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»… und es kamen Menschen«: Die Schweiz der Italiener
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»… und es kamen Menschen«: Die Schweiz der Italiener

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Was haben ein bekannter Bildhauer, ein SVP Nationalrat, eine engagierte Journalistin, ein Schriftsteller und ein ehemaliges Flüchtlingskind gemeinsam? Schang Hutter, Toni Bortoluzzi, Maria Roselli, Franco Supino und Annarella Rotter Schiavetti erzählten den Autorinnen ihre Geschichte als Nachkommen italienischer Einwanderer. Das Buch vereinigt die Porträts von 20 Menschen der ersten, zweiten und dritten Generation von Italienerinnen und Italienern in der Schweiz.
Die Integration, mehr noch, die »Verschmelzung« zwischen den beiden Völkern, findet seit mehr als hundert Jahren ununterbrochen statt. Es geht dabei um einen stillen Prozess - ohne Trommeln und Fahnenschwinger. Langsam wird man gewahr, dass einem die Fremden nicht mehr so fremd sind. Die Geschichte der Italiener in der Schweiz gilt - nach allen mehr oder weniger überwundenen Schwierigkeiten - als eine »erfolgreiche Integrationsgeschichte«.
Was aber heißt das für die Einzelnen? Und wie wirken diese Schwierigkeiten noch in der dritten Generation nach? Wie verändert sich über die Generationen der »Blick zurück«, das Heimweh, die Sehnsucht und wie entwickelt sich das Verhältnis von Sprache, Identität und Integration? Auf diese und viele andere Fragen geben die in diesem Band erzählten Biografien eine Antwort.
LanguageDeutsch
Release dateJan 21, 2014
ISBN9783858696021
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    »… und es kamen Menschen« - Marina Frigerio Martina

    Zürich.

    Aus der Erfahrung lernen. Eine Einführung

    Was haben ein bekannter Bildhauer, ein Nationalrat der SVP, eine engagierte Journalistin, ein Schriftsteller und ein ehemaliges Flüchtlingskind gemeinsam? Schang Hutter, Toni Bortoluzzi, Maria Roselli, Franco Supino und Annarella Rotter-Schiavetti erzählten uns ihre Geschichte als Nachkommen italienischer Emigranten.

    Im Ganzen »porträtierten« wir zwanzig Menschen der ersten, zweiten und dritten Generation, die uns die Geschichte ihrer Familie, ihrer Träume und ihrer Sehnsucht erzählt haben. Wir hatten uns vorgenommen, die Geschichte der italienischen Einwanderung in der Schweiz aus der Perspektive der Betroffenen zu erfassen und sie in den Migrationsdiskurs zu integrieren. Dabei war es uns wichtig, auch die »kulturellen Produktionen« von Einwanderern und ihren Nachkommen sowie den Migrationsdiskurs innerhalb der italienischen Gemeinschaft in der Schweiz zu berücksichtigen.

    Die Art, wie diese Arbeit entstand, der intensive wie auch emotionelle Austausch mit den Betroffenen widerspiegeln sich auf diesen Seiten. Hauptdarsteller sind hier die Menschen, die uns ihre Geschichte anvertraut haben. Es geht deshalb auch um ein Fachbuch, das für Laien gleichermaßen von Interesse sein sollte.

    Eigentlich machen wir in dieser Arbeit nichts anderes, als die subjektive Ebene der Einzelnen mit den entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und Annahmen zu verbinden. Dieses harmlos erscheinende Vorhaben erwies sich bei der Realisierung als äußerst schwierig. Bereits der Versuch, unsere Gesprächspartner in Kategorien einzuordnen, die mit der gängigen Forschung übereinstimmen, erwies sich als sehr problematisch. Der wichtigste gemeinsame Nenner dieser Menschen ist das Bekenntnis zu ihren italienischen Wurzeln, und uns wurde sehr bald bewusst, dass Secondo nicht unbedingt gleich Secondo ist. Die Lage der Nachkommen der Einwanderer aus dem frühen 20. Jahrhundert zum Beispiel ist natürlich eine ganz andere als die der Kinder der heutigen Secondos. Wir befinden uns mit unserer Frage nach der Bedeutung der Subjektivität in der Migrationsforschung quasi im wissenschaftlichen Niemandsland.

    Über die Geschichte der italienischen Einwanderung in der Schweiz wurde bereits viel geschrieben. Historiker, Politologen, Psychologen, Soziologen und neuerdings Ethnologen befassten sich mit deren Entwicklung und den damit verbundenen Problemen. Dabei konzentrierte sich die Forschung auf die Migrationswellen der Nachkriegszeiten. Dazu ist die autobiografische Literatur zu verzeichnen: Neben den »Secondos« wie Franco Supino, welche die Erfahrung ihrer Eltern und ihre eigene Geschichte literarisch aufgreifen, gibt es auch ältere Autoren, wie Dino Larese (1981) oder Ettore Cella (1983), die uns mit ihren autobiografischen Romanen in die Welt der frühen italienischen Einwanderer in der Schweiz führen.

    Die Begegnung mit unseren Partnern zwang uns, neue Wege zu gehen, die uns zum Anfang der Umwandlung der Schweiz vom Aus- zum Einwanderungsland bringen. Wir gelangten zur Überzeugung, dass der Migrationsdiskurs in der Schweiz nur dann einen Sinn hat, wenn die Eigenbetroffenheit der Schweizer erkannt wird: als Nachkommen jener armen Bauern, die Jahrhunderte lang als Söldner ihre Dienste fremden Herren angeboten hatten und später nach Amerika oder Russland ausgewandert waren, um ihr Brot zu verdienen – oder als Bauarbeiter und Kaminfeger nach Italien. Nicht zuletzt aber auch als Menschen, vor allem Frauen, die seit dem Bau der ersten Tunnel unter den Alpen im 19. Jahrhundert eine binationale Familie mit italienischen Einwanderern gründeten.

    Die Integration (oder eher die Verschmelzung) findet seit über hundert Jahren ununterbrochen statt. Die Gefühle der Menschen siegen über jedes Migrationskonzept, über jede Begrenzung und jedes Verbot. Es geht aber um einen stillen Prozess, ohne Trommeln und Fahnenschwinger. Mit der Zeit stellt man fest, dass einem die Fremden nicht mehr so fremd sind. Die Geschichten unserer Partner zeigten uns diese Welt der Schweizer mit italienischen Wurzeln in all ihren Facetten.

    Wir versuchten, die Geschichten so zu ordnen, dass sie es dem Leser erlauben, sie in ihrer Komplexität zu verstehen und mit dem jetzigen Migrationsdiskurs zu verbinden. Aus der Analyse des autobiografischen Materials ergaben sich folgende Themen:

    – Die Wege der Betroffenheit, die den Zusammenhang zwischen subjektiver Erfahrung und Entstehung der Persönlichkeit zeigen. Wir leihen uns eine psychoanalytische Definition und wagen zu behaupten, dass in diesem Teil wichtige Hinweise auf die Entstehung des Über-Ichs von Migranten und ihren Nachkommen (im Sinne von Bildung von Gewissen und ethischen Überzeugungen) gegeben werden können. Hier sieht man, wie die persönliche und subjektive Geschichte der Einzelnen im gesellschaftlichen Kontext eingebettet ist und wie die Einzelnen daraus ihre Lebenseinstellung und ihre politische Haltung ableiten.

    Eine »Entdeckung« dieser Arbeit ist die Erkenntnis der Bedeutung der Weltkriege und des Bürgerkrieges in den 1940er-Jahren für die Nachkommen von Migranten und die Tabuisierung der damit verbundenen psychologischen Folgen.

