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Abendmahl der Mörder: Kannibalen - Mythos und Wirklichkeit
Abendmahl der Mörder: Kannibalen - Mythos und Wirklichkeit
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Abendmahl der Mörder: Kannibalen - Mythos und Wirklichkeit

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Im Dezember 2003 begann vor der 6. Strafkammer des Landgerichts Kassel der spektakuläre Prozess gegen den zur Tatzeit im Jahre 2001 41 Jahre alten Computertechniker A. M., besser bekannt als der "Kannibale von Rotenburg". Detailliert schildert er in der Hauptverhandlung die vor laufender Kamera festgehaltene Tötung und Schlachtung des 43-jährigen Berliner Ingenieurs J. B. "Man kann es fast mit dem Abendmahl vergleichen", so seine Worte vor dem entsetzten Publikum.
Das Thema Kannibalismus ruft bei den meisten Menschen Ekel, Angst und Widerwillen hervor, gleichzeitig ist es auch oft mit Sensationslust, Neugier und magischer Anziehung verbunden. Manfred Riße erläutert in seinem sorgfältig recherchierten und verständlich geschriebenen Buch den Fall A. M. vor dem Hintergrund historischer, psychologischer und anthropologischer Erkenntnisse über das Phänomen des Kannibalismus. Aus seiner beruflichen und wissenschaftlichen Erfahrung steuert er rechtmedizinische und kriminologische Detailinformationen zum Fall Rotenburg und zum Thema Kannibalismus bei, die Licht in dieses von Tabu, Gerüchten und Mythen verdunkelte Thema bringen.
Ohne Sensationslust, sondern mit viel Sachverstand und Faktentreue ermöglicht er sowohl dem Fachpublikum als auch den interessierten Laien einen objektiven Blick auf einen der erschreckendsten Fälle der Kriminalgeschichte, aber eben auch auf einen der dunkelsten Aspekte des Menschseins, denn Rotenburg war kein Einzelfall …

Für Leser mit starken Nerven!
Empfohlen ab 18 Jahren
LanguageDeutsch
Release dateNov 28, 2014
ISBN9783861899709
Abendmahl der Mörder: Kannibalen - Mythos und Wirklichkeit

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    Book preview

    Abendmahl der Mörder - Manfred Riße

    wird.

    Kannibalismus

    Der Kannibalismus und seine Spielarten

    Der Versuch, das Thema Kannibalismus in einen historischen Rahmen zu pressen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zu vielschichtig ist dieses Thema und zu vielseitig ist die Bedeutung des Begriffs, der zunächst lediglich auf das Anthropophage – das Essen bzw. Fressen von Menschen – fixiert war. Bereits der Versuch einer Einteilung in verschiedene Kannibalismusformen stößt auf Schwierigkeiten und ist stark von der jeweiligen Sichtweise des Betrachters abhängig. Insofern sollen im Folgenden »lediglich« verschiedene Spielarten des Kannibalismus näher beleuchtet werden, wobei auch hier eine subjektive Komponente, nämlich die Sichtweise des Rechtsmediziners, zum Tragen kommt. Einen besonderen rechtsmedizinischen Schwerpunkt bildet hierbei der Zusammenhang von Kannibalismus und Verbrechen.

    Vermutlich schon seit Urzeiten zeigt der Mensch mehr oder weniger instinktive Verhaltensmuster, die mit der Thematik Kannibalismus in Verbindung gebracht werden können. So lässt sich beispielsweise ein Zusammenhang zwischen küssen, beißen, saugen und kannibalischen Fantasien bei Eltern und ihren Kleinkindern sowie bei Sexualpartnern herleiten. Auch sprechen Mütter und Väter gern von ihrem »eigenen Fleisch und Blut«. Kannibalisch wird es insbesondere, wenn jemand einen anderen Menschen »zum Fressen gern« hat. Dieser Ausdruck impliziert quasi die zumindest gedankliche Einverleibung des Anderen. Eine andere Art von Einverleibung lehrt die katholische Heilslehre. Im Ritus des Abendmahls wird Christus verspeist und lebt hierdurch in denen weiter, die ihn verspeisen. Sein Fleisch essen und sein Blut trinken verspricht das ewige Leben. Hostie und Wein werden somit zu Fleisch und Blut, und das Abendmahl ist gleichsam Ausdruck größter Liebe zu Gott. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das Zerbeißen oder Zerkauen der Hostie zwar nicht verboten, aber auch nicht üblich ist. Provokanterweise müsste sich hier die Frage anschließen, ob auch Vegetarier in ihrem Selbstverständnis an dieser liturgischen Zeremonie teilnehmen dürfen.

