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Künstlernovellen
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Künstlernovellen

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About this ebook

"Der Autor spielt in seinen fantastischen Erzählungen mit dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Intimität, von Kunst und Wahrnehmung. Aber er erliegt nicht der Versuchung des theoretisierenden Essays, sondern bettet seine Handlung in eine verzauberte Stimmung ein, die von melancholischem Witz grundiert ist."
Johannes Breckner, Darmstädter Echo

"Wer (...) für kurze Zeit einmal ganz einfach glücklich sein möchte, dem sei geraten: Wieczorek lesen!" Jochen Schimmang, taz
LanguageDeutsch
Release dateDec 17, 2011
ISBN9783937717760
Künstlernovellen

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    Künstlernovellen - Rainer Wieczorek

    Rainer Wieczorek

    Zweite Stimme

    Rainer Wieczorek

    Zweite Stimme

    Dittrich Verlag

    Mit freundlicher Unterstützung des Darmstädter

    Förderkreises Kultur e.V. und der Kulturfreunde

    Darmstadt

    Bibliografische Information der Deutschen

    Bibliothek

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

    Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

    über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

    ISBN 978-3-937717-39-5

    © Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2009

    Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

    www.dittrich-verlag.de

    Schloss-Nauses

    Des Vormittags, auf dem Weg zum Friedhof, hatte er sich auf eine Bank setzen müssen, zum ersten Mal, aber jetzt fühlte sich Baumeister wieder bei Kräften und schlug seine übliche Route ein, die ihn durch den Lengfelder Wald nach Ober-Nauses und schließlich zurück nach Otzbach führen würde. Bis Schloss-Nauses war er nie gekommen, immer nur bis Ober-Nauses: ein grundlegendes, alle Lebensbereiche durchziehendes Gefühl für Ränder mahnte ihn bereits beim Anblick von Ober-Nauses zuverlässig und sanft zur Heimkehr.

    Dass er jetzt schon von Menschen eingeholt wurde, die mit Spazierstock unterwegs waren!

    Wie Baumeister bald in Erfahrung bringen sollte, war es kein gewöhnlicher Spazierstock, sondern ein Produkt der altehrwürdigen Londoner Manufaktur James Smith & Sons, »eine Spezialanfertigung«, zurechtgesägt und -gebogen für die Körpermaße eines Spaziergangswissenschaftlers: so lautete, wie Baumeister ungläubig vernahm, die exakte Berufsbezeichnung des Mannes. Es war also keine Gehhilfe, die dieser da durch die Lüfte schwang, es handelte sich um sein Instrument, das er auch bei spaziergangswissenschaftlichen Vortragsabenden stets in der Hand zu halten pflegte. Der junge Spaziergänger war schnell ins Erzählen gekommen und redete wie einer, der lange geschwiegen hatte. Baumeister bemerkte nicht, dass Ober-Nauses längst hinter den Hügeln verschwunden war, er sah sich kein einziges Mal um, sondern starrte gebannt auf die Schwünge, die der Mann, der sich Skala nannte, mit seinem Londoner Spazierstock vollzog. Da sahen sie schon das »Schloss« von Schloss-Nauses. »Hier wohne ich«, sagte Skala und wies dabei auf die wenigen Häuser am Waldrand.

    Der Anlass, sich zu verabschieden, war also gegeben, da er aber noch viel zu erzählen hatte, lud Skala den neugierigen Spaziergänger auf eine Tasse Tee ein, und Baumeister, beileibe kein Teetrinker, zögerte nicht einen Moment – sodass die folgende Geschichte ihren Lauf nehmen konnte.

    Dass in Schloss-Nauses kein Schloss stand, auch kein Wasserschloss, wie es ein grünes Schild mit gelber Schrift verkündete, wusste in Otzbach jeder. Ein Fachwerkhaus auf einem erdgeschosshohen Sockel aus Stein, ein Türmchen, ein Pferdestall: mehr war es nicht, was die Menschen hier »Schloss« nannten, im ersten Stock befand sich die Dorfkneipe, zu der eine schiefgetretene Außentreppe aus Sandstein führte.