    Unsere Gesprächspartner gaben uns wichtige Hinweise auf Themen, die heute noch eine offene Wunde in der persönlichen und kollektiven Geschichte der Nachkommen darstellen und unter dem gemeinsamen Nenner der Diskriminierung stehen (Fremdenfeindlichkeit, Schulerfahrungen, Ausländergesetz …).

    – Die Analyse der Erfahrung von Menschen aus den verschiedenen Generationen und die darauf folgende Auseinandersetzung mit der Fachliteratur gaben uns die Gelegenheit, die Fragen um die Bedeutung von Gesundheits- und Krankheitsbegriffen bei Migranten und ihren Nachkommen zu vertiefen. Mit der Betrachtung der Lage der ersten Generation stellten wir die Basis her, um die Entwicklungen bei den Nachkommen zu verfolgen. Wir entschieden uns aber gleichzeitig, die therapeutischen Erfahrungen mit der ersten Generation italienischer Migranten zu reflektieren, weil sie unserer Meinung nach auch für die Arbeit mit anderen Bevölkerungsgruppen nützlich sind. Leider geht im Migrationsdiskurs immer wieder so viel verloren, dass man manchmal versucht ist, das Rad neu zu erfinden!

    – Wir schenkten dem Thema »Heimweh« besondere Aufmerksamkeit und untersuchten, wie sich dieser risikoreiche Begriff im Laufe der Generationen verwandelte. Im Kapitel »Der Blick zurück« zeigen wir anhand von drei Porträts von Nachkommen aus der dritten Generation die Zusammenhänge zwischen Sprache, Identität und Integration und die damit verbundene Umwandlung des Migrantenheimwehs in Reminiszenz.

    – Der letzte Teil unserer Arbeit befasst sich mit der Resilienz von Migranten, das heißt mit ihrer Widerstandsfähigkeit in Bezug auf Hindernisse und Widersprüche. Was macht den »Erfolg« von Migration aus und warum wird er so wenig wahrgenommen? Um diese Frage kommt man nicht herum, wenn man die Porträts dieser Nachkommen von Migranten liest. Ihre autobiografischen Erzählungen geben ein beredtes Zeugnis davon ab, wie im Schatten der öffentlichen Meinung über die »defizitäre« zweite Generation starke Beziehungen, Kraft und Erfindungsreichtum blühen und sich entfalten und starke Individuen hervorbringen, die allen Vorurteilen trotzen.

    – Anhand der Erfahrungen dieser betroffenen Menschen beschäftigen wir uns vor allem mit der Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung für die Entwicklung der Einzelnen. Wir drehen quasi den Spieß um und stellen uns die Frage: Welche Unterstützung brauchen Emigrantenkinder, um resilient zu werden?

    Somit schließt sich der Kreis. Eine über 100-jährige Einwanderungsgeschichte stellt einen immensen Erfahrungsschatz dar, den es zu würdigen gilt. Davon können neue und alte Einwanderer profitieren und vor allem auch die Schweiz als Ort, in dem sich die Widersprüche einer multikulturellen Gesellschaft abspielen.

    Marina Frigerio Martina und Susanne Merhar,

    Bern und San Francisco, Dezember 2003

    Textnachweise

    Marina Frigerio Martina verfasste die folgenden Kapitel:

    – »Die Nachkommen italienischer Emigranten und ihre Wurzeln«,

    – »Wege der Betroffenheit«,

    – »Wurzelbehandlung – Gesundheit und Krankheit im Integrationsprozess«.

    Susanne Merhar verfasste die folgenden Kapitel:

    – »Migranten – Forschungsobjekte oder Protagonisten ihrer Geschichte?«,

    – »›Erfolgreiche Migration‹ – warum es sich lohnt, in Migranten zu investieren«,

    – »Zuhören und begreifen – methodische Grundlagen«.

    Von beiden Autorinnnen stammen die Einleitung sowie die Kapitel

    – »Der Blick zurück: Reminiszenz, Sprache, Integration und Rückkehrmythos«,

    – »Schlussfolgerungen – und Anregung zur weiteren Vertiefung«,

    – »Wissenschaft und Betroffenheit – Schlussbetrachtungen«.

    Susanne Merhar führte die Gespräche mit Maria Roselli Bozzolini, Francesca Micelli, Luca Zanier und Cristina Conti, Marina Frigerio Martina die Gespräche mit Judith Grosso-Schmid, Carlo Brazzola, Schang Hutter, Franco Supino und Mauro Moretto; die Gespräche mit Lisetta Rodoni, Annarella Rotter-Schiavetti, Toni Bortoluzzi wurden von beiden Autorinnen gemeinsam geführt.

    Die Nachkommen italienischer Emigranten und ihre Wurzeln

    »Secondo« heißt auf Italienisch »Zweiter« und wurde in der deutschen Sprache zum Inbegriff für die Nachkommen von Einwanderern. Die Geschichte der italienischen Immigration in der Schweiz reicht aber so weit zurück, dass es heute schon über fünf Generationen von Italienern gibt. Die Geschichten der Familien, die hier erzählt werden, zeigen deutlich, wie unscharf der Begriff »Secondos« ist, um die Nachkommen italienischer Emigranten zu bezeichnen. Das wirft wichtige Fragen auf: Wieso werden nur die erste und die zweite Generation wahrgenommen und »untersucht«? Warum herrscht so wenig Interesse für die Entwicklungen nach der mehr oder weniger gelungenen Integration der erwachsenen »Secondos«? Wann ist der Zeitpunkt erreicht, von dem an die familiären Wurzeln verloren gehen und ein Mensch als »assimiliert« gilt? Gibt es diesen Zeitpunkt überhaupt? Wie entwickelt sich die Identität von Menschen, die ihre Wurzeln in mehreren Staaten und Kulturen haben? Welche Auswirkung hat dies auf die Schweiz?

    »Hören Sie: All das, all dieses Zeug, das aus Afrika kommt, das uns besudelt, werden wir auslöschen aus dem Leben und der Kultur des Vaterlandes, selbst wenn es erforderlich sein sollte, dabei Gewalt anzuwenden.« – »Sie wurde bereits angewendet, Herr Professor.« – […] »Ich glaube, so weit muss man nicht gehen. Es genügt, Gesetze zu erlassen, die die Rassenmischung verbieten und Eheschließungen regeln: Weißer mit Weißer, Schwarzer mit Schwarzer und Mulattin und Gefängnis für alle, die das Gesetz übertreten.« – »Es wird schwierig sein zu trennen, Herr Professor.« (Amado, 1992, S. 167–169)

    In seinem wunderschönen, witzigen Roman Die Geheimnisse des Mulatten Pedro reflektiert Jorge Amado über die Verschmelzung der Kulturen und der Menschen in seiner Heimat Brasilien. Die Absurdität von Rassismus wird in diesem kurzen Abschnitt meisterlich entlarvt.