    Zurück zu realem Kannibalismus und mythischen Vorstellungen in der Historie des Menschen. Sicherlich ist es unmöglich, aus Mythen Rückschlüsse auf historische Vorgänge und Ereignisse zu ziehen, dennoch ist das Phänomen des realen Kannibalismus, für den sich die unterschiedlichsten Motive (so auch Verbrechen) finden lassen, weit älteren Ursprungs als der Terminus Kannibalismus selbst. Die Diskussion um vorgeschichtliche Beweise für Kannibalismus wird divergent geführt. Jedoch finden sich zumindest Hinweise für bereits prähistorische kannibalische Praktiken. Oftmals waren es nur Reste menschlicher Gebeine an ehemaligen Feuerstellen, die Anlass zur Spekulation gaben, hier hätten womöglich Kannibalenmahlzeiten stattgefunden. Mehr als Spekulationen sind jedoch scheinbar nicht verblieben, denn, so die Berliner Archäologin HEIDI PETER-RÖCHER, »entscheidend für die Beurteilung der Quellen zum Kannibalismus ist, ob Augenzeugen für das Essen von Menschen existieren«. Ansonsten müsse davon ausgegangen werden, dass »die Berichterstatter Missverständnissen erlagen, die Wirklichkeit ihrem Vorwissen entsprechend sahen und außerdem voneinander abschrieben«.³ Selbst Ritz- oder Schabspuren an Knochen, die auf kannibalisches Verhalten hindeuten, erklärt die Archäologin mit mehrstufigen Bestattungsritualen, bei denen die Knochen der Toten entfleischt worden waren. Teilweise seien Knochen aber nicht nur der Entwesung ausgesetzt, sondern zur Entfleischung auch Karnivoren* vorgesetzt worden, nachdem die Leichen zerhackt worden waren, um den Fleischfressern die Arbeit zu erleichtern. So sind sowohl Fraßspuren als auch Schnitt-, Schlag- und Hackspuren an den Überresten zu erklären. Auch Überreste von Brandbestattungen wurden gern als Relikte kannibalischer Mahlzeiten gedeutet. Dieses Kannibalismus-Modell manifestierte sich nach Peter-Röcher seit etwa der Mitte des vorletzten Jahrhunderts mit der Veröffentlichung der Funde aus der »Höhle von Chauvaux« in Belgien. Diese Funde wurden als Überreste von Kannibalenmahlzeiten gewertet.⁴

    Historisch gesehen, zieht sich das Thema Kannibalismus durch alle Zeiträume, angefangen von mythologischen Vorstellungen in der Antike, etwa in den Mythen griechischer Götterwelten, bis hin zu Berichten aus der sogenannten Neuzeit. In den Berichten des griechischen Historikers und Ethnologen HERODOT (etwa 485–425 v. Chr.) finden sich Beschreibungen von Sitten barbarischer Sippen und Fabelvölker, die ihre eigenen Angehörigen oder Fremde schlachten und in rohem Zustand oder gekocht verzehren. Auch in den Vorstellungen späterer Zeitgenossen sowie in Reiseberichten tauchen bis in die Neuzeit die verschiedensten Varianten von Endo- und Exokannibalismus auf, ohne dass direkte Ohren- bzw. Augenzeugen benannt werden. Unter Exokannibalismus wird in diesem Zusammenhang beispielsweise das Verspeisen von Feinden verstanden, während sich Endokannibalismus zum Beispiel auf das rituelle Verzehren verstorbener Mitglieder des eigenen Clans bezieht.

