Der zugewandte Jesus: Unerwartete Antworten auf die großen Fragen des Lebens
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Das sind die großen Fragen des Lebens. Jesus von Nazareth hat nicht gesagt: Ich gebe euch Antworten auf diese Fragen. Er hat behauptete: Ich bin die Antwort auf diese Fragen!
Tim Keller schaut sich das Leben von diesem Jesus an. Wie er sich einzelnen Menschen zuwendet: Dem Skeptiker Nathanael, dem Pharisäer, der Frau, die schon jenseits des Randes der Gesellschaft steht. Diese Begegnungen und wichtige Schlüsselerlebnisse im Leben von Jesus zeigen, wer er wirklich war.
Gibt dieser zugewandte Jesus auch heute noch die Antwort auf die großen Fragen?
Und was bedeutet das für mein Leben heute?
Timothy Keller
Timothy Keller, Jahrgang 1950, gründete zusammen mit seiner Frau Kathy die Redeemer Presbyterian Church in New York City. Heute ist er als Buchautor und Gemeindeberater tätig. Timothy Keller hat u. a. auch "Warum Gott?", "Jesus-seine Gesichte, unsere Geschichte", "Gott im Leid begegnen" und "Hoffnung in Zeiten der Angst“ geschrieben.
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Der zugewandte Jesus - Timothy Keller
Kapitel 1
Ein skeptischer Schüler
Die erste Begegnung, die ich betrachten möchte, ist tiefgründig und eindrucksvoll zugleich. Es ist die Begegnung mit einem kritischen Schüler. Es geht darin um die vielleicht grundlegendste aller großen Lebensfragen: Wo sollen wir eigentlich nach Antworten auf unsere großen Fragen suchen und wo besser nicht? So hat diese Begegnung all denen etwas zu sagen, die dem Christentum kritisch gegenüberstehen. Und auch Christen, die sich der Skepsis von Menschen gegenübersehen, die nicht glauben.
Diese Begegnung findet sich gleich nach dem Absatz am Beginn des Johannesevangeliums, den man den „Prolog" genannt hat. Der französische Philosoph Luc Ferry stellt heraus, dass dieser Prolog ein Wendepunkt in der Geistesgeschichte ist. Die Griechen glaubten, dass das Universum eine rationale und moralische Ordnung habe; sie nannten diese natürliche Ordnung Logos. Für die Griechen lag der Sinn des Lebens darin, diese Ordnung in der Welt zu meditieren und zu erfassen. Ein gut geführtes Leben war für sie ein Leben, das dieser Ordnung entsprach. Der Verfasser des Johannesevangeliums greift nun bewusst auf diesen Begriff Logos zurück und sagt über Jesus:
Am Anfang war das Wort (Logos). Das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott selbst. Von Anfang an war es bei Gott. Alles wurde durch das Wort geschaffen, und nichts ist ohne das Wort geworden … Das Wort wurde Mensch und lebte unter uns. Wir selbst haben seine göttliche Herrlichkeit gesehen … (Johannes 1,1-3.14)
Diese Aussage schlug wie ein Blitz in die Welt der antiken Philosophen ein. Wie die griechischen Philosophen – und anders als viele zeitgenössische – bekräftigt Johannes, dass es für unser Leben ein telos gibt, eine Bestimmung – etwas, wofür wir geschaffen wurden, das wir erkennen und achten müssen, wenn wir gut und frei leben wollen. Er verkündet, dass die Welt nicht das Produkt blinder, zufälliger Kräfte ist; ihre Geschichte ist eben nicht, wie William Shakespeare es ausdrückte, „ein Märchen, erzählt von einem Blödling, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet"¹.
Aber dann behauptet die Bibel, dass der Sinn des Lebens nicht in einem Prinzip oder einer abstrakten rationalen Struktur liegt, sondern in einer Person, einem konkreten Menschen, der über diese Erde gegangen ist. Ferry bemerkt, dieser Anspruch sei den Philosophen als Verrücktheit erschienen. Aber er führte zu einer Revolution. Wenn das Christentum wahr ist, dann ist das gute Leben nicht zuerst in philosophischem Nachsinnen und intellektuellem Streben zu finden, was an den meisten Menschen dieser Welt vorbeigeht. Vielmehr ist es in der Begegnung mit einer Person zu finden, in einer Beziehung, die für jedermann an jedem Ort und von jedem erdenklichen Hintergrund aus zugänglich ist.
