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Stefan Zweigs Reise ins Nichts: Historische Miniatur
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Ebook85 pages1 hour

Stefan Zweigs Reise ins Nichts: Historische Miniatur

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Nach acht Jahren im Exil, das ihn um die halbe Welt geführt hat, wählt Stefan Zweig - meistgelesener deutschsprachiger Autor seiner Zeit - am 22. Februar 1942 in Petrópolis, Brasilien, den Freitod. Auf dem Nachtkästchen finden Kriminalbeamte eine Flasche Wasser, ein Fläschchen Veronal, auf dem wohlgeordneten Schreibtisch neben frisch angespitzten Bleistiften seinen Abschiedsbrief. „Ich grüße alle meine Freunde“, steht da. „Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.“
Verfolgt, vereinsamt und völlig erschöpft fühlt Stefan Zweig sich nur noch in dieser letzten Entscheidung frei. Die Morgenröte ahnt er wohl, die Wende im Zweiten Weltkrieg, das nahende Ende der faschistischen Nacht erlebt er tragischerweise nicht mehr.
Reinhard Wilczek beleuchtet die Gleichzeitigkeit von literarischem Welterfolg und unaufhaltbarem Untergang in Stefan Zweigs letzten beiden Lebensjahrzehnten und folgt den Spuren der Vorbereitung dieses verzweifelten finalen Aktes der Autonomie in Leben und Werk dieses großartigen Denkers und Autors.
LanguageDeutsch
PublisherLimbus Verlag
Release dateAug 5, 2015
ISBN9783990390436
Stefan Zweigs Reise ins Nichts: Historische Miniatur

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    Stefan Zweigs Reise ins Nichts - Reinhard Wilczek

    Reinhard Wilczek

    Stefan Zweigs Reise ins Nichts

    Historische Miniatur

    Für Gz, MGz, MK und die beiden Jungs

    Die Welt – ein Tor

    Zu tausend Wüsten stumm und kalt!

    Wer das verlor,

    Was du verlorst, macht nirgends Halt.

    Friedrich Nietzsche: Vereinsamt

    Auf dem Rücken in seinem Bett liegend, bekleidet mit einem Sportanzug, einem kastanienbraunen Hemd mit schwarzer Krawatte und schwarzbraunen Kniehosen – so finden Bedienstete in der brasilianischen Stadt Petrópolis in der Rua Gonçalves Dias 34 am 23. Februar 1942 den leblosen Körper eines etwa 60-jährigen Mannes, eng umschlungen von einer toten Frau in geblümtem Unterkleid, deren Gesicht an der linken Wange des Abgeschiedenen ruht. Neben den Betten auf den Beistelltischen stehen jeweils eine angebrochene Flasche Salutaris-Mineralwasser und eine weitere geöffnete Glasflasche unbekannten Inhalts. Die Polizei stellt nach kurzer Zeit fest, dass es sich bei den beiden Toten um den deutschsprachigen Schriftsteller Stefan Zweig und seine zweite Frau Charlotte Zweig, geborene Altmann, handelt. Auf dem sauber und geordnet hinterlassenen Schreibtisch des Dichters – die Bleistifte hat er vor seinem Ableben noch angespitzt – entdecken die das Haus durchsuchenden Kriminalbeamten schließlich einen Abschiedsbrief, in dem der weltberühmte Autor erklärt, dass er „durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft [sei und] aus freiem Willen und mit klarem Sinne aus dem Leben scheide"¹. Die wenige Tage später eingeleitete amtsärztliche Untersuchung kommt in der Person des Pathologen Dr. Mario M. Pinheiro schließlich zu dem lakonischen Ergebnis: „ingestão de substantia toxica – suicídio"² [Einnahme einer giftigen Substanz – Selbstmord]. – Stefan Zweigs letzte Reise ist an ihr Ende gelangt.

    Die Reaktionen auf den Freitod des damals meistgelesenen deutschsprachigen Autors und berühmten Exilanten und seiner Frau sind durchaus ambivalent: Viele Vertriebene nehmen es dem in finanziell gesicherten Verhältnissen lebenden Schriftsteller übel, sich so aus der Verantwortung gezogen zu haben. Aufsehen erregt vor allem der kritische Nachruf Thomas Manns, der, nachdem er von Stefan Zweigs Freitod erfahren hat, mit einiger Betroffenheit fragt: „Durfte er dem Erzfeinde den Ruhm gönnen, daß wieder einmal Einer von uns vor seiner ‚gewaltigen Welterneuerung‘ die Segel gestrichen, Bankerott erklärt und sich umgebracht habe? Das war die vorauszusehende Auslegung dieser Tat und sein Wert für den Feind. Er war Individualist genug, sich nicht darum zu kümmern."³ Andere, wie der Freund Franz Werfel, der überzeugt ist, dass in Zweigs „Tat eine heimliche Größe verborgen sei"⁴, oder Klaus Mann äußern Verständnis für die Entscheidung von Zweig.