    Die Illusion, die nationale Identität durch eine schärfere Einwanderungspolitik zu schützen, ist auch in der Schweiz anzutreffen:

    »Die SD treten für einen zielbewussten Abbau der ausländischen Wohnbevölkerung auf ein staatspolitisch und ökologisch verkraftbares Maß ein. Die kleine, dicht besiedelte Schweiz kann kein Einwanderungsland sein. Unsere schweizerische Identität ist zu schützen; die Idee der ›multikulturellen Gesellschaft‹ lehnen wir als utopisch und gefährlich ab. Einer weiteren Überfremdung ist Einhalt zu gebieten.« (Auszüge aus dem Selbstporträt der Allschwiler Schweizer Demokraten, 2003)

    An der Weltausstellung in Sevilla 1992 provozierte Ben Vautier mit der Aussage »Die Schweiz existiert nicht«. Die Empörung war enorm.¹ Man verdrängt einfach die Tatsache, dass Begegnung und Vermischung zu gegenseitigen Veränderungen führen und dass die Schweizer selber – nicht zuletzt auch dank der Einwanderer – anders geworden sind. Im Unbewussten versteckt sich vielleicht die Angst, eines Tages zu erwachen und zu entdecken, dass es »die Schweizer«, so wie man sie sich vorstellt, wirklich nicht mehr gibt. Folgende statistische Überlegungen zeigen, wie die soziale und kulturelle Durchmischung in der Schweiz stattfinden.

    Im Jahr 2002 lebten in der Schweiz 1 447 312 Menschen ausländischer Nationalität, ungefähr ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Es wurde eine Zunahme von 2,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr registriert (vgl. Bundesamt für Ausländerfragen [BFA], 2003). Ungefähr ein Viertel (23,7 Prozent) der Ausländer, die im Jahr 2000 in der Schweiz wohnten, wurde in der Schweiz geboren und gehört somit der zweiten oder dritten Generation an. Mehr als ein Drittel der Personen, die im Ausland geboren wurden, leben seit mindestens 15 Jahren in der Schweiz, 16,5 Prozent sogar seit mindestens 30 Jahren. Im Jahr 2002 machten die italienischen Einwohner mit 308 255 Personen die stärkste Einzelnationalität aus (BFA, 2003). Zwei Drittel des Bevölkerungswachstums der Schweiz seit 1945 gehen auf das Konto der Einwanderung. (Bundesamt für Statistik [BFS], 2001)

    Die statistischen Daten zeigen eine Zunahme der Einbürgerungen: 28 700 Personen erhielten im Jahr 2000 den Schweizer Pass; eine Rekordzahl für die Schweiz (mit Ausnahme des Jahres 1978 erwarben noch nie so viele Personen die schweizerische Staatsangehörigkeit). Mit 2,1 Prozent blieb die Einbürgerungsrate im europäischen Vergleich jedoch bescheiden. Seit der italienische Staat die Doppelbürgerschaft zulässt (ab 1992), erhöhte sich die Zahl der Italiener, die sich einbürgern ließen. Dabei geht es vor allem um Angehörige der zweiten und dritten Generation. Die Zahl der Einbürgerungen nahm im Jahr 2002 weiter zu: 38 833 (das sind 29 Prozent mehr als im Vorjahr, 7013 davon waren Italiener). Dieser Zuwachs deutet laut Experten nicht auf einem Trend hin, sondern vielmehr auf die Aufarbeitung von Pendenzen in mehreren Kantonen. (BFA, 2003)

    Die zunehmende multikulturelle Zusammensetzung der Schweiz spiegelt sich auch im familiären Bereich wider (vgl. BFS, 2000a). Im Jahr 1999 war fast jede vierte Eheschließung binational (wobei einer der Partner Schweizer war). Aus diesen Ehen entstammen 11 300 Kinder (14,4 Prozent aller Neugeborenen). Ein Fünftel aller 1999 geborenen Kinder hatte einen Elternteil mit ausländischem Pass. Ungefähr ein Viertel der Neugeborenen (21700) war anderer Nationalität (BFS, 2000a). Die Familie ist der wichtigste Ort, in dem neue Bürger aufgezogen werden, und es ist offensichtlich, was für ein Kaleidoskop von Nationalitäten, Hautfarben, Sprachen und Kulturen in der Entstehung ist und wie wichtig der soziale, politische, wissenschaftliche und vor allem menschliche Umgang in dieser Gesellschaft ist.

    Armer Kerl und Superman: Wer wandert aus?

    Im Lauf des letzten Jahrhunderts sind zahlreiche Theorien in Bezug auf mögliche Zusammenhänge zwischen Migration und psychischen Erkrankungen entstanden. Gegenwärtig nimmt die Migrationsforschung eine andere, eher ressourcenorientierte Richtung. Wir möchten uns an dieser Stelle auf die Erwähnung von zwei Theorien beschränken, die einen wesentlichen Hintergrund lieferten, um die Migrationspolitik in die eine oder in die andere Richtung zu beeinflussen.

    Die Theorie der negativen Selektion besagt, dass vor allem randständige Personen auswandern. Sie findet ihre Grundlage unter anderem in den Studien von Laffranchini, einem Psychiater an der psychiatrischen Poliklinik in Zürich. Laffranchini entwickelte seine Theorie zwischen 1934 und 1964 aufgrund von Beobachtungen an 1094 italienischen Patienten. Seine Studien wurden von den Beobachtungen des Psychiaters Villa in Lausanne bestätigt. Villa beobachtete zwischen 1948 und 1958 700 italienische Patienten. Er kam zum Schluss, dass es gewisse Prädispositionen gebe, welche die Integration in der Schweiz verhinderten. Er schloss daraus, dass im Herkunftsland der Einwanderer eine gewisse Selektion bestand, »die eine bestimmte Anzahl Menschen mit unstabiler Veranlagung ins Ausland ziehen ließ und eine noch beachtenswertere Zahl von Individuen, die als beruflich weniger qualifiziert und intellektuell weniger differenziert und deshalb als anfälliger für die Schwierigkeiten, die die Zukunft für sie bereit hält, gelten müssen.« (Villa, 1962, S. 367, Übersetzung d. A.)

    Die Sozialwissenschaftlerin Delia Frigessi Castelnuovo und der Psychiater Michele Risso, der von 1955 bis 1963 in Bern arbeitete, wiesen diese Schlussfolgerungen dezidiert zurück: Sie schätzten, dass die Theorie der negativen Selektion am stärksten von den tatsächlichen Verhältnissen der italienischen Emigration in der Schweiz abweiche. Tatsächlich war es sehr schwierig, Hunderttausende von Menschen als schwache Subjekte darzustellen, die für psychosomatische Beschwerden oder geradezu für Geisteskrankheiten prädisponiert sind. Delia Frigessi Castelnuovo und Michele Risso kritisierten diese Theorie als rassistisch und unwissenschaftlich, weil sie die politischen, historischen und ökonomischen Variablen zu wenig berücksichtigte. (Frigessi Castelnuovo und Risso, 1982 [1986])

    Seit den 50er-Jahren entwickelte sich eine neue Art, die Geschichte zu analysieren. Die sozialen Faktoren nahmen auch in der Forschung eine immer größere Bedeutung an. Auch die soziologische und die psychiatrische Forschung wechselten ihre Blickwinkel vom Studium des Einzelnen zur Betrachtung des Individuums als Teil seiner ethnischen Gruppe und der Gesellschaft. Somit entstand die »Kulturschocktheorie« (Oberg, 1960). Nach dieser Auffassung stehen die Anpassungsschwierigkeiten in direktem Zusammenhang mit der kulturellen Distanz zwischen Herkunfts- und Einwanderungsland. Die ursprüngliche ethnische Gruppe kann somit eine wesentliche Rolle spielen, um diese Distanz zu vermindern, kann aber auch zu einem Hindernis werden und den Einwanderer in seiner Integration behindern.

