüchte, so überlegte sie, gab es bestimmt im Süden, an der Südsee. Sie dachte an die schöne Südsee, die sie irgendwo bei Nizza vermutete, an den schönen Hans Albers, der so ganz anders war als ihr Mann, ein echter Mann eben. Und sie dachte an das Kreuz des Südens, das so viel Romantik verhieß, auch wenn sie nicht wusste, was das für ein Kreuz war. Vielleicht ein anderes Wort für Hakenkreuz?

    Zu gerne hätte sie die vornehme Frau Kaiser gefragt, was Südfrüchte eigentlich sind, aber da hätte sie zugeben müssen, wie unwissend sie war. Sie hatte schon damals Herta nicht zu fragen gewagt und jetzt wagte sie es erst recht nicht.

    Wie dumm wir auf dem Dorf doch im Vergleich zu den Saarbrückern sind, dachte sie. Aber vielleicht würde sich das alles ja in zwei Monaten ändern. Nicht vielleicht. Nein, es gab keinen Zweifel. Ganz bestimmt. Es musste so sein. Sie hätte zwar nicht sagen können, wie diese Veränderung praktisch aussehen würde, aber ihr Glaube, dass es eine Veränderung zum Guten hin sein würde, war durch nichts zu erschüttern. Adolf Hitler hieß der Mann, der das vermochte, und schon lange stand sein Bild auf ihrer Frisierkommode. Neben Hans Albers war er der zweite schöne Mann ihrer Träume.

    »Kein Mumm in den Knochen, dieser Kammerer! Diese lausige Krämerseele! Nicht für fünf Groschen Mumm, sonst würde er die Fahne aus dem Fenster hängen und nicht en miniature in seine Würstchen stecken! Will es sich mit keiner Seite verderben. Aber ich habe ein gutes Gedächtnis, auch für die Krämerseelen dieser Welt, die lausigen Franzosenfreunde!«, dröhnte der vierte am Tisch, dessen Mund sich unter einem üppigen Schnauzbart versteckte.

    Das war August Kaiser, Leiter der Abteilung I der Saarbrücker Kriminalpolizei. Und was ihn für den Bürgermeister nicht ganz uninteressant machte, war die Tatsache, dass er Mitglied der Deutschen Front war und dem Führer angeblich sogar einmal persönlich die Hand gegeben hatte. Bei welchem Anlass dies jedoch geschehen sein sollte, war im Dunkeln geblieben.

    Die Gräfin von Roedern schien Kaiser wohl nicht zu kennen, denn die Bitte des Bürgermeisters, der Dame vorgestellt zu werden, ignorierte dieser so lange, bis sie mit ihrem englischen Begleiter verschwunden war.

    »Aber August, die Kinder spielen doch so gerne mit den kleinen Fähnchen. Fritz und Josephine wollen jetzt jeden Tag Erbsensuppe. Bald werden wir ganz und gar grün im Gesicht sein.«

    Die beiden Damen lachten bei dieser ulkigen Vorstellung. Familie Kaiser mit erbsengrünen Gesichtern. Wie drollig!

    Der Bürgermeister von Erbsweiler und der Leiter der Abteilung I bei der Kriminalpolizei Saarbrückens sahen sich bedeutungsschwer an.

    »Die Welt wird grün werden vor Neid, wenn Deutschland, unser geliebtes Vaterland, unter der Führung von Adolf Hitler den Platz einnimmt, der ihm zusteht!«, sagte Kaiser und sein Schnauzbart vibrierte.

    »Sie sagen es, lieber Freund. Wo bleibt nur dieser verdammte Ober?« In Memmersch Wirtschaft wurde er als Bürgermeister immer bevorzugt bedient.

    »Mit Personal muss man umgehen können, Schmidt«, sagte Kaiser und klopfte ihm jovial auf die Schulter. Ihm war der bewundernde Blick der Bürgermeisterin nicht entgangen. Die Dame wusste einen richtigen Mann wohl zu schätzen.

    »Hugo!«, donnerte Kaiser und schnippte mit den Fingern.

    Der Hilfskellner Hugo folgte beflissen dem Ruf zum Tisch des Herrn Kaiser. Doch kurz bevor er ihn erreichte, stolperte er mit seinen zu großen Schuhen auf dem Teppichboden. Das Tablett, das er auf einer Hand trug, flog durch den Saal und beendete seinen Flug scheppernd am Fuße der Bühne. Und zum ersten Mal in seinem Leben erhielt der junge Hilfskellner Hugo Linn Applaus. Und nicht nur, weil der Applaus von spöttischem Gelächter begleitet war, hätte der junge Mann gerne darauf verzichtet.

    »Da capo!«, riefen einige.

    Als er sich wieder aufrappelte, war sein Gesicht kreidebleich. Frau Kaiser und die Frau des Bürgermeisters kreischten vor Vergnügen. Wie doch ein Gläschen Schaumwein eine deutsche Frau zu beleben vermag.

    Als Hugos Blick auf den Rücken des Oberkellners fiel, der seelenruhig, so als würde der ungeschickte Hugo jede Nacht über den Teppich stolpern, weiterbediente, wurde er puterrot vor Wut. Bald, so wusste Hugo, würde er nicht mehr dienen müssen, sondern eine Uniform tragen. Eine SS-Uniform, und dann würde keiner mehr über ihn lachen oder ihn behandeln wie den letzten Dreck.