    Auch das Dorfinnere, das sie nach dem Passieren einer Brücke und dem Überqueren der schmalen Landstraße betraten, verdiente diesen Namen nicht, eine einzige Straße Am Sandacker verband die Häuser links und rechts, und auch dieser Name schien frei erfunden, denn eine Ackerfläche war hier, am Waldrand, nicht auszumachen.

    »Hier bin ich aufgewachsen«, sagte Skala, und Baumeister versuchte, sich das kleine Kind vorzustellen, platzierte es in Gedanken vor dem Haus Nr. 2, dem Haus Nr. 4, dem Haus Nr. 6. Dann ließ er den kleinen Skala den Sandacker hinunterrennen und wieder hinauf, wieder hinunter und wieder hinauf. Ließ das Kind die Landstraße überqueren, die Brücke passieren, die Sandsteintreppe hinaufsteigen. Und schließlich die Sandsteintreppe wieder hinabsteigen und in den Sandacker einbiegen, bis an die Stelle, an der sie jetzt standen.

    »Hier?«, fragte Baumeister.

    »Hier«, sagte Skala.

    Aus einer Tür trat ein übergewichtiger Junge und grüßte höflich im Vorbeigehen.

    Skala war schlank, ein Leichtgewicht. Mit ihm zu raufen, dürfte den anderen Jungen Spaß gemacht haben.

    Das Dorf war an einen Hang gebaut worden, sodass fast alle Fenster den Blick auf das Oberhöchster Tal freigaben, einen Blick, der in Kombination mit den erschwinglichen Grundstückspreisen einer abseits gelegenen Ortschaft und der zu erwartenden Ruhe Skalas Eltern bewogen haben mochte, sich in Schloss-Nauses niederzulassen.

    Der Bungalow, vor dem sie jetzt stehen blieben, war ganz im Stil der damaligen Zeit gebaut, auffallend aber die kleinen Fliesen, die das Häuschen vor den Zeichnungen des Wetters schützten.

    Sie stiegen eine Treppe seitlich des Hauses herunter, die zu einer Wohnungstür mit zwei Klingelknöpfen führte. Oben wohnten offensichtlich Skalas Eltern, auf dem unteren Klingelknopf befand sich nur das Wort Institut.

    Er ist bestimmt vierzig Jahre alt, schätzte Baumeister, und wohnt bei seinen Eltern? Vier Jahrzehnte in Schloss-Nauses?

    Skala schloss auf; die Eltern schienen nicht da zu sein. An der Wand hing eine Bleistiftzeichnung von Schloss-Nauses, die Skala als Jugendlicher angefertigt hatte. Er sei immer ein guter Zeichner gewesen, erinnerte sich Skala, als Knabe habe er einmal einen kratzigen Pullover gewonnen, beim Zeichenwettbewerb eines Kaufhauses: »Schon damals stimmte etwas mit den Preisen nicht«, lachte Skala und bat Baumeister einzutreten.

    Der Raum, in dem Skala lebte, schlief und, wie es schien, arbeitete, maß vielleicht 25 Quadratmeter. Auf einem runden Tisch stand ein Diaprojektor, den Skala rasch in einem Koffer verstaute. »Nehmen Sie Platz, Herr –?«, »Baumeister – oder sagen Sie lieber Wilhelm. Baumeister, das klingt so beruflich«, und kaum hatte er das Du angeboten, fiel ihm ein, dass Skala beruflich spazieren ging, wie immer man sich das vorstellen sollte. »Richard«, entgegnete Skala und gab ihm die Hand.

    Einen Stuhl noch, zwei Tassen: »Ich koch uns eine Kanne Tee«, sagte Skala und entschwand ins obere Stockwerk.

    Skalas »Wohnung« war aufgeräumt, ohne ordentlich zu wirken. An der Eingangstür stand eine große Kommode mit vielen flachen Schubladen, in denen man großformatige Bilder lagern konnte, Plakate vielleicht. Über der Kommode befand sich eine größere Arbeitsfläche und an den Wänden wurde jede sich bietende Gelegenheit als Lagerfläche genutzt; fotografische Ausrüstungsgegenstände fielen auf. Die hangaufwärts weisende Wand stand voller Bücher: philosophische Schriften, Schelling, Humboldt, Kulturkritik, Hirnforschung. Das Bett war nicht das eines Menschen, der viel schlief.