    Die moderne Forschung relativiert somit die Theorie der negativen Selektion stark und stellt die Entstehung psychischer Erkrankungen und Devianz bei Migranten in Zusammenhang mit sozialen und ökonomischen Faktoren in Bezug auf Herkunfts- und Einwanderungsland. Das ergab neue Handlungsmöglichkeiten und befreite die einzelnen Schicksale aus einer starren Unveränderbarkeit. Das »Hier und Jetzt« gewann an Bedeutung. Das Wort Prävention tauchte auch in der Migrationspolitik auf.

    Die Studie von Galtung (1971) über die Motivation zur Auswanderung der Migranten aus drei sizilianischen Dörfern zeigte, dass diese hauptsächlich zu den »innovativen« Dorfbewohnern gehörten. Dennoch zeigte diese Arbeit die Schwierigkeit der Zuordnung der Auswanderer in Kategorien, die sich hauptsächlich auf die Eigenschaften der Individuen beziehen. Dies wird unter anderem auch von Fortunata Piselli (1981) in ihrer Studie über die migrationsbedingten Veränderungen in einem kalabresischen Dorf aufgezeigt. In Anbetracht der Auswanderung unehelicher Kinder, die erheblichen sozialen Vorurteilen und Benachteiligungen ausgesetzt waren, geht Piselli davon aus, dass die Emigration auch als Ausstoßung von Randständigen aus den Herkunftsorten betrachtet werden könne. Piselli sieht aber in der Auswanderung dieser Leute eine Chance, weil sie sich so aus ihrer prekären Stellung befreien konnten. Pisellis Nachforschungen bestätigen, dass viele der ausgewanderten randständigen Menschen ihr Leben positiv verändern konnten.

    Angesichts der andauernden Völkerwanderung, die die verschiedensten Ursachen hat, scheint es schwierig zu sein, eine Typologie der Migranten zu erstellen. Wenn eine Dürre eine Hungersnot verursacht, werden alle auswandern, die irgendeine Möglichkeit dazu haben. Bei Kriegs- und Gewaltsituationen ist es häufig Zufall, ob man Platz im letzten Konvoi findet oder nicht. Bei Wirtschaftsmigranten ist es ebenfalls oft sehr zufällig, ob man die nötigen Kontakte besitzt und eine Arbeitsstelle im Ausland findet. Die letzte Wirtschaftskrise zeigte zudem, dass auch die Stärksten und Erfolgreichsten vom Pech getroffen werden können. Wie im Fall der vielen qualifizierten italienischen Bauarbeiter, deren Stellen gekündigt wurden, um Lohnkosten zu sparen. Ob man ein erfolgreicher oder ein weniger erfolgreicher Emigrant ist, das ist oft eine Frage der gerade geltenden Konjunktur.

    So erscheinen manche Theorien ziemlich begrenzt, weil sie zu sehr auf die Ressourcen beziehungsweise auf das Defizit der Einzelnen zugeschnitten sind, ohne den Kontext zu berücksichtigen. Es ist also nahe liegend, dass Migranten weder Massen von armen Kerlen noch Supermenschen, sondern einfach Kinder ihrer Zeit sind.

    Italienische Einwanderung in die Schweiz

    Die Geschichten unserer Gesprächspartner entsprechen der allgemeinen Geschichte der italienischen Emigration, die phasenweise erfolgte.²

    Zwischen 1880 und 1888 verbuchte die Schweiz noch einen negativen Einwanderungssaldo: in jener Zeit wanderten noch 92 000 Schweizer aus, während hingegen nur 5000 Einwanderer verzeichnet wurden. Für den Bau der Bahn benötigte man dann dringend Arbeitskräfte. Zuerst kamen die Norditaliener. Zwischen 1850 und 1930 nahm die ausländische Bevölkerung um 570 Prozent zu. Es kamen fast ausschließlich Männer. Es waren vor allem Bergbauern, die in ihrer Heimat keine ökonomische Zukunft hatten. Die Emigranten aus dem Norden kamen häufig aus Berggebieten. Meistens besaßen sie ihr Haus und ein wenig Land, das jedoch zu karg war, um auch nur die Familie zu ernähren. Leonardo Zanier beschreibt in seinen Gedichten die hoffnungslose Lage der Karnier (der Bewohner der Carnia, einem Berggebiet in der Region Friaul, an der Grenze zu Slowenien und Österreich):

    »Bei uns

    gibt es keine Arbeit

    aber man wird

    trotzdem

    geboren

    so wächst man auf

    wie Zicklein

    in Freiheit

    zwischen den Röcken

    der Mütter

    und den Tannennadeln

    und kaum

    beginnt man zu verstehen

    muss man fort.«

    (Zanier, 2002, 31)

    Während der faschistischen Diktatur kamen auch politische Flüchtlinge in die Schweiz. Einige von ihnen waren Intellektuelle, die bei der Gründung der großen Emigrantenorganisationen eine wichtige Rolle spielten. Die meisten von ihnen reisten nach der Befreiung Italiens in ihre Heimat zurück, behielten aber die Kontakte mit der italienischen Gemeinschaft und unterstützten den Aufbau eines effizienten und demokratischen Netzes von Selbsthilfeorganisationen (vgl. die Gespräche mit Lisetta Rodoni und Annarella Rotter-Schiavetti). 1944 erschien in der sozialdemokratischen Zeitung des Tessins die erste Seite, die der italienischen Emigration gewidmet war und die das Entstehen dieser Bewegung in der ersten Ausgabe thematisierte:

    »In allen Hauptzentren der italienischen Emigration in der Schweiz haben sich die Colonie Libere Italiane gebildet. Diese sind gegründet worden, um ein freies Italien zu repräsentieren, das Italien, das sich selber wiedergefunden hat, um in Anbetracht der zähen faschistischen Überreste gegenüber den zögerlichen und unfähigen offiziellen italienischen Repräsentanten im Ausland eine klare und deutliche Position einzunehmen. Es handelt sich nicht um eine eigentliche politische Formation, sondern um einen Zusammenschluss aller Italiener, für welche die Grundkonzepte der Freiheit und der Gerechtigkeit – Basis des nationalen Risorgimento – heilig sind. Innerhalb der Colonie Libere sind sie zusammengekommen, und ihr Einfluss strahlt immer mehr auf alle italienischen Verbände in der Schweiz aus, sei dies in Erziehung und Ausbildung, in Kultur und Freizeit, namentlich im Sport, oder in beruflichen Angelegenheiten. Vereint bilden diese Colonie Libere mit ihrer weiten Verbreitung das verbindende Gewebe der italienischen Emigration in der Schweiz. Um ihre Funktion zu verdeutlichen haben sie sich in einer Federazione delle Colonie Libere Italiane in Svizzera organisiert.« (Libera Stampa, 1985, S. 13, Übersetzung d. A.)