    Der Begriff Kannibalismus soll auf den italienischen Seefahrer Christoph Kolumbus (1451–1506) zurückgehen, der im Jahr 1492 bei der Suche nach dem kürzesten Seeweg nach Asien irrtümlicherweise in der Karibik gelandet war. Dort soll er den Stammesnamen der »Karaiben« fälschlicherweise als »Kaniben« verstanden haben.⁵ Das Tagebuch des Christoph Kolumbus führt den kubanischen Namen »Caniba« auf, welcher etymologisch so viel wie »menschenfressendes Volk von Portoriko« bedeutet.⁶ Diesen Karaiben oder Kariben wurde nachgesagt, dass sie ihre getöteten Gegner verspeisen, um so deren Reinkarnation zu verhindern. Eine andere Bedeutung des Begriffs Kannibalismus könnte sich aus dem lateinisch abgeleiteten Begriff »Carnibales« von »Carnevales« (lat. carne, carnis = Fleisch sowie lat. levare = entnehmen, entfernen) ergeben.

    An der Entdeckung der Neuen Welt und der Eroberung Amerikas waren kurz nach Kolumbus auch deutsche Seefahrer beteiligt. Den größten Bekanntheitsgrad erlangte der aus dem Binnenland Hessen stammende Landsknecht Hans Staden.⁷ In der Zeit zwischen 1548 und 1555 kam dieser unter portugiesischer und spanischer Flagge zweimal nach Brasilien und prägte durch seine Berichte das Indianerbild im Europa des 16. Jahrhunderts, insbesondere auch im Hinblick auf deren angeblichen Kannibalismus. Im Jahr 1553 lebte Staden neun Monate bei den brasilianischen Tupinambà. Sein »Menschenfresserbuch«⁸ erschien 1557 und enthielt 54 Holzschnitte, von denen 30 kannibalische Szenen darstellten. In den ersten zehn Jahren nach Erscheinen des Werkes wurden europaweit fünf Nachdrucke veröffentlicht, ein offensichtlicher Beweis für das stete Interesse des Menschen an dieser ambivalenten Thematik.

    Der Terminus Kannibalismus wird in der heutigen Zeit vielschichtig verwendet und meint nicht nur den Verzehr eigener Artgenossen, sondern wird als Metapher auch abstrahiert benutzt. So findet sich beispielsweise in der Astronomie der Begriff galaktischer Kannibalismus, der die »Einverleibung« von Sternen und Materie benachbarter Zwerggalaxien oder Kugelsternhaufen umschreibt. Nach Mitteilungen der Max-Plack-Gesellschaft für Astronomie in Heidelberg ist unsere Milchstraße eine durchaus gefräßige Heimatgalaxie, bei der eindeutige Spuren von galaktischem Kannibalismus nachgewiesen werden konnten. Bereits in der Frühzeit des Universums soll dieser Mechanismus der Einverleibung von fremder Masse bei der Bildung größerer Galaxien wie der unserer Milchstraße eine Rolle gespielt haben. Eine weitere Verwendung findet man in der Marktwirtschaft wieder. Kannibalisierung ist ein Begriff aus dem Marketing, der sich auf den Kampf um Marktanteile bezieht. Dieser Begriff beschreibt den Effekt, der eintreten kann, wenn ein und dasselbe Produkt durch Niedrigpreise mit sich selbst in Konkurrenz gesetzt wird. Durch die gegenseitige Konkurrenz kommt es zum Absatzrückgang. Die Produkte »fressen sich gegenseitig« den Umsatz weg. Von globalem Kannibalismus ist die Rede, wenn es um wirtschaftliche Geflechte geht, die ohne Rücksicht auf gewisse Grundregeln und ohne Rücksicht auf den Einzelnen um sich greifen. Auch im technischen Bereich existiert der Begriff der Kannibalisierung. Im übertragenen Sinn ist hiermit das »Ausschlachten« eines Gerätes zur Gewinnung von Bauteilen oder auch zur Funktionsübernahme gemeint. In der Politik wird Kannibalismus beispielsweise im Zusammenhang mit Steuererhebungen genannt. »An einem Kannibalismus in Form einer Konkurrenz mit den umliegenden Kommunen um den niedrigsten Hebesatz werden wir uns nicht beteiligen«, so eine Aussage im Frankfurter Stadtparlament (»hr-online«, 15.9.2006).