    Vom Stuhl aus hatte man einen wunderbaren Blick auf das Tal, durch das der Oberhöchster Bach floss, und wenn je ein Kind in Schloss-Nauses die Welt lieben lernte, dachte sich Baumeister, dann lernte es sie in diese Richtung blickend lieben, als Ferne, als Verheißung.

    Er hörte Skala mit dem Tee die Treppe herunterkommen.

    Der kleine, überfüllte Raum drängte einen geradezu ins Freie, es war jedenfalls kein Wunder, dass man hier das Spazierengehen, die Spaziergangswissenschaften, wie Skala es nannte, mit äußerster Leidenschaft betrieb.

    Baumeisters Blick richtete sich auf eine Wand, an der eine Menge identischer Holzkisten gestapelt war: jeweils drei Kisten hintereinander und vier nebeneinander. Am Bettrand befand sich ein weiterer Stapel solcher Kisten: Wie Paulas Kaninchensärge sahen sie aus, aber gediegener, massiver, für die Ewigkeit gebaut. »Cloud-walk-kits«, sagte Skala, und als er Baumeisters fragenden Blick sah, stand er auf, räumte die Teetassen beiseite, stellte eine dieser Kisten auf den Tisch und öffnete sie. Ein gläserner Scheidtrichter, wie ihn Baumeister noch aus dem Chemieunterricht kannte, war mit zwei Lederriemen auf ein dafür geformtes Holzgestell geschnallt, eine topografische Karte, ein paar Fotos und ein Formularblatt in englischer Sprache befanden sich in einem eigens für diese Dokumente gezimmerten Abteil der Kiste, und Baumeister begann die Rubriken des Formulars zu übersetzen: Datum, Uhrzeit, Name der Wolke, Ort der Entnahme, Besitzer der Wolke, Uhrzeit der Entnahme, Höhe über Meeresspiegel, Luftdruck, Temperatur, Farbe, Klang, taktile Eigenschaften, relative Luftfeuchtigkeit, Geschmack, Form, Geruch, Geschlecht, dann war Raum für eine größere Eintragung gelassen, in der es galt, die am Ort der Entnahme herrschenden Wetterverhältnisse ausführlich darzustellen; die vorletzte Spalte war den Namen von Zeugen vorbehalten, die letzte der Unterschrift Richard Skalas, darunter kleingedruckt:

    INSTITUTE FOR THE STUDY OF NATURAL PHENOMENA

    SCHLOSS-NAUSES

    »Dann sitzen wir hier mitten im Institut?«

    Skala nickte.

    »Und du bist der Institutsleiter und einzige Forscher?«

    Skala öffnete die Lederbänder und nahm den Glaskolben heraus.

    2000 ml stand auf der Flasche. 2000 Milliliter, aber man sah keinen Inhalt. Skala hielt ihm eine Reihe von Fotos hin, die ihn zeigten, wie er, mit weißem Kittel bekleidet, in einer Außenküche auf einem Zweiplattenherd Siegellack zum Schmelzen bringt, die bereits versiegelte Flasche ein zweites Mal dieser Prozedur unterzieht und sie abschließend mit einem Stempel prägt, der eine in einem Quadrat eingeschriebene Wolke zeigt.

    Baumeister nickte. Bedächtig entfaltete er die topografische Karte, ein schottisches Exemplar, das unter anderem den bekannten Loch Lomond zeigte. Mit Bleistift war eine Route eingezeichnet, Hinweg, Rückweg; in der Nähe eines hohen Berges war der Entnahmeort angekreuzt und mit einer Wolke versehen. Baumeister nahm das andere Blatt zur Hand und las, was Skala eingetragen hatte. Bei dem Berg handelte es sich augenscheinlich um den Ben Lomond; in 345 Metern Höhe herrschten bei einem Luftdruck von 974 Hektopascal 5,5 °C Außentemperatur bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 91 %. Die Entnahme (»Time of Sampling«) fand zwischen 12.58 p.m. und 12.59 p.m. statt.