    In den 50er-Jahren kamen verschiedene Gewerkschaftsaktivisten, die wegen Repressalien oder wegen der Wirtschaftskrise aus den großen Fabriken des Nordens entlassen wurden. Einige prägnante Figuren der italienischen Emigrantenorganisationen waren hoch qualifizierte Arbeiter, die wegen ihres Engagements in der Arbeiterbewegung keine Chance mehr hatten, in der Heimat eine Arbeit zu finden. Diese »neuen« Emigranten brachten andere Ideen und eine neue politische Kultur. Sandro Rodoni schreibt in seiner Erinnerung an Pasquale Campani:

    »1947/48 kamen die ersten Gruppen der neuen Emigranten, denen es in geduldiger und intelligenter Arbeit gelang, die alte Federazione delle Colonie Libere Italiane umzuwandeln in eine neue Organisation, ihr ein neues Gesicht zu geben, neue Aufgaben und neue Ziele. Die Gruppen von Emigranten, die 1947–1950 in der Schweiz ankamen, stammten aus Firmen in der Krise. Aus der Provinz von Pistoia, aus Mailand, aus Vicenza (von der Escher-Wyss in Schio wurde eine große Gruppe von Arbeitern ins Mutterhaus in Zürich überstellt) und aus Varese stammten die Ersten, die Arbeitsplätze in den Fabriken in Zürich, Schlieren, Winterthur, Schaffhausen, Baden, Pratteln, Gerlafingen besetzten, große Kontingente von qualifizierten Metallmechanikern. Einige Jahre später kamen Tausende von Arbeitern aus Genua, aus Brescia, La Spezia, Reggio Emilia und vielen anderen Orten, wo die Fabriken geschlossen oder Arbeiter entlassen wurden; dies geschah als Folge der von der Regierung De Gasperi verfolgten Politik der so genannten ›industriellen Redimensionierung‹. Aber es handelte sich auch um politisierte Arbeiter, die sich, kaum in der Schweiz angekommen, den sozialen und politischen Problemen an ihrem neuen Wirkungsort stellten. (Später fasste Max Frisch treffend zusammen: ›Wir haben Arbeitskräfte gerufen und es kamen Menschen.‹)« (Rodoni, 1985, S. 29–31, Übersetzung d. A.)

    Mit dem großen »Boom« der 60er- und 70er-Jahre kamen auch viele Arbeiter aus dem Süden. Sie arbeiteten vor allem als Saisonniers auf dem Bau, aber auch in den Fabriken und im Gastgewerbe. Die Leute aus dem Süden kamen meistens vom Land, brachten aber eine andere Geschichte und eine andere Kultur mit als ihre Kollegen aus dem Norden. Im Süden war die Landwirtschaft in den Händen der Großgrundbesitzer, und die Bauern waren zu einer Art Knechtschaft gezwungen. Resignation und Fatalismus prägten ihren Alltag. Die Lebensphilosophie der dekadenten herrschenden Klasse der Großgrundbesitzer wurde 1958 im Roman Der Leopard von Giuseppe Tomasi di Lampedusa verewigt: Alles verändern, damit alles gleich bleibt. (Tomasi di Lampedusa, 1958 [1999])

    Carlo Levi schrieb 1945: »Der Staat ist für die Bauern ferner als der Himmel und auch böser; denn er ist immer gegen sie. Es ist gleich, wie seine Schlagworte lauten, wie sein Aufbau und sein Programm ist. Die Bauern verstehen sie nicht; denn sie sprechen eine andere Sprache und es ist auch kein Grund vorhanden, warum sie sich um ein Verständnis bemühen sollten. Die einzig mögliche Verteidigung gegen den Staat und die Propaganda ist Resignation, die gleiche dumpfe Resignation, ohne Hoffnung auf ein Paradies, die ihre Rücken unter das Joch der von der Natur verhängten Buckel beugt. [...] Die passive Brüderlichkeit, dies gemeinsame Leiden, diese resignierte, allgemeine, jahrhundertealte Geduld ist das tiefe Gemeinschaftsgefühl der Bauern, ein nicht religiöses, aber natürliches Band. [...] Sie leben versunken in einer Welt, wo die Grenzen verfließen, wo sich der Mensch nicht von seinem Boden, von seinem Tier, von seiner Malaria unterscheidet, wo es weder die von den Literaten, die das Heidentum zürücksehnen, gepriesene Glückseligkeit gibt noch die Hoffnung, die doch immer ein individuelles Gefühl ist, sondern nur die dumpfe Passivität einer leidenden Natur.« (Levi, 1945 [1983], S. 69–70)

    Die mehr oder weniger bewusst wahrgenommene Hoffnungslosigkeit ihrer Situation ist der gemeinsame Nenner, der die Armen aus Nord- und Süditalien zur Auswanderung bewegte.

    Ernesto De Martino, der große Kenner der Welt der süditalienischen Bauern, sah wie Leonardo Zanier in der bäuerlichen Resignation auch einen Drang nach Befreiung. Im Jahr 1950 beschrieb er seine Begegnungen mit den Bauern aus Tricarico, in der Provinz Matera: »Wenn ich die Straßen des Quartiers hinunterstieg, kamen die Männer und Frauen aus ihren Behausungen und baten mich, ihre Geschichte weiterzuerzählen, die Geschichte ihres Leidens und ihrer gärenden Rebellion öffentlich zu machen. Andere Male, wenn es geschah, dass ich an der brüderlichen Heiterkeit eines ländlichen Gastmahles teilnahm, sagte mir einer mit Stolz: ›Sprecht davon, erzählt, dass wir aus grobem Holz geschnitzt, aber keine Tiere sind und dass es hier unten nicht nur Elend gibt.‹ Sie wollen in die Geschichte aufgenommen werden, nicht nur um sich des Staates zu bemächtigen und Protagonisten der Zivilisation zu werden, sondern auch damit ihre persönlichen Geschichten sie nicht weiter privat verzehren und sie ertrinken würden ohne Gedächtnishorizont, im Schlamm und Mist ihrer schmutzigen Tage. Sie wollen, dass diese Tage ohne Licht, gelebt in schmutzigen Höhlen, die halb schon Grab sind, der Welt bekannt würden.« (Zit. nach Barbati et al., 1978, S. 27, Übersetzung d. A.)

    Die unterschiedlichen politischen und sozioökonomischen Bedingungen beeinflussten auch die Entstehung von spezifischen kulturellen Einstellungen. Die Bauern aus dem Norden neigten eher zum Individualismus, waren eher Einzelkämpfer. Im Süden fühlten sie sich eher in ihrer Resignation und Hoffnungslosigkeit vereint. In diesem armen, vom Krieg zerstörten Italien wuchsen die Eltern und Großeltern vieler Nachkommen italienischer Einwanderer auf.

    Unsere Gesprächspartner

    Die Personen, mit denen wir unsere Gespräche führten, kommen aus verschiedenen Regionen Italiens, vor allem aus dem Norden und Süden des Landes. Dass etwas mehr Leute aus Norditalien stammen, hängt auch damit zusammen, dass aus dieser Region die ersten italienischen Emigranten kamen und deshalb ihre Nachkommen schon in der dritten und vierten Generation hier sind. Es ist dies eine Gruppe, die uns besonders interessiert hat.

    Aus dieser Gegend kommen insgesamt zwölf Personen. Die meisten kommen aus den Regionen Veneto und Friuli-Venezia Giulia, aber auch Lombardia, Trentino und Piemonte. Eine Person aus der dritten Generation weiß nur, »dass der Großvater aus Norditalien stammte«. Acht der Personen sind in der zweiten Generation in der Schweiz. Vier von ihnen haben einen Schweizer Elternteil oder Stiefelternteil. Mehrere Personen sind lange Zeit teilweise von einer Schweizer Pflegefamilie betreut worden. Eine Person gehört der ersten Generation an, drei der dritten. Alle Personen der dritten Generation sind mit Schweizer Partnern verheiratet. Zwei Personen stammen aus Mittelitalien, aus Lazio und Abruzzo. Aus dem Süden stammen sechs Personen (Sicilia, Calabria und Campania). Alle sind »Secondos« und haben italienische und Schweizer Partner.