    Nicht nur in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des realen Kannibalismus ist der Begriff mit der Bezeichnung Anthropophagie (griech. ánthropos = Mensch; phagein = fressen, essen) belegt. Der Begriff Anthropophagie fand bereits in der Antike und im Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert hinein Verwendung, während »Kannibalismus« erst mit Kolumbus und der Entdeckung der Neuen Welt quasi modern wurde. Wörtlich übersetzt bedeutet Anthropophagie lediglich Menschenfresserei, womit aber nichts anderes als der umgangssprachlich besser verständliche Begriff Kannibalismus gemeint ist. Streng genommen könnte Anthropophagie aber auch das Fressen von Menschenfleisch durch Tiere bedeuten. Der sprachliche Umgang mit dem für Jedermann verständlichen Wort Kannibalismus oder Kannibale ist gerade im deutschen Sprachgebrauch recht vielgestaltig und nutzt die Bildhaftigkeit, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Motivation mit Menschenfresserei behaftet ist. Eher sinnbildlich wird hierbei von einem »Sich Einverleiben« gesprochen oder das Wort »Abendmahl« bzw. »Kommunion« benutzt (so auch im Fall des »Kannibalen von Rotenburg«), während »Menschenfresserei« klar und unmissverständlich das zum Ausdruck bringt, was es meint. Auch im wissenschaftlichen Diskurs um eine konzeptionelle Einteilung, d. h. eine definierte Ordnung des Wesens des Kannibalismus, bemüht man sich der bildhaften Terminologie. Es bedarf keiner Verständnisnachfrage, wenn von »Hungerkannibalismus« oder »rituellem Kannibalismus« die Rede ist. Komplizierter wird es aber, wenn beispielsweise der Terminus »profaner Kannibalismus« oder »Gerichtskannibalismus« verwendet wird. Und auch der Begriff »Geschmackskannibalismus« lädt zum Nachdenken ein. Ungeachtet der Terminologie war und ist der Begriff Kannibalismus jedoch immer mit etwas Negativem behaftet. Für die Mehrheit der Menschen waren Kannibalen stets »Wilde«, die insbesondere zu Zeiten der Kolonialpolitik als »Andersrassige« weit außerhalb der »zivilisierten« Welt standen. Die Metapher Kannibalismus symbolisierte für den Europäer stets die Grenze zwischen Primitivem und Zivilisiertem.