    »Und was war da entnommen worden?«

    Skala sah ihn spöttisch an: Konnte es wirklich so lange dauern, bis bei Baumeister der Groschen fiel? 2 000 ml einer schottischen Wolke waren hier auf Flasche gezogen worden, ein minimaler Eingriff, wie Skala versicherte.

    Weiß war die Wolke gewesen, auch orangefarben, mit leichten Grautönen, folgte Baumeister den Eintragungen auf dem Formular, sie roch wie Sommergras, war weiblichen Geschlechts und gehörte – jetzt oder damals? – der Glasgow School of Art.

    Wieder reichte Skala Fotos, beide nahmen Platz am Tisch und Skala begann zu erzählen, wie er mit Irene Graham, Christian Günneberg, Peter Mai und George Wyllie zum Ben Lomond aufgestiegen war, zu einem cloud-walk, einem Wolkenspaziergang. Eine zweite Kiste öffnete er, mit einem ebensolchen Arrangement, nur dass es hier auf den Hohen Meißner gegangen war, ein drittes Wolkensegment war am Schweizer Furkapass entnommen worden und Baumeisters Blicke glitten über die vielen Holzkisten, die in diesem Zimmer gestapelt waren: Dieser Richard musste Zeit haben!

    Die Zeugen der cloud-walks wechselten – was konstant blieb, waren die Holzkiste, der Scheidtrichter, das meteorologische Gerät, Skala und das Datenformular. Hier, im Institut, lagerten die Ergebnisse von etlichen Tageswanderungen, ein Archiv diver-gierender Luftfeuchtigkeiten, mühsam erworben, wenn auch unsortiert. Es schien Skala nicht zu stören, dass man die Wolke im Scheidtrichter nicht sah: Zu wissen, dass sie sich tatsächlich darin befand, zweifach versiegelt, genügte ihm; durch die Art ihrer Unterbringung in seinem Institut, begann Baumeister zu verstehen, standen sie in Bezug zueinander, »sie korrespondieren miteinander«, sagte Skala, sodass neben dem System der Wolken im Nausischer Tal, am Feldberg und auf dem Ben Lomond hier ein weiteres Wolkensystem entstand, was sich, aus welchem Grund auch immer, dem öffentlichen Blick entzog. »Zur Vollständigkeit sei angemerkt, dass zu einem cloud-walk-kit auch noch der bei der Wanderung benutzte Spazierstock« . . . »der Firma James Smith & Sons« . . . »gehört« . . . »eine Spezialanfertigung«, fielen sie sich gegenseitig ins Wort: Skala lächelte anerkennend und fuhr fort, »den ich aus Platzgründen getrennt von den Wolkenkisten lagere«. Jetzt öffnete Skala die beiden unteren Schubladen einer zweiten Kommode, die bis zum Rand mit Spazierstöcken gefüllt waren, mit zuordnenden Zetteln versehen.

    Schließlich öffnete er eine dritte Schublade, die Spazierstöcke ohne Zettel beherbergte, Spazierstöcke, deren Ziel noch unbekannt war. Solch einen nahm Skala nun heraus, prüfte ihn – auf welche Eigenschaft auch immer – und überreichte ihn Baumeister würdevoll: »Veruntreue ihn mir nicht!«, sagte Skala, und bald war es Baumeister, der mit einem Spazierstock der Firma James Smith & Sons durch das Nausischer Tal stakste, zurück nach Otzbach, überlegend, was es an einem Spazierstock zu veruntreuen gab. Ein paarmal schien es ihm, als ob von hinten einer käme, und mehrfach drehte er sich um und lauschte, aber es war wohl eine Täuschung.

    Der Glaspalast

    Die fränkische Hofreite, die die Baumeisters erworben hatten, als das Kind unterwegs war, stammte aus dem Jahr der Französischen Revolution. Ein offenes Viereck: links, wo heute das Gemüse wächst, befanden sich Stallungen, über denen einst die Knechte eines großbäuerlichen Betriebes wohnten. Wenn man durch das geschwungene Hoftor kam, sah man, geradeaus blickend, eine weitere Stallanlage, den heutigen »Glaspalast«, und rechts – original erhalten – das langgestreckte Wohngebäude, ein Fachwerkhaus, von dem Elektriker und Installateur einstimmig meinten, mehr sei hier bei bestem Willen nicht auszurichten, sonst müsste man ganz von vorne anfangen, und das wollte Baumeister am allerwenigsten.