    Viele der Personen, mit denen wir sprachen, haben noch relativ enge Beziehungen zu ihrem Herkunftsland. Fast alle der Secondos kennen ihre Verwandten in Italien durch regelmäßige Besuche. Ein paar von ihnen haben auch schon während einiger Zeit in Italien gelebt. Zwei unserer Gesprächspartner sind bildende Künstler, einer Schriftsteller, einer Handwerker (und Nationalrat), andere sind im sozialen Bereich tätig und/oder Akademiker oder Angestellte. Sie sind aber auch Übersetzerin, Politikerin (mit besonderem Interesse für Emigrationsfragen), Lehrerin (in einem Quartier mit besonders vielen Immigrantenkindern), Radioreporter (für eine italienischsprachige Sendung) und Besitzerin einer Buchhandlung für italienische Bücher. Ihr Engagement hat die verschiedensten Formen angenommen und scheint immer wieder die beiden Länder, die Schweiz und Italien, miteinander zu verbinden, ein Vorgang, der ihnen natürlich erscheint und einen großen Teil ihres Alltags ausmacht. Die Angehörigen der dritten Generation haben eindeutig schwächere Verbindungen zu Italien, eine – manchmal unbestimmte – Sehnsucht danach ist aber auch ihnen geblieben.

    Das sind die Personen, mit denen wir gesprochen haben:

    – Lisetta Rodoni, 1933, erste Generation, Buchhändlerin, Herkunft: Veneto;

    – Maria Roselli-Bozzolini, 1962, zweite Generation, Journalistin, Sprachwissenschaftlerin, Herkunft: Calabria;

    – Luca Zanier, 1966, zweite Generation, Fotograf, Herkunft: Friuli-Venezia Giulia/Veneto;

    – Cesare Pieroni (Name geändert), 1964, zweite Generation, Naturwissenschaftler, Herkunft: Friuli-Venezia Giulia;

    – Cristina Conti (Name geändert), 1969, zweite Generation, Romanistin, Herkunft: Abbruzzi;

    – Livia Gianotti (Name geändert), 1978, zweite Generation, Maturandin, Herkunft: Friuli-Venezia Giulia/Veneto;

    – Nino Caputo (Name geändert), 1971, zweite Generation, Versicherungsberater, Herkunft: Calabria;

    – Marco Schillaci (Name geändert), 1967, zweite Generation, Reisebüroangestellter, Radiomacher, Herkunft: Sicilia;

    – Silvia Zapella (Name geändert), 1975, zweite Generation, Lageristin, Herkunft: Sicilia;

    – Pierre Clementi (Name geändert), 1958, zweite Generation, im sozialen Bereich tätig, Herkunft: Norditalien;

    – Annarella Rotter-Schiavetti, 1922, zweite Generation, Künstlerin, Herkunft: Umbria/Toscana/Lazio;

    – Francesca Micelli, 1966, zweite Generation, Primarlehrerin, Herkunft: Friuli-Venezia Giulia/Glarus;

    – Toni Bortoluzzi, 1947, dritte Generation, Schreiner/Betriebsinhaber, Nationalrat SVP, Herkunft: Veneto/Schweiz;

    – Franco Supino, 1965, zweite Generation, Schriftsteller, Gymnasiallehrer, Herkunft: Campania;

    – Carlo Brazzola (Name geändert), 1959, dritte Generation, Grafiker, Herkunft: Lombardia/Veneto/Jura;

    – Carmen Cremonesi (Name geändert), 1966, zweite Generation, Büroangestellte, Herkunft: Trentino-Alto Adige/Bern;

    – Judith Grosso-Schmid (Name geändert), 1950, zweite Generation, Sekretärin, Herkunft: Veneto/Bern;

    – Schang Hutter, 1934, dritte Generation, Bildhauer, Künstler, Herkunft: Norditalien/Schweiz;

    – Chiara Bianchetti (Name geändert), 1969, zweite Generation, Sozialwissenschaftlerin, Herkunft: Calabria;

    – Mauro Moretto, 1965, zweite Generation, Gewerkschaftsfunktionär, Politologe, Herkunft: Piemonte.

    Vernetzung mit der schweizerischen Gesellschaft

    Die italienische Gemeinschaft in der Schweiz ist ziemlich kompakt und mit ihren vielen Organisationen gesellschaftlich gut vertreten: in vielen Gemeinden findet man Sportclubs und kulturelle Vereine. In der ganzen Schweiz existieren über 1000 italienische Vereine. Die katholische Kirche ist mit ihren 85 Priestern und zahlreichen Seelsorgehilfen sehr aktiv. Es gibt italienische Schulen jeder Stufe, vier Wochenzeitungen, einige Radiosendungen (zum Beispiel bei Radio Munot in Schaffhausen, Radio Lora in Zürich, Radio RaBe in Bern). Das Radio della Svizzera Italiana in Lugano sowie das Schweizer Fernsehen produzierten bis ins Jahr 2002 wöchentlich eine Sendung für die Italiener in der Schweiz. Die italienische Kultur wird von verschiedenen Organisationen wie der Società Dante Alighieri gefördert. Die diplomatische und offizielle Vernetzung ist ebenfalls auf verschiedenen Ebenen stark vertreten: Botschaft, Konsulate und Agenturen, Handelskammer, Centro Studi. (Vgl. das Kontaktnetz im hinteren Teil, Cesari Lusso, 1997; Daten der katholischen Fremdsprachigenseelsorgen, www.snl.ch)

    Auf der italienischen Ebene gibt es in der Schweiz zahlreiche Anschlussmöglichkeiten und Bezugsreferenten. Wie haben sich aber die Italiener und ihre Nachkommen in der schweizerischen Gesellschaft integriert? An vielen Orten ist ein erheblicher Teil der Bevölkerung italienischer Herkunft: 1998 erschien in der Weltwoche eine kleine Migrationsgeschichte in drei Teilen, die am Beispiel der Gemeinde Bülach aufzeigte, wie die italienische Kultur Teil der schweizerischen wurde:

    »Frühmorgens an einem Werktag im Jahre 1956 fuhr Leonardo Natuzzi mit einem Schnellzug aus Mailand im Zürcher Hauptbahnhof ein. Er kam aus dem apulischen Nest Santeramo in Colle und war aufgebrochen, um im reichen Zürich Arbeit und sein Glück zu suchen. Darüber war er eingeschlafen. Er erwachte erst, als der Zug den Hauptbahnhof Zürich um 7 Uhr 07 Richtung Schaffhausen verließ. Der nächste Halt war Bülach, wo Leonardo ausstieg. [...] In Bülach fand er eine Handvoll Landsleute. Fast alle waren Norditaliener. Die ersten von ihnen waren für den Bau der Eisenbahnbrücke bei Eglisau gekommen, aber die mochten die aus dem Süden nicht sonderlich gut. Santeramo war ein Dorf wie aus einem frühen Film von Visconti, Fellini oder Rosi. ›Wie Albanien heute‹, sagt Giuseppe Carasso, der Gewerkschafter. Tagelöhner standen an den wichtigsten Straßen in Reihen und hofften, dass sie mitgenommen würden. Aber im Norden brauchte ein Land Arbeitskräfte. Leonardo fand eine Stelle bei Sulzer Bülach, sagte es seinen Freunden und Verwandten, und da kamen sie, die Natuzzi und Nuzzi, Pontrandolfo und Colaiemma, Maiullari und Plantamura, Fraccalvieri, Labarile, Baldassarre. Keine Familie in Santeramo, aus der nicht mindestens ein Mitglied emigriert wäre. Fünfzehn Jahre nach Leonardos Ankunft war jeder zehnte Bülacher Einwohner ein Santeramane.« (Hänggi, 1998)

    Tatsächlich kamen viele Emigranten in Gruppen in die Schweiz. Das eröffnete einerseits eine Zukunftsperspektive für die Großfamilie, auf der anderen Seite konnte man mit dem Einzug von Freunden und Verwandten eine heimatliche Nische in der Fremde schaffen. Es entstanden somit große Dorfgemeinschaften wie zum Beispiel die der Einwanderer aus den kalabresischen Dörfern San Giovanni in Fiore in der Umgebung von Baden und San Giovanni a Maida in Dietikon. Was ist aus diesen Leuten und aus ihren Kindern geworden? Welchen Platz nehmen sie in der schweizerischen Gesellschaft ein?