    Ein französischer Offizier, der noch allein an seinem Tisch saß und die kläglichen Bemühungen des unglücklichen Hilfskellners, die Peinlichkeit in menschlich erträglichen Grenzen zu halten, mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Schmunzeln unter dem Menjoubärtchen verfolgt hatte, legte zwei Hundert-Franc-Scheine auf den Tisch und stand schwankend auf.

    Heiner Lawall, der Oberkellner des Hotels, der gerade zwei englische Zeitungsreporter und ihre weibliche Begleitung bediente, bemerkte ihn und die Francs aus dem Augenwinkel.

    Mit einem freundlichen »Zum Wohl« und einem angedeuteten Diener drehte er sich um. Er bedachte den unglücklichen Hilfskellner, der mit dem Tablett voller Scherben an ihm vorüber rannte, mit einem kurzen, ausdruckslosen Blick und kam dem Offizier, einem alten und großzügigen Stammgast, zu Hilfe. Kaum hatte er ihm den Arm angeboten, da plumpste der Franzose auf seinen Stuhl zurück. »’oppla!«, rief er verwundert und sein Käppi rutschte ihm in die Stirn.

    »Das Taxi für den Franzmann ist schon bestellt«, raunte der Hilfskellner Hugo, der sein Tablett losgeworden war, Lawall im Vorbeigehen zu.

    Lawall hielt ihn am Arm fest. »Was hattest du denn im Foyer zu suchen? Ausschank, Küche, Saal! Sonst hast du dich nirgendwo herumzutreiben!«

    »Ich? Herumtreiben?«, fragte Hugo zurück, statt zu antworten, und erntete einen strafenden Blick des Oberkellners.

    »Hol den Mantel des Majors!«, befahl ihm Lawall mit leiser Stimme. Nur nicht die Contenance verlieren. Schließlich war er der Oberkellner und Hugo Linn sein Untergebener. Und so würde es bleiben, auch wenn er für den Bruchteil einer Sekunde in Linns Augen die an­maßende Gewissheit aufblitzen sah, dass die momentane Rangordnung nicht in Stein gemeißelt war.

    »Den Mantel des Majors holen? Beim Ausschank oder in der Küche?«, fragte Hugo zurück, deutete grinsend eine Verbeugung an und eilte zur Garderobe.

    »Gardez la monnaie, mon ami ’einer«, sagte der Offizier und stand wieder schwankend auf.

    Lawall fasste ihn diskret am Arm und murmelte: »Merci, Monsieur le Major. Erlauben Sie mir, Sie zu Ihrem Wagen zu begleiten?«

    Der Offizier nickte ihm freundlich zu.

    Hugo kam zurück und hielt dem Major den Mantel auf.

    »Frecher Kerl«, bemerkte der Major, nachdem er den Mantel angezogen hatte und der Hilfskellner von Lawall wie eine lästige Fliege wieder weggescheucht worden war.

    »Wer? Hugo?«

    »Ich mag nicht, wenn ein Mann so ’interhältig grinst.«

    Lawall zuckte mit den Schultern. Was ging ihn der Hilfskellner an? Solange er seine Arbeit halbwegs korrekt erledigte und ihm keine allzu frechen Widerworte gab, fand es Lawall unnötig, auch nur einen weiteren Gedanken an den jungen Mann zu verschwenden. Er fasste mit der freien Hand nach den Geldscheinen, die in einer Lache aus Whisky und Champagner lagen, und steckte sie, zerknüllt wie sie waren, in seine Hosentasche. Wieder ein schönes Trinkgeld. Und es gehörte ganz alleine ihm. Und er würde es ausgeben, wie er wollte. Für junge Damen und Zigaretten. Und auch für Alkohol. Aber das nur, wenn es unbedingt sein musste. Er trank nicht gerne. Doch wenn man mit einem schönen Fräulein im Café Kiefer oder im Café Ludwig saß, wirkten ein Likör oder ein Gläschen Sekt manchmal Wunder. Auch seine Frau war vor ein paar Jahren eines jener Fräuleins gewesen, mit denen er im Café Ludwig saß und denen er Avancen machte. Zwei Tassen Mokka mit Sahne, zwei Stück Frankfurter Kranz und ein paar Gläschen Crème de Cassis hatte es ihn gekostet. Zwei Monate später wurde aus dem Fräulein Trudchen Frau Gertrude Lawall. Und neun Monate später wurde ihr gemeinsamer Sohn Justus geboren, der genauso langweilig wie seine Mutter zu werden drohte.

    Lawall atmete tief ein und aus und unterdrückte ein Seufzen.

    »Sie sind ein guter Freund. Mein einziger guter Freund«, lallte der Offizier und umarmte ihn. Lawall hoffte, dass der Franzose nicht auch noch anfangen würde zu weinen. »Auch wenn Sie ein Deutscher sind und ein Nazi. Sie sind ein guter Freund.«

    Lawall spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht schoss.

    Der Offizier blies ihm seinen sauren Atem ins Gesicht und schaute ihn misstrauisch an. Seine Augen schielten. »Sie

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1