    1913 lebten hier etwa 20 Bewohner, bis in die späten fünfziger Jahre gehörten Schweine, Ziegen, Hühner und eine Kuh zu dem Gehöft; der Gemüse- und der Obstgarten, die bis zum Bach hinunterreichten, wurden intensiv genutzt: Sauerkraut, Eingemachtes und ein begehrter Likör sorgten für Einnahmen.

    Dann kamen die Baumeisters nach Otzbach und es begann etwas, das Baumeister später »die guten Jahre« nannte: da waren es also drei Menschen, die die Hofreite bevölkerten, nach dem Tod seiner geliebten Frau nur noch zwei, und als die Tochter zwei Jahre später einen Studienplatz in Kiel bekam, blieb nur noch Baumeister – und der hatte vor der Holzhalle neben dem Eingangstor einen Gartentisch sauber gewischt und kam nun mit Kaffee, Brot, Butter und Marmelade die Stiegen hinunter.

    Baumeister hatte alles so gelassen, wie es in den guten Jahren gewesen war. Gegen die Fülle der Obstbäume, gegen die Natur eines Gemüsegartens war, wenn man allein lebte, wenig auszurichten, aber das Wohnhaus so sauber zu halten, wie es früher war, schaffte er noch, das diente dem Andenken und half ihm, sich nicht so einsam zu fühlen. Die Restaurierung des Speichers aber hatte er insgeheim aufgegeben und was mit dem »Glaspalast« geschehen sollte, war – wie sollte er es nennen – offen.

    Der Glaspalast hatte einmal etwas Besonderes werden sollen. Die ehemalige Stallung hatte Baumeister mit einer modernen Heizung versehen, einen Betonfußboden hatte er eingezogen und mit einem aufwendigen Scherbendesign aus zerhämmerten Fliesen veredelt. Die Krönung seiner Bemühungen aber war ein hervortretendes Glasportal, wie man es in Otzbach nicht kannte, und das im Dorfkrug bald als »Glaspalast« bespöttelt wurde! – Es war als Refugium für Gäste gedacht; Gäste, die dann ausblieben oder, wenn sie kamen, nicht übernachteten. Als die neue Couchgarnitur geliefert wurde, stellten sie die alte in den Palast, später kam die Tischtennisplatte dazu, und wenn Paula aus Kiel kam, spielten sie gelegentlich eine Partie.

    Oft beherrschte ihn das Gefühl, auf diesem Anwesen das Unaufgeräumte vieler Generationen abtragen zu müssen, gelegentlich war es ihm, als müsse er im Dreck ersticken.

    Dann aber wieder stand er zufrieden im Schlafzimmer oder er richtete im Bad die Gästehandtücher, bis die Wohnung einem Museum glich, einem Museum der guten Jahre, mit ihm als einzigem Besucher.

    Wenn Baumeister gefrühstückt hatte, wurden die beiden Zwergkaninchen gefüttert. Albert stammte noch aus der Zeit, als seine Tochter die Grundschule besuchte, Gisella kam hinzu, als Albert »Witwer« wurde. Baumeister war sich noch unschlüssig, was mit Gisella geschehen sollte, wenn Albert einmal seine Flocken nicht mehr annahm. Kaninchen sterben im Winter, nicht im Sommer, sagte er sich dann und beschloss, im Winter an besonders eisigen Tagen den Kaninchen den leicht temperierten Glaspalast zur Verfügung zu stellen.

    Im Grunde konnte auch Skala seine Wolkenkisten hier unterstellen, hier war doch mehr Platz als bei ihm da oben. Dort, an der Stirnseite, könnte er sie stapeln, und wenn noch einige hinzukämen, konnte das auch nicht stören.

    Am Abend verschloss Baumeister einen Briefumschlag und beschriftete ihn:

    Herrn Richard Skala

    c|o Institute for the Study of Natural Phenomena

    64853 Otzbach – Schloss-Nauses

    Dieses Institut hatte er sich gemerkt.