    Wer weiß, wie viele italienische Zweige der Stammbaum vieler Schweizer hat! Was haben diese »Äste« für eine Bedeutung in der Geschichte der Einzelnen und für die schweizerische Gesellschaft? Was bedeutet die Tatsache, dass es heutzutage einfacher ist, eine Pizzeria zu finden als ein Lokal, in dem man eine gute Rösti essen kann? Auf den kommenden Seiten werden wir diese Fragen weiter vertiefen.

    1 »Im Jahr 1992 hatte sich die Schweiz einen Schupf gegeben: für 28 Millionen Franken baute sie an der Weltausstellung in Sevilla zwar keinen Eisturm, aber doch einen Papierturm. Und hatte eine Idee als Selbstdarstellung: Ironie, Befragung der auch im Ausland verbreiteten Schweiz-Klischees, Selbstpersiflage. Ben Vautier stellte malerisch fest: ›La suisse n’existe pas‹, daheim (im Kanton Aargau) tobten vaterländische Kreise, und die NZZ orakelte, das sei unscharf, mit Informationen werde gegeizt. Für die nächste Weltausstellung ein Jahr später in Seoul gab es nur noch 3,6 Millionen Franken und wieder die übliche Show von Alpenglühen, Militärsackmesser und Trachtenmeitschi.« (Lienhard, 1996)

    Die expo.02, die viel diskutierte Landesausstellung im Jahr 2002, knüpfte dann wieder an Ben Vautiers Aussage an. Ein viel versprechender Schritt in die Zukunft!

    2 Der Fotoband Il lungo addio, Der lange Abschied dokumentiert die italienische Emigration in die Schweiz auf eindrückliche Weise. (Bachmann, 2003)

    Migranten – Forschungsobjekte oder Protagonisten ihrer Geschichte?

    »Gibt es die ›andere‹ Schweiz wirklich? Ist sie nicht direkt mitten unter uns oder gar selbst in uns? Mit ›Blickwechsel‹ wird somit die Ebene der gegenseitigen Wahrnehmung, des Austauschs und der Begegnung zwischen Menschen, aber auch die Reflexion über das Fremde und das Eigene angesprochen.« (Prodolliet, 1998, in der Einleitung zum Sammelband Blickwechsel³, S. 9)

    Auch wir haben einen Wechsel der Perspektive vorgenommen und wir möchten hier den Hintergrund dazu genauer darlegen, denn Forschen im Bereich des Themas Migration ist mehr als anderswo eine Frage des Standortes.

    Für sehr lange Zeit (und teilweise auch heute noch) beschäftigten sich die Fachleute hauptsächlich mit den Problemen der Migranten, begründet durch den Kulturunterschied, und dies alles aus der Sicht der einheimischen Gesellschaft. Autoren der jüngeren Zeit widersprechen dieser Ansicht und rollen diesen Prozess von hinten auf: Sie betrachten kritisch die Rolle der Aufnahmegesellschaft. Gita Steiner-Khamsi (1992) bringt das auf den Punkt:

    »Kulturelle Unterschiede zwischen Aus- und Inländern sind sozial konstruiert. Sie führen zur Distanzierung, Ausgrenzung und Marginalisierung von eingewanderten Minderheiten. Der Distanzierungsprozess dient der Identitätsbildung von Einheimischen.« (S. 3)

    Die lange vorherrschende »Kulturdifferenzthese« ging davon aus, dass beispielsweise die zweite Generation zwischen zwei (klar definierten) Kulturen hin- und hergerissen sei. Die Unvereinbarkeit dieser beiden Kulturen sei dann wiederum Ursache für psychische und somatische Probleme. Schlussfolgerungen daraus sind die Prämissen, dass diese Probleme umso ausgeprägter seien, je weiter die jeweilige Kultur von der einheimischen entfernt sei, und dass der Grad der Aneignung der Eigen- oder Fremdkultur einen Einfluss habe auf den »Integrationserfolg« der betroffenen Kinder und Jugendlichen.

    Dieser Ansatz hat den eigentlichen Grundstein zur Pathologisierung von Migranten gelegt. Das als anders identifizierte Werte- und Normensystem wird tendenziell herabgesetzt und als dysfunktional bezeichnet und der Migrant wird aus eigener Kraft nichts daran ändern können, da er ja seine kulturelle Herkunft nicht ablegen kann.

    Diese Perspektive wurde später etwas modifiziert, als die kulturellen Unterschiede zwischen den beiden Gesellschaften als Modernitätsgefälle gedeutet wurden (Auernheimer, 1988). Hier wird die These vertreten, dass Probleme von Immigranten primär auf deren Unterschichtszugehörigkeit und ihre Herkunft aus ruralen, wirtschaftlich unentwickelten Gebieten zurückzuführen seien, die sich dysfunktional zum kapitalistischen, mittelständischen System Westeuropas verhielten. Assimilation würde demnach einem Entwicklungsakt entsprechen, der es den Einwanderern ermöglichen würde, am Zivilisationsvorsprung der Aufnahmegesellschaft teilzuhaben. (Bukow und Llaryora, 1988)

    Dieses »Ethnizitätsparadigma« (Omi und Winant, 1986), lange auch in der amerikanischen Migrationsforschung prägend, ist inzwischen dekonstruiert worden, und Autoren wie Bukow und Llaryora (1988), Hoffmann (1990) und Radtke (1990) fokussieren Migranten nicht unter einem ethnischen Blickwinkel, sondern stellen deren Zugehörigkeit zu einer machtlosen Minderheit, zur Peripherie in den Vordergrund. Mit »strukturkritischem« Blick betrachten sie die Mechanismen des einheimischen Gesellschaftssystemes.

    Bukow und Llaryora sprechen in diesem Sinn von einer »Soziogenese ethischer Minderheiten«, die durch die Neuheit der Situation, der Unterschichtung unter die bestehende Gesellschaft und die Verweigerung von »Selbstverständlichkeiten« gekennzeichnet ist. Das heißt, die Art, wie die »Inländergesellschaft« sich gegenüber den Einwanderern verhält, macht sie zu einer Minderheit. Postuliert wird in diesem Zusammenhang ein Perspektivenwechsel weg von der von der Mehrheit betriebenen Ausländerforschung hin zu einem »Minoritätendiskurs«, in dem die Minoritäten gleichberechtigt ihre Sicht darstellen. Als Ziel wird die Verwirklichung von struktureller Gerechtigkeit (zum Beispiel das Stimm- und Wahlrecht) und Beseitigung von Diskriminierungen (zum Beispiel im Zuge der political correctness) im öffentichen Bereich angestrebt.

    Hier wird auch ein weiterer Unterschied zur Kulturdifferenzthese ersichtlich; während ihre Vertreter trotz Tendenzen zum Multikulturalismus (also dem gleichberechtigten Nebeneinander von verschiedenen Kulturen) Integration und Assimilation als entscheidende Eingliederungshilfen betrachten, sind die Verfechter des strukturkritischen Ansatzes der Ansicht, dass Assimilation und Akkulturation nicht oberstes Gebot eines gelingenden Verständnisses und Zusammenlebens mit der ausländischen Mitbevölkerung sein müssen.

