Heterotopie im Kontext von Clubkultur: Eine Analyse des Techno-/Houseclubs Berghain nach Foucaults Konzept der "Anderen Räume"
By Ralf Mahlich
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Heterotopie im Kontext von Clubkultur - Ralf Mahlich
2009).
1. Einführung in den Begriff der Heterotopien
Michel Foucault verwendet erstmalig im Dezember 1966 in einer Radiosendung für den Kulturkanal France-Culture den Begriff der Heterotopien als sein Konzept der „Anderen Räume". Einige Monate später, im März 1967, führt er seine Idee einer Wissenschaft über diese Räume, die Heterotopologie, vor einer Gruppe Architekten des Cercles d’etudes architecturales⁵ aus. Das Typoskript dieses Vortrags wird jedoch erst 1984, kurz vor Foucaults Tod, offiziell im Rahmen der Ausstellung Idee, Prozess, Ergebnis im Martin-Gropius-Bau in Berlin veröffentlicht. Bis zu diesem Zeitpunkt war dieser Text nahezu unbekannt. Mit der Publikation 1986 in den USA bekommt er dort eine nennenswerte Rolle in den sozialwissenschaftlichen Diskursen. Etwa seit dieser Zeit begannen queere, feministische und transkulturelle Gruppen die Heterotopologie mit Analysen von Identität und Körperpolitik zu verbinden.
In seinem Vortrag von 1967 analysiert Foucault die Wahrnehmung des Raums im Mittelalter als „hierarchisiertes Ensemble von Orten, das sich durch Gegensätze konstituierte (Foucault 1999, S. 145). Er nennt hier beispielsweise heilige und profane Orte. Der mittelalterliche Raum wurde als „Ortungsraum
begriffen, in dem die Dinge ihren festen Platz haben (Foucault 1999, S. 146). Erst durch Galileo Galilei im 17. Jahrhundert wandelte er sich in einen „unendlichen und unendlich offenen Raum (ebd.). Für Foucault ist die veränderte Wahrnehmung von Raum entscheidend, die sich durch Galileis Entdeckung der Erdumkreisung um die Sonne einstellte. Raum wird ab diesem Zeitpunkt als Ort der ständigen Bewegung gesehen. Das scheinbar Feststehende wird nun als unendliche Verlangsamung verstanden. Anstelle der Ortung trat dadurch die Ausdehnung (vgl. ebd.). Anders gesagt: Das Verständnis der sich in ständiger Bewegung befindenden Erde veränderte die grundlegende Einstellung zu den Dingen und ihren Orten. Sie wurden, wie die Erde, als nicht mehr feststehend, also nicht mehr „ortbar
angesehen.
In der heutigen Aufteilung und Entgegensetzung von Räumen, beispielsweise in private und öffentliche Räume oder Orte der Freizeit und der Arbeit, sieht Foucault zwar Reste einer „stummen Sakralisierung (ebd., S. 147), aber spricht davon, dass die Lagerung, beziehungsweise die Platzierung, die Ausdehnung abgelöst habe. Die Platzierungen der Räume werden durch ihre Verbindungen, Beziehungen, Markierungen definiert und befinden sich in einer Epoche,
in der sich uns der Raum in der Form von Lagerungsbeziehungen darbietet" (ebd.).
Dazu führt er ein Beispiel aus dem Gebiet der Demographie an. Hierbei geht es ihm bei der Frage der Menschenunterbringung nicht nur um die Verteilung von Lebensräumen, sondern auch darum, in welchen Nachbarschaftsbeziehungen die Menschen stehen. In der räumlichen Verteilung werden Positionierungen und Klassifizierungen aus machtpolitischen Zwecken in bestimmten Lagen beibehalten (vgl. ebd., S. 147).