    Kannibalismus ist unbestreitbar ein Teil unserer menschlichen Kultur. Für den Ethnologen und Kulturwissenschaftler EWALD VOLHARD, der Kannibalismus einerseits weit außerhalb von Europa und der abendländischen Hochkultur ansiedelte, ist Kannibalismus andererseits eine Kulturleistung und eine zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit.⁹ Vor dem Hintergrund des Kulturbegriffs kann Kannibalismus nicht mit allen Lebewesen in Verbindung gebracht werden, er ist vielmehr dem Menschen eigen. Die nach HANS-RAINER DUNCKER ausschließlich dem Menschen eigene Kulturfähigkeit hat über Generationen hinweg im Rahmen vielschichtiger kultureller Entwicklungsprozesse differente Kulturgemeinschaften hervorgebracht.¹⁰ Aus diesen Kulturgemeinschaften entstanden, sowohl bei den sogenannten »primitiven Völkern« mit ihren Stammeskulturen wie auch in den modernen Hochkulturen, eigene soziale Tradierungen. Auswahl und Verzehr bestimmter und bevorzugter Kostarten und Nahrungsformen oder aber die Meidung derselben sind in diese Tradierungen miteingebunden. Unabhängig von der jeweiligen Geschmacksrichtung haben unter evolutionsbiologischen Aspekten völlig andere Motive, wie beispielsweise die Gesunderhaltung des Einzelnen, speziell die Erhaltung der Fruchtbarkeit und damit das Überleben eines ganzen Stammes ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt. Der Ethnologe und Kulturwissenschaftler KLAUS E. MÜLLER berichtet in diesem Zusammenhang von einem Mittel, dass nicht nur in der Tierwelt, sondern der Überlieferung nach auch bei manch älteren Völkern zur Wiedererlangung der durch die Geburt scheinbar geschwächten Fertilität Verwendung fand: Mütter sollen unmittelbar nach der Geburt den Mutterkuchen (Placenta) gleichsam als Zwillingsschwester des Neugeborenen verspeist haben. Placentophagie (griech. plakous = Kuchen; phagein = fressen, essen) als Sonderform kannibalischen Verhaltens haben aber auch Väter dadurch betrieben, dass sie die Plazenta als herrlichen Leckerbissen sich selbst und nur den besten Freunden in gekochtem Zustand serviert haben. Nach Müller solle man derartiges Brauchtum nicht gleich als »Erfindungen sensationslüsterner Autoren der Entdeckungszeit« abtun, wie dies gern und allzu voreilig geschieht. Da sich nämlich am Ende des Lebens der Kreis mit einem anderen Brauchtum schließt – bei Kannibalismus etwa im Rahmen von Bestattungsriten (Ende des Lebens) –, findet sich durchaus Sinn in diesen Sitten: »Beiden Traditionen liegt der gemeinsame Gedanke zugrunde, das eigene Fleisch und Blut nicht einfach irgendwo draußen oder unter dem Boden verrotten zu lassen, sondern es sich, der Familie und Gesellschaft durch Selbsteinverleibung über die Generationen hin lebendig einzubehalten.«¹¹ Müller vertritt hier offensichtlich eine abweichende Meinung bzgl. anderer Auffassungen zu prähistorischem Kannibalismus, wie sie sich z. B. bei der bereits erwähnten Archäologin Peter-Röcher findet. Als »Erfindung« wird hingegen der sogenannte kulinarische Kannibalismus aufgefasst. Den religiösen Festteilnehmern dürfte das Gekochte oder Geröstete wohl kaum geschmeckt haben. Aus heutiger Sicht sieht Müller Kannibalismus, außer in Notfallsituationen (»wie man gelegentlich lesen kann«), als nicht begründet an.

    Als Folge eines langen kulturhistorischen Entwicklungsprozesses hat unsere Kultur letztlich auch intellektuelle Fähigkeiten mit kausalitätsbezogenem Denken entwickelt. Kausalitätsbezogenes Denken im strafrechtlichen Sinn beinhaltet u. a. die Einstellung des Menschen zu verbrecherischen Gewaltdelikten und die Schaffung von Möglichkeiten, solche Delikte in differenzierter Form unter Strafe zu stellen. Historisch betrachtet findet sich im Zusammenhang mit Kannibalismus bereits im frühen Mittelalter ein Gesetzestext, wonach neben der Ermordung eines Geistlichen, der Nichtbeachtung der Fastenzeiten, der Zerstörung einer Kirche und dem Versuch, sich der Taufe zu entziehen auch heidnische Gebräuche, wie etwa der Verzehr von Menschenfleisch, unter Strafe gestellt wurde. In der königlichen »Capitulatio de partibus Saxoniae« aus dem Jahr 789 heißt es: »Todesstrafe erleidet der, der vom Teufel getäuscht, nach heidnischer Sitte wähnt, irgendein Mann oder eine Frau sei Hexe und Menschenfresser und sie deshalb verbrennt oder deren Fleisch verzehrt bzw. zum Verzehr weitergibt.«¹²

    Unsere heutige Rechtsform verbietet die Todesstrafe. Durch Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland am 24. Mai 1949 wurde selbige abgeschafft. Artikel 102 des Grundgesetzes lautet demnach ebenso lapidar wie eindeutig: »Die Todesstrafe ist abgeschafft.« Im gleichen Monat, am 11. Mai 1949, und somit lediglich drei Tage nach Beschlussfassung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat, aber noch vor Inkrafttreten, fand im Westteil Berlins noch eine Hinrichtung statt. Der 24 Jahre alte Berthold Wehmeyer, der auf einer Hamsterfahrt eine alte Frau niedergeschlagen, vergewaltigt, erdrosselt und ihrer Kartoffeln beraubt hatte, starb durch »Enthaupten« auf der Guillotine.¹³