Um uns nun gleich zu zeigen, wie das im wirklichen Leben aussieht, wird Johannes konkret und präsentiert uns Jesus im Gespräch mit einer Gruppe von Schülern. In der Zeit Jesu gab es keine Universitäten; wer etwas lernen wollte, schloss sich einem Lehrer an. Es gab viele spirituelle Lehrer, und es gab viele, die ihnen folgten und ihre Schüler oder Jünger wurden. Der kantigste und vielleicht kämpferischste Lehrer seiner Zeit war wohl Johannes der Täufer. Er war sehr bekannt, hatte viele Jünger und etliche besonders eifrige Schüler. Die Geschichte kennt einige davon: Andreas mit seinem Bruder Petrus und Philippus, der seinen Freund Nathanael mitbrachte. Einige unter den Schülern glaubten bereits, was ihr Lehrer über den kommenden Messias sagte, den er „das Lamm Gottes" nannte (Johannes 1,29). Aber manche zweifelten auch. Nathanael gehörte zu diesen kritischen Schülern, bis er selbst eine Begegnung mit Jesus Christus hatte.
Als Jesus am nächsten Tag nach Galiläa gehen wollte, traf er unterwegs Philippus. Auch ihn forderte er auf: „Folge mir! Philippus stammte wie Andreas und Petrus aus Betsaida. Kurze Zeit später begegnete Philippus Nathanael und erzählte ihm: „Endlich haben wir den gefunden, von dem Mose und die Propheten sprechen. Er heißt Jesus und ist der Sohn von Josef aus Nazareth.
„Nazareth?, entgegnete Nathanael. „Was kann von da schon Gutes kommen!
Doch Philippus antwortete ihm: „Du musst ihn selbst kennenlernen. Komm mit!"
Als Jesus Nathanael erblickte, sagte er: „Hier kommt ein aufrichtiger Mensch, ein wahrer Israelit! Nathanael staunte: „Woher kennst du mich?
Jesus erwiderte: „Noch bevor Philippus dich rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen."
„Meister, du bist wirklich Gottes Sohn!, rief Nathanael. „Du bist der König Israels!
Jesus sagte: „Das glaubst du, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah. Aber du wirst größere Dinge zu sehen bekommen. Und er fuhr fort: „Ich sage euch die Wahrheit: Ihr werdet den Himmel offen und die Engel Gottes hinauf- und herabsteigen sehen zwischen Gott und dem Menschensohn!
(Johannes 1,43-51)
Mir liegt daran, dass Sie zuerst verstehen, was Nathanaels Problem war. Nathanael ist mindestens ein intellektueller Snob, wenn nicht gar ein scheinheiliger Frömmler. Philippus kommt und sagt zu ihm: „Ich möchte dich mit dem neuen Rabbi bekannt machen; er hat Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit, und er stammt aus Nazareth. Nathanael spottet: „Nazareth!?
Jeder in Jerusalem sah auf die Leute aus Galiläa herab. Diese Haltung ist typisch menschlich. In manchen Wohnvierteln sieht man auf andere Wohnviertel herab: „Da wohnt man doch nicht." Und was machen die Leute, die so herablassend behandelt werden? Sie suchen sich andere, auf die sie nun herabschauen können. Und so geht es endlos weiter.
Nathanael war zwar nicht aus Jerusalem, sondern aus einer Ecke Galiläas, aber er fand, er habe das Recht, auf einen Ort wie Nazareth herabzusehen. Nazareth galt als besonders rückständiger und primitiver Flecken in Galiläa. Es gibt sie immer: die richtigen Leute, die smarten Leute, die passenden Leute; und dann gibt es da noch (senken Sie die Stimme) die anderen da. Und die richtige Methode, um den richtigen, smarten, passenden Leuten zu zeigen, dass man einer von ihnen ist, ist es, die Augen zu verdrehen, wenn die falschen Menschen oder die falschen Orte erwähnt werden.
Wir wollen, dass andere uns für fähig und intelligent halten; aber oft versuchen wir diesen Eindruck nicht durch eigene respektvolle und sorgsame Argumentation zu erwerben, sondern durch Gespött und Geringschätzung für andere. Andere sind dann nicht einfach im Irrtum, sondern sie sind rückständig, out, intellektuelle Zwerge. Nathanael konnte nicht glauben, dass jemand aus Nazareth Antworten auf die großen Fragen seiner Zeit haben könnte.