Für María do Mar Castro Varela, die sich in ihrer Dissertation Unzeitgemäße Utopien - Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und gelehrter Hoffnung ebenfalls mit den Heterotopien auseinandersetzt, sind komplexe Mikroanalysen der Macht in Räumen und deren Positionierungen demnach bedeutsam, um zu verstehen
„wie different Räume funktionieren und mit welchen anderen Räumen und Orten sie in Verbindung stehen. Welche Netzwerke sie also bilden, für wen sie bereitstehen, sich öffnen und für wen sie dagegen verschlossen bleiben" (Castro Varela 2007, S. 56).
Foucault interessiert ebenfalls eine systematische Beschreibung verschiedener Räume in bestimmten Gesellschaften und dabei insbesondere die Heterotopien. Dieser Begriff wurde erstmals in den 1920er Jahren in der Medizin benutzt und beschreibt hier gesundes Gewebe, das sich aber nicht an der anatomisch richtigen Stelle befindet, beispielsweise Knorpelgewebe im Hoden.
Bei Foucault sind Heterotopien Räume, die sich durch ihre Platzierung auf alle anderen Anordnungen insofern beziehen, als dass sie deren Ordnung suspendieren, neutralisieren, reinigen oder umkehren. Er bezeichnet sie gleichsam als Gegenräume. In Heterotopie und Erfahrung - Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault von Marvin Chlada schreibt dieser, dass Heterotopien „eine mythische oder eine reale Negation des Raumes dar[stellen], in dem wir uns gewöhnlich bewegen" (Chlada 2005, S. 85).
Beispiele hierfür wären Gärten, Friedhöfe, Psychiatrien, Bordelle und Gefängnisse (Foucault 2005, S. 11).
Analog zu den Heterotopien können die Utopien gesehen werden. Auch diese können beispielsweise Perfektionierungen oder Kehrseiten einer Gesellschaft sein, sich außerhalb dieser befinden und sich zugleich auf diese beziehen. Im Unterschied zur Heterotopie sind sie allerdings unwirkliche Räume. Die Heterotopien können in diesem Sinne als verwirklichte Utopie verstanden werden und sind somit wirkungsmächtige Räume, die Foucault auch als „Widerlager" bezeichnet (Foucault 1999, S. 149). Er bebildert zum Verständnis die Analogie zwischen Utopie und Heterotopie mit einem Spiegel:
„Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinne, daß er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist" (Foucault 1999, S. 150).
Wenn wir uns also im Spiegel sehen, ist das ein Ort ohne Ort, eine Utopie, an der wir uns vielleicht gerne sehen möchten, aber nicht sind. Das Spiegelbild als Heterotopie verstanden macht den Ort, an dem wir stehen, „ganz wirklich und verbindet ihn mit dem Umraum. Gleichzeitig wird der Raum aber „ganz unwirklich
, da er nur über den virtuellen Punkt, das Glas, sichtbar wird.
Die von Foucault beschriebenen Heterotopien, die zu Raum gewordenen Utopien, unterscheidet er nach ihrer Funktion in zwei Pole: Die Kompensationsheterotopien und die Illusionsheterotopien. Erstere erfüllen die Funktion, den Restraum als missraten, ungeordnet und wirr zu verwerfen. Zur Kompensation dieser ungeordneten Räume wird ein neuer geschaffen „der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist" (Foucault 2005, S. 20). Foucault nimmt hier auf die Kolonisationswelle im 17. Jahrhundert Bezug und nennt den Aufbau von Jesuiten-Kolonien in Paraguay als Beispiel. In diesen war die Existenz in jedem Punkt geregelt. Durch eine strenge Architektur, in der sich durch die Positionierung der Gebäude das Zeichen Christi in der Dorfmitte fand, war das Grundzeichen der Kolonisator_innen⁶ immer sichtbar. Der strikt festgelegte Tagesplan für alle Erwachsenen wurde durch Glockenschläge geregelt. Da die Jesuiten sich eine große Menge an Kindern in den Kolonien wünschten, regelte die Glocke sogar den Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs (vgl. Foucault 1999, S. 156). Die Kolonien als verwirklichte Utopie standen unter anderem für die Konstituierung von Unterdrückung und