    Bei beinahe jedem dieser tragischen Privationsakte verhüllt der Nachwelt ein undurchdringlicher Schleier die letzten Beweggründe und Entwicklungslinien, die zu dieser unwiderruflichen Entscheidung geführt haben. Der Fall des Stefan Zweig aber bildet eine Ausnahme: Hier lassen sich der Schleier – zumindest ein Stück weit – lüften und die geheime Autorschaft dieses Untergangs rekonstruieren. Und wenn von Autorschaft gesprochen wird, dann ist damit gesagt, dass es sich – wie anders könnte es bei Stefan Zweig sein? – um einen geistigen, in Teilen auch literarischen Vorgang handelt. Die Geschichte von Stefan Zweigs Untergang ist eine komplexe literarische Geschichte, sie ist, um es versuchsweise zu quantifizieren, ein Drittel Literaturgeschichte, ein Drittel Interpretation und ein Drittel Fiktion. Und doch erhebt sie den Anspruch, wahr zu sein. Wie bei jeder Geschichte wird der Leser zuletzt selbst entscheiden müssen, was er für wahr, was er für gut erzählt und was er einfach nur für möglich hält. Aber vielleicht ist dies alles ja ein und dasselbe?

    Stefan Zweigs Reise in den Abgrund beginnt im Jahr 1925. Er wohnt zu dieser Zeit auf einem kleinen Jagdsitz bei Salzburg, dem Paschinger Schlössl, das er bereits im Krieg erworben hat und das er 1919, nachdem umfangreiche Renovierungsarbeiten durchgeführt worden sind, mit seiner damaligen Lebensgefährtin und späteren Frau Friderike von Winternitz und ihren beiden Töchtern aus erster Ehe bezieht. Befreit von den Verpflichtungen des Alltagslebens – um diese kümmert sich seine pragmatische Frau – entfaltet Stefan Zweig zu Beginn der Zwanzigerjahre eine rege und erfolgreiche schriftstellerische Tätigkeit, die ihn in den nächsten Jahren in den Rang eines Weltautors aufsteigen lässt. Seine kongeniale Verbindung mit dem erfolgreichen Verleger Anton Kippenberg, die ihn zum wichtigsten Literaturagenten seiner eigenen Texte macht, ist ein weiterer Garant für seinen überwältigenden Erfolg als Autor. Von Zweigs kosmopolitischen Visionen inspiriert, entsteht 1912 die legendäre Sammlung der Insel-Bücherei mit ihren farbig verzierten Einbänden als unverwechselbarem Charakteristikum. Der erste Band, den Kippenberg in dieser Reihe mit einer Startauflage von 10.000 Exemplaren herausgibt, ist Rainer Maria Rilkes Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg übersteigt die Druckauflage aller Insel-Bändchen die magische Zahl von einer Million. Stefan Zweig wird in den Zwanzigerjahren zum bejubelten Starautor dieser Buchreihe, allein seine 1927 erstmals aufgelegte Sammlung historischer Miniaturen, die Sternstunden der Menschheit (IB 165), erreicht bis Ende 1928 die siebte Auflage mit einem Gesamtvolumen von 130.000 Exemplaren. Schon Zweigs erster Einzeldruck in der Insel-Bücherei, die 1913 erschienene Novelle Brennendes Geheimnis (IB 122), entwickelt sich zu einem Verkaufsschlager: Bis zum Jahr 1933 werden nicht weniger als 170.000 Stück von diesem Bändchen verkauft. Nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 wird der Titel durch eine UFA-Verfilmung der Novelle sogar kurzzeitig zum geflügelten Wort, das unbeabsichtigt auf die ungeklärten Umstände der Brandstiftung und eine mögliche Beteiligung oder die Urheberschaft der braunen Machthaber anspielt. Zweigs späterer Bericht über diese Vorgänge zeigt, wie sehr der totalitäre Staat die Bloßstellung durch das Gelächter fürchtet: „Am Tage nach dem Brand des Reichstags, den vergeblich die Nationalsozialisten aus ihren Schuhen in die der Kommunisten zu schieben suchten, ereignete es sich, daß vor den Kinoüberschriften und Plakaten Brennendes Geheimnis die Leute sich sammelten, einer den andern zwinkernd anstoßend und lachend. Bald verstanden die

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