„Du willst mir weismachen, er hat die Antworten – und er kommt aus Nazareth? Ähem … ich bin nicht überzeugt." Er verdreht die Augen. „Er kommt wirklich daher? Also ehrlich …"
Wenn Sie eine ähnliche Sicht auf das Christentum haben oder jemanden kennen, der diese Perspektive hat, wäre das keine Überraschung. Heute haben viele Menschen eine ähnliche Meinung über den christlichen Glauben, wie Nathanael sie zu Nazareth hatte. Das Christentum kam damals aus Nazareth, und es kommt immer noch aus Nazareth. Die Leute verdrehen die Augen angesichts ihrer Vorstellung davon, was das Christentum sei und welche Aussagen es darüber macht, wer Christus ist und was er für sie getan hat und tun kann. Die angesagten Leute, die, die es wissen müssen, sagen alle: „Christentum – erzähl mir nichts. Ich bin damit groß geworden. Aber ich hab schon früh gemerkt, das ist nichts für mich. Ich hab mich entschieden." Und so kommt Jesus immer noch aus Nazareth.
Wenn das auch Ihre Haltung zum christlichen Glauben ist, habe ich zwei Hinweise für Sie, weil es sein könnte, dass Sie zwei Probleme haben, denen Sie sich stellen sollten. Der erste ist: Diese Art von Geringschätzung ist immer tödlich. Sie tötet absolut jede Kreativität und jede Möglichkeit, ein Problem zu lösen, ganz zu schweigen von jeder Hoffnung auf eine Beziehung. Tara Parker-Pop zählt in ihrem Ehebuch For Better das Augenverdrehen zu den eindeutigsten Anzeichen dafür, dass eine Beziehung ernsthaft gefährdet ist. Eheberater achten darauf, denn es signalisiert Verachtung für den anderen. Eine gelingende Ehe kann viel verkraften: Enttäuschung, Meinungsverschiedenheiten, Schmerz, Frustration. Was sie nicht verkraften kann, ist Geringschätzung. Verachtung tötet buchstäblich die Beziehung.
Ein konkreteres Beispiel: Sie haben Ihren Schlüssel verlegt. Wenn Sie überall dort nachgesehen haben, wo er sein „kann, und ihn doch nicht gefunden haben, werden Sie anfangen müssen, an Orten zu suchen, wo er „eigentlich nicht sein kann
. Und natürlich werden Sie ihn dort finden. Also: Nichts ist verhängnisvoller für Lebensweisheit und gute Beziehungen, als wenn man bestimmte Ideen – oder bestimmte Menschen – von vornherein ablehnt.
Das zweite Problem, das Sie haben, wenn Sie das Christentum gering schätzen, ist gravierender. Sie schneiden sich dann selbst von der Lebensader ab, die Sie mit vielen Ihrer vermutlich zentralen Werte verbindet. Wie schon bemerkt hat das Christentum eine der grundlegenden Ideen einer friedlichen Zivilisation hervorgebracht – dass man seine Feinde lieben und nicht töten soll. Eine weitere Idee, die für unser heutiges Bewusstsein zentral ist, so stellt Luc Ferry heraus, ist die Vorstellung, dass jeder einzelne Mensch, unabhängig von Begabung oder Vermögen oder Rasse oder Geschlecht, im Ebenbild Gottes geschaffen ist und daher Würde und Rechte besitzt. Ferry sagt, ohne bestimmte Lehren des Christentums und ohne die Lehre, dass der Logos eine Person ist, „hätte sich die Philosophie der Menschenrechte, die wir heute alle bejahen, niemals durchgesetzt."
Noch eine weitere Idee, die heute als selbstverständlich gilt, kommt aus der Bibel – nämlich die Vorstellung, man solle für die Armen sorgen. Als die Mönche im vorchristlichen Europa das Christentum verbreiteten, hielten alle gesellschaftlichen Eliten die Idee, man solle seine Feinde lieben und sich um die Armen kümmern, für verrückt. Eine Gesellschaft, in der das galt, würde zerbrechen, denn die Welt würde einfach nicht funktionieren. Die Begabten und Starken herrschen. Der Sieger kriegt alles. Die Starken fressen die Schwachen. Die Armen sind für das Leid geboren. War es nicht schon immer so? Aber die Gedanken des Christentums revolutionierten das heidnische Europa, indem sie die Würde der Person, die Bedeutung der Feindesliebe und die Sorge für die Armen und Waisen betonten.
Sie mögen nun sagen: „Das ist ja ein ganz interessantes historisches Argument, dass diese Ideen aus der Bibel stammen und durch die Kirche verbreitet wurden. Aber ich kann auch daran glauben, ohne an das Christentum zu glauben." Auf einer Ebene mag das so sein; aber ich würde Ihnen gern aufzeigen, dass eine solche Reaktion kurzsichtig wäre.