    Der strukturkritische Ansatz gilt als neue, wichtige Stoßrichtung in der Migrationsforschung und hat vor allem in den USA Eingang in die öffentliche Diskussion gefunden. Dort kommt man verschiedentlich von der Melting-pot-(»Schmelztiegel«-)Idee ab, und der Minderheitendiskurs nimmt eine wichtige Stellung unter den Forschungsparadigmen ein und hat wichtige Theoriediskussionen ausgelöst.

    Ein Perspektivenwechsel

    In unseren postmodernen Zeiten, wo kulturelle Vielfalt die Regel geworden ist und wo die Grenzen zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft immer mehr verschwimmen, ist die »so genannte ›Normalbiografie‹ im Wanken begriffen« (Steiner-Khamsi, 1995, S. 56). Es geht jetzt um Individuen, die verschiedene Lebensformen, Wertsysteme und Wahlidentitäten annehmen können und die Anspruch auf Gleichberechtigung erheben.

    Den Minderheitendiskurs ernst zu nehmen, heißt für uns deshalb, zu vermeiden, Migranten zum von gesellschaftlichen Umständen isolierten, »durchleuchteten« Studienobjekt, zum »gläsernen Fremden« (Griese, 1984) zu machen. Wir möchten den Verallgemeinerungstendenzen entgegentreten und stellen den Menschen in den Vordergrund. Das soll auch den Blick frei machen für individuelle Bewältigungsstrategien und Ressourcen.

    Folgende »Fallen« im Migrationsdiskurs wollten wir vermeiden:

    – die Zuschreibung eines Sonderstatus für die Immigranten. Sie werden isoliert betrachtet. Gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen und gegenseitig wirkende Einflusskräfte werden zu wenig berücksichtigt;

    – die Verallgemeinerung und Vereinfachung des Begriffes »Ausländer«. Es wird angenommen, dass innerhalb einer Kultur keine Unterschiede bestehen und dass die Kultur von Migranten identisch mit ihrer Herkunftskultur sei;

    – die Voraussetzung, dass Ausländer(kinder) aufgrund ihrer Andersartigkeit und Fremdheit zwangsläufig Probleme mit ihrer Identität, der Sprache und in der Schule haben müssten;

    – und der Schluss, dass diese Probleme nur durch Assimilation und Akkulturation behoben werden könnten, sowie die Überzeugung, dass Fremdes niemals als Fremdes integriert werden kann. (Vgl. Griese, 1984, De Pedrini, 1990, Berta, 1993)

    Innerhalb unserer subjektorientierten Sichtweise begleiteten uns zwei Hypothesen; wir haben in unsere Perspektive mit einbezogen, dass frühere Generationen mit eine Rolle spielen und dass neben Risiken auch Ressourcen bestehen, die es hervorzuheben und in Interventions- und Präventionsmaßnahmen umzusetzen gilt; denn generationenübergreifende Konzepte sind rar. In der europäischen Migrationsforschung wird wohl häufig stillschweigend davon ausgegangen, dass die (Massen-)Immigration noch ein zu junges Phänomen sei und noch zu wenige Generationen vorhanden seien, um Untersuchungen zu rechtfertigen. Dass dies – zumindest für die italienische Immigration in die Schweiz – nicht zutrifft, werden wir in dieser Arbeit noch ausführlich zeigen.

    Wo anders als in der amerikanischen Migrationsforschung könnte man demnach fündig werden, wenn man nach Konzepten sucht, die auch eine dritte, vierte und weitere Generationen berücksichtigen? Die USA sind ein klassisches Einwanderungsland, das jedes Jahr unzählige Neueinwanderer erhält, in dem aber auch viele Nationalitäten schon seit mehreren Generationen leben.

    Generationenforschung wurde vor allem in Bezug auf die Frage betrieben, wie weit die einzelnen Generationen sich von ihrer Herkunftskultur entfernen und Elemente der neuen Kultur aufnehmen. Es gibt dabei zwei divergierende Grundannahmen: Die eine (ältere) geht davon aus, dass die fortschreitende Eingliederung über die Generationen hinweg quasi unvermeidbar ist (Assimilationsmodell), die andere dagegen nimmt an, dass auch im Generationenwechsel ethnische Segmentationen und Orientierungen erhalten bleiben und sich sogar weiter politisieren können (Segmentationsmodell). (Esser 1990, S. 73–100)

    Das Assimilationsmodell (Modelle des three-generation-assimilation-cycle in der amerikanischen Forschung der 20er- und 30er-Jahre) geht von den folgenden Annahmen aus: Die erste Generation bewege sich vor allem in der eigenen Gruppe und habe nur den notwendigsten Kontakt mit den Einheimischen. Erst die zweite Generation trage den Konflikt der Kulturen aus. Sie wurde noch mit den Werten und Überlieferungen der Eltern sozialisiert, besitze aber den Wunsch und die Fertigkeiten, sich auf das Aufnahmeland zu beziehen. Sie wird marginalisiert. Die dritte Generation schließlich gehe dann völlig in der Aufnahmekultur auf und bewahre nur noch einige wenige »private« Reste der Herkunftskultur (Esser, 1990, S. 73–76). Obwohl dieser Theorie schon sehr früh widersprochen wurde, prägte sie ganz offensichtlich die Perspektive, unter der Migranten wahrgenommen wurden und immer noch werden.

    Das Segmentationsmodell gründet auf der Kritik am Assimilationsmodell. So stellten die ersten Studien fest, dass über mehrere Generationen hinweg die Zahl von Heiraten innerhalb der eigenen Gruppe konstant hoch blieb, sich ethnische Identifikationen nur wenig veränderten und auch die religiöse Betätigung sich immer noch an den ursprünglichen Traditionen orientierte. (Kennedy, 1952, zit. nach Esser, 1990)

    Die Konstanz beziehungsweise Wiederbelebung der Orientierung an der Herkunftskultur in den späteren Generationen wurde von verschiedenen Autoren immer wieder bestätigt. So nennt Hansen (1938) dies das principle of third-generation-interest und formuliert es so: »Was der Sohn gerne vergessen möchte, daran möchte sich der Enkel erinnern.« (Zit. nach Esser, 1990, S. 75, Übersetzung d. A.)

    Andere Autoren haben diesen Prozess relativiert und sprechen davon, dass die Assimilation ungehindert immer weiter fortschreite und die Rückbesinnung auf die Herkunftskultur nur kurzfristig und »politisierte« Reaktionen vorübergehender Natur seien (Alba, 1985). Begründet wird das Segmentationsmodell vor allem damit, dass die Orientierung der Enkel an der Herkunft der Großeltern als Gegenreaktion zu verstehen sei auf die Unübersichtlichkeit, Orientierungslosigkeit und Ungerechtigkeit einer modernen, urbanen Gesellschaft.

    Der Autor dieser Übersicht (Esser, 1990) führt aus, dass diese beiden Modelle nebeneinander existieren können; sind die Chancen und Ressourcen auf der individuellen Ebene gut, komme eher das Assimilationsmodell zum Zug, sind diese nur teilweise vorhanden, trete eher Segmentation ein. Wir sind der Ansicht, dass beide Modelle und auch die Grundannahme (dass es in der einen oder anderen Form immer um Assimilation gehe) sehr kritisch zu betrachten sind. Psychische Prozesse und die mögliche identitätsbildende Funktion der Beschäftigung mit den eigenen Wurzeln können in diesem Kontext nur schwer eingeordnet werden.

    Neuere Abhandlungen zum Thema Generation und Migration

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