    »Kannibalismus ist leider nicht legal«, so der »Kannibale von Rotenburg« am 2. Verhandlungstag vor dem Kasseler Landgericht. Allerdings sieht die Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland Kannibalismus als Straftatbestand ebenfalls nicht vor. Die Anzahl der Kannibalismusfälle, die in Verbindung mit Verbrechen vorkommen, liegt daher weitgehend im Dunkeln. Statistische Zahlen hierzu existieren nicht. HANS GIROD hat eine Hochrechnung für Tötungsdelikte, begangen in der ehemaligen DDR, gewagt. Demnach konnte in der 40-jährigen Existenz der Deutschen Demokratischen Republik alle acht bis zehn Jahre ein Mord oder Totschlag mit Kannibalismus nachgewiesen werden, wobei die Kriminalstatistik insgesamt etwa 6100 Tötungsdelikte aufweist.¹⁴

    Die Tabuisierung von Kannibalismus, d. h. des gesellschaftlich sanktionierten Verzehrs von Menschenfleisch und Menschenblut, ist nach alldem nur ein konsequenter Akt unserer menschlichen Entwicklung und Kulturleistung. Wollte man Vergleiche anstellen mit anderen gesellschaftlichen Tabus, dann bliebe vielleicht noch der Inzest, dem ein ähnlicher Stellenwert zukommt. Jedoch hat das Tabu Kannibalismus einzelne »zivilisierte« Menschen nicht davon abhalten können, den Leichnam oder einzelne Teile eigener Artgenossen zu verspeisen. Aktenkundige Fälle von verbrecherischem Kannibalismus, meist mit sexualpathologischem Hintergrund, gibt es immer wieder. Ebenso hat es solche Fälle auch aus anderer Motivation heraus, z. B. aus reinem Überlebenswillen, immer wieder gegeben. Derartige Fälle, die meist publizistisch ausgeschlachtet werden, entfachen die Kannibalismus-Debatte stets aufs Neue. Auch dies ist letztlich Teil unserer Kultur. Solange die Menschheit existiert, wird scheinbar auch das Phänomen des Kannibalismus weiter existieren, zumindest was den verbrecherischen Kannibalismus betrifft.

    Kannibalismus im Tierreich

    Der Terminus »Kannibalismus« wird gerne auch dazu verwandt, ganz allgemein den Verzehr eines eigenen Artgenossen, sei es im Menschen-, Tier- oder Pflanzenreich, zu beschreiben. Unter Tieren kommt Kannibalismus häufiger vor, als allgemein vermutet wird. Lange Zeit wurde dies als seltenes und krankhaftes Verhalten im Tierreich eingestuft. Nach und nach konnte jedoch in Tierstudien und in Freilandversuchen nachgewiesen werden, dass dieses Phänomen gar nicht so selten ist. Im Tierreich finden sich verschiedene Formen von aktivem und passivem Kannibalismus, aber auch Fälle von Kannibalismus ohne ersichtlichen Grund kommen vor. Diese grobe Systematik besagt zunächst lediglich, dass ein aktiver Kannibale seine Artgenossen jagt und tötet, bevor er sie frisst. Ein passiver Kannibale verzehrt hingegen nur Artgenossen, die bereits tot sind. Häufig handelt es sich bei diesen passiv kannibalisch veranlagten Tieren um Aasfresser. Das bekannteste Beispiel sind die Hyänen. Die häufigsten Ursachen für aktiven Kannibalismus sind zumeist Futtermangel, der zu dem Drang führt, die eigene Art zu erhalten, oder aber Überbevölkerung, woran sich das Bestreben knüpft, die Populationsgröße konstant zu halten. Ebenso stellen erschwerte Lebensbedingungen und Lebensumstände, die mit Stress verbunden sind, z. B. Tiere in Gefangenschaft, kausale Beweggründe für Kannibalismus unter Tieren dar.

    Kannibalisches Verhalten zieht sich durch das gesamte Tierreich, und

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