Das Buch Genesis gibt uns einen Einblick, wie es vor der Offenbarung der Bibel in den Kulturen der Menschheit aussah. Etwas, was wir schon in frühester Zeit beobachten, ist die Praxis des Erstgeburtsrechts – der älteste Sohn erbte das gesamte Vermögen, und auf diese Weise sicherte eine Familie ihren Status und Platz in der Gesellschaft. Also bekamen der zweite oder dritte Sohn nichts oder fast nichts. Aber in der Bibel ist es durchgängig anders: Wenn Gott jemanden erwählt, um durch ihn zu wirken, dann ist es immer ein jüngerer Sohn. Er wählt Abel, nicht Kain; er wählt Isaak, nicht Ismael. Er wählt Jakob, nicht Esau. Er wählt David, nicht seine elf älteren Brüder. Immer und immer wieder wählt er nicht den Ältesten, nicht den, den die Welt erwartet und belohnt. Niemals den aus Jerusalem, immer den aus Nazareth.
Ein weiterer Zug der alten Kulturen, der im Buch Genesis deutlich wird, ist es, dass in diesen Gesellschaften Frauen, die viele Kinder geboren hatten, eine besondere Ehrenstellung genossen. Viele Kinder bedeuteten wirtschaftlichen Erfolg, militärischen Erfolg und natürlich, dass das Fortbestehen des Familiennamens gesichert war. Und daher wurden Frauen, die keine Kinder bekommen konnten, stigmatisiert; es galt als Schande. Aber in der Bibel ist es durchgängig anders: Wenn Gott uns zeigt, wie er durch eine Frau wirkt, dann wählt er die, die keine Kinder haben können, und öffnet ihren Schoß. Es sind verachtete Frauen, aber Gott zieht sie denen vor, die in den Augen der Welt geliebt und gesegnet sind. Er erwählt Abrahams Frau Sara; Isaaks Frau Rebekka, Samuels Mutter Hanna und Elisabeth, die Mutter Johannes des Täufers. Gott wirkt immer durch die Männer oder Jungen, die niemand wollte, durch die Frauen oder Mädchen, die niemand wollte.
Vielleicht denken Sie jetzt, dieser Aspekt des Christentums sei ja sehr nett und erhebend – Gott liebt eben Verlierer. Vielleicht sagen Sie: „Diesen Aussagen der Bibel kann ich zustimmen. Aber all das andere – diese Sache mit dem Zorn Gottes und dass Christus sein Blut vergoss und eine leibhaftige Auferstehung –, das kann ich nicht annehmen. Aber gerade diese Aussagen der Bibel – die herausfordernden, übernatürlichen – sind zentral, nicht unerheblich. Im Kern der einzigartigen Botschaft der Bibel steht die Überzeugung, dass der transzendente, unsterbliche Gott selbst in die Welt kam und schwach und verwundbar wurde, anfällig für Leiden und Tod. Er tat das alles für uns – um für unsere Sünde zu sühnen, die Strafe zu tragen, die wir verdient hatten. Wenn das wahr ist, ist es der erstaunlichste und radikalste Akt der Selbsthingabe und Opferbereitschaft aus Liebe, den man sich vorstellen kann. Ein sichereres Fundament und eine kraftvollere Motivation für die revolutionären ethischen Konzepte des Christentums, die uns ansprechen, könnte es nicht geben. Was die christliche Ethik einzigartig machte, war nicht, dass Jesus und die frühen Christen so nette Leute waren, die lauter nette Sachen taten, um die Welt zu einem netteren Ort zu machen. Diese Ideen mussten so lange sinnlos erscheinen, bis man verstand, was die christliche Botschaft über das Wesen der letzten Wirklichkeit sagte – und diese Botschaft ist zusammengefasst in dem, was die Bibel „das Evangelium
nennt.
Der Kern, der das Christentum von jeder anderen Religion und jedem Denksystem unterscheidet, ist dies: Jede andere Religion sagt, wenn man Gott finden will, muss man an sich selbst arbeiten. Wenn man ein höheres Bewusstsein erreichen, eine Verbindung zum Göttlichen haben möchte – dann muss man dieses oder jenes tun. Man muss alle Kräfte einsetzen, sich an die Regeln halten, man muss den Geist frei machen und ihn dann neu füllen, man muss besser sein als der Durchschnitt. Jede andere Religion oder philosophische Richtung sagt: Wenn du die Welt in Ordnung bringen willst oder dich selbst in Ordnung bringen willst, dann nimm all deinen Verstand und deine Kräfte zusammen und lebe auf eine bestimmte Weise.