    Zwei Tage später – Baumeister kämpfte unten am Bach gegen die schiere Überzahl von Mirabellen und Pflaumen – fuhr ein Lieferwagen der Firma Buttmi, Bodenbeläge – Innenausbau, durch das Tor der fränkischen Hofreite, und bis Baumeister dem Neuankömmling eine Mirabelle angeboten hatte, war Albert schon gewöhnt an den Geruch des Institutsleiters. Außer Paula und ihren Freundinnen hatte lange niemand mehr nach den Kaninchen gegriffen; Baumeister gefiel sich in der Pose des Gewährens: Er fütterte sie, betrachtete sie, streckte jedoch nie die Hand nach ihnen aus.

    Skala dagegen hielt Albert die Mirabelle hin, deckte mit kreisender Bewegung die Hand darüber und sprach: »Ich verwandle dich in eine Karotte!« Albert wurde unruhig und durfte wieder in seinen Stall zurück. Baumeister aber öffnete den Glaspalast und atmete durch, als sich Skala begeistert zeigte von der Heizung, dem Bodenbelag und der ihm zugedachten Stirnseite.

    Vielleicht hatte der Glaspalast – wie vieles andere – auf seine Stunde warten müssen, dachte Baumeister am Abend unter dem Eindruck einer Flasche Rotwein, aber jetzt wurde sichtbar, für welch verborgenen Zweck er gestaltet war: Jetzt begann über den Scherben des Fußbodens ein neuartiges Wolkensystem zu entstehen! Davon würde er freilich niemandem in Otzbach erzählen.

    Die Platzierung der Wolken

    Mirabellen nach Kiel zu schicken, war wohl kein guter Gedanke: erstens weil es in Kiel um diese Jahreszeit genug Steinobst gab, zweitens konnte eine derartige Liebenswürdigkeit verstanden werden als Hinweis auf bevorstehende Semesterferien und den Wohlgeschmack frisch geernteter Früchte . . . Nicht klammern, ermahnte sich Baumeister nachdrücklich.

    Um auf andere Gedanken zu kommen, begann er jenes Portal zu reinigen, das ihm so viel Spott eingetragen hatte, stand mit dem Staubsauger auf hoher Leiter und entfernte Spinnweben von der Decke des Glaspalastes, legte Mäusefallen aus.

    Wenn er wüsste, dass Paula nicht kommt, würde er die Tischtennisplatte in den Keller oder die Holzhalle räumen. Vielleicht wäre dies ohnehin das Beste: Eine Tischtennisplatte nahm zwar nicht viel Raum ein, aber sie passte nicht zu dem, was Skala da angeliefert hatte. Wo waren überhaupt die Spazierstöcke? – Skala hatte die Spazierstöcke nicht mitgeliefert! »Ein Fall von Veruntreuung?«, fragte er den Institutsleiter in einem Brief, den er noch am Nachmittag aufgab. Zu jedem cloud-walk-kit gehörte der verwendete Spazierstock, das hatte er doch richtig verstanden? Dann war es freilich notwendig, die Anordnung der gestapelten Kisten aufzugeben, da Spazierstöcke nicht stapelbar waren, und mit diesem Gedanken fiel ihm eine Qualität des Glaspalastes auf: Hier konnte Skalas Konzept zum ersten Mal Gestalt annehmen! Das gesamte Verweissystem zweier Schubladen war überflüssig geworden, konnte erst vor der jeweiligen Wolkenkiste der dazugehörige Spazierstock platziert werden.

    Und in Gedanken begann Baumeister zu gruppieren, sein Gehirn arbeitete jetzt wie früher in der Setzerei:

    Gliederung? – Nach geografischen Aspekten.

    Anordnung? – Nach hinten versetztes Terrassen-system, günstig für Spazierstöcke.

    Stapelung ab Fußboden? – Kommt für cloud-walk-kits nicht in Frage, sähe wie Handelsware aus.

    Tapeziertisch? – Zu trivial.

    Die Tischtennisplatte! Schwarzes Tuch drüber und auf die Frontseite große Letraset-Buchstaben, hellgraue Kapitälchen:

    Richard Skala. Die Wolken.

    Letraset-Buchstaben gab es in Darmstadt, schwarzes Tuch in Reinheim.

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