Das Christentum sagt genau das Gegenteil. Jede andere Religion oder Philosophie sagt, wenn du mit Gott in Kontakt kommen willst, musst du etwas tun; aber das Christentum sagt Nein. Jesus Christus kam, um für dich zu tun, was du nicht für dich selbst tun kannst. Jede andere Religion sagt, hier sind die Antworten auf die großen Fragen. Aber das Christentum sagt, Jesus ist die Antwort auf sie alle. So viele Glaubenssysteme sind attraktiv für starke, erfolgreiche Leute, weil sie ihre Überzeugung bekräftigen, dass man Erfolg hat, wenn man nur stark genug ist und sich genügend anstrengt. Aber das Christentum ist nicht nur etwas für die Starken; es ist für alle, für jeden, aber besonders für Leute, die zugeben, dass sie da, wo es wirklich darauf ankommt, schwach sind. Es ist etwas für Leute, die über die besondere Stärke verfügen einzugestehen, dass ihre Fehler nicht belanglos sind, dass ihr Herz zutiefst in Unordnung ist und dass sie nicht in der Lage sind, sich selbst in Ordnung zu bringen. Es ist etwas für alle, die sehen können, dass sie einen Retter brauchen, dass sie es nötig haben, dass Jesus Christus für sie am Kreuz stirbt und sie mit Gott versöhnt.
Denken Sie einmal über das nach, was ich jetzt gerade geschrieben habe. Im besten Fall klingt es unzumutbar für den gesunden Menschenverstand, im schlimmsten Fall abstoßend. Das Geniale am Christentum ist, dass es nicht sagt: Wenn du Gott finden willst, tu dies oder jenes. Im Christentum geht es darum, dass Gott in Gestalt von Jesus Christus in diese Welt kommt und am Kreuz stirbt, um Sie zu finden. Das ist die wirklich radikale und einzigartige Wahrheit, die das Christentum der Welt geschenkt hat. All die anderen revolutionären Ideen von Fürsorge für die Armen und Bedürftigen, von Liebe und Dienst als Lebensinhalt anstelle von Macht und Erfolg, von hingebungsvoller Liebe sogar für die Feinde – sie alle entspringen dem Kern des Evangeliums: der Botschaft nämlich, dass, weil unsere Sünde so schwer ist, Gott selbst in der Person von Jesus Christus kam, um zu tun, was wir nicht für uns selbst tun konnten – uns zu retten.
Und nun frage ich Sie – wenn Sie mir zustimmen, dass das Evangelium die Quelle für viele Ihrer Überzeugungen ist: Warum sollte man einen Teil der christlichen Lehre annehmen, aber den anderen Teil, der diese Lehre erklärt und erst verständlich macht, nicht? Folgen Sie nicht dem Beispiel Nathanaels. Lassen Sie nicht zu, dass Ihre Überzeugung, das Christentum sei schlicht überholt oder intellektuell unbefriedigend, Sie blind macht für das, was es zu bieten hat. Hüten Sie sich vor Stolz und Vorurteil, vor Verächtlichkeit und Geringschätzung. Die sind immer giftig, in jedem Lebensbereich, aber ganz besonders dort, wo es darum geht, die grundlegenden Fragen zu stellen.
Der erste wichtige Aspekt an der Geschichte des Nathanael ist also das Problem von Stolz und Verachtung. Aber dahinter liegt, seiner spöttischen Äußerung zum Trotz, ein tiefes geistliches Bedürfnis. Er sagt: „Nazareth! Was kann von da schon Gutes kommen? Und nur wenige Augenblicke später sagt er: „Meister, du bist wirklich Gottes Sohn. Du bist der König Israels.
Kaum dass Jesus beginnt, ihm ein paar glaubwürdige Beweise dafür zu liefern, wer er ist, wechselt Nathanael sehr schnell die Seiten – zu schnell, vielleicht. (Wir werden später noch sehen, dass Jesus Nathanael mild tadelt, weil er sich nicht die Zeit genommen hat, die Dinge zu durchdenken.) Überrascht Sie das? Mich überrascht es nicht.
Als meine Frau Kathy und ich vor mehr als zwanzig Jahren nach Manhattan zogen, wollten wir eine neue Gemeinde gründen. Man sagte uns, New York City sei ein Sammelbecken der Jungen, Ehrgeizigen und Brillanten, und in eine neue Gemeinde würde überhaupt niemand kommen, weil all diese Leute glaubten, sie